»Das ist die Ausbeutung der Frau, die Vernichtung der Künstlerin ...«
»Mein Traum wäre es, sofort nach Villeneuve zurückzukehren und nicht mehr wegzugehen, eine Scheune in Villeneuve wäre mir lieber als ein Platz als Patientin erster Klasse hier. Ich kann es nur bedauern, wenn ich sehe, wie Du Dein Geld für eine Irrenanstalt verschwendest, Geld das mir nutzen könnte, um schöne Arbeiten zu machen und angenehm zu leben! Was für ein Unglück! Es ist zum Weinen. Was für ein Glück, wenn ich in Villeneuve sein könnte. Dieses hübsche Villeneuve, das auf der Welt nicht seinesgleichen hat!«
»Ich kann die Schreie all dieser Geschöpfe nicht mehr ertragen, es bricht mir das Herz. Mein Gott, wie gern wäre ich in Villeneuve! Ich habe nicht all das getan, was ich getan habe, um mein Leben anonym im Irrenhaus zu beschließen, ich habe etwas anderes verdient.«
»Ich gehöre nicht hierher in dieses Milieu, man soll mich herausholen, nach vierzehn Jahren eines solchen Lebens fordere ich lautstark die Freiheit.«
Diese verzweifelten Hilferufe sandte die Bildhauerin Camille Claudel im Frühjahr 1927 an ihre Mutter und an ihren Bruder Paul, den damals schon berühmten Dichter. Sie war zu dieser Zeit dreiundsechzig Jahre alt und lebte seit vierzehn Jahren in der Irrenanstalt in Montdevergues, in die sie 1913 auf Veranlassung der Familie eingewiesen worden war. Trotz ihrer flehentlichen Bitten holten weder Mutter noch Bruder die Verzweifelte aus der Anstalt heraus. Dies ist um so erstaunlicher, als von ärztlicher Seite keine ernsthaften Bedenken mehr gegen eine Entlassung beziehungsweise Verlegung der Kranken in die nähere Umgebung der Familie bestanden. In der Krankengeschichte von 1920 heißt es:
- »1. Mai: Fräulein Claudel verhält sich ruhig, ihr Verfolgungswahn ist schwächer psychisches Befinden ist gut. Sie wünscht sich lebhaft, ihre Familie zu sehen und in die Nahe von Paris zu kommen.
- »1. Juni: Fräulein Claudel verhält sich ruhig, ihr Verfolgungswahn ist zwar nicht ganz verschwunden, doch sehr zurückgegangen. Sie äußert lebhaft den Wunsch, zu ihrer Familie zurückzukehren und auf dem Lande zu leben. Ich glaube, daß unter diesen Umständen eine Entlassung versucht werden kann.
- »8. Juni: Wenn Sie Fräulein Claudel nicht aufnehmen können, wäre es meines Erachtens für den Geisteszustand der Kranken vorteilhaft, sie in die Nähe ihrer Familie zu bringen, was sie sich lebhaft wünscht. Sie ist seit langem sehr ruhig, und die Abnahme ihrer Wahnvorstellungen könnte vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt einen Entlassungsversuch ermöglichen.
- »1. Juli: Fräulein Claudel ist weiterhin ruhig, ihr Verhalten ist korrekt, und die sehr abgeschwächten Verfolgungsideen treten beinahe nicht mehr auf. Wenn es Ihnen nicht möglich ist, sie wieder aufzunehmen, so könnten Sie sie in eine Pflegeanstalt überweisen lassen, die näher bei ihrer Familie gelegen ist, so daß diese sie von Zeit zu Zeit besuchen könnte. Das Fehlen jeglichen Besuches ist in der Tat für Fräulein Claudel sehr schmerzlich.
- »2. August: Fräulein Claudel verhält sich weiterhin ruhig und wünscht lebhaft, sich Ihnen zu nähern. Ihr physisches Befinden ist gut.
Ungeachtet solcher ärztlicher Empfehlungen verblieb Camille Claudel bis zu ihrem Tode 1943 in der Anstalt Montdevergues. Besuche empfing sie in den dreißig Jahren ihrer »Kasernierung« nur selten. Auf ausdrücklichen Wunsch der Familie durfte sie nur mit der Mutter und dem Bruder korrespondieren. Ihre Isolierung war total. Viele ihrer ehemaligen Förderer und Bewunderer mußten annehmen, daß sie längst tot war. Ein Nachhall dieses in der Öffentlichkeit kursierenden Gerüchtes findet sich noch in dem renommierten Künstlerlexikon »Bénizit« von 1976, wo es lapidar heißt, daß die Bildhauerin Camille Claudel um 1920 gestorben sei. Das ist so falsch nicht, denn von Leben kann man in der Anstalt Montedevergues, einem bloßen Aufbewahrungsort für die von der Gesellschaft und von ihren Familien Ausgestoßenen und von den Ärzten Aufgegebenen, nicht sprechen. Ohne Kontakt zur Außenwelt und ohne sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeiten war Camille Claudel zum bloßen Vegetieren verdammt. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß sie Patientin erster Klasse war. Die Versorgung und die Lebensumstände waren auch in der ersten Klasse katastrophal:
»Zum Schreiben kann ich mich nicht in den Saal setzen, wo alle sich aufhalten und wo ein armseliges kleines Feuer brennt, denn dort herrscht ein Höllenlärm. Ich bin gezwungen, in mein Zimmer im zweiten Stock zu gehen, wo es so eiskalt ist daß ich blaue Fingerspitzen bekomme, meine Finger zittern und können die Feder nicht mehr halten.
Den ganzen Winter konnte ich mich nicht aufwärmen; ich bin durchgefroren bis auf die Knochen, wie entzweigeschnitten von der Kälte. Ich war sehr stark erkältet. Eine Freundin von mir, eine arme Lehrerin vom Lycie Finelon, die hier gestrandet ist, wurde erfroren in ihrem Bett aufgefunden. Es ist entsetzlich. Nichts läßt sich mit der Kälte in Montdeverées vergleichen. Und das dauert volle sieben Monate.«
»Das Essen besteht im wesentlichen aus folgendem: Suppe (das heißt Brühe von halbgarem Gemüse, immer ohne Fleisch), ein altes Rinderragout in einer schwarzen, öligen, bitteren Soße, und das jahrein, jahraus, alte Makkaroni, die in fetter Schmiere schwimmen, oder alter Reis, in der gleichen Art zubereitet, mit einem Wort, die ganze Zeit nur fetter Fraß, als Vorspeise ein winziges Stückchen roher Schinken, zum Nachtisch alte Datteln oder drei vertrocknete Feigen oder drei alte Kekse oder ein altes Stück Ziegenkäse; das gibt es für Eure zwanzig Francs pro Tag; der Wein ist Essig, der Kaffee Muckefuck.«
Camille Claudel fühlte sich wie im Exil, oder schlimmer noch, wie im Grab, in das man sie lebendig eingemauert hatte. Dreißig Jahre äußerte sie immer wieder den gleichen Wunsch: endlich wieder ein »normales« Leben außerhalb der Anstaltsmauern führen zu dürfen. Aber die Mutter war unerbittlich. In einem Brief an den Direktor der Anstalt schrieb sie:
- »Sie lebte elend in ihrer Wohnung, verkehrte seit zehn Jahren mit niemandem mehr, ließ sich von all denen ausnehmen, die ihr Nahrungsmittel verkauften. Türen und Fenster waren verriegelt, zugesperrt, und in einer Kiste stellte man ihr das Essen auf eines der Fenster. Sie selbst und die Wohnung waren in schrecklichem Zustand Sie verbrachte ihre Zeit damit, Briefe an Taugenichtse oder Denunzierungen zu schreiben. Kurz, sie hat alle Laster, ich will sie nicht wiedersehen, sie hat uns zuviel Leid zugefügt. Ich bitte Sie von neuem, Herr Direktor, sich zu informieren, durch wen sie ihre Briefe weiterreicht, und ihr zu verbieten, auf einem anderen als dem administrativen Weg zu schreiben.«
Aber auch nach dem Tode der Mutter 1929, die bis zum Schluß unversöhnlich blieb, gab der Bruder den flehentlichen Bitten der Schwester nicht nach. Unbeirrt hielt er an der gemeinsam mit der Mutter getroffenen Entscheidung fest und rechtfertigte diese noch 1951 mit den Worten:
- ». . . man mußte eingreifen die Mieter dieses alten Hauses am Quai Bourbon beschwerten sich. Was war das für eine Wohnung im Erdgeschoß, deren Fensterläden ständig geschlossen blieben? Wer war diese scheue, verstörte Frau, die man nur am Morgen aus dem Haus kommen sah, um ihre erbärmliche Nahrung zu holen? Eines Tages dringen die Angestellten des Krankenhauses von der Rückseite her in das Zimmer ein und nahmen die verschreckte Bewohnerin mit, die seit langem inmitten von Gipsfiguren und ausgetrocknetem Ton auf sie gewartet hatte. Wie man sagt, waren Unordnung und Schmutz unbeschreiblich. An der Wand waren mit Nadeln die vierzehn Kreuzwegstationen befestigt, die aus der Frontseite der Zeitung der Rue Bayard ausgeschnitten waren. Draußen wartete der Krankenwagen. Und dreißig Jahre lagen nun vor ihr.«
Im Gegensatz zur Mutter besuchte Paul die Schwester jedoch, wenn auch nur selten. Aus seinen Tagebüchern spricht das schlechte Gewissen, das ihm das Schicksal der Schwester trotz aller Harmonisierungs- und Verdrängungsversuche machte. Seine Werke lassen sich als verzweifelte »Suche nach jener Schwester, unserer Seele« lesen, die, wie er selbstquälerisch schrieb, »wir im Stich gelassen haben, wann eigentlich? Was ist aus ihr geworden?« Sein letzter Besuch fand 1943 wenige Wochen vor Camilles Tod, statt. In seinem Tagebuch notierte Paul:
- »Camille in ihrem Bett! Eine Frau von achtzig Jahren, die viel älter wirkt! Der äußerste Verfall, dabei kannte ich sie als Kind und junges Madchen, im vollen Glanz der Schonheit und des Genies! Sie erkennt mich und, zutiefst gerührt, mich zu sehen, wiederholt sie unaufhörlich: Mein kleiner Paul, mein kleiner Paul! Die Krankenschwester sagt mir, daß sie sich in der Kindheit befindet. Auf diesem großen Gesicht, dessen Stirn immer noch herrlich, genial ist, liegt ein Ausdruck von Unschuld und Glück.«
Wer war diese Camille Claudel, die den Bruder noch als Achtzigjährige an jenes »herrliche junge Mädchen im sieghaften Glanz der Schönheit und des Genies« erinnerte, unter deren »grausamer Überlegenheit« er nach eigenem Bekunden als Knabe unendlich gelitten hatte, an der er aber trotzdem mit abgöttischer Liebe hing und deren Schönheit er wie ein Liebhaber beschrieben hat:
- »Eine herrliche Stirn, wunderschöne dunkelblaue Augen, und dieser große, mehr stolze als sinnliche Mund, die prächtige, rötlich-kastanienbraune Haarmähne, die ihr bis zu den Hüften herabhing.«
1905, als die Schwester auf dem Höhepunkt ihrer Karriere stand, hatte Paul eine hymnische Würdigung geschrieben, deren werbender Ton um die Schwester unüberhörbar ist. Der ganze Aufsatz diente nur dem einen Ziel: die geheime Verwandtschaft zwischen sich und Camille herauszuarbeiten. Mit subtiler Kennerschaft hatte er eine Verbindung hergestellt zwischen Camilles »Kunst des Innenraums" und den »verbotenen Träumen« der Dichter. Die Skulpturen der Schwester hatte er als »eine Art Denkmal innerlichen Denkens«, als »lebendiges Fragment eines Vorschlags zu allen Träumen« gefeiert. Für den Bruder war die Schwester eine Verkörperung der »genialen Frau«, die ihm angst machte, die ihn aber auch faszinierte, gegen die er opponierte und der er sich doch immer wieder unterlegen fühlte.
Wer aber war Camille Claudel wirklich?
Geboren wurde Camille Claudel 1864 in Fère-en-Tardenois in der Champagne, wo der Vater seit 1860 als Steuereinnehmer beschäftigt war. Zwei Jahre später wurde die Schwester Louise, zwei Jahre danach der Bruder Paul geboren. Die Mutter scheint die älteste Tochter von Anfang an abgelehnt zu haben, wohl weil sie sich statt ihrer einen Knaben gewünscht hatte, der ihr den erstgeborenen, nach wenigen Tagen verstorbenen Sohn Charles Henri ersetzen sollte. Obgleich die Briefe von Camille Claudel aus der Irrenanstalt voll zärtlicher Erinnerungen an ihre Kindheit und das EIternhaus in Villeneuve-sur-Fère sind, scheint die Kindheit doch unglücklich gewesen zu sein, wenn man dem Bruder Paul glauben darf:
- »Alle stritten sich in der Familie: mein Vater und meine Mutter stritten sich, die Kinder stritten sich mit den Eltern, und sie stritten sich viel untereinander ...«
Einer der Hauptstreitpunkte in der Familie war die schon früh erkennbare, besondere Begabung der ältesten Tochter, die von dem Vater bedingungslos unterstützt, von der Mutter aber als unschicklich abgelehnt wurde. Bereits als Kind modelliert Camille wie eine Besessene. Unter ihren Händen wird alles, was sie liest oder hört, in Figuren umgeformt: die Helden aus den antiken Sagen ebenso wie die Gestalten der Bibel. Zwischen ihrem achten und zwölften Lebensjahr modelliert Camille Hunderte von Figuren, mit denen sie sich ihre eigene bizarre Welt schafft. Der Kunstkritiker Matthias Morhardt, der 1898 im »Mercure de France« eine begeisterte Würdigung der Bildhauerin veröffentlichte, hat eine sehr anschauliche Schilderung über die Anfänge des außergewöhnlichen Kindes verfaßt:
»Die Bildhauerei ist eine heftige Leidenschaft, von der sie ganz in Besitz genommen ist und die sie despotisch ihren Angehörigen, Nachbarn und sogar Hausangestellten aufzwingt. In Unkenntnis aller Verfahrensweisen, aller Vorurteile, der ganzen sinnlosen, gekünstelten Technik, mit der man die allzu leichtgläubigen Anfänger in der Bildhauerei unnötig belastet, in Unkenntnis auch der Natur, die sie einstweilen nur durch ihren >Muskelmann< kennt, schafft sie Skulpturen, und ihr Elternhaus, das schnell von ihrer Kunst überschwemmt wird, ist bald nur noch das Nebengebäude eines Ateliers, in dem sich in Ton Stein und Holz unzählige tragische oder fratzenhafte Figuren häufen die Helden alter Zeiten und aller Völker. Zwischen zwei Grammatik-, Arithmetik- oder Geschichtsstunden wird dieses Atelier zum Zentrum allgemeiner Tätigkeit. Unterstützt von ihrer jüngeren Schwester und ihrem kleinen Bruder Paul Claudel - dem zukünftigen Autor der herrlichen Dichtungen >Goldhaupt< und >Die Stadt< - regiert Fräulein Camille Claudel hier als Alleinherrscherin. Während sie fieberhaft Bällchen dreht, schlägt der eine nach ihrer Anleitung den Modellierton, der andere feuchtet den Gips an, ein dritter steht Modell oder gibt einer Marmorskulptur den letzten Schliff. Sie ist allein die >Künstlerin.<«
Ratlos angesichts der ausgeprägten Begabung der Tochter, wendet sich der Vater an den Bildhauer Alfred Boucher, der die dreizehnjähiige Camille und ihre Plastik »David und Goliath« dem Direktor der Ecole des Beaux Arts vorstellt. Dieser ist beeindruckt und vermutet, daß Camille bei Rodin, dem berühmtesten Bildhauer jener Zeit, Unterricht gehabt haben müsse. Diese Vermutung, obgleich sie falsch war, nimmt einen Teil der späteren Entwicklung prophetisch vorweg. Vorerst hat Camille den Namen Rodin überhaupt noch nicht gehört. Eingesponnen in ihre eigene Welt, schafft sie ihre Werke, unbeeindruckt von irgendwelchen Vorbildern oder Lehrern. Der Wille, Bildhauerin zu werden, erweist sich als so mächtig, daß die Mutter schließlich im Jahre 1881 auf Wunsch des Vaters mit den Kindern nach Paris zieht, um Camille eine Ausbildung zu ermöglichen. Da Frauen zu dieser Zeit an der Ecole des Beaux Arts als Studentinnen nicht zugelassen waren, besucht Canillle Kurse an der privaten Akademie Colarossi und mietet mit einigen Freundinnen, die sie dort kennengelernt hat, ein Atelier. Alfred Boucher, der als einer der ersten ihre außergewöhnliche Begabung erkannt hatte, kommt zweimal wöchentlich ins Atelier, um die Arbeiten von Camille und ihren Freundinnen zu korrigieren. Als er 1882 mit einem Preis ausgezeichnet wird, der es ihm erlaubt, sich für längere Zeit nach Italien zu begeben, bittet er Rodin, ihn bei seinen Schülerinnen zu vertreten.
Zu diesem Zeitpunkt ist Camille Claudel achtzehn Jahre alt und hat zwei Skulpturen fertiggestellt, wenn man von den Modellierversuchen der Kindheit absieht: eine Büste ihres Bruders Paul und eine Büste einer alten Frau, einer Hausangestellten ihrer Mutter, die ihr geduldig Modell gesessen hatte. Der damals zweiundvierzigjährige Rodin hat einen ersten Höhepunkt seiner Karriere erreicht: Seine Arbeiten »Das eherne Zeitalter«, »Der schreitende Mann« und »Der Mann mit der gebrochenen Nase« haben in der Öffentlichkeit Furore gemacht und ihn zu einem umschwännten und anerkannten Künstler werden lassen. Seine »Bürger von CaIais« stehen kurz vor der Vollendung, vom Musée des Arts Décoratifs hat er den ehrenvollen Auftrag für das berühmte »Höllentor« bekommen, das ihn fast vierzig Jahre lang beschäftigen wird.
In den Werken Camille Claudels spürt Rodin eine innere Verwandtschaft mit seinen eigenen Plastiken. Er erkennt sofort die geniale Begabung des jungen Mädchens und ist erstaunt über die Sicherheit und die Ausdruckskraft ihrer Arbeiten. Bald schon begnügt sich Rodin nicht mehr damit, Camille Claudels Arbeiten zu begutachten und zu korrigieren. Er versucht sie als Mitarbeiterin zu gewinnen. Nach langem Werben tiitt Camille Claudel im November 1885 in dessen Atelier in der Rue de l'Université ein. Unter den zahlreichen Gehilfen, die Rodin beschäftigte, nimmt Camille Claudel eine Sonderstellung ein. Sie ist von vornherein mehr als eine Gehilfin, der der »Meister« die Modellierung noch unfertiger Werke überträgt. Sie ist eine kongeniale Partnerin, die Rodin zu einer ganz neuen Art des Modellierens anregt. Für seine berühmten Skulpturen »Der Kuß« »Aurora« und »Der Gedanke« steht sie nicht nur Modell, sondern ihre eigenen Skulpturen »Sakuntala«, »Der Walzer« und das »Mädchen mit der Garbe« sind von dem gleichen kühnen Geist beseelt wie die Arbeiten Rodins. Viele der Werke, die Rodin und Camille Claudel in den achtziger und neunziger Jahren schaffen, sind von einer solch verblüffenden Ähnlichkeit, daß es schwierig ist, zu sagen, von wem welches Werk stammt und wer wen inspiriert hat. Dabei handelt es sich jedoch nicht um Abhängigkeiten, sondern um parallele Entwicklungen zweier genialer Künstler, die für eine Zeitlang zu einer produktiven Einheit verschmelzen. Es ist die Zeit, in der Camille Claudel von der Kritik begeistert gefeiert wird:
- »Ich weiß nicht, was man am meisten bewundern soll an dieser Künstlerin, die in der Fülle der Formen, der Führung der Linien, der lyrischen Kühnheit des Denkens, in der unfehlbaren Treue der Ausführung männlicher ist als ein großer Teil ihrer Kollegen ... Camille Claudel ist unbestritten die einzige Bildhauerin, auf deren Stirn das Zeichen des Genies leuchtet.«
Über ihren »Walzer«, ein vielbeachtetes und gelobtes Werk, schreibt der angesehene Kunstkritiker Octave Mirbeau anläßlich der Ausstellung im »Salon de Mai 1893«:
- »Ist es die Liebe, ist es der Tod? Die Körper sind jung, voll pulsierenden Leben, doch das sie umgebende und ihnen folgende Faltengewand, das sich mit ihnen dreht flattert wie ein Leichentuch. Ich weiß nicht, wohin sie tanzen, ob in die Liebe oder in den Tod, ich weiß nur eins: über diesem Paar liegt eine Traurigkeit, die so egreifend ist, daß sie nur vom Tod kommen kann, oder vielleicht von einer Liebe, die noch trauriger als der Tod ist.«
Diese Melancholie, die Mirbeau an Camille Claudels Plastik wahrnimmt, hat ihre Entsprechung in der Beziehung der beiden Künstler. Die große Leidenschaft, die beide ftireinander empfinden und die sie immer wieder einander in die Arme treibt, ist auf die Dauer nicht lebbar. Rodin fühlt sich an Rose Beuret, eine ehemalige Wäscherin und sein erstes Modell, gebunden, die seit 1864 mit ihm zusammenlebt und mit der er einen Sohn hat, den er aber nicht anerkennt. Trotz seiner zahlreichen Affären bleibt Rodin seiner Lebensgefährtin, die ihn in seinen mühevollen Anfängen hingebungsvoll unterstützt hatte, zeitlebens »treu«. Wenige Monate vor ihrem und seinem Tod 1917 macht er sie nach über ftinfzigjährigem gemeinsamen Leben zu seiner rechtmäßigen Frau. Camille Claudel bleibt angesichts der Fixierung Rodins auf Rose Beuret nur der Status einer Mätresse, der sie gesellschaftlich isoliert. Als ihr Verhältnis öffentlich bekannt wird, muß sie das Elternhaus verlassen. Der Bruder Paul reagiert mit Abscheu und Eifersucht auf Rodin, den er als Nebenbuhler empfindet. Zwar leben Rodin und Camille Claudel immer wieder über kürzere oder längere Zeit zusammen, aber Camille Claudel bleibt immer nur die »Nebenfrau«, auch wenn Rodin ihr immer wieder zu verstehen gibt, daß ihr seine eigentliche Liebe gelte und daß ihn nur Mitleid und Verantwortungsgefühl an Rose Beuret festhalten ließen.
Belastender als das Schwanken Rodins zwischen den beiden Frauen, deren leidenschaftlichen Forderungen er durch kurze Liebschaften immer wieder zu entkommen sucht, ist für Camille Claudel aber die Tatsache, daß sie in der Öffentlichkeit, auch wenn man ihre Arbeiten lobt, immer nur als Schülerin, schlimmstenfalls als seine Geliebte gesehen wird. Auch in positiv gemeinten Besprechungen fehlt fast nie der Hinweis auf den berühmten Lehrer, der manchmal noch um den Hinweis auf den inzwischen auch berühmten Bruder ergänzt wird:
- »Mlle. Camille Claudel ist eine der interessantesten Künstlerinnen unserer Zeit. Auguste Rodin kann stolz auf seine Schülerin sein, der Verfasser von > Goldhaupt< auf seine Schwester.«
Camille Claudel fühlte sich jedoch dadurch nicht geschmeichelt, sondern in ihrer künstlerischen Eigenständigkeit eingeschränkt: Eingezwängt zwischen zwei berühmte Männer, wurde sie nur als Geliebte oder Schwester wahrgenommen. Auch wenn Rodin immer wieder auf ihre Selbständigkeit hinwies und sie kräftig protegierte - für die Öffentlichkeit war eine Frau, die »wie ein Mann« die Bildhauerei berufsmäßig betrieb, eine Provokation, die sich am besten ertragen ließ, wenn man unterstellte, daß Camille Claudel ihre Skulpturen nicht selbst hergestellt, sondern daß der »Meister« Rodin ihr dabei den Meißel geführt hatte. In diesem Gerücht liegt der Keim zu dem späteren Verfolgungswahn, dem Camille Claudel anheimfiel. Als sie sich bereits von Rodin getrennt hatte, verbat sie sich in einem Brief an einen gemeinsamen Bekannten alle weiteren Besuche:
»Sehr geehrter Herr,
ich bitte Sie, Ihr möglichstes zu tun, daß Monsieur Rodin mich am Dienstag nicht besucht. Falls Sie Monsieur Rodin gleichzeitig mit allem Takt und ein für allemal beibringen könnten, daß ich ihn nicht mehr sehen will, würden sie mir damit das allergrößte Vergnügen bereiten. Monsieur Rodin weiß sehr gut, daß viele böswillige Leute sich einifallen lassen, zu behaupten, er habe meine Skulpturen gemacht. Warum also soll dann noch alles getan werden, um diese Verleumdung glaubwürdig erscheinen zu lassen? Wenn Monsieur Rodin mir wirklich helfen will, so könnte er das sehr gut, ohne andererseits zur Verbreitung des Gerüchtes beizutragen, daß ich den Erfolg der Werke, an denen ich mühsam arbeite, nur seinem Rat und seiner Inspiration verdanke.«
Später in der Irrenanstalt wird sich aus einer solchen rational noch sehr gut nachvollziehbaren Argumentation der rational nicht mehr aufzulösende Wahn entwickeln, Rodin sei der Drahtzieher ihrer Einlieferung in die Irrenanstalt:
»Alles das entspringt im Grunde Rodins teuflischem Gehirn. Er hatte nur einen Gedanken: Ich könnte nach seinem Tod als Künstlerin zu Ansehen gelangen und berühmter werden als er; deshalb mußte er mich in seinen Klauen behalten ...«
Die Vorstellung, daß Rodin sie um das Eigentliche betrogen habe, enthält jenseits aller wirren Übersteigerung einen realen Kern: Als Mitarbeiterin und Gehilfin hat Camille Claudel jahrelang an den Skulpturen Rodins gearbeitet. Es ist überliefert, daß sie vor allem die Füße und die Hände modelliert und Vorlagen Rodins direkt in Marmor übertragen hat. Diese intensive Zuarbeit für Rodin kostete sie wichtige Zeit, die sie für die Vollendung eigener Werke dringend benötigt hätte. Da sie nicht wie Rodin eine ganze Heerschar von Gehilfen beschäftigen konnte, war sie weitgehend auf ihre eigene Arbeitskraft angewiesen. Hierin liegt auch ein Grund dafür, daß das Euvre, das Camille Claudel hinterlassen hat, im Vergleich zu dem von Rodin so schmal ist. Die Trennung von Rodin, die Camille Claudel nach dreizehn Jahren der intensiven künstlerischen und privaten Gemeinschaft um 1895 definitiv vollzog, war also eine Form des Selbstschutzes, mit dem sie ihre Person und ihre Werke dem vampirhaften Zugriff des älteren und erfolgreichen Mannes zu entziehen und mit der sie vor allem den Gerüchten über ihre Abhängigkeit entgegenzutreten versuchte.
Sie bezieht ein eigenes Atelier, und es entstehen eine Anzahl von Plastiken, die zum Kühnsten und Avanciertesten gehören, was in der damaligen Zeit überhaupt entstanden ist. Trotz lobender Kritiken gelingt es Camille Claudel jedoch nicht, von ihrer Kunst zu leben. Für eine Karriere, wie sie Rodin in dieser Zeit machte, fehlen ihr der familiäre Rückhalt, die emotionale Unterstützung durch Freunde, die Protektion durch einflußreiche Mäzene und nicht zuletzt die finanziellen Ressourcen. Von vielen ihrer Arbeiten kann sie nur Gipsabgüsse herstellen, für die Ausführung in Marmor oder Bronze fehlt ihr das Geld. Mit Gipsabgüssen aber konnte sie sich an keiner Ausstellung beteiligen.
Hier schließt sich der Teufelskreis: Die Trennung von Rodin hatte ihr zwar die Freiheit zurückgegeben, sie aber zugleich von all dem abgeschnitten, was sie gebraucht hätte, um sich als Künstlerin erfolgreich zu behaupten. Es war eine mörderische Freiheit, wie Camille Claudel rasch erkennen mußte: Als Frau allein hatte sie keine Chance.
Schon bald sieht sie das Aussichtslose ihrer Situation. Resigniert schreibt sie 1902:
»Ich hätte mir lieber schöne Kleider und schöne Hüte kaufen sollen, die meine natürlichen Vorzüge zur Geltung bringen, anstatt mich meiner Leidenschaft für zweifelhafte Kunstwerke und mehr oder minder abstoßende Gruppen hinzugeben.«
Trotzdem beteiligt sie sich 1905 mit dreizehn Skulpturen an einer Ausstellung, unter anderem auch einer Büste ihres Bruders Paul. Es sollte die letzte öffentliche Präsentation ihrer Arbeiten sein.
Nach 1905 hat sich Camille Claudel immer stärker zurückgezogen und auch den Kontakt zu alten Freunden und Förderern abgebrochen. Es kommt zu jener Form der Verstörung, die die Familie schließlich zum Eingreifen veranlaßt. Aber immer noch ist Camille Claudel produktiv. In den Jahren 1906/07 arbeitet sie an einer Gipsplastik »Niobide«, die erst kürzlich aufgefunden wurde und die zeigt, daß das Gerücht, Camille Claudel habe nach der Ausstellung von 1905 nur noch unförmige Gipsplastiken modelliert, nicht stimmt. Tatsache ist aber auch, daß Camille in dieser Zeit einen fanatischen Haß auf Rodin entwickelt. Sie geht so weit, ihn des Diebstahls zu beschuldigen:
»Nachdem er mit allen Mitteln versucht hat, bestimmte Ideen von mir an sich zu bringen, bestimmte Skizzen, auf die er sein Auge geworfen hat, und nachdem er bei mir auf erbitterten Widerstand gestoßen ist, möchte er mich gewaltsam, durch das Elend, mit dem er mich zu ruinieren weiß, dazu bringen, ihm das auszuhändigen, was er haben will, das ist seine übliche Methode. Da sieht man, zu welcher infamen Ausbeutung sich dieses Genie herbeilassen muß, um zu den Ideen zu gelangen, die ihm fehlen.«
Camille Claudel kommt sich vor wie »ein Kohlkopf, an dem die Raupen nagen«: »jedesmal wenn ich ein Blatt hervorbringe, fressen sie es auf.. .« Sie sieht sich als Opfer einer Verschwörung, die ihr als Frau und Küristlerin gelten:
»Sie haben mich extra dazu erzogen, ihnen Ideen zu liefern, weil sie wissen, daß sie selbst keine Phantasie haben ... Das ist die Ausbeutung der Frau, die Vernichtung der Künstlerin . . .«
Der Verfolgungswahn, der immer stärker von ihr Besitz ergreift, zehrt allmählich das auf, was ihre geniale Besonderheit ausgemacht hatte: ihren Ideenreichtum, ihre produktive Kraft und ihr gestalterisches Vermögen. Um ihre Arbeiten vor dem befürchteten Diebstahl zu schützen, hört sie ganz auf zu modellieren, weil sie nicht länger Zulieferin für fremden Ruhm sein will. Als sie 1913 in die Anstalt eingeliefert wird, ist sie künstlerisch eine gebrochene Frau. Aber noch ist ihr Lebenswille ungebrochen. In den ersten Jahren der »Internierung« begehrt sie immer wieder auf, geht zum Angriff über und fordert »lautstark die Freiheit«. Im Laufe der Jahre aber wird sie immer »ruhiger« und angepaßter, wie aus der Krankenakte hervorgeht. An ihren Bruder Paul schreibt sie im April 1932 resigniert:
»Ich würde gern in Villeneuve am Kamin sitzen, aber leider glaube ich nicht, daß ich je wieder aus Montdevergues herauskomme, so wie die Dinge stehen! Es sieht nicht gut aus!«
Es sollte noch mehr als ein halbes Jahrhundert vergehen, bis Camille Claudel als Bildhauerin wiederentdeckt wurde. Erst die große Pariser Ausstellung von 1984 und die sich daran anschließenden Veröffentlichungen haben Camille Claudel aus jenem Schatten des Vergessens herausgeholt, in den sie als Schwester, Geliebte und schließlich als Wahnsinnige geraten war.