Erstes Buch Kap. XIX bis XLVIII

VON DER KÖNIGIN PENTHESILEA[1]
UND WIE SIE TROJA ZU HILFE KAM

Diese Königin Oreithyia lebte lange, hielt das Reich Amazonien in großem Wohlstand und vergrößerte seine Macht beträchtlich; sie war schon sehr alt, als sie verschied. Daraufhin krönten die Amazonen ihre edle Tochter, die sehr tapfere Penthesilea, die sich vor allen anderen durch Klugheit, Ehre, Tapferkeit und Tüchtigkeit auszeichnete. Diese wurde weder des Waffentragens noch des Kämpfens jemals überdrüssig; mehr als je zuvor wuchs durch sie die Macht der Amazonen, denn sie gönnte sich keine Ruhe, und ihre Feinde fürchteten sie so sehr, daß niemand es wagte, ihr Widerstand zu leisten. Von so edler Gesinnung war jene Frau, daß sie sich nie dazu herabließ, sich mit einem Mann zu paaren und zeit ihres Lebens Jungfrau blieb.
Zu ihren Lebzeiten fand der große Krieg zwischen Griechen und Trojanern statt. Wegen des großen Ruhms, der überall von der übergroßen Tapferkeit und Ritterlichkeit Hektors von Troja kündete und diesen als kühnsten und höfischsten Ritter der Welt erscheinen ließ, und weil es stets so ist, daß jeder Seinesgleichen liebt, verfiel Penthesilea, die edelste aller Frauen der ganzen Welt, die ständig so zahlreiche Ruhmestaten vom tapferen Hektor verkünden hörte, in eine ehrenhafte und starke Liebe zu ihm und begehrte über alle Maßen, ihn zu sehen. Um sich diesen Wunsch zu erfüllen, verließ sie mit einem großen Gefolge ihr Reich und zog, begleitet von edlen, tapferen und überreich bewaffneten Frauen und Mädchen, nach Troja; der Weg dahin war nicht kurz, sondern sehr weit. Aber einem liebenden Herzen, das von einem starken Begehren erfüllt ist, erscheint nichts lang oder beschwerlich.
Die edle Königin Penthesilea gelangte nach Troja, jedoch zu spät: denn sie fand Hektor bereits tot. Er war von Achilles in der Schlacht aus dem Hinterhalt getötet worden, und desgleichen war die Blüte der trojanischen Ritterschaft dahingeschieden. In Troja wurde Penthesilea von König Priamos, der Königin Hekabe und allen Edelleuten in großen Ehren empfangen. Aber es schmerzte sie so sehr, Hektor nicht mehr lebendig angetroffen zu haben, daß nichts sie erfreuen konnte. Der König und die Königin jedoch, die ohne Unterlaß um ihren toten Sohn Hektor trauerten, sagten ihr, sie würden ihn ihr tot zeigen, da sie ihn ihr nicht lebendig hätten zeigen können. Sie führten sie in den Tempel, wo sie sein Grab hatten errichten lassen, das kostbarste und prunkvollste aller Gräber, von denen die Geschichtswerke berichten. Dort, in einer prächtigen Kapelle ganz aus Gold und Edelsteinen, vor dem ihren Göttern geweihten Hauptaltar, saß Hektors Leiche auf einem Thronsessel und war so einbalsamiert und hergerichtet, daß es den Anschein hatte, er lebe: in seiner Hand hielt er das blanke Schwert, und es schien, als drohe sein stolzes Gesicht immer noch den Griechen. Dort war er, gekleidet in ein großes und weites Gewand, ganz aus feinem Gold gewebt, geschmückt und durchwirkt mit Edelsteinen, das bis auf den Boden reichte und die unteren Körperteile bedeckte; diese hatte man in edlen Balsam getaucht, der einen wunderbaren starken Geruch verbreitete. Dort ehrten die Trojaner diesen Leichnam, als wenn es sich um eine ihrer Gottheiten gehandelt hätte, mit einem großen Wachsleuchter und übergroßer Helligkeit. Dorthin führten sie die Königin Penthesilea, die, sobald die Kapelle geöffnet war und sie den Leichnam erblickte, niederkniete und ihm huldigte, als wenn er noch lebte. Dann näherte sie sich ihm und schickte sich, während sie aufmerksam sein Gesicht betrachtete, weinend an, folgendes zu sagen:
>Ach! Blüte und Vollendung weltlichen Rittertums, Spitze, Gipfel und höchste Vollkommenheit aller Tapferkeit, wer kann sich von nun an, nach Euch, jemals der Tapferkeit rühmen oder ein Schwert gürten, da nun das Licht und das Vorbild so großen Edelmuts erloschen ist?
Wehe! zu welcher Stunde wurde der verfluchte und ruchlose Arm geboren, der aus Übermut die Welt eines so großen Schatzes zu berauben wagte? Oh überaus edler Fürst, weshalb hat mir Fortuna so übel gewollt, daß ich nicht in Eurer Nähe war, als der Verräter, der Euch dieses zufügte, Euch auflauerte? Nie wäre dies geschehen, denn ich hätte Euch sehr wohl davor behütet. Und wenn er jetzt noch lebte, so würde ich mit Sicherheit an ihm Euren Tod, den großen Zorn und den Schmerz rächen, den mein Herz verspürt, wenn ich Euch so leblos sehe, ohne mit mir, die ich so sehr danach verlange, sprechen zu können. Aber da Fortuna es nun einmal so bestimmt hat und es nicht anders sein kann, schwöre ich bei allen hohen Göttern, die wir fürchten, und verspreche und versichere Euch, mein teurer Herr, daß, so lange mein Herz noch von Leben erfüllt sein wird, Euer Tod von mir an den Griechen gerächt werden wird.< Auf diese Weise vor dem Leichnam kniend, sprach Penthesilea so laut, daß eine große Anzahl von Edelleuten, adligen Frauen und Rittern, die sich dort aufhielten, sie vernehmen konnten; alle weinten vor Mitleid, und sie brachte es nicht übers Herz, von dort fortzugehen. Immerhin küßte sie schließlich die Hand, in der er das Schwert hielt, und schied mit den Worten: >Oh Zier und Vorbild der Ritterschaft, welch ein Held müßt Ihr zu Euren Lebzeiten gewesen sein, wenn von der Zurschaustellung Eures Leichnams immer noch so viel Hoheit ausgeht!<
Dann schied sie leise weinend. Sie bewaffnete sich, so schnell sie konnte, und zog mit ihrem gesamten Heer in überaus prächtiger Ausstattung gegen die Griechen, die die Belagerung durchführten. Um mit wenigen Worten ihre Taten wiederzugeben: mit Sicherheit stritten sie und ihre Truppe so tapfer, daß niemand von den Griechen nach Griechenland zurückgekehrt wäre, hätte sie länger gelebt. Sie schlug Pyrrhos, den Sohn des Achill, seines Zeichens ein sehr tapferer Ritter, und richtete ihn so zu, daß er beinahe das Leben gelassen hätte. Nur mit großer Mühe retteten ihn seine Leute und trugen ihn wie tot von dannen; die Griechen glaubten bereits, er käme nicht mehr mit dem Leben davon und trauerten sehr um ihn, denn er war ihre ganze Hoffnung. Weil Penthesilea den Vater haßte, ließ sie es auch den Sohn verspüren.
Um es kurz zu machen: zwar vollbrachte die überaus tapfere Penthesilea erstaunliche Heldentaten bis zum Schluß, nachdem sie mehrere Tage lang mit ihrer Truppe so sehr gekämpft hatte, daß die Griechen beinahe alle besiegt waren. Pyrrhos, der sich von seinen Verwundungen erholt hatte, verspürte große Trauer und Scham, weil er von ihr niedergeworfen und mißhandelt worden war, und befahl den Leuten seines Heeres, die äußerst kämpferisch waren, daß sie sich in der Schlacht nur das eine Ziel setzen sollten, nämlich Penthesilea zu umzingeln und von den Ihren abzusondern, denn er wollte sie eigenhändig töten. Für den Fall eines Erfolges versprach er ihnen eine große Belohnung. Die Leute des Pyrrhos brauchten lange, bis sie das fertigbrachten, denn wegen der gewaltigen Hiebe, die Penthesilea verteilte, fürchteten sie sich davor, ihr allzu nahe zu kommen. Aber sie schafften es schließlich eines Tages, an dem sie derartig gekämpft hatte, daß es für einen Tag Trauer um Hektor genügen mußte und sie entsprechend müde war, sie zu umzingeln, von ihrem Heer zu isolieren und die edlen Frauen so sehr zu bedrängen, daß sie ohne Hilfe dastand. Daraufhin zerschlug man ihr alle ihre Waffen, obwohl sie sich mit erstaunlicher Tapferkeit zur Wehr setzte, und hieb ihr ein großes Stück aus dem Helm. Pyrrhos war dort, der, beim Anblick ihres entblößten Hauptes und des hervorquellenden blonden Haares, ihr einen so starken Schlag auf den Kopf versetzte, daß er ihr den Kopf und das Gehirn zerhieb. Und so endete die überaus tapfere Penthesilea; für die Trojaner war dies ein großer Verlust, für ihr gesamtes Land ein Anlaß zu großer Traurigkeit. Große Trauer trug man dort, und zu Recht, denn nie wieder regierte eine ähnliche Herrscherin über die Amazonen; unter Bekundungen tiefen Schmerzes brachten sie den Leichnam in ihre Heimat zurück.
Und so, wie du es hast vernehmen können, entstand und behauptete sich das Königreich der Frauen, war sehr mächtig und hatte eine Lebensdauer von mehr als achthundert Jahren. Anhand der Einteilung der Geschichtswerke kannst du dir selbst die Dauer dieses Reiches von seinen Anfängen bis zu seiner Einnahme durch den großen Welteroberer Alexander ausrechnen, sieht es doch so aus, als hätten zu seinen Lebzeiten das Reich und die Herrschaft der Amazonen noch bestanden. Die Chronik seiner Regierungszeit berichtet nämlich, wie er in jenes Reich zog und dort von der Königin und den edlen Frauen empfangen wurde. Jener Alexander lebte aber lange Zeit nach der Zerstörung Trojas und sogar noch mehr als vierhundert Jahre nach der Gründung Roms, die lange Zeit nach dem Untergang Trojas stattfand. Wenn du nun die Mühe auf dich nehmen willst, die Geschichtswerke untereinander zu vergleichen, um die Anzahl der Jahre zu berechnen, so wirst du herausfinden, daß jenes Reich und die Herrschaft der Frauen sehr lange gedauert haben. Ferner wirst du feststellen, daß man in keinem einzigen der Reiche von ähnlicher Dauer, die es auf der Erde gegeben hat, auf eine größere Anzahl berühmter Fürsten oder auf bedeutendere Helden stößt, als es die Königinnen und edlen Frauen jenes Amazonenreiches waren.

HIER IST VON ZENOBIA[1]
DER KÖNIGIN DER PALMYRER, DIE REDE

XX.

Die Frauen des Amazonenreiches waren nicht die einzigen tapferen Frauen: kaum weniger Ruhm gebührt der mutigen Zenobia, der Königin der Palmyrer, einer Frau sehr vornehmen Geblüts, die von den Ptolemäern, den ägyptischen Königen, abstammte. Von Kindesbeinen an zeigten sich bei dieser vornehmen Frau ihr großer Mut und ihre Neigung zum Ritterhandwerk. Kaum war sie herangewachsen, da konnte niemand sie davon abhalten, den Aufenthaltsort der befestigten Städte, der königlichen Paläste und Räumlichkeiten zu verlassen, um in den Wäldern und Forsten zu wohnen, wo sie, mit einem Schwert und mit Pfeilen ausgerüstet, mit großem Eifer Wild zur Strecke brachte. Dann ging sie von den Hirschen und Rehen dazu über, mit Löwen, Bären und anderen wilden Tieren zu kämpfen, die sie furchtlos angriff und wunderbarerweise besiegte. Dieser edlen Frau machte es nichts aus, im Wald zu schlafen, furchtlos, sommers wie winters auf der harten Erde; ebensowenig bekümmerte es sie, durch die engen Schluchten der Wälder hindurch den Tieren nachzusetzen, dabei auf Berge zu klettern und in Tälern umherzuschweifen. Diese Jungfrau war jeder Form von körperlicher Liebe abhold und lehnte lange Zeit eine Heirat ab, weil sie ihr ganzes Leben lang ihre Jungfräulichkeit bewahren wollte. Auf Druck ihrer Eltern nahm sie schließlich den König der Palmyrer zum Gatten, dessen Körper und Gesicht von großer Schönheit waren. Über die Maßen schön war auch die edle Zenobia, die allerdings wenig Aufhebens um ihre Schönheit machte; und Fortuna war ihrer Neigung so günstig, daß sie ihr einen Mann gewährte, der ihren Lebensgewohnheiten recht gut entsprach.
Jener König, der von überaus edler Gesinnung war, hatte die Absicht, mit Waffengewalt den gesamten Orient und die umgebenden Reiche zu erobern. Es war die Zeit, als sich Valerian, der über das Römische Reich herrschte, in der Hand des Perserkönigs Sapor befand. Der König der Palmyrer rief sein gewaltiges Heer zusammen; da schickte sich Zenobia, die sich nicht viel um die Erhaltung ihrer Frische und Schönheit scherte, an, die Mühsal des Kriegshandwerks gemeinsam mit ihrem Mann zu tragen: sie legte eine Rüstung an und teilte mit ihm alle Strapazen einer kriegerischen Existenz. Der König, der Odaenathus hieß, bestimmte einen Sohn aus einer anderen Ehe mit Namen Herodes dazu, einen Teil seiner Armee als Vorhut anzuführen gegen den erwähnten Sapor, den König der Perser, der damals Mesopotamien besetzte. Dann ordnete er an, daß seine Frau Zenobia von der einen Seite mit einer großen Reiterschar auf ihn loszöge; er selbst, mit dem gesamten Drittel seines Heeres, würde von der anderen Seite vorstoßen: mit dieser Anordnung zog er von dannen. Aber was soll ich dir darüber erzählen? Wie du den Chroniken entnehmen kannst, endete dieses Unternehmen damit, daß jene edle Zenobia sich dort so tapfer und mutig schlug und solche Kühnheit und Kraft an den Tag legte, daß sie mehrere Schlachten gegen den persischen König gewann und den Sieg davontrug; das ging so weit, daß sie durch ihre Tapferkeit Mesopotamien in die Gewalt ihres Mannes brachte. Schließlich belagerte sie Sapor in seiner Stadt, nahm ihn und seine Konkubinen mit Gewalt gefangen und eroberte einen großen Schatz.
Nach diesem Sieg geschah es, daß ihr Mann von einem seiner machthungrigen Verwandten ermordet wurde; aber das nützte diesem gar nichts, denn die hochherzige Frau wußte sehr wohl seine ehrgeizigen Pläne zu vereiteln: beherzt und tapfer wie sie war, bemächtigte sie sich stellvertretend für ihre noch minderjährigen Kinder der Herrschaft über das Reich. Sie setzte sich selbst als Herrscherin auf den königlichen Thron, übte die Regierung mit großer Kompetenz und Umsicht aus und herrschte, das muß man schon sagen, mit so großer Klugheit und militärischer Zucht, daß Galerius und nach ihm Claudius, beides römische Kaiser, es nicht wagten, irgend etwas gegen sie zu unternehmen, obwohl sie für die Römer einen Teil des Orients besetzt hielten.
Ähnlich ging es den Ägyptern, den Arabern und den Armeniern: sie fürchteten ihre Macht und ihren großen Stolz so sehr, daß sie völlig damit zufrieden waren, die Grenzen ihrer eigenen Länder zu behaupten. Jene edle Frau war von großer Weisheit und wurde von ihren Fürsten sehr verehrt, von ihrem Volk respektiert und geliebt und von ihren Rittern gefürchtet und geachtet; wenn sie zu Pferde umherritt, was häufig vorkam, sprach sie nur dann mit den Leuten ihres Heeres, wenn sie bewaffnet war und den Helm auf dem Kopf trug. Außerdem ließ sie sich in der Schlacht nicht in einer Sänfte herumtragen, wie es für die Könige damals üblich war, sondern saß stets auf dem Rücken eines flinken Schlachtrosses, und manchmal ritt sie unerkannt ihren Leuten voraus, um ihre Feinde zu erspähen.
Jene edle Zenobia, die bereits an ritterlicher Zucht und Kunst allen Rittern der damaligen Welt überlegen war, übertraf gleichfalls alle übrigen edlen Frauen hinsichtlich ihres vornehmen, untadeligen Verhaltens und ihres ehrsamen Lebens; ihr Lebensstil war sehr einfach, sehr erhaben. Das hinderte sie jedoch nicht daran, häufig mit ihren Edelleuten oder mit ausländischen Gästen große Versammlungen oder Gastmähler zu veranstalten. Bei solchen Gelegenheiten entfaltete sie große Pracht und königliche Freigiebigkeit in jedem Bereich, verteilte großzügige und schöne Geschenke und verstand es sehr wohl, mit ihrer Zuneigung und ihrem Wohlwollen hervorragende Menschen anzuziehen. Sie war von makelloser Keuschheit, denn sie hütete sich nicht nur vor den übrigen Männern, sondern wollte sogar mit ihrem Gemahl nur schlafen, um Nachkommenschaft zu haben: dies bewies sie in aller Deutlichkeit, indem sie während der Zeit ihrer Schwangerschaften nicht bei ihm schlief.
Damit schließlich ihr Auftreten nach außen mit ihrer inneren Haltung übereinstimmte und diese bestätigte, achtete sie darauf, daß sich weder lüsterne Männer noch solche von zweifelhaftem Lebenswandel an ihrem Hof aufhielten, und sie verlangte von allen, die ihre Gunst erringen wollten, Ehrsamkeit und Wohlerzogenheit. Sie zeichnete Menschen aus um deren Güte, Tüchtigkeit und Tugenden willen, keineswegs jedoch aufgrund ihres Reichtums oder ihrer Herkunft, und schätzte Menschen von eher linkischem Auftreten sowie erfahrene Ritter.
Ihr Lebensstil war prächtig, sehr aufwendig und entsprach den Gepflogenheiten persischer Herrscher, deren Erhabenheit alle gemeinhin bei Königen üblichen Lebensgewohnheiten in den Schatten stellte. Die Mahlzeiten reichte man ihr in goldenen, edelsteingeschmückten und reichverzierten Gefäßen. Das Geld, das ihr zufloß, vereinigte sie mit ihrem eigenen Gut zu großen Schätzen und preßte niemals jemandem etwas ab. Dort, wo es ihr sinnvoll schien, war sie vielmehr so freigiebig, daß sie jeden anderen Fürsten an Großzügigkeit und Hochherzigkeit übertraf.
Zu all diesen Dingen muß ich dir von der vornehmsten und wichtigsten ihrer edlen Eigenschaften erzählen: sie verfügte über profunde Kenntnisse in der Literatur, sowohl in der ägyptischen als auch in der ihrer eigenen Sprache. In ruhigen Zeiten widmete sie sich mit Fleiß dem Studium; sie wollte von dem Philosophen Longinus, der ihr Lehrer war und ihr die Grundlagen der Philosophie vermittelte, unterrichtet werden. Sie beherrschte die lateinische und die griechische Sprache, mit deren Hilfe sie selbst alle Geschichten unter knappen Begriffen ordnete und sie auf eine sehr merkwürdige Art wiedergab. Desgleichen verlangte sie, daß ihre Kinder, die sie sehr streng erzog, in die Wissenschaft eingeführt würden. Nun, teure Freundin, beachte und bedenke, ob du jemals im Leben oder in der Literatur irgendeinem Fürsten oder Ritter begegnet bist, der in umfassenderer Weise mit allen Tugenden gesegnet ist.

VON DER EDLEN KÖNIGIN ARTEMISIA[1]

XXI.

Kaum Geringeres als über die anderen tapferen Herrscherinnen läßt sich über die so hochherzige und vorbildliche Herrscherin von Karien berichten. Als der Tod ihres Mannes, des Königs Mausolos, sie zur Witwe machte, brach ihr beinahe das Herz, denn sie liebte ihn unendlich. Wie ich dir noch in einem späteren Zusammenhang erzählen werde, verblieben daraufhin zahlreiche Länder unter der Herrschaft dieser edlen Frau. Sie scheute jedoch keineswegs vor der Ausübung der Macht zurück und zeichnete sich durch unerschütterliche Tugend, vollkommenen Anstand und Umsicht in den Regierungsgeschäften aus. Ferner entwickelte sie große Kühnheit im Kampf und besaß eine solche Autorität in diesem Bereich, daß nach mehreren ehrenvollen Siegen ihr Ruhm ins Unermeßliche wuchs. Während ihrer Witwenschaft erwies sie sich nicht nur als eine äußerst umsichtige Herrscherin über ihr Land, sondern griff auch mehrfach zu den Waffen. Vor allem zwei Fälle sind berühmt: einmal ging es um die Verteidigung ihres Landes, ein anderes Mal um die Wahrung eines Freundschaftspaktes und eines zuvor erteilten Versprechens.
Das erste Mal handelte es sich um folgendes: als der erwähnte König Mausolos, ihr Gemahl, starb, waren die Bewohner von Rhodos, die nahe an der Grenze des Königreiches jener Dame lebten, voller Machtgelüste und Verachtung angesichts der Tatsache, daß eine Frau über das Königreich von Karien herrschte. In der Hoffnung, sie außer Landes jagen und ihr Land erobern zu können, rückten sie mit einer großen Armee und einer starken Flotte gegen sie an und marschierten auf die Stadt Halikarnassos zu, die oberhalb des Meeres, an einem hochgelegenen und sehr stark befestigten Ort namens Ikaros liegt. Diese Stadt verfügt über zwei Häfen. Einer davon befindet sich zwar innerhalb der Stadtmauern, ist jedoch völlig verborgen und nur über eine sehr enge Zufahrt erreichbar; vom Palast aus konnte man hinein- und hinausfahren, ohne von außen oder von den Stadtbewohnern gesehen zu werden. Der andere städtische Hafen liegt in der Nähe der Stadtmauern. Als die tapfere und weise Artemisia von ihren Spionen erfuhr, daß ihre Feinde anrückten, ließ sie ihre Mannen, von denen sie große Scharen hatte kommen lassen, bewaffnen. Bevor sie jedoch aufbrach, gab sie den Stadtbewohnern und einigen zuverlässigen Leuten, denen sie uneingeschränkt vertraute und die sie zu diesem Zwecke bestimmt und zurückgelassen hatte, die Anordnung, sie sollten bei einem bestimmten, vorher mit ihr vereinbarten Zeichen den Leuten von Rhodos ein Freundschaftssignal geben, ihnen oben von den Stadtmauern zurufen, ihnen mitteilen, man übergäbe ihnen die Stadt, um sie möglichst dazu zu bringen, ihre Schiffe zu verlassen und sich zum Marktplatz der Stadt zu begeben. Nach dieser Anordnung verschwand die edle Frau mit ihrem gesamten Heer durch den kleinen Hafen und segelte über einen Umweg aufs offene Meer hinaus, ohne daß die Feinde es bemerkt hätten. Sobald sie das vereinbarte Zeichen gegeben und dem Signal der Stadtbewohner entnommen hatte, daß die Feinde eingedrungen waren, kehrte sie sogleich über den großen Hafen zurück, bemächtigte sich der feindlichen Flotte, zog in die Stadt und ließ die Leute von Rhodos mit aller Macht und von allen Seiten aus dem Hinterhalt angreifen, woran sie sich mit ihrem Heer beteiligte; auf diese Weise tötete und vernichtete sie alle und trug den Sieg davon.
Aber ein noch größeres Zeugnis ihrer Tapferkeit lieferte Artemisia: sie bestieg dann mit ihrem gesamten Heer die feindlichen Schiffe, segelte nach Rhodos und flaggte das Siegeszeichen, gerade so, als wenn die Landesbewohner siegreich heimkehrten. Als die Einheimischen sie so sahen und annahmen, es handle sich um ihre Landsleute, da freuten sie sich sehr und ließen ihren Hafen geöffnet. Artemisia fuhr hinein, bestimmte einige Krieger dazu, für sie den Hafen besetzt zu halten und marschierte geradewegs auf den Palast zu. Dort nahm sie alle Adligen gefangen und tötete sie; in gleicher Weise wurden die arglosen Bewohner von Rhodos gefangengenommen, und die edle Frau bemächtigte sich der Stadt und bald danach der gesamten Insel Rhodos. Nachdem sie diese gänzlich unter ihre Macht gebracht und tributpflichtig gemacht hatte, ließ sie sie, besetzt von zuverlässigen Leuten, zurück und wandte sich von ihr ab. Bevor sie jedoch losfuhr, ließ sie in der Stadt zwei erzene Standbilder anfertigen; das eine stellte Artemisia als Siegerin, das andere die Stadt Rhodos als Besiegte dar.
Die andere erinnerungswürdige Ruhmestat unter all denen, die diese edle Frau vollbrachte, war folgende: der persische König Xerxes war gegen die Lakedaimonier angerückt; das ganze Land quoll bereits über von seinen Reitern, seinem Fußvolk und seinem großen Heer; das Ufer war voll und besetzt von seiner Flotte, und Xerxes verhielt sich wie jemand, der ganz Griechenland zu -vernichten beabsichtigte. In diesem Augenblick gingen die Griechen, die mit jener Königin Artemisia ein Freundschaftsbündnis hatten, diese um Hilfe an. Sie begnügte sich nicht damit, Beistand zu schicken, sondern, tapfer wie sie war, zog sie selbst mit einem großen Heer los. Um es kurz zu machen: sie verteidigte ihre Stellung dort so gut, daß sie sogleich den Kampf gegen Xerxes begann und diesen vernichtend schlug. Nachdem sie ihn auf dem Lande besiegt hatte, kehrte sie zu ihrer Flotte zurück, setzte sich vor die des Xerxes und lieferte ihm in der Nähe der Stadt Salamis eine Schlacht. Während dieses heftigen Kampfes befand sich die tüchtige Artemisia unter den höchsten Edelleuten und Anführern ihres Heeres, beruhigte diese und machte ihnen Mut durch größte Kühnheit; dabei sprach sie: >Jetzt stürmt los, meine Brüder und edlen Ritter, seht zu, daß die Ehre unser wird! Auf diese Weise erwerbt Ihr Lob und Ruhm, und ich werde mit meinen unendlichen Schätzen nicht geizen.'< Kurz und gut: sie agierte so geschickt, daß sie Xerxes, den sie bereits zu Lande besiegt hatte, auch auf dem Meer vernichtend schlug. Dieser floh in Schimpf und Schande und mit ihm eine gewaltige Zahl von Leuten; denn nach dem Zeugnis mehrerer Geschichtsschreiber besaß er ein so großes Heer, daß überall dort, wo sie vorbeizogen, der Lauf der Flüsse und der Quellen versiegte. Auf diese Weise trug jene tapfere Frau diesen verdienstvollen Sieg davon und kehrte voller Ruhm, geschmückt mit dem Diadem der Ehre, in ihre Heimat zurück.

HIER WIRD VON LILLI[1] DER MUTTER DES TAPFEREN RITTERS
THEODERICH, ERZÄHLT.

XXII.

Selbst wenn die edle Lilli nicht selbst an der Schlacht teilnahm, soll man sie deshalb nicht sehr loben aufgrund ihrer Umsicht? Sie ermahnte nämlich, wie du gleich hören wirst, ihren Sohn Theoderich, den unerschrockenen Ritter, in den Kampf zurückzukehren. Dieser Theoderich war in seiner Zeit einer der bedeutendsten Fürsten im Palast des Kaisers von Konstantinopel; er war von übergroßer Schönheit, erfahren und tapfer im Ritterhandwerk und außerdem, dank der überaus guten Erziehung und der Ermahnungen seiner Mutter, sehr tugendhaft und von vorbildlichem Betragen.
Nun geschah es, daß ein Fürst namens Odoaker gegen die Römer anrückte, in der Absicht, diese und ganz Italien, falls ihm das möglich sein sollte, zu vernichten. Und da die erwähnten Römer den oben genannten Kaiser von Konstantinopel um Hilfe angingen, schickte dieser ihnen Theoderich, die Zierde seiner Ritterschaft, in Begleitung eines gewaltigen Heeres. Als er in geregelter Schlachtordnung gegen jenen Odoaker kämpfte, wendete sich sein Geschick derartig gegen ihn, daß er sich aus Furcht gezwungen sah, in der Nähe der Stadt Ravenna Zuflucht zu suchen. Als nun die hochherzige und weise Mutter, die die Schlacht mit großer Anteilnahme verfolgte, ihren Sohn fliehen sah, schmerzte sie das sehr, denn sie war der Meinung, man könne einem Ritter keinen größeren Vorwurf machen als den, während einer Schlacht das Weite gesucht zu haben. In diesem Augenblick ließ ihre hochherzige Gesinnung sie jegliches mütterliche Mitleid vergessen, so daß sie es vorzog, ihren Sohn einen ehrenvollen Tod sterben als mit einer derartigen Schmach befleckt zu sehen. Deshalb stellte sie sich ihm sogleich entgegen und bat ihn inständig, er möge durch eine solche Flucht nicht seiner Ehre verlustig gehen, sondern seine Leute sammeln und in die Schlacht zurückkehren. Aber da sich jener durch ihre Worte nicht weiter erschüttern ließ, packte die edle Frau ein gewaltiger Zorn; sie hob vorne ihr Gewand in die Höhe und sprach zu ihm: >Wahrlich, schöner Sohn, dann bleibt dir eben kein anderes Ziel für deine Flucht, als wieder in den Bauch, aus dem du kommst, zurückzukehren.<Da schämte sich Theoderich so sehr, daß er nicht weiter daran dachte zu fliehen, seine Leute sammelte und sich erneut dem Kampf stellte; angestachelt durch die Scham, die er bei den Worten seiner Mutter empfand, schlug er sich dort so tapfer, daß er seine Feinde vernichtete und Odoaker tötete. Ganz Italien, das Gefahr lief unterzugehen, wurde so dank der Klugheit jener edlen Frau befreit. Die Ehre dieses Sieges gebührt, so scheint mir, eher der Mutter als dem Sohn.

HIER IST NOCH EINMAL VON KÖNIGIN FREDEGUNDE[1] DIE REDE.

XXIII

Ähnlich groß war die kämpferische Kühnheit jener fränkischen Königin Fredegunde, von der ich dir weiter oben erzählt habe; denn als sie, wie ich dir bereits kurz berichtete, die Witwe ihres Gemahls, König Chilperich, wurde, ihr Sohn Chlothar aber noch ein Säugling war und Krieg im Königreich ausbrach, da richtete sie folgende Worte an die Edelleute: >Edle Herren, erschreckt nicht angesichts der großen Zahl Feinde, die sich auf uns zubewegen. Ich habe nämlich ein Täuschungsmanöver ersonnen, mit dessen Hilfe wir siegen werden; jedoch müßt Ihr mir vertrauen. Jegliche weibliche Furcht will ich aufgeben und mein Herz mit männlicher Kühnheit wappnen, um Euren Mut und den unserer Mannen, aus Mitleid mit Eurem jungen Prinzen, wachsen zu lassen. Deshalb werde ich, mit dem Kind auf dem Arm, allen vorangehen, und Ihr werdet mir folgen; und alles, was ich dem Konnetabel zu tun befohlen habe, das sollt Ihr auch tun.<
Die Barone antworteten, sie möge nur befehlen, sie wollten ihr in allen Dingen bereitwillig gehorchen.
Sie ließ das gesamte Heer eine schöne Aufstellung nehmen; dann setzte sie sich an seine Spitze, hoch zu Roß, ihren Sohn auf dem Arm, gefolgt von den Baronen, und ganz zum Schluß kamen die Reiterheere. So ritten sie bis zum Anbruch der Nacht ihren Feinden entgegen und erreichten dann einen Wald. Dort schnitt der Konnetabel einen großen Zweig von einem Baum, und alle anderen taten ein Gleiches. Sie bedeckten alle ihre Pferde mit belaubten Zweigen, und an manchen brachten sie Glocken und Glöckchen an, mit denen man Pferde versieht, die zum Weiden gehen. In dieser Weise ausgestattet, ritten sie dicht aneinander gedrängt an den Behausungen ihrer Feinde vorbei und hielten die großen, belaubten Zweige des Maiengrüns in der Hand. Kühn wie sie war, ritt die Königin immer noch an der Spitze, ermahnte alle, unter Zuhilfenahme von Versprechungen und sanften Worten, das Richtige zu tun, und hielt dabei den kleinen König auf dem Arm; die Barone, die alle von großem Mitleid erfüllt und nun stärker zur Wahrung seines Rechts motiviert waren, folgten. Als sie meinten, sich ihren Feinden genügend genähert zu haben, hielten sie an und verharrten in völliger Lautlosigkeit.
Beim Hereinbrechen der Morgendämmerung schickten sich die Späher des feindlichen Heeres, die sie sahen, an zu sagen: 'Schaut, was für ein großes Wunder sich ereignet hat: gestern abend noch gab es in unserer Nähe weder Busch noch Wald, und nun steht dort ein riesiger, dichter Wald!' Die anderen, die sich dies anschauten, sagten, der Wald hätte schon vorher existiert haben müssen, das könne gar nicht anders sein; sie seien lediglich zu blöd gewesen, ihn wahrzunehmen; und daß es sich wahrhaftig um einen Wald handle, das könnten die Glocken der weidenden Pferde und Tiere beweisen. Wie sie also dergestalt miteinander diskutierten und nicht im entferntesten an eine List dachten, da warfen plötzlich die Leute des königlichen Heeres ihr Laubwerk ab. Was zuvor in den Augen ihrer Feinde Buschwerk zu sein schien, das entpuppte sich nun als bewaffnete Reiter. Diese stürzten sich auf sie, und zwar so plötzlich, daß den Feinden keine Zeit blieb, zu den Waffen zu greifen; sie lagen auch noch alle auf ihrem Lager ausgestreckt. Die Franken drangen daraufhin in die feindlichen Behausungen ein, töteten alle Leute und machten Gefangene. Dank der Klugheit Fredegundes errangen sie auf diese Weise den Sieg.

HIER IST VON DER JUNGFRAU CAMILLA[1] DIE REDE.

XXIV.

Über hervorragende und kühne Frauengestalten könnte ich ich dir noch eine ganze Menge erzählen; die Jungfrau Camilla stand
an Tapferkeit den Obengenannten nicht nach. Jene Camilla war die Tochter eines sehr alten Volskerkönigs namens Metabus. Ihre Mutter starb bei ihrer Geburt, und bald darauf wurde ihr Vater von seinen eigenen gegen ihn rebellierenden Untertanen um seinen Besitz gebracht. So weit trieben diese es, daß er außer Landes fliehen mußte, um sein Leben zu retten; dabei nahm er nichts mit als Camilla, seine zärtlich geliebte Tochter.
Als er nun an einen breiten Fluß gelangte, den er schwimmend durchqueren mußte, sah er sich in großer Verlegenheit, wußte er doch nicht, wie er sein Töchterchen hinüberbringen sollte. Nachdem er jedoch längere Zeit über dieses Problem nachgedacht hatte, riß er von den Bäumen ein großes Stück Kork und fertigte daraus ein einem winzigen Schiff ähnliches Behältnis. Nun setzte er das Kind hinein, befestigte sein Schiffchen mit Hilfe starker Efeuranken an seinem Arm, ließ sich ins Wasser gleiten, zog schwimmend das Schiffchen hinter sich her und brachte so sich und sein Töchterchen sicher zum anderen Ufer.
Jener König hielt sich im Wald auf, denn aus Angst vor den Spähern seiner Feinde wagte er es nicht, an einen anderen Ort zu gehen. Er ernährte seine Tochter mit der Milch wilder Rehkühe, bis sie kräftiger und größer geworden war; und er kleidete sich und das junge Mädchen in das Fell der Tiere, die er erlegte; sie hatten weder ein anderes Lager noch eine andere Decke.
Als sie größer war, machte sie sich mit Eifer daran, die wilden Tiere zu bekämpfen und sie mit der Schleuder und mit Steinen zu töten; sie verfolgte sie und war dabei flinker als ein Windhund. Dies betrieb sie, bis sie erwachsen war; zu diesem Zeitpunkt verfügte sie über eine erstaunliche kraftvolle Leichtigkeit und Kühnheit. Nachdem sie ihr Vater über das Unrecht aufgeklärt hatte, das seine Untertanen an ihm begangen hatten, verließ sie den Wald und griff zu den Waffen. Kurz und gut: sie unternahm so viel und handelte so überlegt, daß sie selbst in erbitterten Kämpfen, unterstützt von einigen wenigen Verwandten, es schaffte, ihr Land durch Waffengewalt zurückzuerobern. Später gab sie das Waffenhandwerk nicht auf und erwarb in dieser Hinsicht erstaunlichen Ruhm. Aber so stolz war ihr Sinn, daß sie sich niemals dazu herabließ, einen Gatten zu nehmen oder sich mit einem Manne zu paaren. Jene Camilla war die Jungfrau, die, wie in den Geschichtswerken erwähnt wird, Turnus gegen Aeneas zu Hilfe kam, als er nach Italien zog.

HIER IST VON DER KÖNIGIN VERONIKA VON KAPPADOKIEN[1] DIE REDE.

XXV.       

In Kappadokien gab es eine Königin namens Veronika; als Tochter des mächtigen Königs Mithridates, der einen großen Teil des Orients beherrschte, war sie edler Abstammung und Gesinnung; sie war die Gemahlin des Königs Ariarathes von Kappadokien. Diese edle Frau wurde Witwe, und während ihrer Witwenschaft zettelte ein Bruder ihres verstorbenen Gatten einen Krieg gegen sie an, um sie und ihre Kinder um ihr Erbe zu bringen. Als in diesen Kämpfen ein Onkel in einer Schlacht zwei seiner Neffen, das heißt: die Söhne eben jener Dame, tötete, schmerzte sie das sehr, und ihre Wut befreite sie von jeglicher weiblichen Furcht. Deshalb griff sie selbst zu den Waffen, zog mit einem großen Heer gegen ihren Schwager und war schließlich so erfolgreich, daß sie ihn eigenhändig tötete, mit ihrem Wagen über ihn hinwegfuhr und in der Schlacht den Sieg errang.

HIER WIRD VON CLELIAS[1] KÜHNHEIT ERZÄHLT

XXVI.

Die edle Römerin Clelia war eine kühne und kluge Frau, obgleich sie das nicht in einem Krieg oder einer Schlacht unter Beweis stellte; vielmehr verhielt es sich so, daß eines Tages, aufgrund bestimmter fester Zusagen zwischen ihnen und einem ehemals feindlichen König, die Römer zur Bekräftigung derselben ihm als Geiseln die edle Jungfrau Clelia und weitere römische Jungfrauen edler Abstammung schicken mußten. Als dieser Zustand schon eine geraume Zeit angedauert hatte, dachte sie bei sich, es füge der Ehre der Stadt Rom gewaltigen Schaden zu, wenn sich so viele edle Jungfrauen als Gefangene in der Hand eines ausländischen Königs befänden. Deshalb wappnete Clelia ihr Herz mit großer Kühnheit, und es gelang ihr, mit süßen Worten und Versprechungen listig ihre Wächter zu täuschen, des Nachts auszubrechen, ihre Gefährtinnen mitzunehmen und bis ans Ufer des Tiber zu kommen. Auf einer Wiese dort fand Clelia ein weidendes Pferd; sie, die im übrigen noch nie auf einem Pferd gesessen hatte, bestieg es und, ohne sich auch nur im geringsten zu fürchten angesichts der Tiefe des Wassers, setzte sie eine ihrer Gefährtinnen hinter sich und brachte sie zum anderen Ufer; auf diese Weise holte sie eine nach der anderen wohlbehalten über und brachte sie nach Rom zu ihren Familien zurück.
Die Römer bewunderten die Kühnheit jener Jungfrau sehr, und selbst der König, der sie als Geisel gefangengehalten hatte, achtete sie aus eben diesem Grunde und hatte sein Vergnügen an dieser Tat. Um die Erinnerung daran für immer lebendig zu halten, ließen die Römer Clelia als junges Mädchen auf einem Pferd malen und brachten dieses Bild an erhabener Stelle auf dem Weg, der zum Tempel führte, an; dort blieb es lange Zeit hängen.
Aber nun sind die Fundamente unserer Stadt ausgehoben, und wir wollen damit beginnen, die hohe Mauer ringsum zu errichten.«

CHRISTINE FRAGT FRAU VERNUNFT, OB ES GOTT JEMALS GEFALLEN HABE,
DEN WEIBLICHEN VERSTAND DURCH DIE ERHABENHEIT
DER WISSENSCHAFTEN ZU ADELN;
FERNER DIE ANTWORT, DIE FRAU VERNUNFT DARAUFHIN GIBT.

XXVII.

Nachdem ich mir dies alles angehört hatte, erwiderte ich der edlen Frau, deren Worte ohne Falsch waren: »Herrin, Gott hat wahrhaftig Erstaunliches über die Kraft jener Frauen, von denen Ihr erzählt, offenbart. Aber ich bitte Euch, klärt mich auch in einer anderen Hinsicht auf: hat es eigentlich jenem Gott, der den Frauen so zahlreiche Begünstigungen gewährte, auch gefallen, einige von ihnen mit überlegener Intelligenz und großer Gelehrsamkeit auszuzeichnen? Außerdem: sind sie überhaupt genügend intelligent für solche Dinge? Dies interessiert mich ganz besonders, behaupten doch die Männer mit großer Beharrlichkeit, der weibliche Verstand sei von nur geringem Auffassungsvermögen.«
Antwort: »Tochter, du kannst schon anhand dessen, was ich zuvor dargelegt habe, erkennen, daß das genaue Gegenteil dieser ihrer Meinung zutrifft. Dies will ich dir ausführlicher darlegen und durch Beispiele beweisen. Noch einmal sage ich dir mit allem Nachdruck: wenn es üblich wäre, die kleinen Mädchen eine Schule besuchen und sie im Anschluß daran, genau wie die Söhne, die Wissenschaften erlernen zu lassen, dann würden sie genauso gut lernen und die letzten Feinheiten aller Künste und Wissenschaften ebenso mühelos begreifen wie jene. Zudem gibt es ja solche Frauen. Wie ich dir weiter oben erläutert habe, verhält es sich folgendermaßen: je stärker die Frauen den Männern an Körperkraft unterlegen, je schwächer und je weniger geschickt sie zu gewissen Dingen sind, desto größere Klugheit und desto mehr Scharfsinn entfalten sie überall dort, wo sie sich wirklich ins Zeug legen.«
»Was sagt Ihr da, hohe Frau? Ich bitte Euch, verweilt doch noch einen Augenblick bei diesem Punkt, wenn es Euch genehm ist. Dieser strittige Punkt wird für die Männer niemals entschieden sein, es sei denn, es läge überzeugendes Material vor; denn sie würden mit dem Argument kommen, man beobachte doch allenthalben, wie unendlich überlegen die Männer den Frauen hinsichtlich ihres Wissens seien.« Antwort: »Weißt du denn, weshalb Frauen weniger wissen?« »Nein, edle Frau — sagt es mir bitte.« »Ganz offensichtlich ist dies darauf zurückzuführen, daß Frauen sich nicht mit so vielen verschiedenen Dingen beschäftigen können, sondern sich in ihren Häusern aufhalten und sich damit begnügen, ihren Haushalt zu versehen. Nichts aber schult vernunftbegabte Wesen so sehr wie die Praxis, die konkrete Erfahrung auf zahlreichen und verschiedenartigen Gebieten.« »Edle Herrin, wenn sie also über einen aufnähme- und lernfähigen Verstand verfügen: weshalb lernen sie dann nicht mehr?« Antwort: »Tochter, das hängt mit der Struktur der Gesellschaft zusammen, die es nicht erfordert, daß Frauen sich um das kümmern, was, wie ich dir zuvor erklärt habe, den Männern aufgetragen wurde. Es reicht, wenn sie den gewöhnlichen Pflichten, zu denen sie erschaffen wurden, nachkommen. Und so schließt man vom bloßen Augenschein, von der Beobachtung darauf, Frauen wüßten generell weniger als Männer und verfügten über eine geringere Intelligenz. Nun schau dir aber einmal die bäuerlichen Bewohner des Flachlandes oder die Bergbewohner an. In verschiedenen anderen Gegenden wirst du ebenfalls Wesen antreffen, die in ihrer Einfalt Tieren gleichen. Und dennoch kann es nicht den geringsten Zweifel geben: die Natur hat sie mit ebensovielen körperlichen und geistigen Gaben ausgestattet, wie die weisesten und erfahrensten Männer, die in den Städten und Kommunen leben. Dies alles ist jedoch mit mangelnder Bildung zu erklären, auch wenn ich dir gesagt habe, unter den Männern und den Frauen seien manche eben klüger als andere. Daß es sehr gelehrte und über die Maßen kluge Frauen gegeben hat, werde ich dir im folgenden darlegen, und zwar im Zusammenhang meiner These von der Ebenbürtigkeit weiblicher und männlicher Intelligenz.

SIE BEGINNT, VON EINIGEN FRAUEN ZU ERZÄHLEN,
DIE VON GROSSER GELEHRSAMKEIT ERLEUCHTET WAREN,
UND SPRICHT ZU BEGINN VON DER EDLEN JUNGFRAU CORNIFICIA[1]

XXVIII

Die edle Jungfrau Cornificia wurde in ihrer Kindheit dank eines Betrugs und einer List gemeinsam mit ihrem Bruder Cornificius zum Unterricht geschickt. Aber dieses erstaunlich kluge kleine Mädchen beschäftigte sich so lange mit literarischen Gegenständen, bis sie die süße Lust des Wissens und Lernens verspürte. Deshalb war es kein Leichtes, sie dieses Vergnügens zu berauben, dem sie sich mit Leib und Seele verschrieben hatte, nachdem sie zuvor allen anderen weiblichen Beschäftigungen abgeschworen hatte. Sie beschäftigte sich längere Zeit so intensiv mit dem Studium der Literatur, daß sie eine hervorragende Dichterin wurde. Ferner beherrschte sie nicht nur die Wissenschaft der Dichtkunst und war in diesem Bereich sehr fruchtbar, sondern schien mit der Milch der philosophischen Lehre genährt: denn sie begehrte alle Wissenschaften zu erfassen und zu beherrschen und erlangte in allen hervorragende Kenntnisse. Das ging so weit, daß sie ihren Bruder, einen überaus bedeutenden Dichter, an höchster Gelehrsamkeit übertraf.
Des weiteren begnügte sie sich nicht mit bloßem Wissen, sondern setzte ihren Geist ein, griff mit der Hand zur Feder und stellte so mehrere äußerst bemerkenswerte Bücher zusammen; diese Schriften und Moraltraktate erfreuten sich zur Zeit des heiligen Gregorius, der sie auch erwähnt, sehr großer Wertschätzung.
Der große italienische Dichter Boccaccio lobte diese Frau in seinem Buch und sagte über sie: >Oh! höchste Ehre gebührt der Frau, die jegliches weibliche Tun aufgegeben und ihren Geist auf Studien sehr hohen wissenschaftlichen Niveaus gerichtet und sich diesen gewidmet hat.< Ferner spricht jener Boccaccio — und bestätigt damit das, was ich dir sagte — von dem Irrtum der Frauen, die an sich selbst und ihrer Intelligenz zweifeln. Als wären sie in den Bergen geboren und ohne Sinn für das Gute und die Ehre, verlieren sie den Mut und behaupten, sie taugten zu nichts anderem als dazu, Männer zu umarmen und Kinder auszutragen und zu erziehen. Und dabei hat sie Gott mit einem scharfen Urteilsvermögen versehen, um sie, wenn sie es nur wollen, in allen Bereichen einzusetzen, in denen die ruhmreichen und hervorragenden Männer wirken. Vorausgesetzt sie sind willens, sich ernsthaft mit diesen Dingen zu beschäftigen, werden diese ihnen ebenso geläufig wie den Männern, und wenn sie sich ernsthaft ins Zeug legen, dann können sie ewigen Ruhm erlangen, dessen Besitz den vorzüglichsten Männern sehr angenehm ist.
Teure Tochter, du siehst daran, wie jener Schriftsteller Boccaccio das bekräftigt, was ich dir zuvor dargelegt habe, und wie er weibliche Gelehrsamkeit lobt und billigt.

HIER WIRD VON DER RÖMERIN PROBA[1] ERZÄHLT.

XXIX.

Von ähnlicher Überlegenheit war die Römerin Proba, die Gattin des Adelphius und selbst Christin. Diese war mit so hervorragenden Geistesgaben ausgestattet und widmete sich so hingebungsvoll dem Studium, daß sie die Sieben Freien Künste***212.29.2.*** perfekt beherrschte und eine hervorragende Dichterin wurde; sie studierte so eifrig die Bücher der Dichter, vor allem die Dichtung Vergils, bis diese ihr bei jeder Gelegenheit im Gedächtnis präsent war. Als sie einmal diese Bücher und diese Dichtung las, sich mit ihrem Geist und Denken sehr auf sie konzentrierte und sie sich deren Bedeutung (nach ihrem Verständnis) klarmachte, kam ihr die Idee, man könne doch nach dem Vorbild dieser Bücher die Heilige Schrift und die Geschichten des Alten und des Neuen Testaments in geschmeidige und gehaltvolle Verse fassen. >Ohne jeden Zweifel<, so der Schriftsteller Boccaccio, >ist es bereits erstaunlich, daß eine solche Überlegung in einem weiblichen Gehirn entstehen konnte; aber noch bewunderungswürdiger ist es<, meint er, >dies auch zu verwirklichen.< Denn erfüllt von dem Wunsch, ihren Plan auszuführen, machte sich jene Frau ans Werk und lief zu den Bucolica, dann zu den Georgica oder der Aeneis (es handelt sich um Bücher gleichen Namens, deren Autor Vergil ist), will sagen: sie blätterte in ihnen herum und las. Dann übernahm sie an einer Stelle ganze Verse, an einer anderen verarbeitete sie einige kleine Teile. In einer äußerst kunstvollen, feinsinnigen und ihrem Gegenstand angemessenen Weise schuf sie vollständige Verse, fügte die kleinen Einzelteile zusammen, paarte und verband sie, unter Beachtung der Regeln und der Kunst, des Versmaßes und der Versverbindung: ohne einen Fehler zu begehen, fügte sie alles so kunstvoll zusammen, daß es kein Mann besser vermocht hätte. Auf diese Weise wurde der Beginn der Welt zum Beginn ihres Buches, und dann gelangte sie über alle Geschichten des Alten und des Neuen Testamentes bis zur Ausgießung des Heiligen Geistes über die Apostel; Vergils Bücher brachte sie mit all dem so geschickt in Einklang, daß derjenige, der nicht um diese Verbindung wußte, glauben mußte, Vergil sei zu gleichen Teilen Evangelist und Prophet gewesen.
Um dieser Dinge willen, so sagt der nämliche Boccaccio, gebührt jener Frau viel Ehre und Ruhm, denn man sieht sehr deutlich, daß sie über eine wahrhaftige und vollständige Kenntnis der heiligen Bücher und der Bände der Heiligen Schrift verfügte, was sogar bei manchem großen Gelehrten und Theologen unserer Tage nicht oft anzutreffen ist.
Jene herausragende Frau bestimmte ferner, dieses ihr Werk, von ihr mit großer Anstrengung geschaffen und zusammengefügt, solle Cento heißen. Und obwohl die zur Erschaffung dieses umfangreichen Werks notwendige Mühe für ein ganzes Menschenleben gereicht hätte, schrieb sie noch andere ausgezeichnete und rühmenswerte Bücher. Unter diesen befindet sich eins, das in Versen geschrieben ist und ebenfalls den Titel Cento trägt, weil es hundert Strophen umfaßt; zu diesem Zwecke bediente sie sich der Dichtung und der Verse des Dichters Homer. Daraus kann man zu ihrem Lob schließen, daß sie nicht nur die lateinische Literatur kannte, sondern auch mit der griechischen aufs beste vertraut war. Boccaccio sagt, den Frauen müsse es großes Vergnügen bereiten, etwas über diese Frau und diese Dinge zu erfahren.

HIER IST DIE REDE VON SAPPHO[1] DER HÖCHST
SCHARFSINNIGEN DICHTERIN UND PHILOSOPHIN.

XXX.

Die weise Sappho, die ein junges Mädchen aus der Stadt Mitylene war, verfügte über nicht weniger Wissen als Proba. Jene Sappho besaß einen sehr schönen Körper und ein sehr schönes Gesicht; ihre Haltung, Auftreten und Sprache waren äußerst angenehm und wohlgefällig. Aber ihre übergroße Klugheit stellte alle anderen Gaben, mit denen sie versehen war, in den Schatten: sie war sehr bewandert und hochgebildet in mehreren Künsten und Wissenschaften und kannte sich nicht nur in der Literatur und den Schriften anderer aus, sondern schuf selbst manch Neues; so schrieb sie mehrere Bücher und Traktate. Über sie sagt der Dichter Boccaccio in der Süße der Dichtersprache folgende Worte: >Sappho, die unter den tierischen und unwissenden Männern ihres lebendigen Geistes und ihrer brennenden Wißbegier wegen geschmäht wurde, hielt sich auf dem Gipfel des Berges Parnassos, einem idealen Ort für Studien, auf. In ihrer glücklichen Kühnheit und ihrem Wagemut mischte sie sich, ohne fortgejagt zu werden, unter die Musen, das heißt unter die Künste und Wissenschaften. Und sie gelangte in den Lorbeerwald voll Maiengrün, Blattwerk, verschiedenfarbigen Blumen, süßen Düften und Kräutern verschiedener Art, in dem Grammatik, Logik und die edle Rhetorik, Geometrie und Arithmetik der Ruhe pflegen und ihre Bleibe haben. Sie setzte ihren Weg fort, bis sie zur tiefen Höhle Apolls, des Gottes der Wissenschaft, kam; dort fand sie das Rinnsal und die Wasserleitung zur Quelle Castolio. Sie ergriff das Plektron und griff in die Saiten der Harfe und ließ gemeinsam mit den Nymphen, die den Tanz anführten, liebliche Melodien nach den Regeln der Harmonie und des Wohlklangs erklingen.<
Den Dingen, die Boccaccio über sie sagt, läßt sich ihre übergroße Klugheit entnehmen; die von ihr verfaßten Bücher waren von so tiefer Gelehrsamkeit, daß ihre Sentenzen selbst für sehr kluge und gebildete Männer große Bedeutung besitzen, wie es die Alten bezeugen. Ihre Schriften und Dichtungen haben bis auf den heutigen Tag überlebt; sie sind in ihrer Machart und Komposition rühmenswert und dienen den Nachgeborenen als Licht und Beispiel vollkommener Dichtkunst und poetischen Schaffens. Sie ersann mehrere Lied- und Gedichtformen, Lais[2] herzerschütternde Trauergedichte, merkwürdige Klagelieder über die Liebe und andere Gefühle, sehr gut geschrieben und in einer vollkommenen Form, die man nach ihr »sapphische Ode« genannt hat. Über ihre Dichtung berichtet Horaz, man habe nach dem Tode Platons, des großen Philosophen und Lehrers von Aristoteles, das Buch mit den Gedichten der Sappho unter seinem Kopfkissen gefunden.
Um es kurz zu machen: diese edle Frau war so überaus gebildet, daß ihre Heimatstadt ihr zu Ehren und zur ewigen Erinnerung ein ehernes, hochaufragendes und ihr gewidmetes Abbild herstellen ließ. Ferner wurde jene Frau in die Reihe der großen, ruhmreichen Dichter eingeordnet, und Boccaccio sagt, weder die mit königlichen Diademen und Kronen noch mit den Mitren der Erzbischöfe verbundenen Ehrungen oder die der Sieger — Lorbeerkränze und Palmenkronen — seien bedeutender.
Ich könnte dir noch eine Menge über gelehrte Frauen erzählen. Die Griechin Leontion[3] war ebenfalls eine so bedeutende Philosophin, daß sie es wagte, unter Rekurs auf lautere und wahrheitskräftige Argumente, den in seiner Zeit hochberühmten Philosophen Theophrast zu tadeln und anzuklagen.

HIER IST VON DER JUNGFRAU MANTO[1] DIE REDE.

XXXI.

Wahrlich, du mußt wissen: so wie die Wissenschaften von den Frauen erfaßt werden können und von ihnen erlernt werden sollten, ebenso wenig ist ihnen, wie du nun hören wirst, der Zugang zu den Künsten verwehrt. Früher, zur Zeit des Heidentums, bedienten sich die Menschen der Orakel, um die Zukunft zu ergründen -- so etwa durch den Flug der Vögel, die Flammen des Feuers und die Eingeweide toter Tiere. Dies war eine eigenständige Kunst oder Wissenschaft, die sich bei ihnen einer hohen Wertschätzung erfreute. Eine unübertroffene Meisterin dieser Kunst war ein junges Mädchen, die Tochter des Tiresias, der Hoherpriester der Stadt Theben war — heute würden wir sagen: Erzbischof —, denn in den heidnischen Religionen waren die Priester verheiratet.
Diese Frau, die Manto hieß und zur Zeit des Königs Ödipus von Theben in der Blüte ihrer Jahre stand, besaß einen so scharfen und hervorragenden Verstand, daß sie die Kunst der Pyromantik (dies bedeutet: das Weissagen aus dem Feuer) vollendet beherrschte. In grauer Urzeit praktizierten sie die Chaldäer, die diese Kunst erfunden hatten; andere wiederum behaupten, der Riese Nimrod habe sie erfunden. Jedenfalls gab es in ihrer Zeit niemanden, der sich besser mit den Bewegungen der Feuerflammen und ihren Farben, dem Geräusch des Feuers auskannte, desgleichen mit den Blutadern der Tiere, mit Pferdehälsen und tierischen Eingeweiden; aus diesem Grunde glaubte man, sie brächte durch ihre Künste oft die Geister zum Sprechen und bewöge diese dazu, ihr zu sagen, was sie zu erfahren begehrte.
Zu Lebzeiten jener edlen Frau wurde Theben wegen der Kämpfe unter den Söhnen des Königs Ödipus zerstört. Deshalb zog sie fort, um sich in Asien niederzulassen; dort errichtete sie dem Gott Apollo, dessen Ruhm damals groß war, einen Tempel. Sie beendete ihr Leben in Italien, und man benannte, als Huldigung an ihre Bedeutung, eine Stadt dieses Landes nach jener edlen Frau — Mantua — die auch heute noch existiert und in der Vergil geboren wurde.

HIER IST DIE REDE VON MEDEA[1] UND EINER
ANDEREN KÖNIGIN NAMENS CIRCE[2]

XXXII.

Medea, die in vielen Geschichtswerken erwähnt wird, war J. VJL nicht weniger erfahren in Künsten und Wissenschaften als jene, von der zuvor erzählt wurde. Sie war die Töchter des Königs Aietes von Kolchis und Persien, sehr schön, hoch und gerade gewachsen und besaß äußerst liebliche Gesichtszüge. Bezüglich des Umfangs ihrer Kenntnisse jedoch stellte sie alle anderen Frauen in den Schatten: sie wußte um die Eigenschaften aller Kräuter und um allen möglichen Zauber, und es gab keine erlernbare Kunst, die sie nicht beherrscht hätte. Mit Hilfe einer ihr bekannten Zauberformel brachte sie es fertig, die Luft zu trüben und zu verdunkeln, aus den Graben und Höhlen der Erde Winde sich erheben, Unwetter sich in der Luft bilden zu lassen, den Lauf der Flüsse anzuhalten, Gifte zuzubereiten, mühelos Feuer entstehen zu lassen, um alles Beliebige zu verbrennen, und dergleichen mehr. Sie war es, die Jason durch ihre Zauberkunst dabei half, das Goldene Vlies zu erobern.
Circe war ebenfalls die Königin eines Landes am Meer, das an Italien angrenzt. Diese edle Frau war so beschlagen in der Zauberkunst, daß es nichts gab, was sie ausführen wollte und dank ihrer Zauberei nicht realisiert hätte. Mit Hilfe eines Tranks, den sie verabreichte, verstand sie es, menschlichen Körpern die Form von wilden Tieren und Vögeln zu geben: dies wird in der Geschichte des Odysseus bezeugt, wo beschrieben wird, wie dieser nach der Zerstörung Trojas umkehrte und glaubte, in seine griechische Heimat zurückzukehren, Fortuna jedoch und das Unwetter seine Flotte durch viele Stürme hindurch so lange bald hierhin, bald dorthin trieben, bis sie endlich im Hafen der Stadt der Königin Circe anlegten. Da jedoch der weise Odysseus auf keinen Fall ohne die Erlaubnis und Befugnis der Königin jenes Reiches an Land gehen wollte, schickte er seine Ritter zu ihr, um zu erfahren, ob es ihr genehm sei, wenn sie ihre Boote verließen. Aber jene edle Frau, die sogleich Feinde in ihnen witterte, flößte den zehn Gefährten ihren Zaubertrank ein, so daß sie im Handumdrehen in Schweine verwandelt wurden. Aber sofort danach ging Odysseus zu ihr und bewirkte ihre Rückverwandlung in ihre ursprüngliche Form. Ähnliches wird von manchen über Diomedes, einen anderen griechischen Fürsten, erzählt; sobald er in den Hafen der Circe kam, verwandelte sie seine Ritter in Vögel, und in diesem Zustand verharren sie noch immer. Diese Vögel sind sehr groß und von anderem Aussehen als normale Vögel; sie sind sehr stolz, und die Einheimischen nennen sie Diomeden.«

CHRISTINE FRAGT FRAU VERNUNFT,
OB JEMALS EINE FRAU AUS EIGENEM ANTRIEB
EINE ZUVOR UNBEKANNTE FERTIGKEIT ERFUNDEN HABE.

XXXIII.

Ich, Christine, die ich diese Dinge aus dem Munde von Frau Vernunft vernommen hatte, erwiderte ihr in diesem Augenblick folgendes: »Edle Frau, ich erkenne, daß es Euch keine Mühe bereiten würde, genügend und sogar sehr viele Frauen anzuführen, die sich in verschiedenen Wissensgebieten auskennen. Aber ich frage Euch: könnt Ihr mir auch solche Frauen nennen, die dank ihrer Verstandesgaben, ihres Scharfsinns und ihrer Intelligenz aus eigenem Antrieb irgendwelche neuartigen, wichtigen, sinnvollen und nützlichen Künste und Fertigkeiten erfunden haben, die zuvor nicht bekannt waren? Denn es ist schließlich keine große Kunst, einem anderen in der Übernahme und im Erlernen von Fertigkeiten zu folgen; etwas ganz anderes ist es, selbst etwas Neues und Ungewöhnliches zu erfinden.« Antwort: »Sei ganz im Gegenteil versichert, daß zahlreiche berühmte und bedeutende Fertigkeiten und Künste weiblicher Intelligenz und dem Scharfsinn von Frauen zu verdanken sind. Dies gilt sowohl für theoretische, schriftlich fixierte Überlegungen als auch für die praktisch-technische Ausführung, für die Entwicklung handwerklicher und arbeitstechnischer Errungenschaften. Dafür kann ich dir viele Beispiele anführen.
Zuallererst will ich dir von der edlen Nikostrate erzählen, die die Bewohner Italiens Carmentis[1] nennen. Diese Frau, die Tochter des Königs Pallas von Arkadien, war überdurchschnittlich intelligent und von Gott mit besonderen geistigen Gaben versehen. So kannte sie sich etwa in der griechischen Literatur sehr gut aus und verfügte ferner über eine so elegante und wohlgesetzte Sprache, über eine so erstaunliche Redegewandtheit, daß die zeitgenössischen Dichter in ihren Werken von ihr behaupteten, sie sei die Geliebte des Gottes Merkur und habe von diesem Gott einen Sohn empfangen, den sie in Wirklichkeit von ihrem Gemahl, einem für seine Zeit äußerst gebildeten König, hatte.
Aufgrund gewisser Veränderungen in ihrer Heimat ging diese vornehme Frau außer Landes und gelangte in Begleitung ihres Sohnes, gefolgt von einer großen Menschenschar und einer großen Flotte nach Italien und kam an den Tiber. Dort landete sie, bestieg dann einen hohen Berg, den sie nach ihrem Vater Palatin nannte und auf dem die Stadt Rom gegründet wurde.
An diesem Ort legte jene edle Frau mit ihrem Sohn und ihrem Gefolge den Grundstein für eine Burg. Weil sie alle Einheimischen als völlig unzivilisiert betrachtete, schuf sie bestimmte Gesetze, durch die sie die Landesbewohner dazu anhielt, nach dem Gebot von Recht und Vernunft zu leben und sich an der Gerechtigkeit zu orientieren. Sie war also die erste, die in diesem in späteren Zeiten als Wiege des Rechts so berühmten Land Gesetze aufstellte.
Göttliche Eingebung und prophetischer Geist, über den sie neben ihren anderen Gaben in besonderem Maße verfügte, ließen diese edle Frau wissen, daß jenes Land, geadelt durch Überlegenheit und Ruhm, sich einst über alle anderen Länder der Welt erheben würde. Da dünkte es sie, es ginge nicht an, wenn die Hoheit des die gesamte Erde beherrschenden Römischen Reiches heranbräche, daß die Römer Schriftzeichen und Buchstaben verwendeten, die sich im Vergleich zu denen anderer Länder merkwürdig und minderwertig ausnähmen. Um zugleich kommenden Jahrhunderten ihre Weisheit und die Vortrefflichkeit ihres Geistes zu beweisen, arbeitete und studierte sie so lange, bis sie originelle und von denen anderer Nationen gänzlich verschiedene Buchstaben erfunden hatte: das heißt das ABC und die lateinische Schrift, die Verbindung der Buchstaben, den Unterschied zwischen Vokalen und Konsonanten und alle Anfangsgründe der Wissenschaft der Grammatik. Diese Buchstaben und diese Wissenschaft machte sie den Leuten zugänglich und wollte, daß sich alle damit vertraut machten.
Es ist also weder eine unbedeutende noch überflüssige Fertigkeit, die jene Frau erfand. Auf diese Weise machte sie sich sehr verdient, und man kann getrost sagen, daß kaum etwas anderes der Überlegenheit dieser Kunst und ihrem Nutzen und Vorteil für die Welt gleichkommt.
Die Italiener haben sich hinsichtlich dieser Wohltat nicht als undankbar erwiesen, und dies völlig zu Recht. So wunderbar dünkte sie dies, daß sie diese Frau nicht nur höher als einen Mann einschätzten, sondern sie als eine Göttin betrachteten und ihr deshalb zeit ihres Lebens mit göttlichen Ehrerbietungen huldigten. Nach ihrem Tode errichteten sie am Fuße des Berges, wo sie gewohnt hatte, einen Tempel und weihten ihn ihrem Namen. Und um jene edle Frau für immer in der Erinnerung fortleben zu lassen, übernahmen sie mehrere Namen aus der von ihr ersonnenen Kunst und verliehen des weiteren ihren Namen verschiedenen Dingen: so nannten sie selbst, die Bewohner dieses Landes, sich in großen Ehren »Lateiner«, weil das Wissen um das Lateinische von jener Dame ersonnen worden war. Und weiter: weil »ita«, was im Französischen soviel bedeutet wie »oui«, im Lateinischen die höchste Form der Bejahung ist, gaben sie sich nicht damit zufrieden, jenen Landstrich »lateinisches Land« genannt zu sehen, sondern wollten, daß das ganze Land jenseits der Berge, das sehr groß ausgedehnt ist und manche verschiedene Gegenden und Herrschaftsgebiete besitzt, Italien hieße.
Nach jener edlen Frau Carmentis wurden Gedichte auf Lateinisch »Carmen« genannt; und selbst die Römer, die lange Zeit danach kamen, nannten eines der Tore der Stadt Rom »Carmentalis porta«.
So reich die Römer auch wurden und soviel Macht einige ihrer Herrscher errangen, daran änderten sie nichts, wie man noch heute daran erkennen kann, daß diese Dinge noch immer bestehen.
Was willst du noch mehr, schöne Tochter? Läßt sich über einen von einer Frau geborenen Mann Großartigeres sagen? Aber glaub nur nicht, jene sei die einzige Frau auf der Welt gewesen, der mehrere und verschiedenartige Fertigkeiten zu verdanken wären.

HIER IST DIE REDE VON MINERVA***212.34.1.***
DIE VERSCHIEDENE FERTIGKEITEN UND DIE MÖGLICHKEIT,
WAFFEN AUS EISEN UND STAHL ZU SCHMIEDEN, ERSANN.

XXXIV.

Wie du selbst an anderer Stelle geschrieben hast, war Minerva eine griechische Jungfrau mit dem Beinamen Pallas. Jene Jungfrau besaß einen so großen Scharfsinn, daß die närrischen Menschen von damals, die nicht genau wußten, wer die Eltern der Minerva waren, und die sie außerordentliche Dinge vollbringen sahen, behaupteten, sie sei eine Göttin und käme aus dem Himmel.
Denn je weniger sie von ihrer Herkunft wußten — das sagt jedenfalls Boccaccio — desto erstaunlicher mutete sie Minervas großes Wissen und ihre Überlegenheit über alle Frauen ihrer Zeit an. Sie war äußerst scharfsinnig und beschlagen, und zwar nicht nur in einem Bereich, sondern in allen Gebieten. In ihrer Klugheit ersann sie einige griechische Buchstaben, die man »Charaktere« nennt und mit deren Hilfe man eine lange Aufzählung von Dingen schriftlich mit wenigen und in kurzer Zeit zu schreibenden Lettern wiedergeben kann; die Griechen arbeiten noch heute damit: es war eine kluge und Scharfsinn erfordernde Erfindung. Sie ersann die Zahl, die Technik des Zählens und des schnellen Addierens. Kurz und gut, sie besaß einen dermaßen von Wissen erleuchteten Geist, daß sie verschiedene Künste und neuartige Gegenstände ersann, an die zuvor niemand gedacht hatte: die Kunst des Wollwebens und der Tuchherstellung sind gänzlich ihre Erfindungen, und sie dachte als erste daran, den Schafen die Wolle zu scheren, diese zu streichen, zu kämmen, mit verschiedenem Werkzeug zu kardieren, zu reinigen, mit Eisenspießen weich zu machen, mit dem Rocken zu spinnen; ferner ersann sie die Werkzeuge zur Tuchherstellung und schließlich zum Weben. Desgleichen stammt die Technik, Öl aus Oliven zu gewinnen und Obst zu pressen, um diesem die Flüssigkeit zu entziehen, von ihr.
Ebenso erfand sie die Technik und die Gepflogenheit, Wagen und Karren herzustellen, um Gegenstände einfacher von einem Ort zum anderen zu transportieren.
Ferner tat diese edle Frau noch mehr und noch Erstaunlicheres, liegt es doch der weiblichen Natur eigentlich fern, an so etwas zu denken: sie erfand die Technik und die Möglichkeit, die Rüstung und die Waffen aus Eisen und Stahl herzustellen, die die Ritter und die Kriegsleute in der Schlacht benutzen und mit denen sie ihren Körper schützen; dies vermittelte sie zuerst den Athenern, denen sie auch beibrachte, welche Ordnung bei der Aufstellung eines Heeres und in einer Schlacht zu befolgen und in welcher sinnvollen Ordnung zu kämpfen sei.
Desgleichen erfand sie als erste Flöten und Flageolette, Trompeten und Blasinstrumente. Klug wie sie war, blieb diese bedeutende Frau ihr ganzes Leben lang Jungfrau. Und wegen der ihr eigenen großen Keuschheit schreiben die Dichter in ihren Dichtungen, Vulkan, der Gott des Feuers, habe lange mit ihr gekämpft, bis sie ihn schließlich besiegt und überwunden habe: dies bedeutet, sie überwand die Hitze und die Begierde des Fleisches, die in der Jugend sehr mächtig sind. Aus diesem Grunde hatten die Athener eine so große Hochachtung vor dem Mädchen, daß sie Minerva gleich einer Göttin verehrten und sie die Göttin der Waffen und des Rittertums nannten, weil sie als erste deren Brauch erfand; sie nannten sie ebenfalls Göttin des Wissens wegen der großen Klugheit, mit der sie so reich bedacht war.
Nach ihrem Tod ließ man ihr in Athen einen ihrem Namen geweihten Tempel errichten. Innen stellte man ihr Bildnis auf, auf dem der Körper und das Gesicht eines jungen Mädchens zu sehen waren, die auf diesem Bild Weisheit und Rittertum bedeuteten: die Augen auf diesem Bild waren schrecklich und grausam, weil es die Aufgabe des Rittertums ist, strenge Gerechtigkeit zu üben; außerdem bedeutete es, daß man nur selten ergründen kann, worauf die Absicht des Weisen zielt. Auf dem Kopf trug sie einen Helm, was bedeutet, daß ein Ritter beim Waffengang Kraft im gestählten und beständigen Herzen verspüren muß; ferner bedeutete es, daß die Ratschläge des Weisen verdeckt, geheimnisvoll und verborgen sind. Sie war in ein Panzerhemd gekleidet, das die Macht des ritterlichen Standes darstellte und zugleich bedeutete, daß der Weise stets gegen die Wechselfälle des Schicksals, sei es zum Guten oder zum Bösen, gewappnet ist. Sie hielt einen Lanzenschaft mit einer sehr langen Lanze, die bedeutete, daß der Ritter der Stab der Gerechtigkeit zu sein hat; außerdem bedeutete es, daß der Weise seine Pfeile aus weiter Entfernung einstechen läßt. An ihrem Hals hing ein Schild aus Kristall, der bedeutete, daß der Ritter stets wachsam sein und an allen Orten um die Verteidigung des Landes und des Volkes besorgt sein muß; zugleich besagte es, daß dem Weisen alle Dinge offenkundig und deutlich sind. In der Mitte dieses Schildes war der Kopf einer Schlange, die man Gorgon nannte, abgebildet; sie bedeutete, daß der Ritter im Umgang mit seinen Feinden listig und wachsam wie die Schlange zu sein hat; zugleich bedeutete es, daß sich der Weise aller Schliche gewahr ist, durch die man ihm schaden könnte. Des weiteren stellten sie neben dieses Bild, gleichsam zu seiner Bewachung, einen Vogel, der des Nachts fliegt und den man Eule nennt; er bedeutete, daß ein Ritter Tag und Nacht zur Verteidigung des Gemeinwesens bereit sein muß, falls dies nötig sein sollte; zugleich bedeutet dies, daß der Weise zu jeder Stunde darüber wacht, was ihm zu tun günstig ist. Diese edle Frau wurde über einen langen Zeitraum hinweg sehr verehrt, und ihr Ruhm verbreitete sich so sehr, daß ihr an verschiedenen Orten geweihte Tempel errichtet wurden. Selbst als lange Zeit später sich die Römer auf dem Höhepunkt ihrer Macht befanden, stellten sie ihr Bild neben ihre anderen Götter.

HIER WIRD VON DER KÖNIGIN CERES[1] ERZÄHLT,
DIE DIE KUNST DES ACKERBAUS UND MANCH
ANDERE FERTIGKEIT ERSANN.

XXXV.

Ceres, die in grauer Urzeit Königin des Königreiches Sizilien war, kommt das Vorrecht zu, in ihrer großen Klugheit die Kunst und den Brauch des Ackerbaus und die dazugehörigen Werkzeuge erfunden zu haben. Sie lehrte ihre Untertanen zu zählen, die Rinder zu zähmen und diese daran zu gewöhnen, paarweise vor das Joch gespannt zu werden; des weiteren erfand sie den Pflug und lehrte sie, mit Eisenwerkzeugen die Erde zu durchziehen und zu lockern, desgleichen alle Arbeitsgänge, die dazu gehören. Danach lehrte sie sie, Saatgut in dieser Erde auszusäen und es dann zuzudecken. Dann, nachdem das Ausgesäte gewachsen war und sich vermehrt hatte, brachte sie ihnen bei, das Getreide zu mähen und mit Dreschflegeln zu bearbeiten, um das Korn aus den Ähren zu lösen. Ferner vermittelte sie ihnen die Technik, es zwischen harten Steinen zu mahlen, Mühlen zu bauen und schließlich Brot und Mehl herzustellen. Auf diese Weise lehrte jene hochherzige Frau die Menschen, die sich bis zu diesem Zeitpunkt wie Tiere von Eicheln, wildem Korn, Äpfeln und Mehlbeeren ernährt hatten, eine angemessenere Nahrung zu sich zu nehmen.
Aber noch mehr bewirkte jene, denn sie ließ die Menschen von damals, die es gewohnt waren, hier oder da im Wald und an abgelegenen Orten zu leben und wie Tiere umherzuziehen, sich zu großen Scharen versammeln und brachte ihnen bei, feste Städte und Siedlungen zu errichten, um dort gemeinschaftlich zu leben. So war es das Verdienst dieser edlen Frau, die Epoche der Bestialität in eine menschenwürdige und vernünftige Existenzform einmünden zu lassen.
Zu dieser Ceres ersannen die Dichter die Sage von dem Raub ihrer Tochter durch den Höllengott Pluto. Wegen ihres vielgeschätzten Wissens und der großen Wohltaten, die sie in die Welt gebracht hatte, beteten die Menschen von damals sie an und nannten sie Göttin des Getreides.

HIER IST DIE REDE VON ISIS[1] DIE DIE KUNST,
GÄRTEN ANZULEGEN UND PFLANZEN ZU ZIEHEN, ERFAND.

XXXVI.

In ähnlicher Weise war Isis eine Frau von so großem Wissen in praktischen Dingen, daß man sie nicht nur als Königin von Ägypten, sondern auch als eine mit einzigartigen und ganz besonderen Fähigkeiten ausgestattete ägyptische Göttin bezeichnete. Die Sage berichtet von jener Isis, Jupiter habe sie geliebt; und wie er sie in eine Kuh verwandelt und sie schließlich ihre ursprüngliche Gestalt wiedererlangt habe; dies alles weist, wie du es selbst in deinem Livre de Othea dargestellt hast, auf ihr bedeutendes Wissen hin. Sie erfand mehrere Arten von Kurzschriften, die sie den Ägyptern beibrachte und ihnen so ein Mittel an die Hand gab, ihre überlange Sprache abzukürzen.
Sie war die Tochter des griechischen Königs Inachos und die Schwester des über die Maßen weisen Phoroneus. Mit diesem Bruder begab sich jene Frau aufgrund gewisser Umstände von Griechenland nach Ägypten; dort brachte sie den Ägyptern unter anderem den Brauch des Gartenbaus und des Anbaus und der Veredelung von Pflanzen auf verschiedenen Stöcken bei. Sie schuf und erließ sinnvolle, gerechte Gesetze; sie lehrte die Ägypter, die roh und ohne Gesetz und Regel vor sich hin lebten, nach der Ordnung des Gesetzes zu leben. Kurz und gut, sie tat dort so viel, daß man sie zu Lebzeiten und auch als Tote hoch verehrte. Ihr Ruhm verbreitete sich in der ganzen Welt, so daß ihr überall Tempel und Bethäuser errichtet wurden; und sogar in Rom bauten die Römer in der Zeit der Blüte ihres Imperiums einen der Isis geweihten Tempel. Dort ordneten sie Totenspenden und große Feierlichkeiten an im gleichen Stil, wie man sie ihr in Ägypten darzubringen pflegte.
Der Gatte dieser edlen Frau hieß Apis und war, nach dem Irrglauben der Heiden, der Sohn des Gottes Jupiter und der Niobe, der Tochter des Phoroneus, über die die alten Geschichtsbücher und die Dichter viel zu erzählen wissen.«

VON DEM GROSSEN WOHL, DAS DURCH DIESE EDLEN FRAUEN IN DIE WELT GEKOMMEN IST

XXXVII.

Hohe Frau, ich bin voller Bewunderung angesichts dessen, was ich Euch habe darüber erzählen hören, wieviel Gutes dank weiblicher Klugheit in die Welt gekommen ist. Und dabei behaupten die Männer stets, weibliche Fähigkeiten seien nichts wert; deshalb sagt man gemeinhin als Tadel, wenn von irgendeiner Torheit die Rede ist, dies sei Weiberwissen.
Um es kurz zu machen: die Meinung und die Rede der Männer gehen gewöhnlich dahin zu behaupten, die Frauen taugten zu nichts anderem auf der Welt als zum Kindergebären und Spinnen.«
Antwort: »Daran kannst du die große Undankbarkeit jener, die dies behaupten, erkennen. Sie gleichen jenen, die von bestimmten Gütern leben, deren Ursprung jedoch nicht kennen und niemandem dafür danken. Du kannst auf diese Weise ganz klar erkennen, wie Gott, der nichts ohne Grund tut, den Männern hat bedeuten wollen, daß er das weibliche Geschlecht ebensowenig wie das männliche verachtet, indem es Ihm gefallen hat, im weiblichen Gehirn so viel Klugheit anzusiedeln; und zwar nicht nur genügend Klugheit, um die Wissenschaften zu erlernen und aufzunehmen, sondern aus eigenem Antrieb völlig neue zu erfinden, ja sogar Fertigkeiten von so großer Brauchbarkeit und so großem Nutzen für die Welt, daß nichts notwendiger wäre.
Das kannst du dem Beispiel jener Carmentis entnehmen, von der ich dir zuvor erzählt habe und die die lateinische Schrift erfand. Gott war von dieser Erfindung so angetan und hat die von dieser Frau ersonnene Fertigkeit so sehr verbreitet, daß beinahe der gesamte Ruhm der hebräischen und der griechischen Schrift, die in sehr hohem Ansehen standen, ausgelöscht wurde und beinahe ganz Europa, das einen großen Teil der ganzen Welt darstellt, sich dieser Schrift bedient. In ihr wurden unzählige Bücher und Bände jeder Art verfaßt und geschaffen, in denen zum ewigen Gedächtnis die Taten der Menschen, die edlen und herausragenden Ruhmeswerke Gottes, die Wissenschaften und die Künste aufgezeichnet und bewahrt worden sind. Niemand soll nun behaupten, ich sagte dir diese Dinge aus reiner Gefälligkeit, denn es sind Worte aus Boccaccios Mund, deren Richtigkeit wohl niemand in Zweifel ziehen dürfte.
Daraus kannst du ableiten, daß die von dieser Frau vollbrachten Wohltaten unendlich sind; ihr ist es zu verdanken, wenn die Männer, auch wenn sie es nicht anerkennen, aus dem Zustand der Unwissenheit gezogen und in den der Erkenntnis versetzt worden sind. Ihr verdanken sie die Kunst, die Geheimnisse ihrer Gedanken und Absichten so weit zu senden, wie sie wollen, überall kundzutun und bekanntzumachen, was ihnen beliebt, desgleichen um die Dinge der Gegenwart, der Vergangenheit und zum Teil auch der Zukunft zu wissen; wiederum dank der Klugheit jener Frau können die Männer Abkommen und Freundschaftsbündnisse mit verschiedenen, weit von ihnen entfernten Personen schließen und haben, durch die Antworten, die sie einander geben, die Möglichkeit, einander kennenzulernen, ohne sich zu sehen. Kurz und gut, es ist schier unmöglich, von allen durch die Buchstaben verursachten Wohltaten zu erzählen; denn sie beschreiben Gott, verbreiten seine Kunde und das Wissen um ihn, um die himmlischen Wesen, das Meer, die Erde, alle Menschen und alle Dinge. Deshalb frage ich dich: wo gab es jemals einen Mann, der mehr Gutes bewirkt hätte?

NOCH ÜBER DEN GLEICHEN GEGENSTAND

XXXVIII.

Desgleichen, wo gab es jemals einen Mann, durch den der Welt mehr Gutes geschah als durch jene edle Königin Ceres, von der ich dir zuvor berichtet habe? Wodurch läßt sich je mehr Ruhm erringen als dadurch, die unseßhaften, unzivilisierten, wie wilde Tiere in Wäldern hausenden, gesetzlosen Menschen dazu gebracht zu haben, in Städten und Kommunen zu wohnen und sie den Umgang mit dem Gesetz gelehrt zu haben? Ferner verschaffte sie ihnen Nahrung von besserer Qualität als Eicheln und wilde Äpfel, nämlich Weizen und Getreide, und dank dieser Nahrung wird der menschliche Körper schöner, die Menschen werden heller, die Glieder kraftvoller und beweglicher, denn diese Nahrung bekommt der menschlichen Natur besser und ist passender für sie. Und die Erde voller Disteln, Dornen, ungepflegtem Buschwerk, wildwachsender Bäume: welch größeres Verdienst gibt es, als gelehrt zu haben, sie durch Arbeit zu verschönern und zu säubern und Saat auszusäen, so daß durch Bearbeitung aus dem unbestellten Boden freie, einem individuellen Haushalt zugehörige oder dem gemeinen Nutzen dienende, öffentliche Acker werden? Ebenfalls dieser edlen Frau verdankt die menschliche Natur den Vorteil, von einem rohen, wilden Zeitalter in eine Epoche städtischer Kultur geführt worden zu sein; ferner änderte sie den Sinn der vagabundierenden und trägen Menschen, die in Höhlen des Unwissens hausten, und zog und hob sie auf die Höhe der ihnen angemessenen Betrachtungen und geistigen Anstrengungen. Einige Menschen schickte sie zur Verrichtung der Arbeiten auf die Felder; dank ihrer Anstrengungen wurden viele Städte und Kommunen erneut gefüllt und diejenigen ernährt, die die übrigen zum Leben notwendigen Dinge tun.
Gleiches bewirkte Isis durch die Anlage von Gärten: wer wäre in der Lage, die gewaltige Wohltat in Worte zu fassen, die sie der Welt verschaffte, indem sie lehrte, wie man Bäume, die so viele wohlschmeckende Früchte tragen, und alle Sorten guter Kräuter, die der menschlichen Ernährung sehr angemessen sind, zieht?
Gleiches gilt für Minerva, die die menschliche Natur mit zahlreichen äußerst nützlichen Dingen ihres eigenen Wissensgebietes versah, wie etwa mit Bekleidung aus Wolle (früher trugen sie ausschließlich Tierfelle); ferner enthob sie sie der Mühsal, ihre Gerätschaften auf den Armen von einem Ort zum anderen zu schleppen, denn zu ihrer Entlastung erfand sie die Herstellung von Wagen und Karren; des weiteren ersann sie für die Adligen und die Ritter die Kunst und den Brauch, Rüstungen herzustellen, um ihren Körper im Kriegsfall sicherer zu schützen; dies, Christine, war etwas sehr viel Schöneres, Solideres und Angemesseneres, als das, was sie zuvor hatten und was nur aus Tierhaut bestand!«
Und daraufhin sprach ich zu ihr: »Ah, edle Frau, Eure Worte lassen mich nun deutlicher als je zuvor die außerordentlich große Undankbarkeit und Unwissenheit jener Männer erkennen, die so viel Schlechtes über die Frauen sagen: denn obschon, wie mir scheint, hinreichend Anlaß besteht, sie nicht zu schmähen, weil die Frau jedem Manne Mutter ist und weil es so viele andere Wohltaten gibt, die die Frauen den Männern gemeinhin und ohne jeden Zweifel angedeihen lassen, so ist dies doch nun wahrlich die höchste aller Wohltaten und die edelste aller Gaben, die die Männer von ihnen empfangen haben und auch heute immer noch empfangen. Deshalb hätten die Männer schweigen sollen; schweigen mögen von nun an die frauenverleumderischen Kleriker, all jene, die in Gegenwart und Vergangenheit in ihren Büchern und Dichtungen Übles über die Frauen verbreitet haben, desgleichen ihre Spießgesellen und Verbündeten. Mögen sie voller Scham die Augen niederschlagen angesichts all der Dinge, die sie in ihren Werken zu verbreiten gewagt haben, und in Anbetracht der Wahrheit, die ihren Aussagen so sehr widerspricht; oder auch im Hinblick auf jene edle Carmentis, die in ihrer überlegenen Klugheit den Männern wie eine Schulmeisterin (das können sie schließlich nicht leugnen!) gerade jene Fertigkeit beigebracht hat, dank deren Beherrschung sie sich als so überlegen und hochgeehrt betrachten: die Rede ist vom lateinischen Alphabet!
Was aber sagten die Adligen und die Ritter, von denen so viele und völlig zu Unrecht den Frauen in ihrer Gesamtheit Übles nachsagen? Von nun an mögen sie ihr Mundwerk zügeln und daran denken, daß der Brauch, Waffen zu tragen, Schlachten zu schlagen und in einer bestimmten Schlachtordnung zu kämpfen — dies ein Handwerk, dessen sie sich so sehr brüsten und das sie sich als Verdienst anrechnen — ihnen von einer Frau gezeigt und geschenkt wurde. Ferner: hat, angesichts dieser Wohltaten, die Gesamtheit aller Männer, die sich von Brot ernähren und gesittet und nach einer bestimmten Rechtsordnung in den Städten leben, Anlaß, so viele Frauen zu tadeln und abzulehnen, wie es viele dieser Männer tun? Mit Sicherheit nicht, denn durch Frauen, genauer gesagt durch Minerva, Ceres und Isis, sind sie in den Besitz vieler nützlicher Einrichtungen gelangt, Wohltaten, die in Ehren gehalten werden und von denen sie jetzt und in Zukunft leben. Sind dies gewichtige Dinge?
Ohne jeden Zweifel, edle Frau; mir scheint, weder die Lehre des Aristoteles, die dem menschlichen Verstand so viel Nutzen gebracht hat und um die man zu Recht so viel Aufhebens macht, noch die aller anderen Philosophen, die je gelebt haben, ist für die Welt von ähnlichem Nutzen, wie es diese auf der Klugheit der genannten Frauen beruhenden Werke waren und noch immer sind.« Sie erwiderte mir: »Dies sind nicht die einzigen, vielmehr gibt es noch viele andere; von einigen will ich dir noch erzählen.

HIER WIRD VON DER JUNGFRAU ARACHNE[1] ERZÄHLT,
DIE DIE KUNST DES FÄRBENS VON WOLLE UND DER HERSTELLUNG
EINES FEINEN GEWEBES, »NETZ« GENANNT, ERSANN, DESGLEICHEN
DIE KUNST DES FLACHSANBAUS UND DES WEBENS.

XXXIX.

Wahrlich, Gott hat sich keineswegs damit begnügt, der Welt nur durch jene edlen Frauen zahlreiche nützliche und notwendige Fertigkeiten zu schenken. Es gibt noch viele andere Frauen dieser Art, so etwa eine Jungfrau asiatischer Herkunft, die Arachne hieß, die die Tochter des Idmon von Kolophon war und eine erstaunliche Intelligenz und Erfindungsgabe besaß. Nach längerem Nachdenken erfand sie die Kunst, wie ein Maler Wollfäden in verschiedenen Farben einzufärben und Gewebe und Stoffe in der Art herzustellen, die wir heute Netzgewebe nennen würden. Sie war in allen Bereichen der Webkunst von wunderbarer Geschicklichkeit. Es handelt sich um jene Frau, von der die Sage überliefert, sie habe Athene zu einem Wettkampf herausgefordert, und diese habe sie in eine Spinne verwandelt.
Eine weitere, noch nützlichere Technik erfand diese Frau, war sie doch die erste, die die Fertigkeit entwickelte, Flachs und Hanf anzubauen, zu sammeln, zu rotten, zu schneiden, zu kämmen, mit der Spindel zu spinnen und Tuch herzustellen. Mir scheint, dies gereichte der Welt zu großem Vorteil, auch wenn manche Männer den Frauen gerade die Ausübung dieser Tätigkeiten vorwerfen.
Arachne ersann ebenfalls die Herstellung von allerlei Vorrichtungen wie Schlingen und Netze, um damit Vögel und Fische zu fangen, ferner die Kunst zu fischen und die starken, grausamen und wilden Tiere mit Hilfe von Netzen und Schlingen zu fangen und ihnen Fallen zu stellen, desgleichen den Hasen, Kaninchen und Vögeln, von denen die Männer vorher gar nicht wußten. Mich dünkt, jene Frau tat dadurch nichts Geringes für die Welt, die seitdem manchen Genuß und Vorteil aus diesen Dingen gezogen hat und es auch heute noch tut.
Und dies gilt, obwohl manche Autoren, und unter ihnen selbst jener Dichter Boccaccio, der diese Dinge erzählt, gesagt haben, damals sei es besser um die Welt bestellt gewesen, als die Menschen nur von Mehlbeeren und Eicheln lebten und nichts anderes als Tierfelle trugen, besser als seit dem Zeitpunkt, als man sie Dinge lehrte, die zur Verfeinerung ihres Lebens beigetragen haben. Aber lassen wir einmal seinen Ruhm und den aller anderen beiseite, die behaupten möchten, die Erfindung jener dem Wohlergehen und der besseren Versorgung des menschlichen Körpers dienlichen Dinge habe der Menschheit zum Nachteil gereicht; ich setze folgendes dagegen: je mehr Wohltaten, Gnadenbeweise und bedeutende Gaben der Mensch aus Gottes Hand erhält, desto mehr ist er gehalten, Gott mit all seiner Kraft zu dienen. Und -wenn der Mensch schlechten Gebrauch von den Wohltaten macht, die sein Schöpfer ihm versprochen und verliehen hat, damit sich Mann und Frau ihrer i n sinnvoller, angemessener Weise bedienen, so sind die Schlechtigkeit und die Verderbtheit derjenigen, die diese mißbrauchen, daran schuld. Das bedeutet jedoch keineswegs, daß die Dinge an sich nicht äußerst sinnvoll und nützlich wären, vorausgesetzt allerdings, man benutzt sie und bedient sich ihrer in sinnvoller Weise. Das hat uns Jesus Christus selbst am Beispiel seiner eigenen Person vor Augen geführt; denn er bediente sich des Brotes, des Weins, des Fleisches der Fische, farbiger Kleidung, des Leinens und aller notwendigen Dinge, was er mit Sicherheit nicht getan hätte, wenn es angebracht gewesen wäre, von Mehlbeeren und Eicheln zu leben. Der Erfindung der Ceres, das heißt: dem Brot, ließ er große Ehre zuteil werden, als es ihm gefiel, Mann und Frau in der Form des Brotes eine so würdige Verkörperung zu geben und ihnen auftrug, sich seiner zu bedienen.

HIER IST DIE REDE VON PAMPHILA[1]
DIE DIE KUNST ERFAND, SEIDE VON RAUPEN ZU GEWINNEN,
DIESE ZU FÄRBEN UND SEIDENE STOFFE HERZUSTELLEN.

XL.

Im Zusammenhang mit sinnvollen, zweckmäßigen und nutzbringenden von Frauen ersonnenen Kunstfertigkeiten darf man, neben vielen anderen, auf keinen Fall jene vergessen, die die edle, aus Griechenland stammende Pamphila erfand. Diese Frau war in verschiedenen Bereichen von einer hochentwickelten Erfindungsgabe; es bereitete ihr so viel Vergnügen, unbekannten Dingen nachzugehen und sie auch auszuprobieren, daß sie als erste die Kunst der Seidenherstellung ersann. Da ihr Hang zum Tüfteln und ihre Vorstellungskraft groß waren und sie die Seidenraupen auf den Bäumen des Landes, in dem sie lebte, beobachtete, nahm sie die von diesen Raupen hergestellten Kokons, die sehr schön waren, und schickte sich an, die Fäden mehrerer Kokons zu vereinigen. Dann probierte sie aus, ob dieser Faden sich in verschiedenen Tönen schön einfärben ließe, und nachdem sie dies alles versucht hatte und sah, wie hübsch es war, begann sie, Seidenstoffe herzustellen und zu weben. Dank der Geschicklichkeit jener Frau sind große Schönheit und Nutzen in die Welt gekommen und haben sich in allen Ländern verbreitet. Durch Ziergegenstände verschiedener Art ehrt und dient man auf diese Art Gott; ebenfalls aus Seide sind die kostbaren Gewänder und festlichen Roben der Prälaten für den heiligen Gottesdienst wie auch die der Kaiser, Könige und Fürsten und sogar die der Bewohner eines Landes, die keine anderen Gewänder tragen, weil sie keine Wolle, jedoch sehr viele Seidenraupen haben.

HIER WIRD VON THAMARIS[1] ERZÄHLT,
DIE EINE VORZÜGLICHE MEISTERIN DER MALKUNST WAR;
DESGLEICHEN VON EINER FRAU NAMENS IRENE[2]
UND VON DER RÖMERIN MARCIA[3]

XLI.

Was soll ich dir weiter noch zu dem Thema sagen, ob eine Frau dazu begabt und befähigt ist, abstrakte Wissenschaften zu erlernen oder sogar neue zu ersinnen, desgleichen neue Techniken? Ich versichere dir, daß sie ebenfalls in höchstem Maße dazu fähig und begabt ist, diese, wenn sie sie erlernt hat, auszuüben und in einer sehr klugen Weise in die Praxis umzusetzen. So wird es von einer Frau namens Thamaris überliefert, die in der Kunst und der Wissenschaft des Malens von so großer Begabung war, daß sie zu ihren Lebzeiten den höchsten Rang unter allen bekannten Malern einnahm. Sie war, so berichtet Boccaccio, die Tochter des Malers Myconis und lebte zur Zeit der neunzigsten Olympiade. Olympiade nannte man einen Festtag, an dem verschiedene Spiele veranstaltet wurden; dem Gewinner gewährte man, was er wünschte, vorausgesetzt, es handelte sich um eine vertretbare Angelegenheit. Dieses Fest und diese Spiele wurden zu Ehren des Gottes Jupiter veranstaltet und alle sechs Jahre gefeiert, mit jeweils vier Jahren Zwischenraum zwischen zwei Olympiaden. Als erster ordnete Herkules dieses Fest an; mit der ersten Olympiade ließen die Griechen ihre Zeitrechnung beginnen, ähnlich wie es die Christen mit der Menschwerdung von Jesus Christus tun.
Diese Thamaris, die alle gewöhnlichen weiblichen Beschäftigungen vernachlässigte, erlernte dank ihrer großen Geschicklichkeit die Kunst ihres Vaters, in der sie zur Zeit der Herrschaft des Archelaos über Makedonien große Berühmtheit erlangte; deshalb ließen die Bewohner von Ephesus, die die Göttin Diana anbeteten, von Thamaris ein Bild mit der Darstellung ihrer Göttin malen. Dieses hielten sie noch lange Zeit später als bedeutendes und hervorragendes Kunstwerk in großen Ehren und zeigten dieses Bild nur aus Anlaß des Festes und der Feierlichkeiten zur Huldigung der Göttin. Da dieses Bild über einen langen Zeitraum hinweg existierte, bezeugte es so sehr die künstlerische Fähigkeit dieser Frau, daß man sich bis auf den heutigen Tag ihres Talents erinnert.
Für die Wissenschaft des Malens war eine andere Frau ebenfalls hoch begabt; sie stammte auch aus Griechenland, hieß Irene und war allen ihren Zeitgenossen überlegen. Sie war die Schülerin eines Malers namens Cratinos, der ein hervorragender Künstler war; sie jedoch war so talentiert und eignete sich diese Wissenschaft so vollkommen an, daß sie ihren Meister in erstaunlicher Weise übertraf und in den Schatten stellte. Dies versetzte die Menschen jener Zeit in so großes Staunen, daß sie zu ihrem Andenken ein Bild von ihr anfertigen ließen, das eine malende Jungfrau darstellte, und es, um sie zu ehren, zwischen den Bildern hochberühmter Maler gewisser Gemälde aufstellten, die vor ihr gelebt hatten. Bei den Alten war es nämlich üblich, jene zu ehren, die alle anderen in einer bestimmten hervorragenden Eigenschaft übertrafen — sei es an Wissen, Kraft, Schönheit oder einer anderen Tugend; und um bei den Menschen die Erinnerung an sie fortleben zu lassen, stellte man ihre Abbilder an hochgelegenen und ehrenvollen Stätten auf.
Auch die Römerin Marcia, die ebenfalls eine Jungfrau von großer Tugend, von ehrbarem Leben und Betragen war, besaß eine bedeutende Begabung auf dem Gebiet der Malerei; sie arbeitete so kunstvoll und meisterhaft, daß sie alle Männer, und sogar Gaius und Dionysios, in ihrer Zeit die beiden berühmtesten Maler der Welt, übertraf. Um nichts zu verheimlichen: sie übertraf— das jedenfalls behaupteten die Experten — alles, was man in dieser Wissenschaft leisten konnte. Neben anderen berühmten Werken schuf jene Marcia, damit das Andenken an sie überlebte, ein äußerst kunstvolles Gemälde; es zeigte sie beim Blick in einen Spiegel und war so naturgetreu, daß jeder, der sie sah, sie für lebendig hielt. Noch lange Zeit später wurde dieses Bild mit höchster Sorgfalt aufbewahrt und den Künstlern als berühmtes Kleinod gezeigt.«
Da sagte ich zu ihr: »Edle Frau, diesen Beispielen könnte entnommen werden, daß die Weisen früher sehr viel mehr geehrt und die Wissenschaften ungleich stärker geschätzt wurden. Jedoch kenne ich — da Ihr gerade von einigen in der Malkunst erfahrenen Frauen sprecht — in unserer Zeit eine Frau namens Anastasia[4] die so geübt ist im Malen von Weinblattornamenten zur Verzierung von Büchern und von Hintergrundlandschaften, daß sie alle Künstler der Stadt Paris (die die besten der Welt beherbergt) übertrifft. Niemand zeichnet so feines Blumenwerk und so zarte Miniaturen wie sie, und keiner verkauft seine Arbeit so teuer — so kostbar das Buch bereits sein mag — an den, der es bezahlen kann. Das weiß ich aus eigener Erfahrung, denn sie hat für mich selbst einige Arbeiten hergestellt, die unter den Ornamenten anderer berühmter Künstler eine Sonderstellung einnehmen.« Antwort: »Das glaube ich wohl, teure Tochter; wenn man nur nach ihnen suchte, fände man schon eine große Anzahl begabter Frauen auf der Welt. Immer noch in diesem Zusammenhang will ich dir nun von einer Römerin erzählen.

HIER IST DIE REDE VON SEMPRONIA[1] AUS ROM.

XLII.

Jene Sempronia, die aus Rom stammte, war eine unglaublich schöne Frau. Aber auch wenn sie bereits alle Frauen ihrer Zeit an Schönheit des Körpers und des Angesichts übertraf, so war doch die Schärfe ihres Verstandes von noch größerer Überlegenheit. Ihre Klugheit war so groß, daß es nichts auch noch so Kompliziertes, ob es sich nun um ein Wort oder eine Tat handelte, gab, das sie nicht vollständig und ohne jeglichen Irrtum im Gedächtnis behielt; dank der Geschicklichkeit ihres Körpers gelang ihr alles, was sie wollte, und sie wiederholte alles, was immer sie hörte, wie lang das Erzählte auch sein mochte. Sie beherrschte nicht nur die lateinische, sondern auch die griechische Sprache perfekt und drückte sich schriftlich so geistreich in ihr aus, daß es große Bewunderung hervorrief.
Desgleichen waren ihre Sprache, ihr Antlitz, ihr Auftreten so schön, so anziehend und so einnehmend, daß sie mit ihren Worten und ihrem Verhalten für sich gewinnen konnte, wen sie nur wollte. Denn wenn sie jemanden zum Spielen animieren wollte, so schaffte sie es, auch den ärgsten Trauerkloß aus der Reserve zu locken und ihn zu Heiterkeit und Freude zu bewegen — oder, wenn es ihr in den Sinn kam, in Zorn oder Traurigkeit zu versetzen oder in Tränen ausbrechen zu lassen. Desgleichen vermochte sie, jeden Mann zu Kühnheit, zu irgendeinem Gewaltakt oder einer anderen Unternehmung anzustacheln. Wenn sie es darauf anlegte, verstand sie es, sich alle ihre Zuhörer geneigt zu machen. Hinzu kam, daß ihre Sprechweise und ihre Art sich zu bewegen derartig höfisch und angenehm waren, daß man nicht überdrüssig 'wurde, sie anzuschauen und ihr zuzusehen. Sie verfügte über eine überaus schöne Stimme, spielte mit höchster Kunstfertigkeit alle Tasteninstrumente und ging siegreich aus allen Spielen hervor. Kurz und gut, sie zeigte sich in allen Dingen, auf die sich der menschliche Geist verstehen kann, äußerst geschickt und einfallsreich.«

HIER FRAGT CHRISTINE FRAU VERNUNFT, OB AUCH LEBENSKLUGHEIT
BESTANDTEIL DES NATÜRLICHEN VERSTANDES EINER FRAU SEI;
DIE ANTWORT, DIE FRAU VERNUNFT IHR GIBT.

XLIII.

Ich, Christine, sagte des weiteren zu ihr: »Hohe Frau, ich erkenne sehr wohl, daß Gott (gelobt sei er dafür!) den weiblichen Verstand wirklich für das Verstehen, Analysieren und Memorieren aller begreifbaren Dinge gemacht hat. Aber angesichts so vieler Menschen, deren hohe Intelligenz sie dazu befähigt, alles zu verstehen und zu erfassen, was ihnen beigebracht wird; die so klug und mit einer solchen Auffassungsgabe versehen sind, daß ihnen keine Wissenschaft verschlossen bleibt; und die durch eifriges Studium eine gewaltige Gelehrsamkeit erwerben, wundere ich mich darüber, daß gerade unter den Berühmtesten, den großen Gelehrten und Hochgebildeten, so viele in ihrem eigenen Verhaken und in weltlichen Angelegenheiten so wenig Klugheit beweisen. Andererseits kann aber kein Zweifel daran bestehen, daß die Wissenschaften der Lebensführung den Weg bereiten und zu leben lehren. Nun wüßte ich gern folgendes von Euch, hohe Frau: Eure Beispiele und das, was ich selbst sehe, zeigen, daß sich der weibliche Verstand auf die kompliziertesten Gegenstände versteht; aber gilt dies in gleichem Maße für die Bereiche, die von Prudentia[1] geregelt werden? Anders gefragt: sind sie weise genug zu entscheiden, was zu tun und was zu lassen ist, und zwar auf der Grundlage vergangener Ereignisse, die sie durch das erlebte Exemplum erfahrener und weiser bei einer Bewältigung der Gegenwart machen und ihnen Weisheit für die Einschätzung der Zukunft verleihen? Gerade diese Dinge lehrt, wie mich dünkt, Prudentia.«
Antwort: »Wahr sprichst du, Tochter; aber wisse, daß es die Natur ist, die Männern und Frauen jene Prudentia, von der du sprichst, verleiht — den einen mehr, den anderen weniger. Keineswegs aber ist sie notwendig mit Gelehrsamkeit verbunden, auch wenn letztere denen, die von Natur aus bedacht handeln, eine gewisse Vollkommenheit verleiht; du weißt ja aus eigener Erfahrung, daß zwei gemeinsam wirkende Kräfte stärker und beharrlicher sind als jede von ihnen für sich genommen. Deshalb behaupte ich, daß einerPerson, die von Natur aus jene umsichtige Klugheit, auch gesunder Menschenverstand genannt, und überdies erworbenes Wissen besitzt, hohes Lob gebührt angesichts so großer Vortrefflichkeit. Aber wie du selbst gesagt hast, gibt es durchaus Menschen, die zwar das eine, nicht jedoch das andere besitzen: denn das eine ist eine Gottesgabe und wird auf natürlichem Wege verliehen, während das andere durch langes Studium erworben wird; von Vorteil ist beides.
Manch einer würde sich jedoch eher für den gesunden Menschenverstand und gegen erlerntes Wissen als für umfassendes erlerntes Wissen und nur wenig gesunden Menschenverstand entscheiden. Jedenfalls gibt es verschiedene Meinungen dazu, und diese wiederum provozieren zahlreiche Fragen. Denn einerseits wäre es legitim zu behaupten, es sei besser, sich für jenes Gut zu entscheiden, das einen höheren Wert für den öffentlichen, allgemeinen Vorteil und Nutzen besitzt; es verhält sich ja so, daß es für die Gemeinschaft von größerem Nutzen ist, wenn jemand in den Wissenschaften beschlagen ist, denn er kann dies den anderen vermitteln. Anders verhält es sich mit der noch so großen Lebensklugheit, über die er verfügen mag: diese ist an die Lebensdauer der Person gebunden, die sie besitzt — stirbt sie, so stirbt mit ihr auch ihre Lebensklugheit. Erworbenes Wissen dagegen währt ohne Unterlaß für die, die es besitzen, das heißt: in ihnen, und nützt zugleich vielen Personen, weil es jene den anderen vermitteln und Bücher darüber für die kommenden Generationen abfassen. So stirbt ihr Wissen nicht mit ihnen; dies kann ich dir am Beispiel des Aristoteles und anderer beweisen. Über sie gelangte die Welt in den Besitz von Wissen, das ihr zu größerem Nutzen gereicht als alle umsichtige Klugheit, der das erworbene Wissen fehlt, aller Menschen der Vergangenheit und Gegenwart, selbst wenn dank der Lebensklugheit mancher von ihnen zahlreiche Königreiche und Imperien gut und gerecht regiert worden sind. Aber all diese Dinge sind vergänglich, verschwinden mit der Zeit, während die Wissenschaft alles überdauert.
Aber ich übermittle dir diese Streitfragen ungelöst und überlasse anderen die Beantwortung, denn sie sind ohne Bedeutung für den Bau unserer Stadt. Stattdessen nehme ich deine anfängliche Frage — ob die Frau natürliche Lebensklugheit besitzt — wieder auf. Ich antworte dir darauf mit 'ja'. Erkennen kannst du dies bereits an dem, was dir zuvor gesagt wurde; desgleichen kannst du es generell der Art und Weise entnehmen, wie sie sich angesichts ihnen übertragener Aufgaben verhalten. Wenn du so gut sein willst, einmal darauf zu achten, so wirst du sehen, daß alle oder doch zumindest die meisten gemeinhin große Anstrengungen unternehmen, die Geschicke ihrer Hausgemeinschaft zu lenken und für alles zu sorgen, so gut sie es vermögen; alle sind sie so sehr darauf bedacht und darin so eifrig, daß es zuweilen manchen ihrer nachlässigen Gatten verdrießt: denn auf diese macht es den Eindruck, als wollten die Frauen sie allzusehr dazu anstacheln und bewegen, ihren Pflichten nachzukommen. Die Männer behaupten, die Frauen wollten ihre Herrschaft an sich reißen und sie an Klugheit übertreffen; auf diese Weise verkehren sie das ins Böse, was viele Frauen ihnen in bester Absicht zu verstehen geben. Von eben jenen klugen Frauen ist im Brief Salomos die Rede, dessen Inhalt, bezogen auf unser Thema, folgender ist.

DER BRIEF SALOMOS[1] ODER DAS BUCH DER SPRICHWÖRTER

XLIV.

Demjenigen Ehemann, der eine tüchtige, das heißt lebenskluge Frau findet, wird es an nichts mangeln. Ihr guter Ruf eilt ihr im ganzen Land voraus, und ihr Gatte vertraut ihr, denn sie schenkt ihm zu allen Zeiten jede Art von Wohltat und Wohlstand. Sie besorgt und schafft Wolle herbei, um ihr Hausgesinde mit nützlichem Werk zu beschäftigen, schmückt ihr Haus und beteiligt sich selbst an der Arbeit. Sie gleicht dem Schiff des Kaufmanns, das alle Güter trägt und für den Lebensunterhalt sorgt. Ihre Gaben verleiht sie denen, die es wert sind; jene sind ihre Vertrauten. Nahrung gibt es in Hülle und Fülle, selbst für ihre Dienerinnen. Bevor sie es kauft, stellt sie den Wert des Hauses in Rechnung; den Wein, der zum Haus gehört, hat sie mit Verstand angebaut. Sie hat ihre Hüften mit Kraft zur Beständigkeit und Sorgfalt gegürtet, und ihre Arme sind gestählt durch beständiges, sinnvolles Schaffen. Nie wird das Licht ihrer Anstrengung erlöschen, so dunkel es auch sein mag. Auch harte Arbeit bürdet sie sich auf, ohne darüber die spezifisch weiblichen Arbeiten zu vernachlässigen, an denen sie vor allen anderen mitwirkt. Den Armen und Bedürftigen reicht sie die Hand und steht ihnen bei. Dank ihrer Fürsorge ist ihr Haus vor Kälte und Schnee geschützt und die, über die sie bestimmt, sind in gefütterte Kleidung gehüllt. Sie fertigt für sich selbst ein Gala- und Ehrenkleid aus Seide und Purpur an. Ihrem Mann werden Ehrungen zuteil, wenn er seinen Platz unter den Vornehmsten und den Alteingesessenen des Landes einnimmt. Sie fertigt feines Gewebe und Leinwand an, die sie verkauft, und ihr Gewand besteht aus Kraft und Ehre. Ewige Freude wird ihr deshalb zuteil werden. Ihrem Mund entströmen stets Worte der Weisheit, und das Gesetz der Sanftmut regiert ihre Sprache. Sie schaut in allen Winkeln nach den Vorräten in ihrem Haus und verzehrt ihr Brot nicht im Müßiggang. Das Betragen ihrer Kinder zeigt, daß sie ihre Mutter ist, und aus ihrem Verhalten spricht Glück. Die saubere Kleidung ihres Mannes gereicht ihr zur Ehre. Sie beaufsichtigt ihre Töchter in allen Dingen, auch wenn diese schon erwachsen sind. Sie verachtet falschen Ruhm und eitle Schönheit. Eine solche Frau wird Unseren Herrn fürchten; ihr wird Lob zuteil werden, und gemäß ihren Werken, die allerorts ihr Lob singen, wird Er sie belohnen.

HIER IST VON GAIA CIRILLA[1] DIE REDE

XLV.

Im Zusammenhang dessen, was der Brief Salomos über die umsichtige Frau sagt, bietet es sich an, von der hochherzigen Königin Gaia Cirilla zu sprechen. Diese edle Frau stammte aus Rom oder aus der Toskana und war mit dem römischen König Tarquinius Priscus verheiratet. Im Hinblick auf ihr Verhalten war sie von überragender Klugheit, ferner von großer Tugend dank der großen Lebensklugheit, Treue und Güte, die sie besaß. Sie stand in dem Ruf, eine allen anderen Frauen überlegene, hervorragende Hausverwalterin, begabt mit bemerkenswerter Umsicht, zu sein. Und obwohl sie eine Königin war und auf jegliche manuelle Betätigung hätte verzichten können, lag es ihr doch am Herzen, stets nützlich und nie müßig zu sein; deshalb arbeitete sie stets an irgend etwas und hielt desgleichen die Frauen und Mädchen ihrer Umgebung, die sie bedienten, zur Arbeit an. Sie erfand die Möglichkeit, Wollfäden zusammenzufügen und verschiedenartige, feine Gewebe herzustellen; damit beschäftigte sie sich, und dies war zu ihrer Zeit eine sehr ehrenwerte Sache. Aus diesem Grunde wurde jene edle Frau von jedermann gepriesen, verehrt, geschätzt und geachtet. Aufgrund des Ruhms und zur Erinnerung an jene Frau geschah es auch, daß die Römer, die später noch sehr viel mächtiger wurden, als sie es zu Lebzeiten jener Frau waren, folgendes anordneten und als Brauch aufrechterhielten: wenn eine ihrer Töchter heiratete und die Ehefrau zum ersten Male das Haus des Mannes betrat, so fragte man sie, wie sie heiße, und sie antwortete: >Gaia< damit gab sie zu verstehen, daß sie in ihren Taten und ihrem Wirken jener Frau nacheifern wollte, so gut sie es vermochte.

HIER IST VON DER LEBENSKLUGHEIT UND WEISHEIT DER KÖNIGIN DIDO[1] DIE REDE.

XLVI.

Wie du selbst zuvor gesagt hast, besteht Lebensklugheit darin, Weisheit und Umsicht bei den Dingen, die man beginnen will, walten zu lassen und ihren Ausgang zu bedenken. Um dir zu beweisen, daß Frauen zu solcher Umsicht fähig sind und dies sogar in bedeutenden Angelegenheiten, führe ich das Beispiel einiger mächtiger Frauen an, und zuerst das der Dido. Jene Dido, die zunächst Elissa hieß, lieferte mit ihren Taten, wie ich dir erzählen werde, den Beweis für ihre weise Lebensklugheit. Auf afrikanischem Boden gründete und errichtete sie eine Stadt namens Karthago, deren Herrin und Königin sie war. In der Art und Weise, wie die Gründung, der Landerwerb und seine Inbesitznahme vor sich gingen, äußerten sich ihre große Beharrlichkeit, ihre edle Gesinnung und ihre Tugend; ohne diese Gaben kann niemand i n den Besitz wirklicher Lebensklugheit gelangen. Jene edle Frau stammte von den Phöniziern ab, die aus den entlegenen Landstrichen Ägyptens nach Syrien kamen und dort mehrere bedeutende Städte und Befestigungen errichteten und gründeten. Unter diesen Menschen gab es einen König, Agenor mit Namen, von dem der Vater jener Dido abstammte; dieser hieß Belus, war König von Phönizien und unterwarf das Königreich Zypern. Jener König besaß einen einzigen Sohn namens Pygmalion und außer jener Jungfrau Dido keine weiteren Kinder.
Als er im Sterben lag, legte er seinen Baronen nachdrücklich ans Herz, sie möchten seinen beiden Kindern Treue und Liebe entgegenbringen; um ganz sicher zu gehen, ließ er sie dies geloben. Als der König tot war, krönten sie seinen Sohn Pygmalion und verheirateten Elissa, die über die Maßen schön war, mit einem Herzog des Landes, dem Mächtigsten nach dem König, der Acerbas Sycheo oder Sychaeus hieß. Dieser Sycheo war, dem Gebot ihrer Religion gemäß, oberster Priester des Herkulestempels und zugleich unvorstellbar reich. Er und seine Frau liebten sich sehr und lebten in Frieden miteinander. Jedoch war der König Pygmalion von niedriger Gesinnung, grausam und über alle Maßen habgierig: er konnte noch so viel besitzen und begehrte doch noch immer mehr. Seine Schwester Elissa, die seine gewaltige Habgier nur zu gut kannte und wußte, daß ihr Mann einen großen Schatz besaß und für seinen Reichtum berühmt war, riet ihm und legte ihm nahe, er solle sich vor dem König hüten und sein Gut an einen sicheren Ort schaffen, damit es ihm der König nicht raube. Sychaeus nahm diesen Rat an, nahm sich selbst jedoch nicht genügend vor den Schlichen des Königs in acht, so wie sie es ihm geraten hatte. So geschah es, daß jener König ihn eines Tages töten ließ, um an seine gewaltigen Schätze zu kommen. Dieser Tod versetzte Elissa in so große Trauer, daß sie beinahe vor Kummer gestorben wäre; lange Zeit verharrte sie in Weinen und Klagen, trauerte in mitleiderregender Weise um ihren Liebsten und Gemahl und verfluchte ihren grausamen Bruder, der ihn getötet hatte. Aber der hinterhältige König, der sich in seiner Hoffnung getäuscht sah, hatte er doch kaum etwas von dem Reichtum des Sychaeus bekommen, hegte großen Groll gegen seine Schwester, denn er vermutete, sie halte den Schatz versteckt.
Und jener, die deutlich erkannte, in welch großer Gefahr sie schwebte, gab ihre eigene Lebensklugheit ein, die Heimat zu verlassen und das Weite zu suchen. Nachdem sie sich hierzu entschlossen hatte, überlegte sie sich in ihrem tapferen Herzen, was sie zu tun hätte und wappnete sich mit Kraft und Festigkeit, um das durchzustehen, was sie sich vorgenommen hatte. Nur allzu gut wußte jene edle Frau, daß der König wegen der von ihm verübten Grausamkeiten und Schindereien weder bei den Baronen noch im Volk beliebt war. Deshalb ließ sie einige Fürsten, Bürger und Vertreter des Volkes zu sich kommen; nachdem sie sie hatte schwören lassen, das Geheimnis zu bewahren, legte sie ihnen in äußerst wohlgesetzten Worten ihre Absicht dar, und zwar so lange, bis sie von sich aus damit einverstanden waren, mit ihr zu gehen und ihr gelobten, gut und treu zu sein.
Daraufhin ließ jene Frau so schnell sie konnte und in aller Heimlichkeit ihr Schiff rüsten und brach mitten in der Nacht auf, mit all ihren großen Schätzen und in Begleitung vieler Gefolgsleute; den Matrosen befahl sie sehr nachdrücklich, so schnell wie möglich zu segeln. Aber noch listiger handelte jene, wußte sie doch nur allzu gut, daß ihr Bruder sie verfolgen lassen würde, sobald er von ihrem Aufbruch erführe. Aus diesem Grunde ließ sie heimlich große Koffer, Truhen und gewaltige Behältnisse mit schweren, jedoch völlig wertlosen Dingen füllen, als wenn dies ihr Schatz wäre; sie tat dies in der Hoffnung, die von ihrem Bruder auf sie angesetzten Verfolger würden sie in Ruhe ziehen lassen und ihre Reise nicht behindern, wenn sie ihnen diese Koffer und Behältnisse übergäbe. Genauso geschah es, denn kaum hatte sie mit ihren Leuten ihre Reise begonnen, da verfolgte sie schon eine Horde königstreuer Leute, um sie anzuhalten. Aber die edle Frau richtete wohlüberlegte Worte an diese und sagte, sie befände sich auf einer ihrer Pilgerfahrten und man möge sie nicht daran hindern. Als sie dann merkte, daß ihr dieser Vorwand nicht weiterhalf, da sagte sie, sie wisse sehr wohl, daß es ihrem königlichen Bruder nicht um ihre Person ginge; und wenn er nun endlich ihren Schatz haben wolle, so übergäbe sie ihn ihm gern. Jene, die wußten, daß ihrem König der Sinn nach nichts anderem stand, antworteten, sie solle nur mit dem Schatz herausrücken: denn auf diese Weise würden sie versuchen, den König zufriedenzustellen und seinen Zorn gegen sie zu besänftigen. Daraufhin ließ die edle Frau, mit traurigem Gesicht, als wenn sie dies sehr schmerzte, ihnen alle erwähnten Koffer und Truhen ausliefern und auf ihre Schiffe laden. Jene, die der festen Überzeugung waren, ihre Sache gut gemacht zu haben, brachen unverzüglich auf, um dem König die gute Nachricht zu überbringen.
Ohne sich irgend etwas anmerken zu lassen, ließ die Königin so bald wie möglich Reisevorbereitungen treffen. Und dann segelten sie so lange, Tag und Nacht, bis sie zur Insel Zypern gelangten, wo sie sich ein wenig Ruhe gönnten. Nachdem sie den Göttern geopfert hatte, bestieg die edle Frau sogleich wieder ihr Schiff, nicht ohne einen gewissen Priester des Jupiter und dessen Gefolge mitzunehmen. Dieser hatte zuvor geweissagt, eine hochgeborene Frau aus Phönizien werde kommen, um derentwillen er seine Heimat verlassen und mit der er fortgehen werde. So brachen sie denn auf, ließen die Insel Kreta hinter sich und Sizilien zur rechten Hand liegen. Lange Zeit segelten sie an der Küste von Marseille entlang, bis sie nach Afrika gelangten; dort gingen sie an Land. Sogleich kamen die Einheimischen angelaufen, um sich das Schiff und seine Besatzung anzusehen.
Als sie die edle Frau erblickten und erkannten, daß es sich um friedliebende Menschen handelte, brachten sie ihnen eine Fülle von Lebensmitteln. Die hochgeborene Frau richtete liebenswürdige Worte an sie und sagte, sie habe von jener Gegend so viel Gutes berichten gehört, daß sie in der Absicht gekommen wäre, dort zu bleiben, wenn ihnen das genehm wäre. Jene antworteten, sie seien damit durchaus einverstanden. Die Frau, die so tat, als wolle sie auf fremdem Boden keine allzu großen Behausungen errichten, bat sie darum, ihr am Ufer nur so viel Land zu verkaufen, wie mit einer Rindshaut umgeben werden könne; darauf wolle sie dann ein Gebäude für sich und ihre Gefolgschaft errichten lassen. Dies gewährte man ihr, und nachdem die Vereinbarungen getroffen und der Handel zwischen ihnen abgeschlossen war, ließ die Frau, die alsdann ihr Wissen und ihre große Lebensklugheit unter Beweis stellte, die Haut eines Rindes in extrem feine Riemen schneiden und diese zu einem einzigen Gurt zusammenbinden; dann ließ sie diesen auf dem Land an der Küste spannen, was erstaunlich viel Boden umfaßte. So verblüfft und erstaunt die Verkäufer auch angesichts der List und der Klugheit jener Frau waren, so konnten sie doch nicht umhin, zu ihren Vereinbarungen zu stehen.
Auf diese Weise hatte sie Land in Afrika erworben; auf dem erwähnten Grundstück fand man einen Pferdekopf. Aus diesem Fund und aus dem Flug und dem Schrei der Vögel entnahmen die Einheimischen, ihren Weissagungspraktiken zufolge, daß die Stadt, die dort gegründet würde, in ihren Mauern kriegerische und im Umgang mit Waffen sehr tapfere Menschen beherbergen würde. Die edle Frau ließ alsbald überall nach Arbeitern aussenden und stellte die Mittel ihres Schatzes zur Verfügung. Sie ließ eine unglaublich schöne, große und gut befestigte Stadt, die sie Karthago nannte, erbauen; den Wehrturm und Zwinger nannte sie Byrsa, was »Fell« bedeutet.
Als sie sich nun anschickte, ihre Stadt zu errichten, da erreichten sie Nachrichten von ihrem Bruder, der sie und alle ihre Begleiter hart bedrohte, weil sie ihn zum Narren gehalten und um den Schatz gebracht hatte. Sie aber entgegnete den Gesandten, sie habe den Schatz sehr wohl übergeben, damit er ihrem Bruder gebracht würde; denkbar wäre allerdings, daß die Überbringer ihn selbst geraubt und durch wertloses Zeug ersetzt hätten; oder daß die Götter ihn verzaubert hätten, um zu verhindern, daß er in den Besitz des Schatzes käme, als Strafe für die Sünde, die der Bruder begangen hatte, als er ihren Gatten hatte ermorden lassen. Aber was die Drohung angehe, so meine sie, sich mit dem Beistand der Götter sehr wohl gegen ihren Bruder wehren zu können. Dann ließ sie all jene herbeirufen, die sie mitgenommen hatte, und sagte ihnen, sie wolle keineswegs, daß jene gegen ihren Willen und ihr Gefühl bei ihr blieben, und daß sie sie an nichts hindere; wenn sie also zurückkehren wollten, so würde sie sie für ihre Mühen entgelten und sie heimschicken. Alle antworteten daraufhin jedoch einstimmig, sie wollten mit ihr leben und sterben und sie keinen einzigen Tag ihres Lebens allein lassen.
Daraufhin brachen die Gesandten auf; die edle Frau schickte sich an, den Bau ihrer Stadt so gut sie es vermochte zum Abschluß zu bringen. Als dies der Fall war, gab sie dem Volk Gesetze und Anordnungen, auf daß es dem Recht und der Gerechtigkeit gemäß leben möge. Sie regierte so vortrefflich und umsichtig, daß die Kunde davon in alle Länder drang; man sprach von nichts anderem als von ihr. Das ging so weit, daß man wegen ihrer großen Tugend, der Kühnheit und der Vollkommenheit ihres Werks und ihrer äußerst klugen Regierungsweise ihren Namen umänderte in Dido: das bedeutet soviel wie virago auf lateinisch, will sagen: eine Frau, die die Tugend und die Kraft eines Mannes besitzt. Und so lebte sie lange Zeit in Ruhm und Ehren und hätte dies immer getan, wenn Fortuna ihr nicht geschadet hätte: da diese häufig neidisch auf die ist, denen es gut geht, mischte sie ihr schließlich ein allzu bittres Getränk zurecht; doch davon werde ich dir später, an anderer Stelle, berichten.

HIER IST DIE REDE VON OPS[1]
DER KÖNIGIN VON KRETA.

XLVII.

Opi oder Ops, die als Göttin und Mutter der Götter bezeichnet wurde, stand in sehr fernen Zeiten in dem Ruf der Lebensklugheit, weil sie, nach Auskunft der alten Geschichtswerke, sich in den Wechselfällen des Lebens, denen sie ausgesetzt war, sehr klug und standhaft verhielt. Diese edle Frau war eine Tochter des Uranius, der ein sehr mächtiger Mann in Griechenland war, und seiner Frau Vesta. — Die Welt war damals noch roh und unwissend. — So geschah es, daß sie Saturn, den König von Kreta, ihren Bruder, zum Gatten bekam. Im Traum wurde jenem König von Kreta offenbart, seine Frau werde ein männliches Kind zur Welt bringen, das ihn ermorden werde. Um diesem Schicksal zu entgehen, ordnete er an, alle männlichen Kinder der Königin zu töten. Aber für das, was die edle Frau tat — sie rettete durch ihre Klugheit und weise List ihren drei Söhnen, das heißt: Jupiter, Neptun und Pluto, das Leben — wurde sie in der Folgezeit hoch geehrt und ihre Umsicht gelobt. Aufgrund ihres Wissens und der Macht ihrer Kinder erwarb sie sich zu ihren Lebzeiten gewaltigen Ruhm und Ehre in der Welt, so daß die närrischen Menschen sie Göttin und Göttermutter nannten; denn ihre Söhne galten bereits zu ihren Lebzeiten als Götter, weil sie in manchen Bereichen kundiger waren als die übrigen Menschen, die allesamt dumm waren. Aus diesem Grund wurden für jene hochgeborene Frau Tempel und Heiligtümer errichtet. Die Menschen in ihrer Narrheit verharrten lange Zeit in dieser Auffassung; und sogar im Rom der Glanzzeit der Römer dauerte dieser Unsinn noch an, und sie hielten diese Göttin in großen Ehren.

VON LAVINIA[1] DER TOCHTER DES KÖNIGS LATINUS

XLVIII.

Lavinia, die Königin der Laurenter, stand ebenfalls im Ruf großer Lebensklugheit. Diese edle Frau stammte gleichfalls von jenem kretischen König Saturn ab, von dem wir gesprochen haben, und war eine Tochter des Königs Latinus und später die Frau des Aeneas. Vor ihrer Eheschließung begehrte sie Turnus, der König der Rutuler. Ihr Vater jedoch, dem die Götter bedeutet hatten, sie solle einem Herzog von Troja zur Frau gegeben werden, schob die Hochzeit immer wieder auf, obwohl seine Frau, die Königin, ihn sehr unter Druck setzte. Und als Aeneas dann nach Italien kam, ließ er jenen König Latinus um Erlaubnis bitten, sein Land zu betreten. Aber dieser gestattete ihm nicht nur dies, sondern gab ihm sogleich seine Tochter Lavinia zur Frau. Aus diesem Grunde zettelte Turnus einen Krieg gegen Aeneas an, in dessen Verlauf viele Menschen, darunter er selbst, umkamen. Aeneas errang den Sieg und heiratete Lavinia, die später einen Sohn von ihm bekam, mit dem sie schwanger war, als Aeneas starb. Als der Zeitpunkt der Geburt näherrückte, begab sie sich in einen Wald und gebar dort ein Kind, das sie Julius Silvius nannte; denn sie hatte große Angst, ein Sohn namens Ascanius, den Aeneas von einer anderen Frau gehabt hatte, könnte aus Machtgier das Kind töten, das sie sich zu gebären anschickte. Jene Frau wollte nicht noch einmal heiraten; während ihrer Witwenschaft handelte sie mit großer Umsicht und hielt dank ihrer großen Klugheit das Königreich zusammen. Ihrem Stiefsohn brachte sie so viel Liebe entgegen, daß er weder gegen sie noch gegen seinen Bruder irgendwelchen Groll hegte; nachdem er die Stadt Alba Longa gegründet hatte, zog er dorthin, um dort zu leben. Lavinia regierte gemeinsam mit ihrem Sohn in großer Weisheit so lange, bis dieser erwachsen war. Von diesem Kind stammten dann Remus und Romulus ab, die später Rom gründeten, und die hochgeborenen römischen Fürsten, die später kamen.

Was soll ich dir noch erzählen, teure Tochter? Ich habe, so scheint es mir, genügend Beweise für mein Vorhaben geliefert. Es bestand darin, dir durch lebensnahe Argumentation und Beispiele zu zeigen, daß Gott das weibliche Geschlecht ebensowenig wie das männliche zu irgendeinem Zeitpunkt mit einem Fluch belegt hat, wie du in aller Deutlichkeit erkennen kannst und wie es aus den Aussagen meiner beiden Schwestern liier hervorgeht und noch zu vernehmen sein wird. Ich meine, dies müßte genügen, habe ich dir doch bei der Errichtung der Mauern, die die Stadt der Frauen umschließen, geholfen. Nun sind sie fertig und auch schon mit Farbe verputzt. Meine anderen Schwestern mögen hervortreten, und mit ihrer Hilfe und ihrem Rat sollst du den Bau vollenden.«

HIER ENDET DER ERSTE TEIL DES BUCHES VON DER STADT DER FRAUEN.