Die Tagebücher der Sofia Andreiewna Tolstoya (1844-1919)

»Ein Kampf auf Leben oder Tod«

Leo Tolstois Leben und Werk sind bereits zu seinen Lebzeiten Gegenstand von Legendenbildungen gewesen. Alle seine Biographen klagen darüber, wie schwer es sei, die Tolstoi-Legende zu durchbrechen und auf die Wahrheit seines Lebens zu stoßen. Auch die verschiedenen Erinnerungen der Familienangehörigen haben nicht dazu beigetragen, das Gestrüpp von Lügen, Halbwahrheiten und Verzerrungen aufzubrechen, die sich um das Leben und seine Ehe ranken. Sie sind vielmehr selbst ein Teil dieser Legendenbildung und arbeiten mit an dem Entstehen der Kultfigur Tolstoi. Vollends durch seine späte Flucht aus Jasnaja Poljana - Tolstoi war damals zweiundachtzig Jahre alt - seine Irrfahrt durch das winterliche Rußland und seinen spektakulären Tod auf der kleinen, abgelegenen Bahnstation Astapovo, der die öffentliche Meinung erregte und zu Schlagzeilen in der Weltpresse führte, ist das Bild Tolstois in einer ganz spezifischen Weise geprägt. Das Bild des Heiligen aber, das sich durch seine dramatische Flucht endgültig festigte, ist untrennbar verbunden mit dem Bild seiner Frau Sofja Andrejewna, mit der er achtundvierzig Jahre verheiratet war und die verantwortlich gemacht wurde für das schmähliche Ende des Dichters. Von Biographie zu Biographie wurde das Bild der bösen Ehefrau weitergereicht, auch wenn einige Biographen zugestehen, daß es Sofja Andrejewna Tolstoya nicht eben leicht hatte.
Erst seit die Tagebücher von Sofja Andrejewna Tolstoya erschienen sind, ist es möglich geworden auch die andere Seite wahrzunehmen und sich ein eigenes Bild von der Frau zu machen, die von den Zeitgenossen und der Nachwelt als Xanthippe abgestempelt wurde. Diese Tagebücher, die vom Anfang der Ehe 1862 bis zur spektakulären Flucht Tolstois im Jahre 1910 reichen, erschienen 1978 zuerst in russischer Sprache, seit 1982 liegen sie auch in deutscher Übersetzung in zwei Bänden vor. Erstmals vernimmt man die authentische Stimme der Frau, die stets im Schatten ihres Mannes gestanden hatte, die sich bescheiden und selbstbewußt zugleich als »Amme seines Werkes« begriffen hatte und in Darstellungen zumeist nur als Negativfolie benutzt wurde, um das Genie Tolstoi um so strahlender erscheinen zu lassen.
Wer also war Sofja Andrejewna Tolstoya? Lassen wir sie selbst zu Worte kommen. Etwa ein Jahr vor Tolstois Flucht und Tod hatte die damals Fünfundsechzigjährige in einem Prosagedicht notiert, was sie mochte und was sie nicht mochte:

»WAS ICH MAG

Im Herzen Stille
Im Sinn einen Traum
Wenn Menschen mir geneigt sind
Jedes Kind
Und alle Blumen
Und Sonne und viel Licht
Ich pflanze und schneide, durchwandre so gern
Die Bäume und den Wald
Ich liebe darzustellen, d. h. zu zeichnen,
zu photographieren,
eine Rolle zu spielen;
ich bin gerne schöpferisch
und sei es beim Nähen
Ich liebe die Musik, jedoch beschränkt
Ich liebe in Menschen Klarheit, Einfachheit, Talent
Gewänder und Schmuck
Liebe Frohsinn und Feste, Schönheit und Glanz
Ich liebe Verse
Empfindsamkeit
Liebkosung
Ich arbeite gern produktiv

WAS ICH NICHT MAG
Haß und Unzufriedenheit der Menschen
In Herz und Sinn Hohlheit und wär sie vorübergehend
Den Herbst
Männer (bis auf wenige Ausnahmen)
Finsterheit und Nacht
Kartenspiel und Geld
Menschen verfinstert von Laster und Wein
Geheimnisse, Unehrlichkeit, Verschlossenheit
Die Steppe
Trinkliedergröhlen
Den Prozeß des Essens
Talentlosigkeit und Listigkeit, Lüge und Heuchelei
Ich liebe das Wirtschaften nicht
Liebe nicht die Einsamkeit
Mag keinen Hohn, keine Parodien, keine Scherze, Kritiken
und Karikaturen
Mag keine Faulheit und Nutzlosigkeit
Ertrage nur schwer jegliche Flegelei«

Erkennbar wird aus diesen Zeilen ein starkes Bedürfnis nach Schönheit in jeder Form. Feste, Frohsinn, Kleidung und Schmuck treten gleichberechtigt neben Blumen, Bäume, Sonne und viel licht. Auffallend ist auch die Liebe zur Kunst und das Interesse an eigener Produktivität, wobei diese eingeschränkt ist auf den familiären Verwertungszusammenhang: Zeichnen, fotografieren, Theater spielen, Klavier spielen, nähen, das waren die Tätigkeiten, die ihr als Ehefrau und Mutter von dreizehn Kindern, die sie im Verlauf der Ehe gebar, möglich waren. Auf der anderen Seite lehnte sie kompromißlos alle finsteren Leidenschaften und Machenschaften ab. Dieser Angriff gegen die sogenannten dunklen Seiten des Menschen richtete sich nicht zuletzt gegen bestimmte Wesenszüge ihres Mannes, der in seiner Jugendzeit ein bewegtes Junggesellendasein geführt und im Alter seine literarische Arbeit weitgehend aufgegeben hatte, um dem asketischen Ideal des Wahrheitssuchers und -verkünders nachzueifern. Gerichtet waren diese Passagen aber vor allem gegen jene Leute in Tolstois Umgebung, die von der Familie nur die »Finsterlinge« genannt wurden und durch deren Einfluß Tolstoi seiner Frau entfremdet wurde. Die spektakuläre Flucht Tolstois 1910 mitten im kalten Winter sah seine Frau vor allem als ein Ergebnis der Einflüsterungen durch die sogenannten »Finsterlinge« an. Wir kommen später darauf zurück. Zunächst wollen wir uns den Anfängen zuwenden.
Sofja Andrejewna Behrs war gerade achtzehn Jahre alt, als sie den damals vierunddreißigjährigen Grafen Tolstoi heiratete. Ihr Vater, der als Arzt in Moskau lebte, war ein alter Freund Tolstois. Sofja war die mittlere von drei Schwestern und wie die beiden Schwestern viel umschwärmt in der Moskauer Gesellschaft. In den autobiographischen Aufzeichnungen »Die Heirat«, die sie 1912, also zwei Jahre nach Tolstois Tod, niederschrieb, betont sie zum einen, daß sie ein naives, wohlbehütetes Mädchen gewesen sei auf der anderen Seite wird aber deutlich, daß sie durchaus eigenwillig und selbstbewußt war. Sie war eine begehrte Pianistin und sehr an der Kunst interessiert. Bereits mit sechzehn Jahren hatte sie eine Novelle geschrieben und führte regelmäßig Tagebuch. Als sie Tolstoi davon erzählte, bat er sie, ihm ihre Texte zu geben. Sie aber gab ihm nur die Novelle, von der er stark beeindruckt war. In seinem Tagebuch vermerkte er: »Sie ließ mich ihre Novelle lesen. Welch eine Energie der Wahrheit und Schlichtheit.« Auch später hat Sofja immer - neben dem Tagebuch - Texte geschrieben, die aber bis auf wenige Ausnahmen unveröffentlicht geblieben sind. Sie selbst fühlte sich in ihren letzten Jungmädchentagen frei und stark wie nie zuvor:

»Mein Ich war unabhängig von Raum und Zeit frei, grenzenlos und allmächtig. Diese letzten Tage meiner Jungmädchenzeit waren von einer besonderen Lebenskraft und inneren Ergriffenheit bestimmt.«

Tolstoi war zu dieser Zeit schon ein berühmter Autor. Vor allem sein autobiographisch geprägter Roman »Kindheit« hatte ihn zu einer anerkannten und umschwärmten Person des literarischen Lebens werden lassen. Vorangegangen war eine kurze Zeit der intensiven Werbung Tolstois um Sofja Behrs. Alle waren sehr überrascht über seine Wahl - nicht zuletzt Sofja selbst - wie man ihren späteren Aufzeichnungen über Tolstois Werbung, die Verlobungszeit und die Heirat entnehmen kann. Tolstoi schien von der Eile, mit der er auf die Ehe drängte - am 16. September 1862 machte er Sofja einen Heiratsantrag, die Hochzeit fand bereits sieben Tage später, am 23. September 1862, statt - selbst irritiert zu sein. In seinem Tagebuch notierte er: »Ich bin so verliebt, wie ich es nie für möglich gehalten hätte, daß man verliebt sein kann«, um später einzuschränken: »Was aber, wenn dies nur das Verlangen nach Liebe ist und nicht wirkliche Liebe?« Die Unsicherheit Tolstois war Ausdruck seiner ambivalenten Einstellung zu Frauen und der eigenen Sexualität. Immer wieder klagte er in seinem Tagebuch über seine schwer zu zügelnde Sinnlichkeit, die ihn fortwährend in Abenteuer verstrickte, auf die bestenfalls moralischer Katzenjammer folgte, die zum Teil aber auch mit venerischen Krankheiten endeten. Am 9. Juni 1851 schrieb er in sein Tagebuch:

  • »Der gestrige Tag ist ziemlich gut verlaufen, denn es wurde fast alles durchgeführt. Nur mit einem Punkt fühle ich mich unzufrieden und dieser Punkt ist die Tatsache, daß ich meine Sinnlichkeit nicht überwinden kann...«

Als er um Sofja Behrs warb, lebte er seit mehreren Jahren mit der Dienstmagd Aksinja Basykina zusammen, die mit einem seiner Leibeigenen verheiratet war und mit der er einen Sohn hatte, der auf seinem Gutshof aufwuchs und später zeitweilig als Stallbursche bei den Tolstois arbeitete. Sexus und Eros traten immer weiter auseinander und führten zu einem auffälligen Zwiespalt in seiner Haltung Frauen gegenüber. Zur Befriedigung seiner Sinnlichkeit brauchte er Frauen, aber er verachtete sie dafür und machte ihnen Vorwürfe, daß sie seine Begierden erregt hatten. Der Traum von reiner Liebe und harmonischem Familienglück, den er in jener Zeit seiner Ausschweifungen - wie er es selbst nannte - in seiner Erzählung »Familienglück« ausphantasierte, war ein Versuch, den quälenden Zwiespalt zu überwinden und die eigene Sinnlichkeit in eine gesellschaftlich und moralisch akzeptierte Form zu kanalisieren.
Von diesem Widerspruch Tolstois hatte Sofja Behrs keine Ahnung. Sie hatte seinen Roman »Kindheit« gelesen und hielt den Autor für einen besonders sensiblen und vergeistigten Mann. Die Bekanntschaft mit den dunklen Seiten ihres Mannes war ein großer Schock für sie. Wenige Tage vor dem festgesetzten Hochzeitstermin gab er Sofja Behrs seine Tagebücher zu lesen:

»Die Lektüre dieser Tagebücher, die er mir aus allzu großer Gewissenhaftigkeit vor der Eheschließung zu lesen gab, erschütterte mich. Hätte er es lieber nicht getan! Ich habe viele Tränen vergossen bei der Enthüllung seiner Vergangenheit.«

Das Tagebuch aus den Jahren 1862 und 1863 zeigt, wie stark die Lektüre von Tolstois Tagebuch bei Sofja Tolstoya nachwirkte. Sie fürchtet sich vor ihrem Mann und fühlt sich von der körperlichen Seite der Liebe abgestoßen. Bereits am 9. Oktober 1862 notiert sie: »Wie abstoßend ist die körperliche Liebe!« Auch Tolstoi scheint von der Ehe auf sexuellem Gebiet enttäuscht gewesen zu sein. Er wirft seiner Frau Frigidität vor:

  • »Ich berührte sie - sie war am ganzen Körper glatt, angenehm anzufassen und halt, aus Porzellan ... Alles nur zum Ansehen bestimmt.«

Schon aus den wenigen Äußerungen wird deutlich, daß ein gemeinsamer Nenner nicht zu finden war, Tolstoi lehnte Sexualität als etwas Sündhaftes ab und suchte in der Frau vor allem mütterliche Qualitäten. Die Sehnsucht nach der mütterlichen Frau ist nicht zuletzt auch ein Reflex auf einen frühkindlichen Verlust: Seine Mutter starb, als Tolstoi gerade zwei Jahre alt war. Noch als Siebenundsiebzigjähriger machte Tolstoi folgende aufschlußreiche Tagebuchaufzeichnung:

  • »Den ganzen Tag über ein Gefühl dumpfer Beklemmung. Gegen Abend wandelt sich dieser Zustand der Traurigkeit in zärtliche Rührung, in den Wunsch gestreichelt, getröstet zu werden. Wie ein Kind möchte ich mich an ein liebendes, mitfühlendes Wesen schmiegen. Tränen der Liebe und Zärtlichkeit vergießen und mich gestärkt fühlen. Aber wo ist jenes Wesen bei dem ich solche Zuflucht fände... An wen könnte ich mich also hängen? Wieder ein Kind werden und mich an meine Mutter schmiegen, so wie ich sie mir vorstelle? Ja, du, Mama, die ich niemals beim Namen nannte, weil ich doch nicht sprechen konnte... Ja, du, das höchste Ideal der reinen Liebe, das ich mir je vorstellen konnte, der menschlichen warmen mütterlichen Liebe. Danach verlangt meine müde Seele Du, Mama, du, tröste mich, erleichtere mein Herz...«

Mit den vielen Kindern, die er und Sofja zusammen hatten, legte er seine Frau auf den Typus Mutter fest, ohne dabei auf ihre Wünsche und Kräfte Rücksicht zu nehmen. Die Klage, daß sie schon wieder schwanger sei, zieht sich quer durch ihre Tagebücher. Vergeblich versuchten Sofja Tolstoya und auch die Ärzte, ihren Mann zur Geburtenkontrolle zu überreden. Ihre Versuche der Selbsthilfe scheiterten ebenso wie ihr Versuch, eine unerwünschte Schwangerschaft abzubrechen. Ihr Mann reagierte darauf mit großer Empörung und tiefem Abscheu.
Tolstois mit äußerster Strenge vorgetragene Forderung, daß seine Frau alle ihre Kinder selbst stillen sollte, ist Teil des Mütterlichkeitsideals, mit dem Tolstoi die eigenen Ambivalenzen zu überwinden versuchte. Dieses gelang ihm jedoch immer nur vorübergehend und verwickelte ihn letztlich in immer neue Widersprüche. Schließlich versuchte Tolstoi, das Problem ganz radikal zu lösen: Im Epilog zur »Kreutzersonate« 1890 propagierte er vollkommene sexuelle Enthaltsamkeit in der Ehe und versuchte in der Folgezeit auch selbst danach zu leben - wenn er dabei auch immer wieder Rückfälle hatte. Diese Rückfälle lastete er in erster Linie seiner Frau an.
Die »Kreutzersonate«, in der ein Mann berichtet, wie er durch die Lasterhaftigkeit und Lüsternheit seiner Frau bis zum Mord an ihr getrieben worden ist, ist ein vom blindwütigen Haß erfülltes Pamphlet gegen das weibliche Geschlecht - nicht etwa nur gegen seine Frau. Es ist gewalttätig und mordlüstern in seinen Phantasien und zeigt, daß zwischen den Ehepartnern wirklich die »Hölle« herrschte und nicht nur in der Einbildung von Sofja Tolstoya bestand. Es ging, wie Tolstoi in seinem Tagebuch schrieb, um einen »Kampf auf Leben oder Tod«. Sofja Tolstoya litt sehr unter dem Text, obwohl sie - korrekt wie immer das Abschreiben und das Korrekturlesen übernahm:

»Saß heute an den Korrekturfahnen der >Kreutzersonate< und wieder das gleiche niederdrückende Gefühl - wieviel Zynismus und nackte Entlarvung übler menschlicher Eigenschaften!«

Trotzdem versuchte sie nach außen, sich nichts anmerken zu lassen, und setzte sich sogar für eine Veröffentlichung des höchst umstrittenen Textes ein, um zu dokumentieren, daß sie den Text nicht auf sich und ihre Ehe bezog.
Innerlich aber fühlte sie sich durch den Text beschmutzt und niedergedrückt, in der die Frau als »räudige Hündin«, als »Ratte« - kurz: als »Tier« erschien und in der Sexualität nur als »Verbrechen« und Kinder nur als »Plage« und »Belastung« vorkamen.
Die Frauenverachtung Tolstois nahm immer krankhaftere Züge an: »Seit siebzig Jahren sinken die Frauen beständig in meiner Achtung, und noch immer sinken sie in meiner Achtung tiefer.« Sofja Tolstoya litt unter der Frauenverachtung, die Tolstoi immer unverhohlener in Gesprächen äußerte:

»Gestern abend machte mich das, was L. N. zur Frauenfrage sagte, sehr betroffen. Schon immer war er gegen die Freiheit und die sogenannte Gleichberechtigung der Frau; gestern aber äußerte er auf einmal, daß eine Frau, wie auch immer sie tätig sein möge als Lehrerin, in Medizin oder Kunst - doch nur ein einziges Ziel kenne: die geschlechtliche Liebe. Und sobald sie es erreicht habe, sei's um all ihre Tätigkeit im Handumdrehn geschehen.«

In einer Tagebuchnotiz von 1890 zieht sie die bittere Bilanz:

»Kam heute beim Abschreiben von Ljowoachhas Tagebuch an die Stelle, an der er notiert hat. >Es gibt das Bedürfnis des Fleisches nach Verkehr und das Bedürfnis der Vernunft nach einer Freundin fürs Leben.< Ja, hätte ich diese seine Überzeugung vor neunundzwanzig Jahren gekannt, dann hätte ich ihn um nichts in der Welt geheiratet.«

Die fehlende Harmonie auf sexuellem Gebiet war jedoch nur eines von vielen Problemen, das Sofja Tolstoya belastete und aus ihr schließlich jene frustrierte Frau machte, als die sie von Zeitgenossen und der Nachwelt wahrgenommen wurde. Die Lieblosigkeit ihres Mannes, seine Abkehr von der Literatur, sein politischer Fanatismus und sein moralischer Rigorismus, der Tod von sechs Kindern, darunter ihres Lieblingssohnes Wanitschka, die Enttäuschung über die Entwicklung der sieben überlebenden Kinder - das alles belastete sie und stürzte sie immer wieder in schwere Depressionen. Ihre Tagebücher zeigen sehr gut den Desillusionierungs- und Verschleißprozeß, der aus einem lebenslustigen, liebenswürdigen und begeisterungsfähigen jungen Mädchen eine verbitterte und zänkische alte Frau machte.
Die Tagebücher sind keine angenehme Lektüre, denn sie zeigen auch Sofja Tolstoya nicht von ihrer Sonnenseite. Sie sind ein Dokument der zunehmenden Vereinsamung, die sich - welch ein Paradox - inmitten einer vielköpfigen Familie vollzieht. Diese Vereinsamung ist von Anfang an unübersehbar. Das Tagebuch wird zum Partnerersatz. Die Beziehung zwischen den Ehepartnern ist von Anfang an so gestört, daß eine Kommunikation nur über das Tagebuch läuft. Beide Ehepartner schreiben, getarnt durch den Anspruch auf absolute Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber, in ihren Tagebüchern die Gefühle auf, die sie unmittelbar nicht zu äußern wagen. Durch den gegenseitigen Austausch der Tagebücher findet zumindest in den ersten Ehejahren ein Minimum an Austausch und Auseinandersetzung statt. Gegen Ende der Ehe verbergen die Ehepartner ihre Tagebücher jedoch voreinander. Sie schreiben nicht mehr füreinander, ja nicht einmal mehr für sich selbst, sondern nur noch für die Nachwelt. Jeder versucht, den anderen anzuschwärzen, um selbst möglichst makellos zu erscheinen. Die Tagebücher werden zu einem Instrument der Rechtfertigung, sie sind nicht mehr auf Verständigung und Kommunikation angelegt.
Immer wieder denkt Sofja Tolstoya darüber nach, warum ihre Beziehung zu Tolstoi für beide Teile eine so katastrophale Entwicklung genommen hat. Die Gründe hierin sieht sie vor allem in der Überlegenheit, die Tolstoi als älterer, erfahrener Mann von Anfang an gehabt hat und die sie durch ihre Unterwürfigkeit nur immer wieder neu bestätigte. Sie sieht sehr klar, daß »diese ewige seelische Abhängigkeit« sie um ihre »eigenen Möglichkeiten und Energien gebracht hat«, und sie vermutet wohl nicht zu Unrecht, daß Tolstoi sich ganz bewußt eine »passive... stumme und willenlose Frau« ausgesucht hat, die sich vollständig anpaßt und seinem Genie zuarbeitet. In seinem Tagebuch findet sich folgende Definition einer »guten Ehefrau«:

  • »Eine gute Ehefrau hat die Fähigkeit, Gedanken zu absorbieren und zu assimilieren, bis sie alles durch die Augen ihres Mannes sieht.«

Tatsächlich hat sie versucht, genau diesem Idealbild zu entsprechen. Vor allem in den ersten Ehejahren ist sie eine Meisterin der Anpassung und Hingabe gewesen. Sie stellt sich auf seine sexuellen Wünsche ein, und immer wieder und wieder schreibt sie seine Manuskripte ab. »Krieg und Frieden« schreibt sie mehrmals ab, aber auch die Tagebücher nimmt sie sich immer wieder neu vor. Außerdem liest sie sorgfältig Korrekturen und kümmert sich um die Publikation der Werke, die sie in späteren Jahren als Herausgeberin betreut. Ihr tägliches Arbeitspensum ist erstaunlich. Mehr als fünf Stunden Schlaf gönnt sie sich fast nie. Ihr einziger Trost bei all diesen Mühen war die Überzeugung, daß Tolstoi als Genie dieses »Opfer« wert sei. Aber auch diese Überzeugung geriet immer wieder ins Wanken, wenn ihr die Stupidität ihrer Beschäftigungen zum Bewußtsein kam:

»Ich lebe wie ein Automat: gehe, esse, schlafe, bade, schreibe ab ... Habe kein Privatleben, kann nicht lesen, nicht spielen, nicht nachdenken - und so war das immer. Ist das überhaupt ein Leben? Eigentlich lebe ich gar nicht - «

Immer deutlicher wird ihr, daß sie unfrei ist und wie im »Gefängnis« lebt. Eigene unterdrückte Bedürfnisse melden sich zu Wort. Sie möchte jeden Tag wenigstens zwei Stunden Klavier spielen, malen und selbst schreiben. Sie fühlt, daß ihre schöpferischen Kräfte in der Ehe brachliegen:

»Doch wieviel und wie gut kann ich im Grunde arbeiten! Aber es ist so schade, daß diese Fähigkeit nicht einer wichtigeren und erhabeneren als dieser mechanischen Tätigkeit (Korrekturlesen der »Kreutzersonate« zugute kommt. Wenn ich Novellen schreiben oder Bilder malen könnte, wäre ich äußerst glücklich.«

Sie beginnt, eine Gewohnheit ihrer Jungmädchenzeit aufnehmend, eine Novelle als Gegenstück zu Tolstois »Kreutzersonate« zu schreiben und verfaßt vor allem im Alter eine Anzahl von Texten, die zum großen Teil jedoch unveröffentlicht blieben und noch heute für die Öffentlichkeit unzugänglich im Tolstoi-Museum liegen. Aber über all diesen Versuchen stehen die Worte »zu spät«. Diese Einsicht ist deshalb so niederschmetternd, weil Sofja Tolstoya gegen Ende der Ehe immer deutlicher erkennen muß, daß weder ihr Mann noch ihre Kinder ihr »Opfer« würdigen:

»Ich bin sehr einsam. Meine Kinder sind noch despotischer und herrischer als ihr Vater.«

Sie beginnt darüber nachzudenken, warum Frauen nicht schöpferisch sind:

»Heute überlege ich: Warum gibt es keine genialen Frauen? Weder unter Schriftstellern noch unter Malern oder Komponisten. Das kommt daher, weil eine tatkräftige Frau all ihre Leidenschaft, all ihre Fähigkeiten an die Familie, die Liebe, ihren Mann verschwendet - und vor allem an die Kinder. Ihre übrigen Fähigkeiten verkümmern, bilden sich nicht heraus oder bleiben in den Ansätzen stechen. Wenn das Kindergebären und die Erziehung zu Ende sind, werden die künstlerischen Ansprüche wach - aber dann ist schon alles zu spät, nun läßt sich nichts mehr heranbilden. Unverheiratete Frauen entwickeln häufig geistige und künstlerische Fähigkeiten und Kräfte, doch diese Entwicklung bleibt vereinzelt, kann in den nächsten Generationen nicht weitergehen, da unverheiratete Frauen keine Nachkommenschaft hinterlassen.«

Es fällt ihr schwer, sich mit solchen Einsichten abzufinden. Sie rebelliert aber erst, als Tolstoi versucht, sie nach seiner sogenannten religiösen Wende so weit wie möglich aus seinem Leben fernzuhalten und sie schließlich nicht einmal mehr als Abschreiberin an seinen Werken beteiligt.
Als Geliebte und schließlich auch als Mitarbeiterin hat sie endgültig ausgespielt. Sie ist funktionslos geworden. Auch die Kinder brauchen sie nicht mehr und gehen ihre eigenen Wege. Verständlich, daß sie darauf mit Verbitterung und Anwürfen reagiert.

»Er bringt mich systematisch um, Iäßt mich an seinem Leben nicht Anteil nehmen. Das verletzt mich sehr. Zuweilen überkommt mich eine geradezu wahnwitzige Verzweiflung. Dann möchte ich mich umbringen, irgendwohin fliehen, mich in jemanden verlieben - wenn ich nur nicht mehr mit diesem Menschen zusammenleben müßte, den ich trotz allem mein Leben lang geliebt habe, obwohl mir jetzt bewußt wird, daß ich ihn idealisiert habe, und daß er ausschließlich von einem starken sexuellen Trieb beherrscht wird. Jetzt aber sind mir die Augen aufgegangen, und ich sehe, daß mein Leben zerstört ist.«

Ihre Wut ist schließlich so groß, daß sie Amok läuft. Sie versucht sich in den Besitz der späten geheimen Tagebücher Tolstois zu setzen, in denen sie - übrigens zu Recht - abfällige Bemerkungen über sich vermutet. Wenigstens ihr Bild bei der Nachwelt will sie retten. Ihre eigenen Aufzeichnungen sind ein verzweifeltes Gegenanschreiben gegen das Bild der hysterischen und zänkischen Alten, als die sie Mann und Kindern am Ende erschien. Es gelingt ihr nicht: Sie verzehrt sich vor Haß und ihre Handlungen nehmen hysterische Züge an. Ganz offensichtlich ist sie psychisch schwer erkrankt. Sie selbst spricht davon, daß sie fürchtet, »wahnsinnig« zu werden. Die Angst, auch noch über die Familie hinaus mißverstanden und abgelehnt zu werden, läßt sie panisch reagieren. Sie nimmt zu Bosheiten, Verleumdungen und Unwahrheiten ihre Zuflucht, so daß am Schluß ihr Mann als das bedauernswerte Opfer erscheint.
Besonders der zweite Band der Tagebücher ist quälend in der Art, wie Sofja Tolstoya und ihr Mann sich gegenseitig zugrunde richten und wechselweise zu Tätern und Opfern werden. Die Hölle kann nicht schlimmer sein. Hin- und hergerissen zwischen Abscheu und Mitleid, ist es bei der Lektüre schwer, das Beziehungsgestrüpp zu durchstoßen. Beide, Sofja Tolstoya und Tolstoi, drohen immer wieder mit Selbstmord. Sofja Tolstoya versucht mehrmals, Hand an sich zu legen, und Tolstoi versucht mehrmals, aus Jasnaja Poljana zu fliehen. Das dramatische Ende auf dem Bahnhof in Astopovo ist der Schlußstrich unter eine quälende Ehegeschichte, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. So schrieb Sofja Tolstoya bereits 1863 über ihre Beziehung zu Tolstoi - sie war damals gerade ein Jahr verheiratet

»Ständig denke ich, es sei schon Herbst und alles bald zu Ende. Dabei weiß ich überhaupt nicht, welch ein Winter dem Herbst folgen, ja, ob ihm überhaupt noch ein Winter folgen wird Es ist schrecklich langweilig, . . . ohne irgendwelche Freude zu sein. Ich fühle mich schon alt.«