Das verborgene Ich

Auf der Suche nach dem Subjekt eines unsinnigen Diskurses

»Personalpronomina, wie man sagt: alles
steht hier auf dem Spiel, für immer bin ich in
der pronominalen Schranke eingeschlossen:
>ich< mobilisiere das Imaginäre, >ihr< und >er<
rufen die Paranoia auf den Plan.«[1]

Es gehört zu den Kerneigenschaften einer jeden Schrift, daß sie in der Abwesenheit des Autors, Absenders, Produzenten, Senders funktioniert; daß sie lesbar, zitierbar, verstehbar und nachschreibbar bleibt, auch wenn kein Subjekt mehr als ihre Quelle identifizierbar ist. Als graphemische Spur ist das schriftliche Zeichen übriggeblieben, abgeschnitten von seinem subjektiven Ursprung, von einem ursprünglichen Subjekt, das nur noch als eine signifikante Funktion, als eine Art von Nicht-Ort im differentiellen Spiel der Schrift auftaucht, — was es nicht davor schützt, immer wieder gesucht und dingfest gemacht zu werden. Wer hat das geschrieben? Welche Person, welcher Autor, welches Ich verantwortet den geschriebenen Text? Wessen Identität steht hier auf dem Spiel?
Man kann bei der Beantwortung dieser Fragen auch dort beginnen, wo die diskursiven Grundprobleme am deutlichsten werden, beim raffinierten Spiel mit der Sprache in Gestalt eines Kinderbuches: »Alice im Wunderland«[2]
Es war der 4. Juli 1862, ein sehr heißer Sommertag mit wolkenlos blauem Himmel, an dem der dreißigjährige Lehrer und »Master of the House« am Oxforder Christ Church College, Charles Lutwidge Dodgson, zusammen mit seinem Freund Duckworth und den drei kleinen Töchtern seines Dekans Dr. Liddell, unter ihnen die neunjährige Alice als »cox of our gig«,[3] eine ausgedehnte Ruderpartie unternahm. »I made an expedition up the river of Gadstow with the three Liddells: we had tea on the bank there, and did not reich Christ Church again till quarter past eight«, heißt es in seinem Tagebuch, und einige Monate später, am 10. Februar 1863, fügt er dieser Eintragung die Notiz hinzu: »On which occasion I told them the fairytale of Alice's Adventures Underground, which I undertook to write out for Alice, and which is now finished.«[4]
Nach ihren zahlreichen verwirrenden Abenteuern in jenem unterirdischen Wunderland-Irrgarten, in den sie sich träumend verirrt hat, wurde Alice, gegen Ende der Geschichte, auch Zeugin einer absurden Gerichtsverhandlung. Es geht um neun gestohlene Törtchen, von der Herzkönigin auf goldenen Kohlen gebacken. Als Tortendieb angeklagt und mit dem Tode bedroht ist Herzbube, über den Herzkönig und Herzkönigin zu Gericht sitzen. Nachdem die geladenen Zeugen, unter ihnen Hutmacher und Haselmaus, nichts zur Klärung der Tat beitragen konnten, wird plötzlich Alice in den Zeugenstand gerufen. Aber auch sie weiß, zunächst, »nicht das geringste« von der Tat, dem möglichen Verbrechen des Angeklagten.
Da taucht ein weiteres Beweisstück auf, eine neue gerichtliche »Evidenz«: schriftliche Äußerungen, ein »Schreiben«, das auf die Spur des Täters führen soll.

»Es liegt noch ein weiteres Beweisstück vor, mit Verlaub, Euer Majestät«, sagte das Weiße Kaninchen und sprang eilig auf; »eben ist dieses Schreiben gefunden worden.« »Was steht darin?« fragte die Königin. »Ich habe es noch nicht geöffnet«, sagte das Weiße Kaninchen, »aber anscheinend ist es ein Brief, den der Angeklagte geschrieben hat, an — an irgendjemand.« »So muß es gewesen sein«, sagte der König, »es sei denn, er hat ihn an niemanden geschrieben, und das ist meines Wissens nicht üblich.« »An wen ist er adressiert?« fragte ein Schöffe. »Er hat keine Adresse«, sagte das Weiße Kaninchen; »außen ist er überhaupt ganz leer.« (Alice, 121)

Es fehlt der bestimmte Adressat. Ein Schreiben an Niemand — und jeden, ein Schriftstück, das immer wieder gelesen werden kann von jedem, der sich als sein Empfänger versteht. Mag sein, daß es einmal einen empirisch festgelegten und adressenmäßig bestimmten Empfänger gegeben hat. Aber dieses besondere Individuum ist schon lange zum »irgend jemand« geworden, zu jedem, der irgendwann den Text gelesen hat oder noch lesen wird. — Diese Abwesenheit eines besonderen Empfängers läßt bald die Textsorte des Geschriebenen zweifelhaft werden. Handelt es sich überhaupt um einen Brief?

»Nun ist es doch kein Brief, sondern vielmehr ein Gedicht.« »In der Handschrift des Angeklagten?« fragte ein zweiter Schöffe. »Nein, eben nicht«, sagte das Weiße Kaninchen, »das ist ja gerade das Sonderbare.« (Die Schöffen schauten alle ratlos drein.) »Er muß eine fremde Handschrift nachgeahmt haben«, sagte der König. (Die Schöffen waren alle erleichtert.) (Alice, 121)

Mit Erleichterung wird die vorschnelle Identifizierung aufgenommen: der Herzbube ist der Absender. Die Äußerungsquelle ist dingfest gemacht, die Ratlosigkeit angesichts eines anonymen Schreibens schnell überwunden. Dem poetischen Werk, wahrnehmbar als sechs-strophiges Gedicht traditioneller Bauweise, ist sein Autor zugeordnet worden. Vor dieser Zuschreibung schützt auch nicht die »fremde« Handschrift. Im Gegenteil: sie wird als Fälschung indiziert und verweist umso mehr auf die verbrecherische Tat des Angeklagten.
Gegen diese Unterstellung dokumentiert das gedichtete Schreiben die Charakteristik jeder Schrift, die als »Abwesenheit des Senders«, als sein Abwesendwerden, bestimmt werden kann.[5] Mag sein, daß das poetische Werk einmal dazu gedient hat, die subjektiven Intentionen eines schreibenden Subjekts zu fixieren. Zugleich aber hat es gerade dieses Subjekt unbewußt und abwesend werden lassen, »getötet« im Akt der Verschriftlichung. »Jedes Graphem ist seinem Wesen nach testamentarisch.«[6]
Gegen diese grammatologische Einsicht muß opponieren, wer auch in der Schrift immer wieder den Autor feststellen will, einen Produzenten, der unaufhörlich vom lesenden Publikum gefestigt wird: Wer hat das geschrieben? War er es? War sie es? War ich es selbst? Literarische Anonymität ist uns unerträglich. Wir akzeptieren sie nur als aufzulösendes Rätsel. Und so überrascht es nicht, daß der väterlich-königliche Ankläger den Angeklagten für umso schuldiger hält, je weniger das geschriebene Gedicht als Indiz einer Schuld überzeugt. Da nützt auch die Beteuerung der Unschuld nichts mehr.

»Mit Verlaub, Euer Majestät«, sagte der Herzbube, »ich habe das nicht geschrieben, und das kann mir auch keiner beweisen: es steht ja keine Unterschrift darunter.« »Daß du nicht unterschrieben hast«, sagte der König, »macht die Sache nur schlimmer. Du mußt ja etwas im Schilde geführt haben, sonst hättest du deinen Namen daruntergesetzt wie ein ehrlicher Mensch.« Alles klatschte Beifall: es war das erste Mal an diesem Tag, daß der König etwas wirklich Kluges gesagt hatte. (Alice, 121 f.)

Natürlich ist das nur eine Klugheit, die auf tönernen Füßen steht. Sie wird ironisiert als die Klugheit eines in die Irre geführten Verfolgers, der angesichts jeder sprachlichen Handlung immer wieder nach der Quelle der Äußerung sucht, auch wenn er dabei, wie der Sprechakttheoretiker Austin etwa, ins Schwimmen gerät. Was soll er tun angesichts eines Schreibens, dessen »Ich« nicht unterzeichnet hat und die pragmatische Regel verletzte: »Tun muß man das (Unterzeichnen, M.G.) natürlich deshalb, weil schriftliche Äußerungen nicht so an ihren Ursprung gebunden sind wie mündliche.) — Das >Ich<, das da seine Handlung tut, ist also ein ganz wesentliches Detail des Bildes.«[7]
In dieses Bild paßt kein Schreiben, dessen Äußerungsquelle verborgen und unbekannt ist. Die fehlende Unterschrift wird als Regelverletzung bewertet, Herzbube als betrügerisches Subjekt verurteilt. Durch die Fälschung des poetischen Briefes gilt seine Schuld als bewiesen.

»Damit ist seine Schuld bewiesen«, sagte die Königin. »Garnichts ist damit bewiesen!« sagte Alice. »Ihr wißt ja noch nicht einmal, was darinsteht!« »Lies es vor«, sagte die Königin. ... Und das Weiße Kaninchen las das folgende Gedicht vor:
Er schrieb, du warst bei ihr zu Haus
Und gabst von mir Bericht
Und sprachst: »Mit dem kommt jeder aus,
Nur schwimmen kann er nicht.«
Sie sagten ihm, ich sei noch hier
(Ihr wißt ja, das trifft zu) —
Wenn sie sich nun drauf kaprizier'
Sagt sie, was nachst dann du?
Ich gab ihr eins, sie gab ihm zwei,
Und ihr gabt uns drei Stück;
Doch all das ist jetzt einerlei,
Du hast sie ja zurück.
Wenn demnach ich oder auch sie
Da mit hineingeraten,
Dann riecht er sicher irgendwie
Auch seinerseits den Braten.
Bevor sie so verschroben war,
Da dacht' ich (ich gestehs),
Du seist dabei die Hauptgefahr
Für ihn und uns und es.
Sie war darauf besonders scharf,
Doch das behalt für dich,
Weil keiner davon wissen darf,
Als höchstens du und ich.
»Das ist der entscheidende Beweis«, sagte der König und rieb sich die Hände: »ich frage also hiermit die Schöffen: Wie lautet euer — «(Alice 122 f.)

Bevor es zum Urteil kommt, gibt es allerdings noch einige Verständnisprobleme zu lösen. Mit Recht kann Alice intervenieren: »Wenn mit das auch nur einer von ihnen erklären kann ...« In Frage steht der Sinn des Gedichts. Wovon ist da überhaupt die Rede?
Obwohl die einzelnen Sätze durchaus syntaktisch und semantisch wohlgeformt und allgemein verständlich sind, stellt sich kein rechter Sinn mehr her. Diese Dis-semination des Geschriebenen, das alle Kennzeichen von Unsinnsliteratur besitzt, hat verschiedene linguistische Gründe, sowohl syntaktischer als auch semantischer Art. Wir erkennen das Gedicht als Beispiel von Unsinn, nonsense, weil eine bestimmte Erwartung an syntaktisch geformte Sinnhaftigkeit geweckt wird, vordergründig scheinbar auch befriedigt, im gleichen Moment jedoch als irrtümliche Erwartung boykottiert wird.
Die syntaktische Verkettung der einzelnen Sätze erscheint desintegriert in dem Sinne, daß eine zusammenhängende Ganzheit vorgespiegelt wird, obwohl es sich nur um eine Art kontingenter, additiver Reihung handelt, die auf das a-thematische Wesen des Unsinns verweist. Zwar spiegeln die syntaktischen Anschlüsse noch eine Intention nach Zusammenhang vor. Aber dieser Zusammenhang tritt nur im Gewand einer Reihung auf, die zwar nicht völlig beliebig ist, aber doch ohne diskursiven Zwang geregelter Kontinuität. Als »so bestimmte Reihung«[8] benimmt sie den Einfällen zwar ihre ungeregelte Beliebigkeit, läßt zugleich jedoch keinen integrierbaren Sinnzusammenhang mehr entdecken.
Damit ist, unter semantischem Blickwinkel, die Zerstörung einer möglichen Referenzgeschichte impliziert. Zwar sind die einzelnen Wörter und Sätze nicht sinnlos; aber es stellt sich dennoch kein Sinn mehr her, weil nicht gesagt wird, worauf sich das Gedicht überhaupt bezieht. An die Stelle einer nur vermutbaren Referenzgeschichte ist ein atomisiertes semantisches Universum getreten, das keine rechte Orientierung mehr zuläßt. Das Ganze läßt sich zwar irgendwie im Bereich von verborgenen Taten, verschwommenen Gerüchten, Verdächtigungen und Hoffnungen, von Unsicherheitsfaktoren und Vertuschungen ansiedeln. Aber eine solche konnotative Semantik findet keine rechte Stütze auf der Ausdrucksebene des Gedichts, ja, es macht gerade den unsinnigen Charakter des Gedichts aus, daß es einen konnotativen Sinn als Rätsel suggeriert und einen interpretatorischen Kommentar zu erfordern scheint, der dann jedoch geprellt ins Leere stößt, in eine signifikante Nullwelt, in der alles und nichts möglich zu sein scheint.
Doch was ist der eigentliche Grund dieser Dissemination? Was situiert das Gedicht an den Grenzen der Rede und löst seine Bedeutung auf in den nonsense eines poetischen Diskurses, der mit den Kerneigenschaften einer jeden Schrift spielt?
Wieder ist es der König, der Ankläger, der uns auf die Spur einer grammatologischen Evidenz hinweist, auch wenn er selbst ihr nicht bis zu ihrem Ende zu folgen in der Lage ist.
Hatte er bereits versucht, im Herzbuben den Autor des ganzen Gedichts zu identifizieren, so versucht er nun, die Personen festzustellen, von denen im Gedicht die Rede ist. Welches »ich« spricht da und bildet mit welchem »du« eine Art verschwörerischer Komplizität? Welche Personen verbergen sich hinter den Personalpronomen der dritten Person, singular/plural, männlich/weiblich? Gelenkt durch das Vorverständnis, daß es sich bei dem Gedicht um ein Beweisstück handelt, das vom Herzbuben selbst verfaßt worden ist und mit der Tat des Tortendiebstahls zusammenhängt, versucht der königliche Ankläger das semantische Rätsel aufzulösen und die gemeinten Personen zu entdecken, die sich hinter den personalpronominalen Wechselwörtern des Gedichts verbergen.

»Wenn es keinen Sinn hat«, sagte der König, »können wir uns viel Mühe sparen, denn dann brauchen wir ihn garnicht erst zu suchen. Und doch, ich weiß nicht,« fuhr er fort, indem er das Papier glattstrich und mit einem Auge darauf niedersah, »einigen Sinn kann ich, glaube ich, doch darin entdecken. >Nur schwimmen kann er nicht< — das kannst du doch auch nicht, oder?« fragte er und wandte sich dabei dem Herzbuben zu. Der Herzbube schüttelte traurig den Kopf. »Sehe ich denn so aus?« fragte er. (Und das konnte wirklich niemand behaupten, denn er war ganz aus Pappe.) »So weit, so gut«, sagte der König und las, leise vor sich hin murmelnd, ein Stück weiter: >Ihr wißt ja, das trifft zu< — damit sind natürlich die Schöffen gemeint — >Ich gab ihr eins, sie gab ihm zwei, und ihr gabt uns drei Stück< — das ist, was er mit den Törtchen gemacht hat, nicht wahr?« »Aber es geht weiter: >Du hast sie ja zurück<«, sagte Alice. »Nun, da sind sie ja auch!« rief der König triumphierend und zeigte auf die Törtchen auf dem Tisch. »Wenn das nicht klar ist! — Ferner: >Bevor sie so verschroben war< — verschroben warst du doch nie, liebe Frau, oder doch?« sagte er zur Königin. »Nie!« sagte die Königin voller Wut und warf mit einem Tintenfaß nach der Eidechse. (Alice, 123 f.)

Dieser hermeneutische Versuch des Königs, den im Gedicht vermuteten Sinn zu enträtseln, indem die personalen Pro-Formen rückübersetzt werden in ihre vermeintlichen Träger

»er« = der Herzbube
»ihr« = die Schöffen
»sie« = die Törtchen
»du« = der König
»sie« = die Königin etc.,

verweist uns auf den zentralen Grund des sprachspielerischen Unsinns: offensichtlich hängt die Dissemination des grammatisch Verstehbaren vom besonderen Gebrauch der Personalpronomen ab, wie er uns im Gedicht auf ungewöhnliche Weise vorgeführt wird. Wir scheinen das Gedicht nur verstehen zu können, wenn uns jeweils bekannt ist, wer mit »ich«, »du«, »er«, »sie«, »es«, »wir«, »ihr«, »sie« und den entsprechenden deklinierten Formen gemeint ist, wenn gewissermaßen der pronominale Sprachstil zurückübersetzt worden ist auf die Personen, »für« die die eingesetzten Für-Wörter gelten und benutzt werden.
Mit diesem Versuch einer Bedeutungserklärung befindet sich der König durchaus in altehrwürdiger Tradition, die bis in die Anfänge grammatischen Denkens innerhalb unserer Kultur zurückreicht. Denn seit mehr als zwei Jahrtausenden vermag uns die Frage nach der Bedeutung der Personalpronomen zu verwirren, seit jenem denkwürdigen Moment innerhalb unserer alteuropäischen Grammatiktradition nämlich, in dem die Personalpronomen als eine ersetzende, ein PRO-Form thematisiert worden sind: »Ein Pronomen ist ein Wort, das statt (= pro) eines Namens (= nomen) gebraucht wird und bestimmte Personen bezeichnet.«[9] Auch wenn statt Namen bald Substantive als Substituenda — als zu ersetzende — favorisiert wurden und schließlich ganze Nominalphrasen unter bestimmten Bedingungen als pronominalisierbar galten,[10] so ist es doch immer die gleiche Vorstellung einer Substitution, genau genommen einer doppelten Substitution, Stellvertretung des Stellvertreters, Repräsentation der Repräsentation, wenn wir die zu ersetzenden sprachlichen Formen selbst als Substituentia einer sprachlosen Wirklichkeit verstehen, die uns in die Falle lockt. Referenzsemantisch folgen wir der falschen Fährte eines doppelt verschlüsselten Bedeutungsursprungs. Wir versuchen die Ersetzungen
rückgängig zu machen und jene »Personen« aufzuspüren, die pronominal bezeichnet werden.

Auch der König hat diese Frage gestellt: Welches Subjekt spricht hier? Von welchem »ich« ist die Rede? Was ist das für eine Person, die sich hier im poetischen Diskurs als »ich« artikuliert?

Diese Fragen nach dem verborgenen Ich verweisen uns zunächst auf eine linguistische, leicht übersehbare Evidenz: offensichtlich    verstehen wir das »ich« als eine bedeutsame sprachliche Form, ohne daß wir die jeweils besondere, einzigartige Person zu kennen    brauchen, die hier als »ich« sich geäußert hat. Wir verstehen die Pro-Form, ohne einen Namensträger substituieren zu müssen. Durch das Sprachspiel des Unsinnsgedichts werden wir daran erinnert, daß die Bedeutung des Pronomens weder eine besondere Person sein kann, auch nicht ihr privater Eigenname, würde sich unter dieser Voraussetzung diese Bedeutung doch in die unüberschaubare Vielfältigkeit einzelner Namen und Namensträger auflösen. Denn »ich« kann jeder sagen, und jeder, der es sagt, würde unter proformalen Prämissen etwas anderes damit bedeuten. Als Stellvertreter würde sich das Personalpronomen in eine intersubjektive Vieldeutigkeit zersplittern, die unserem Sprachbewußtsein völlig widerspricht.
Denn irgendwie scheint das Personalpronomen eine eigenständige Form zu sein, deren für sich seiende Bedeutung nicht geborgt ist von einem vorausliegenden Substituendum, sondern unmittelbar ausgedrückt wird in jenem Augenblick, in dem es ausgesprochen wird.
Gegen die pronominale Namenstheorie der Bedeutung steht die alltägliche Gewißheit einer ursprünglich einfachen Verwendung:
»Warum soll das >ich< nicht einfach das besagen, was jedermann darunter versteht, sondern als bloßer Ersatz für den Namen des
Sprechers fungieren?«[11]
Was aber versteht denn jeder-Mann darunter? Die linguistische Gewißheit, daß man mit »ich« eben sich selbst, mit »du« den jeweils Angesprochenen meint, verwirrt sich schnell in die Dialektik eines pronominalen Sprechens/Schreibens, dem das Ich/Du nur als etwas Allgemeines sagbar ist, als ein »vermittelt« Einfaches, das die Unmittelbarkeit des jeweils einzelnen Ich-Sagenden und Du-Angesprochenen übersteigt. Mag jedermann auch meinen , das nur je einzelne Ich und Du auszusagen, so spricht er doch stets nur das Allgemeine aus, das sich als personale Wahrheit gegenüber jeder partikularen Einzigartigkeit des hier und jetzt »ich«-Sagenden sprachlich ausdrückt. »Indem ich sage: Ich, dieser einzelne Ich, sage ich überhaupt: alle Ich; jeder ist das, was ich sage': Ich, dieser einzelne Ich.«[12] Das ausgesagte oder aufgezeigte Ich ist unwiderruflich dem gemeinten Ich voraus, das jeder zwar für sich zu imaginieren vermag, ohne es doch jemals in seiner unmittelbaren Evidenz sagen zu können: »Da das Allgemeine das Wahre der sinnlichen Gewißheit ist und die Sprache nur dieses Wahre ausdrückt, so ist es gar nicht möglich, daß wir ein sinnliches Sein, das wir meinen, je sagen können.«[13]
Dieses hegelianische Spannungsverhältnis zwischen Sagen und Meinen, zwischen allgemeiner sprachlicher Regelbefolgung und individueller sinnlicher Gewißheit, zwischen dem ausgesagten Ich einer sprachlich vermittelten Subjekthaftigkeit und dem gemeinten Ich eines unmittelbaren Selbstbewußtseins, ist wiederholt festgestellt und mittels verschiedener kategorialer Unterscheidungen zu erklären versucht worden:
Zum Beispiel durch die von Charles Sanders Peirce stammende Differenzierung des sprachlichen Zeichens in Index (Anzeichen) und Symbol. Während das »ich« als Index in einer existenziellen, tatsächlich bestehenden Kontiguitätsbeziehung zum ich-sagenden Sprecher steht, bedeutet es zugleich als Symbol jeden Sprecher überhaupt. In dieser Terminologie erscheint das Personalpronomen als eine schwimmende Kategorie zwischen Index und Symbol, als anzeigendes Symbol, indexical symbol.[4]
Oder durch die semiologische Differenzierung zwischen Mitteilung und Code. Während in der konkreten Mitteilung der Sender sein individuell Gemeintes verschlüsselt und seine einzigartige sinnliche Existenz als »ich« ausdrücken will, ist er auf einen intersubjektiven Code angewiesen, der für alle Ich gleichermaßen verständlich und verpflichtend ist. Die imaginäre Einzigartigkeit des Ich-Meinenden teilt sich mit in einer Sprache, deren pronominales System allgemein codifiziert ist. Es war eine glückliche grammatikalische Namensgebung, daß Otto Jespersen die Personalpronomen als »shifters« kategorisierte: Wechselwörter, die bei verschiedenen Subjekten die gleiche codifizierte Funktion haben, »Verschieber«, durch die sich die einzelnen Mitteilenden in die höhere Allgemeinheit wechselseitiger Anerkennung eingliedern.[15]
Oder durch die sturkturanalytische Trennung zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen, zwischen dem narzißtischen Ich eines reflexiven Selbtsbewußtseins (le moi) und dem allgemeinen Subjekt der symbolischen Ordnung (le je): »Das Subjekt des Imaginären, wie das Spiegelstadium es beschreibt, ist le moi, das reflexive Ich des Selbstbewußtseins, scheinbar anwesend und identisch und dennoch in einer Gespaltenheit befangen, die es verleugnen und verkennen muß, sofern es nicht die eigenen Grenzen anerkennt: sein Eingeschriebensein in einer symbolischen Ordnung, die es nie ganz beherrschen kann. Damit wird aus dem narzißtischen Subjekt des Imaginären, aus dem Subjekt des Signifikates oder der Aussage — unsere vorläufige Übersetzung für >sujet de l'enonce< — das uneinheitliche Subjekt des Symbolischen, des Unbewußten, das Subjekt, das sich dem Signifikanten verschreibt (in den verschiedenen Bedeutungen dieses Wortes): es wird zum Subjekt der Äußerung (sujet de l'enonciation), im Sinne der schon besprochenen shifters.«[16]
Immer also die gleiche Bewegung eines Schwimmern, eines unaufhörlichen Verschiebens, das das »ich« nicht eins sein läßt: shifting.
»Shifter« aber meint auch den Schlaukopf, den Fuchs, der das pronominale Spiel listig für seine Zwecke ausnutzt, der auf dem Spannungsfeld zwischen Mitteilung und Code, Äußerung und Grammatik, Index und Symbol, imaginärer und symbolischer Ordnung seine Verwirrungen anrichtet, um seine Zuhörer und Leser über die Identität eines stets schon gespaltenen Subjekts zweifeln zu lassen. Besonders die Schrift, der schriftliche Gebrauch des Pronomens der 1. Person singular, eröffnet diesem Spiel ein weites Feld. Auch dem poetischen nonsense sind Tür und Tor geöffnet. Das Beweisgedicht ist eins seiner schönsten Beispiele.
Von welchem Ich, von welchem Du ist im Gedicht die Rede? Was ist das für ein »shifter«, der sich hier im poetischen Diskurs eines viktorianischen Liebeslieds [17] verbirgt?
Gegen die festgestellte Doppelstruktur der Personalpronomen, die in einer komplexen Bewegung das sprechende/angesprochene Subjekt der Mitteilung anzeigen und zugleich die allgemeine Stellung jedes Sprechenden und Angesprochenen codifiziert symbolisieren, antwortet das Unsinns-Gedicht auf eine reduzierte, gewissermaßen poetisch halbierte Weise: es unterwirft sich zwar dem allgemeinen grammatischen Code, befolgt die allgemeine konventionelle Regel des pronominalen Sprachgebrauchs, differenziert adäquat zwischen den verschiebbaren Stellenwerten der einzelnen Positionen. Das Ich des Gedichts ist als solches identifizierbar und abgegrenzt gegenüber einem Nicht-Ich (er, sie), zu dem auch auf eine exklusive Art das Du zählt, »aber nicht, wie das Er, in der Sphäre aller Wesen, sondern in einer andren, in der eines durch Einwirkung gemeinsamen Handelns.« — Aber diese Unterwerfung unter das Gesetz der symbolischen Ordnung greift nicht auf die Mitteilung über. Die poetische Handlung bleibt frei von jenem Zwang, der durch die tatsächliche, existenzielle Kontinuität zwischen Pronomen und Angezeigtem normalerweise ausgeübt wird. Sie entzieht sich der allgemein geltenden Regel: »Dagegen tritt das >ich< und das >du< nur dann auf, wenn der Hörer die unbedingte und eindeutige Verknüpfung mit der gemeinten Person miterlebt.«[19] Denn weder ist eine textuelle Diskursinstanz [20] identifizierbar, auf die sich die Personalpronomen anaphorisch-rededeiktisch beziehen könnten (der König hat es vergeblich versucht); noch sind textexterne Personen aufzeigbar, die mit »ich« und »du« gemeint sein könnten.
Das unsinnige Gedicht zerstört also die normale Verbindung von Index und Symbol, Mitteilung und Code. Es löst das Amalgam der Verschieber als indexikalischer Symbole auf und halbiert die geforderte shifter-Struktur, indem es nur symbolisch, codifiziert funktioniert und seine Mitteilungsfunktion neutralisiert. Es liefert damit das Ich und das Du als allgemeine Instanzen, als alle Ich und alle Du, dem Code aus, unterstellt sie dem grammatischen Gesetz der Sprache, — und entzieht das imaginäre Ich und Du der poetischen Mitteilung zugleich der allgemeinen Vernunft und regulierten Neugier. Herzbube steht zwar vor Gericht; aber er muß freigesprochen werden. Das allgemeine Sprachspiel wird zwar anerkannt; aber es wird zugleich spielerisch unterlaufen. Die Sprache des »Evidenz«-Gedichts ist subversiv, ein poetisches Werk im »Underground«. In der unverwechselbaren Einzigartigkeit des Gedichts dokumentiert sie das Ich als dieses einzelne Ich, ohne sich »anzeigen« zu lassen, und verbündet sich mit einem einzelnen Du, das poetisch angesprochen wird, ohne in seiner Identität mitgeteilt zu werden.
Aber diese spielerische Konstruktion ist doch nur die Kehrseite einer äußersten Gefährdung. Denn auf dem Spiel steht die personale Identität eines Subjekts, das nur mit List »ich« zu sich sagen kann, und eines Gefährten, dessen »du« zwar dem »ich« nahe, zugleich aber auch durch die Differentialität der geschriebenen Spur auf ewig verstellt und entfernt ist.
Die Frage nach dem Subjekt des poetischen Diskurses beantwortet das Gedicht mit einem grammatischen Spielzug: es eröffnet einen Raum der Schrift, in dem jedes Subjekt, auch das schreibende, apriori bereits verschwunden ist. Ich bin »ich« nur in der poetischen Immanenz der Schrift. Wer ich sonst noch bin, draußen in der Welt des gesellschaftlichen Lebens und seiner geregelten Intersubjektivität, ist nicht feststellbar. Es kann nicht gesagt werden. Ja, die Frage nach dem personalen Sinn der Pronomen darf so nicht einmal gestellt werden. Sie intendiert auf etwas Unmögliches und stößt ins Leere. Das aber ist das Problem des Dichters selbst, Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll. Vielleicht steht seine Identität auf dem Spiel?
Unter den Bedingungen eines puritanisch geregelten Lebens als Dozent der Mathematik und Logik am Christ Church College, unter der Herrschaft strenger, seltsamer und bisweilen absurder Regeln, verletzt der höfliche, verschrobene, stotternde und linkshändige
Charles Lutwidge Dodgson eine der geheiligsten Regeln: achtundzwanzigjährig verliebt er sich in die siebeneinhalbjährige« Tochter seines Dekans, in Alice Pleasance Liddell. Es war eine Liebe, deren »Schleier« nicht gelüftet werden sollte, da »niemandem damit gedient wäre«[21], wie sein Neffe, Biograph und Vertrauter Stuart Dodgson Collingwood gewünscht hat, eine tabuisierte und unmögliche Liebe, die »zu den geheimnisvollsten und am ausgiebigsten beredeten Liaisions der Viktorianischen Ära [22] gehört, die, wäre ihr Geheimnis enträtselt worden, vielleicht den schuldhaften Verlust gesellschaftlicher Anerkennung und eines sozial bestimmten Selbstbegriffs zur Folge gehabt hätte. Über diese Liebe ist viel gerätselt worden. Kaum etwas weiß man: nur daß die Mutter von Alice, die Dodgson nicht gemocht hatte, all seine Briefe an die Tochter verbrannte und ihm nach einem offenen Zerwürfnis das Haus verbot. »The simplest Solution of Mrs. Liddell's mistrust lies in an understanding of the social conditions of the period — and in the inability which so many people shared with her of realizing that a grown man might have no ulterior motive in his friendship with children.«[23] So ergänzt Roger L. Green die Tagebuchnotizen Dodgsons, von denen Collingwood bereits 1898, dem Todesjahr seines Onkels, all jene Teile entfernt und vernichtet hatte, die über die Beziehung hätten Aufschluß geben können, und verweist besonders nachdrücklich darauf, daß »there is no particle of evidence«[24] für die Annahme, die Liebe zu Alice sei mehr als eine zutiefst anregende Freundschaft gewesen.
Diese »Evidenz« hat in den Alice-Büchern des Autors Lewis Carroll poetische Gestalt gewonnen. Nicht nur, weil sie als Geschenke des Charles Dodgson an seine kleine Freundin geschrieben worden sind, sondern weil in ihnen das Unsagbare, unsagbar, ausgesagt worden ist. Die Hermetik des »Beweisgedichts« war ein absurder Ausweg aus einer identitätsbedrohenden Schwierigkeit. »Die älteste Regel, der Charles Dodgson unterworfen war, war unversetzlich. Keiner, der ihn begreift, wird glauben, daß er jemals gegen sie verstoßen hat. War sie darum verständlicher? Hat sie darum seine Welt weniger auf den Kopf gestellt? Charles Dodgson hat den Zusammenhang vielleicht nur geahnt: sicher gewußt hat ihn nur Lewis Carroll; und beide fanden den ihnen gemäßen Ausweg. Der Ausweg der Revolte war es in keinem Fall. Charles Dodgsons Lösung war die Mimikry; er hat sich geradezu zum Statthalter der Regeln gemacht. Die Peinlichkeit, mit der er die einzelnen Punkte der Hausordnung von Christ Church einhielt, war legendär. (...) Der Ausweg von Lewis Carroll indessen war die Literatur.«[25]
Im Unterschied zu Charles Dodgson war Lewis Carroll, der die Vornamen »seines« bürgerlichen Namens variiert und vertauscht hatte
(Lewis = Ludovicus = Lutwidge / Carroll =Carolus = Charles), ein geistreicher, nicht-stotternder Unterhalter, der eine ganz andere Identität besaß als jener verschüchterte Lehrer an einem christlichen College, mit dem er selbst am wenigsten verwechselt werden wollte. Er war ein Poet, der, angeregt durch das kinderweltliche Denken kleiner Mädchen, mit seiner Sprachphantasie bezaubern konnte, weil keiner wie er das Spiel mit und gegen die Regeln beherrschte, ein Spiel, in dem das Schwimmen der Identität gedichtet erscheint, die sich zwischen codifiziertem System und poetischer Freiheit schillernd zu behaupten sucht.
Im Sinn und Unsinn der Wechselwörter-»Evidenz« hat dieses Spiel eins seiner raffiniertesten Paradigmata. Die ursprüngliche Parodie eines Viktorianischen Liebesliedes an »Alice Gray«[26] spricht allgemein vom Ich und Du, unterwirft »Sender« und »Empfänger« dem generalisierenden Zwang des pronominalen Systems, und teilt zugleich versteckt etwas über einen Liebenden mit, dessen Liebe nicht offen gezeigt und gesagt werden durfte. Sie mußte versteckt werden hinter der Nichtidentifizierbarkeit eines Ich und eines. Du, die durch ein gedichtetes Band für immer verbunden sind und doch zugleich unüberbrückbar getrennt.
So, daß ihnen das Gesetz (der Sprache) aufgezwungen ist, ihre mögliche Schuld jedoch nicht nachweisbar . Denn für das Verbrechen des Herzbuben kann es in den Augen der königlichen Ankläger nur eine verschlossene, nichts-sagende Evidenz geben: ein Gedicht, das nur von denen verstanden werden kann, die »in« ihm sind. »Weil keiner davon wissen darf/Als höchstens du und ich.« Allenfalls Alice kann ahnen, was es mit dem Gedicht auf sich hat. Gegen seinen Beweischarakter legt sie mit Recht ihr Veto ein: »Damit ist seine Schuld bewiesen«, sagte die Königin. »Garnichts ist damit bewiesen!« sagte Alice. »Ihr wißt ja nicht einmal, was darinsteht!« (Alice, 122)
Die Nichtidentifizierbarkeit des (lyrischen) Subjekts, die Auflösung des Beziehungsaspekts im nonsense des pronominalen Sprachspiels, sollte verhindern, daß aus dem Diskreditierbaren ein Diskreditiertes wurde, aus dem Sinn einer geheimen Liebe der Verlust gesellschaftlicher Anerkennung, die Verurteilung »zum Tode«. Der Ausweg lag in der Immanenz des literarischen Werkes. Zwar scheint das »ich« des Gedichts noch das Imaginäre zu mobilisieren, aber es schließt dieses Imaginäre hermetisch ins Gedicht ein und sichert es vor dem Angriff der Verfolger. Was poetisch intendiert ist, ist die semiologische Absurdität eines bloß internen Sinns, der sich im System der Personalpronomen verschiebt, ohne mitteilsam verstanden werden zu können. Genauer: das hermetische Gedicht will als solches verstanden und gelesen werden. Jeder Schlüssel würde es zerbrechen. Wir können es uns öffnen nur durch eine Lektüre, die sich im Text-Inneren hält und jene tiefverwurzelte Sprachmetaphysik vermeidet, die uns zwingt, überall Täter zu sehen, nirgends mehr als hinter der Proform einer ersten Person singular, einem »ich«, das uns fetischhaft einen selbstbewußten Willen als Ursache vorgaukelt.
Die hermeneutische Lüftung des Geheimnisses, die Anzeige der sprechenden und angesprochenen Personen, die »Erklärung« des Unsagbaren, steht unter Strafe. Auch Alice selbst, die poetische Maskierung seiner jungen Geliebten, soll im Geheimnis bleiben. Auch ihre Identität wäre bedroht, wenn man wüßte, »was darinsteht«. »Wenn mir das auch nur einer von Ihnen erklären kann, dann will ich Hans heißen.« (Alice, 123) Es droht eine der schrecklichsten Strafen, die Lewis Carroll sich vorstellen konnte. Denn so tief seine Liebe zu kleinen Mädchen war, so ausgeprägt war sein Haß auf kleine Jungen, für deren Charakter »he professed an aversion almoust amounting to terror.«[27]
Doch soweit kommt es nicht. Alles ist nur ein Traum. Alice, sein »dream-child«, erwacht endlich aus ihrem seltsamen Traum, in dem Herzbube, Herzkönig und Herzdame nur Karten in einem Spiel waren, das auffliegt.

»Wer wird sich denn um euch scheren?« sagte Alice (denn sie hatte wieder ihre volle Größe erlangt), »ihr seid ja nichts weiter als ein Kartenspiel!«
Bei diesen Worten schwang sich das ganze Kartenspiel in die Luft und kam auf sie zugesegelt. Halb zornig, halb erschreckt, stieß Alice einen kleinen Schrei aus und schlug nach ihnen, um sie zu verjagen — und auf einmal war sie wieder am Bachufer und lag mit dem Kopf ihrer Schwester im Schoß, und eine sanfte Hand strich ihr einige raschelnde Blätter aus dem Gesicht, die von einem Baum auf sie herabgeflattert waren.
»Wach auf, liebe Alice!« sagte die Schwester. »Wie lange du geschlafen hast!« (Alice, 125)

Alles war nur ein geträumtes Spiel im Spiel. Wer es gespielt hat? Auch das bleibt ein Geheimnis, ein poetisches Zeichen der Schrift. Nur in ihr nämlich, bereits von Plato als Spielerei verurteilt und als Kinderei der besonnenen Erhabenheit der Stimme und Rede gegenübergestellt, ist jenes grammatologische Sprachspiel mit Wechselwörtern möglich, auf das ich heute, am 16. Mai 1983, eine Vorlesung lang ihre Aufmerksamkeit lenken wollte.

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