Ich ging eine Weile als alte Frau

Subjektivität und Maskerade bei Robert Walser

I

Schauspieler
Der junge Robert Walser: Im Alter von siebzehn Jahren verläßt er das Bieler Elternhaus und zieht zu seinem älteren Bruder Karl, einem Maler, nach Stuttgart. Dem Wunsch des Vaters entsprechend hatte er bereits eine Lehre als Bankkaufmann abgelegt, hier arbeitet er zunächst in einem Verlagshaus. Sein Lebensplan ist jedoch ein anderer: er möchte Schauspieler werden. Schon einmal hatte er heimlich Schauspielunterricht genommen, während seiner Lehrzeit in Basel nämlich; der Vater war jedoch dagegen gewesen, so daß er den Unterricht schließlich abbrechen mußte. Hier in Stuttgart hat er nun endlich die Möglichkeit, seinem eigentlichen Plan nachzukommen. Und er hat Glück. Der berühmte Theaterschauspieler Josef Kainz ist bereit, ihn zum Vorsprechen zu empfangen. Aufgeregt macht er sich auf den Weg zu seiner ersten »Talentprobe«. Der große Akteur empfängt ihn auf einer Ottomane liegend, gleich jenem von Tischbein gemalten Goethe. Er begrüßt den jungen Schweizer kaum. Und während der brav und unbeholfen seine auswendig gelernten Verse rezitiert, kommentiert er dies nur mit einem spöttischen Lächeln. Am Ende fügt er, bereits wieder mit anderen Dingen beschäftigt, hinzu: ihm fehle der göttliche Funken. Und Walser? Er, der sonst so Ruhige und Gelassene, haltlos eilt er, seines Jugendtraums beraubt, sogleich nach Hause. Und noch im selben Augenblick schreibt er an die Schwester: »Mit dem Schauspielerberuf ist es nichts, doch, so Gott will, werde ich ein großer Dichter.«[1]
Aber noch lange Zeit kommen seine Gedanken auf jene »Talentprobe« zurück. Später schreibt er darüber — er ist inzwischen ein schon bekannter Schriftsteller geworden — ein kleines Dramolett. Er läßt den berühmten Schauspieler, hier ist es eine Frau Benziger, sagen: »Sie sind zu gut und zu schlecht für den Schauspielerberuf. Sie würden immer nur schauspielern, nicht spielen; Unmensch, Bär, Windbeutel, ungeziemende lächerliche Fratze, nicht Mensch auf der Bühne sein.« (I, 1972) Hat er sich inzwischen von der Schau-Spielerei befreit und im Schreiben zu jenem Spiel gefunden, das es ihm gestattet, als ein Mensch zu erscheinen?
In Berlin geht er noch häufig ins Theater. Er schreibt zahlreiche Kritiken, Parodien und Dramolette, die zeigen, daß er die Schauspieler genau beobachtet, ihre Gebärden, ihre Mimik, ihr Sprechen. Und häufig steckt in diesen Beobachtungen eine beißende Ironie. Ja, es scheint, als verachte er nichts so sehr wie die theatralische Pose eines Bühnenschauspielers, überhaupt jede Form narzißtischer Selbstdarstellung. Und dennoch wird er einmal von sich sagen: »Vielleicht bin ich bisweilen ein dichtender Schauspieler...« (XI, 293)
Heißt das tatsächlich, wie viele es glauben wollen, daß die Dichtung für ihn eine Art Schauspielkunst ist, daß er sich als Dichter nun endlich jene zahllosen Rollen (sprachliche Maskierungen) zulegt, die seine Identität zugleich verbergen und vervielfachen? Wäre die sprachliche Geste bloße Tarnung seines innerlich immer noch lebendigen Schauspielerherzens, also, wenn man so will, eine zweifache Tarnung, da ja bereits der Schauspieler sein eigentliches Herz an einem anderen Fleck hat? Das scheint eine naheliegende Interpretation, die sich zudem auf jene psychoanalytische Gewißheit berufen kann, nach der eine traumatisch erlebte Szene in verschobener Form durchgearbeitet und kompensiert werden muß. Sie ließe sich auch mit jenen Auffassungen verbinden, die bereits in Walsers Literatur Ansätze der später diagnostizierten Schizophrenie lesen wollen.
Allemal aber scheint das Wort vom »dichtenden Schauspieler« jenen jüngeren Versuchen zu einer materialistischen Theorie des Subjekts Recht zu geben, die das Ich auf dem Hintergrund einer fundamentalen Spaltung konzipieren. Auch wenn die mittlerweile klassische Version vom Ich als einer Charaktermaske, die den Bereich privater Subjektivität hinter die Gitterstäbe der öffentlichen Person verbannt, nicht mehr ohne weiteres zu den konstitutiven Elementen einer materialistischen Subjektkonzeption gehört, bleibt doch die darin wirksame Doppelstruktur nach wie vor grundlegend. Von Anfang an soll sich das Subjekt als ein zweigeteiltes präsentieren oder repräsentieren. Gleich einem Gefangenen verurteilt man es zu einem lebenslänglichen Kampf gegen sein imaginäres Anderes, in dem es unzählige Tode stirbt (Kastration) und zugleich als Herrscher (Phallus) wieder aufersteht. Das Subjekt ist aufgefordert, sich vermittelnd, und das heißt für den Okzidentalen bekanntlich im Felde einer symbolischen Ordnung, auf diese Doppelstruktur zu beziehen, andernfalls droht es unrettbar der Zerissenheit des double-bind zu verfallen.
An einer kurzen Erzählung mit dem Titel Ein Schauspieler(Vlll,91ff.) läßt sich nicht nur zeigen, daß Walser das Problem der Subjektspaltung selbst reflektiert hat und somit jenes psychoanalytische Diagnosemuster, auf ihn angewandt, zumindest fragwürdig würde. Es wird darüberhinaus deutlich, daß die Figur des Schauspielers keineswegs als Idealbild für seine Auffassung vom Schriftsteller dienen kann. In dieser Erzählung erscheint das Theater als ein Zoologischer Garten, die Bühne als ein Käfig und der Schauspieler als ein abessynischer Löwe. Was aber wird gespielt? »Er spielt Tragödie und zwar auf die Weise, daß er zugleich schmachtet und rund wird. Er verzweifelt (namenlose Verzweiflung) und hält sich zugleich hübsch fett. Er gedeiht und quält sich langsam zu Tode. Und dies vor den Augen eines zuschauenden Publikums.« (VIII, 97)
Da finden sich bereits alle Momente des Spiels exponiert: Die Mahlzeit als Erinnerung an die orale Macht des einst so gefährlichen und königshaften Raubtieres. Das verzweifelte Aufbegehren gegen die Kerkerhaft, dessen tödlicher Ausgang allemal feststeht. Und schließlich der sadistisch neugierige Blick der Zuschauer. Alle Oppositionen, die sich in der Figur des Löwen tragisch vereinen (Mund und Auge, Fressen und Tod, Dichten und Spiel...) erhalten ihre Funktion aus einer dritten vorgängigen Operation, einem primären Ein- oder Ausschluß: der Trennung von Bühne/Käfig und Zuschauerraum. Die Zuschauerblicke reproduzieren die primäre Opposition immer wieder aufs Neue und wiederholen damit in scheinbar friedlicher Weise jene Jagd, deren tragikomisches Opfer der Löwe oder Schauspieler ist. »Immer hin und her. Hin und her. Stundenlang. Welch eine Szene! Hin und her, und der mächtige Schweif peitscht den Boden.« (VIII, 98) Die unruhige Bewegung im Käfig der vorgegebenen Opposition verweist auf die Macht eines abwesenden, sich im Blick repräsentierenden Dritten. Mit seinem Gebrüll, seinem Götterblick und seinem peitschenden Schweif imitiert der Löwe auf hysterische Weise die Macht, ohne sich damit aus seiner tragischen Rolle befreien zu können.
Wenn Walser hier ironisch die entfremdete Identität des Schauspielers kommentiert und die Tragik seiner Existenz jener gespaltenen Subjektivität zuschreibt, die sich einem double-bind verdankt, so wird man das Wort vom »dichtenden Schauspieler« nicht mehr in der oben genannten Weise deuten können: als einen Dichter, der im Schreiben jene Wünsche nachzuholen sucht, die ihm als Schauspieler verwehrt waren. Immerhin bietet das Wort vom dichtenden Schauspieler eine zweite Interpretationsmöglichkeit. Danach wäre der Literat, den er bisweilen verkörpert, kein Subjekt mehr, das als Dichter schauspielert oder umgekehrt, sondern ein Schauspieler, der nicht spielt, ein Dichter, der nicht dichtet, weder das eine noch das andere, ein schreibender Bastard, der keiner Zunft mehr angehört. Und so könnte man den Satz endlich weiterlesen, denn da heißt es: »Vielleicht bin ich bisweilen ein dichtender Schauspieler oder ein Sänger ohne Stimme, oder ein Redner, dem jedes Rednertoupet fehlt.«

Narren
Die Literaturwissenschaft kommt weitgehend darin überein, Walsers Schreibweise als Maskerade oder (im Jargon der 70er Jahre) Rollenprosa, Rollenspiel, Rollenkritik zu bezeichnen. Man glaubt sagen zu können, daß er nicht sich selbst spreche (mit der nur ihm gegebenen Möglichkeit, sich zu sprechen, »ich« zu sagen), sondern in der Rolle, und d.h. mit den Augen, mit der Stimme, mit der Erfahrung, Entwicklung und Geschichte, kurz aus der Perspektive eines anderen. Bald schlüpfe er in die Uniform eines Schülers, bald in das Livree eines Pagen, bald stünde er als Wanderer oder Handwerker, dann wieder im Räuberkostüm oder mit der Narrenkappe vor uns. Nie sei es möglich, gleichsam den Kern seiner Identität, das Wesen seiner Schreibweise auszumachen, es sei denn in dieser sonderbaren, unaufhörlichen und immer wieder überraschenden Wandlungsfähigkeit, in dieser ständigen Maskerade.
Nun ergeben sich da einige Probleme.
Zunächst: Bei allem Wunsch zur Maskerade, die das Prinzip der Autorschaft fragwürdig werden läßt und das anwesend/abwesende Zentrum eines schreibenden oder sprechenden Subjekts dem imaginären Spiel sozialer Mächte anheim gibt, hat Walser doch nie auf jene für verkleidete Literaturen typischen Elemente wie die Anonymität oder Pseudonymität zurückgegriffen. Anders als Kierkegaard, für den das Pseudonym in gewisser Weise lebensnotwendig war, anders auch als Tucholsky etc. unterzeichnet er stets getreu mit dem eigenen Namen und scheinbar offen, ja geradezu geständig schreibt er bisweilen über sich selbst: Walser über Walser. (IX, 225 ff.) Und das, obwohl er in der Namengebung durchaus ein Vorrecht jener Herrenwelt sah, deren Eroberungswillen er so sehr bekämpfte. Wie verträgt sich diese Geständigkeit mit jenem Hang zur Verstellung?
Weiter: Nach der Veröffentlichung des Jakob von Gunten hat Walser nur noch kleine Texte, Geschichten, Aufsätze, Essays für den Tagesgebrauch (Für die Katz) (XXII, 432 ff.) verfaßt und in verschiedenen Zeitschriften publiziert. Die kleine Form scheint der Pluralität des maskierten Sprechens angemessen und gleichzeitig in der Lage, die Geschlossenheit des Romans, des Buches, des Werkes aufzuheben. Man könnte sogar sagen, daß diese zerstreute und fragmentarisierte Schreibweise Walsers veröffentlichungspolitischer Beitrag zu einer Auflösung der verknöcherten Einheit von Autor und Werk darstellt. Dann aber erfahren wir, daß all diese Skizzen und Fragmente nur Stücke einer »langen, handlungslosen, realistischen Geschichte«, »kleinere oder umfangreichere Romankapitel« sein sollen. Und wir lesen jenen vielzitierten Satz: »Der Roman, woran ich weiter und weiter schreibe, bleibt immer derselbe und dürfte als ein mannigfaltig zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch bezeichnet werden können.« (XII, 323)
Und schließlich: Walser liebt die dramatische Form, den skurrilen Dialog, das witzige Streitgespräch. Augenfällig wird dies nicht nur in den zahlreichen Dramoletten, wo die Figuren oft allegorischen Charakters sind, sondern ebenso in den Romanen und Erzählungen. Scheinbar hat er einen ungeheuren Verschleiß an Figurenmaterial, die Zahl seiner Helden ist Legion. Und doch handelt es sich, nahe besehen, immer nur um eine Sprechweise. All seine Figuren schlagen den gleichen Ton an, es sind lediglich signifikante Einschnitte in einem gleichbleibenden Sprachstrom, den man auch bereits als monologisch bezeichnet hat. Kein Aufeinandertreffen von Sonder- oder Fachsprachen, keine isolierten Diskurstypen, Kodes oder Stimmen: alle sprechen die gleiche Sprache, nämlich Walserdeutsch. Nur vordergründig handelt es sich um maskiertes Sprechen, denn immer wieder dringt jene ewig jugendliche, bescheidene, naive, altkluge, verschrobene und lächelnde Stimme durch, die ihren Autor unzweideutig verrät.
All jene Momente, die traditionellerweise zur literarischen Maskierung gehören (Maskierung des Autornamens, des Werkes und des Stils) mit der Aufgabe, die Identifizierung eines Sprechers zu vereiteln, sind also Walsers Sache nicht. Pointiert könnte man sagen, daß kaum eine Schreibweise so leicht und so schnell sich bestimmen läßt wie die Walsersche. Oftmals genügen nur zwei oder drei Sätze und die Frage der Autorenschaft ist geklärt.
Wenn es dennoch sinnvoll ist, Walsers Schreibweise als Maskerade zu bezeichnen, so weil es —jenseits der personellen Identität — nicht mehr möglich ist, seine Stimme zu fixieren. Genauer gesagt ist es der Tonfall dieser Stimme, eine gewisse Musikalität, ein unkörperlicher Strom, der seine Figuren ergreift und mitreißt und den Leser immer wieder aufs Neue vor die Frage stellt: wie ist es gemeint? Ernsthaft oder ironisch? Naiv oder bedacht? Eben darin, in dieser Unmöglichkeit, zwischen Ernsthaftigkeit und Ironie unterscheiden zu können, läßt sich die Wirksamkeit der Walserschen Maskerade erkennen. Es ist jener rätselhafte Humor, der sich ergibt, wenn man Ernsthaftigkeit und Ironie gleich addiert. Max Brod scheint sie einen Augenblick zu spüren, zog es dann jedoch vor, sie durch eine, naive, kräftige, schweizerisch-deutsche Natur zu ersetzen.
Für ihn ist Robert Walser ein Drei-Schichten-Dichter: »Obenauf, in der ersten Schicht, ist Walser naiv, fast ungeschickt, schlicht, geradeaus. Wenige lassen sich davon täuschen, man spürt schnell die zweite Schicht unter der ersten, die Ironie, das Raffinement, den Feinfühligen. Also ist Walser, wie man so zu sagen pflegt, >gemacht< und >unecht<. O nein, weit was überraschendes ist er. Er hat nämlich noch unter der tiefen zweiten Schicht eine tiefe dritte, einen Grund, und der ist wirklich naiv, kräftig und schweizerisch-deutsch.«[2]
Max Brod hat richtig daran getan, sich nicht mit der zweiten Ebene zu begnügen. Statt jedoch noch weiter in der Tiefe zu graben und einen zweifellos dialektisch-metaphysischen, zudem territorial bornierten Grund freizulegen, hätte er auftauchen sollen, um jene schwebende Oberfläche zu beschreiben, die sich aus der Ambivalenz der beiden ersten Schichten ergibt.
Anders als Brod hat Robert Walser selbst jene dritte Schicht oder besser jene dritte Form der Maskerade beschrieben. Eingebettet in eine Typologie der Narren findet sie sich in einer frühen Erzählung mit dem Titel Der Maskenball. (II, 183 ff.) Walser unterscheidet darin drei Formen der Maskerade, die drei unterschiedlichen Narren zugeordnet sind, dem lächerlichen, dem traurigen und dem tanzenden. Er nennt sie Spießbürger, Pierrot und Harlekin.
Der Spießbürger ist im Grunde alt, weil innerlich tot, ein Narr, der die Armseligkeit seiner Existenz kaum zu verbergen in der Lage ist. Auch wenn er sich bemüht, heiter oder dynamisch zu wirken, sieht ihm jedoch jeder seine Pantoffelheldenkreatur sogleich an. Er ist ein Schafskopf, weil er sich künstlich verstellt und meint, das Maskentreiben für seine Zwecke gebrauchen zu können. Seine Bewegungen sind steif, sein Kostüm und sein ganzes Auftreten geschmacklos und sein Empfinden durch und durch sexualisiert. Ein geiler Bock, der nie Zugang zum Spiel der Masken hatte und der am Ende verjagt wird.
Auch Pierrot, der traurige Narr, hat keinen Zugang zum Spiel. Aber anders als der Spießbürger ist er ein Spielverderber aus freiem Entschluß. Obwohl im Grunde jung, gibt er sich doch ein melancholisches, totes Antlitz. Unbeweglich in der Ecke sitzend, angestaut mit tiefem Ressentiment, trägt er ein haßerfülltes Leiden offen zur Schau. Sein weißes Gesicht, wie mit Mehl bestreut, sein Kostüm, seine ganze Erscheinung spiegeln Todesmüdigkeit. Er ist desexualisiert, zynisch, vielleicht ironisch, aber ohne Liebe.
Beiden gegenüber steht Harlekin oder Hanswurst. Er ist eins mit dem Treiben. Er hat das Ressentiment überwunden und ist wieder unschuldig geworden. Seine Bewegungen haben etwas tänzerischtändelndes. Die Linie seines Tanzes wird zur Utopie des Maskenballs. Noch in dieser Beschreibung bleibt in der Schwebe, ob es sich um eine ironisch-verklärte oder ernsthafte Utopie handelt. So erscheint Harlekin als spitzbübiger, engelhafter Knabe, der bald einem eilfertigen, artigen Windhund, bald einem Wiesel, bald einem Eichhörnchen gleicht. Sein Verhältnis zur Maskerade ist weder romantisch noch technokratisch, weder haßerfüllt noch instrumentalisch. Er genießt das Maskentreiben um seiner selbst willen. Und wenn es ihm allein gelingt, mit Colombine, einer übermütigen aber bewunderungswürdigen Tänzerin, Schritt zu halten, so nicht, weil er sie erobert oder domestiziert hätte. Sein Empfinden ist desexualisiert, aber eins mit der Liebe. Von der Künstlichkeit des Spiels verzaubert, geht von ihm selbst ein rätselhafter Zauber aus.
Walter Benjamin wies nicht nur auf den Narrenerbteil in Walsers Literatur, er zeigte sich auch von jener »so zerreißenden, so ganz unmenschlichen, unbeirrbaren Oberflächlichkeit«[3] fasziniert, die sich in dieser Narren-Typologie selbst noch beschrieben findet. Walsers Harlekin hat die Ironie hinter oder unter sich gelassen. Die Linie seines Tanzes korrespondiert jener kaum festzulegenden Stimme, die sich zwischen eigentlichem und uneigentlichem Sprechen bewegt. Es handelt sich mithin — ganz banal gesprochen — um eine unergründliche Form der Maskerade, eine Maskerade, die nur paradox sich beschreiben läßt, als ein parodistisches Spiel nämlich, das das Subjekt zugleich kenntlich macht und verdeckt, das es unkenntlich macht und gleichzeitig neu entdeckt.

II

»Vielleicht kehrt nun das Subjekt nicht als Illusion, sondern als Fiktion zurück. Eine gewisse Lust gewinnt man aus einer bestimmten Art, sich als Individuum vorzustellen, eine letzte Fiktion seltenster Art zu erfinden: das Fiktive der Identität. Diese Fiktion ist nicht mehr die Illusion seiner Einheit; sie ist im Gegenteil das Gesellschaftsschauspiel, in dem wir unseren Plural auftreten lassen: unsere Lust ist individuell— aber nicht personal.«[4]
Maskerade ist der Titel einer Erzählung, die Walser im März 1927 in der »Prager Presse« veröffentlichte. (XI, 37 ff.) Sie gilt, wie seine späte Prosa insgesamt, als schwierig, dunkel, unzugänglich. Nicht nur, weil kausale, zeitliche und räumliche Erzählstrukturen darin aufgelöst sind, weil die Erzählerperspektive ständig wechselt, ebenso die Themen und Figuren: es lassen sich nicht einmal exakte Begriffe ausmachen, die die Eigentümlichkeit dieses Stils charakterisieren könnten. Vage werden Bezeichnungen vorgeschlagen wie »Struktur der Unbestimmtheit«, »kombinatorisches und konjunktivisches Sprechen«, »imaginative Verwandlung des Weltausschnitts«.[5] Doch bekommen sie immer nur Teile in den Griff und werden schief dort, wo sie das Ganze bezeichnen wollen. Man ist verleitet, Walsers Spätstil mit den dadaistischen Montagen, den »freien« Assoziationen und Träumen der Neurotiker, oder der ecriture automatique der Surrealisten zu vergleichen; doch ist er andererseits wiederum so unverwechselbar, daß man von einem ganz originären Stil sprechen möchte. Möglicherweise werden wir eines Tages in der Lage sein, ein für allemal Licht in diese rätselhaften Schreiberein zu bringen, Bezeichnungen finden, die ihn erschöpfend charakterisieren, Zusammenhänge aufdecken, die keine Fragen mehr offen lassen. Bis dahin werden wir jedoch eine Vielzahl von lokalen Analysen betreiben und schrittweise jenen Bedeutungen und Zusammenhängen nachgehen müssen. Auch hier soll es nur um eine begrenzte Beobachtung, ein gesondertes Moment jener eigenwilligen maskierten Literatur gehen: eine bestimmte Art der Fiktion, des Subjekts.
»Gestern fanden Maskenbälle statt; der Zutritt kostete an und für sich sehr viel. Die Flasche vom besseren bezahlte sich mit hundert Franken... Maskerade ist hier sonst nicht Sitte. Sie gibt sich aus diesem Grund fast unmerkbar.« (XI, 38 f.)
Einen Streitpunkt zwischen verschiedenen Walserexegeten bildet die Frage: bezeichnet der Titel »Maskerade« ein wirkliches Ereignis, ein Ereignis auf der Ebene des Referenten, das der Autor zum Anlaß für eine etwas »freiere« Form der Erzählung nimmt? Oder muß die Schreibweise hier insgesamt als Maskerade gedeutet werden, bezeichnet die Überschrift eine Metapher der Walserschen Literatur oder gar der Literatur überhaupt? Beiden Deutungen dienen jene knappen, im Text verstreuten Hinweise als Begründung, in denen von Maskenbällen bzw. unmerklicher Maskerade die Rede ist. Sehen die einen darin ein realistisches Moment, das der Autor qua Imagination verfremdet und erweitert, so gelten sie den anderen aufgrund ihrer Textpositionen bereits als Parodie des realistischen Erzählens. Wenn der Text beiden Interpretationen Recht gibt — ich sehe nicht, was dem widersprechen sollte —, dann legt das die Vermutung nahe, es komme ihm genau darauf an: die Differenz zwischen (ich kürze ab) realistischem und metaphorischem Sprechen in der Schwebe zu halten, eine dritte Position einzunehmen.
Und genau um diese schwer ortenbare und in gewisser Weise undeutbare Position geht es in jenen sprachlichen Figuren, von denen der Text überläuft: sie stehen in der Mitte — das ist die These — zwischen Begriff (Vergleich) und Metapher und bilden somit ein stilistisches Korrelat zu jenem schwebenden Narrentanz, jenem stimmlosen Gesang, der sich zwischen Ernsthaftigkeit und Ironie, Ab-sichtslosigkeit und Absicht hält.
»Einer hatte eine ungeheure Stirn, mit der er überragte, was neben ihm einherging, was ihm ein großes Behagen zu verschaffen schien. In den Arkaden, die unsere Stadt zieren, wandelten Jünglinge, die sich wie italienische Nobili betrugen. Die Landschaft lag still wie ein unausrottbarer Gott. Ich ging eine Weile als alte Frau. Indem ich die Gebrechlichkeit meisterhaft nachahmte, zog ich von Zeit zu Zeit eine Flasche aus dem Gewand hervor, die einen Wein enthielt, der sich wie Milch trank.« (XI, 37 f.)
Bereits diese ersten Zeilen der Maskerade werfen eine Reihe von Fragen auf: Was hat es mit dieser ungeheuren Stirn auf sich? Ist sie Maske oder Körperteil? Durch welche Stadt, welche Arkaden führt uns der Weg? Doch schon wandelt sich die Szenerie. Die Landschaft lag still wie ein unausrottbarer Gott. Wo befinden wir uns? Noch in der Stadt, mit Blick auf die Landschaft? Oder haben wir die Stadt bereits verlassen? Und schon haben wir es mit einem jener seltsamen Vergleiche zu tun, die bald sinnfällig, bald absurd erscheinen und auch im weiteren immer wieder auftauchen werden. Welche Beziehung besteht zwischen einer Landschaft und einem unausrottbaren Gott? Gibt es ausrottbare oder unausrottbare Götter? Oder vorher noch: kann die Landschaft liegen? Kann sie still liegen? Ich lassen diese Fragen unbeantwortet und wende mich gleich dem ersten Auftritt unseres großen Helden zu:
Ich ging eine Weile als alte Frau: da steht er nun vor uns, oder besser, da geht er hin, jener Maskenträger par excellence: der Erzähler. Namenlos betritt er jenen Raum, von dem wir nicht einmal wissen, ob es die Bühne, der Festsaal oder die Welt ist. Er schickt einen Vorläufer, ein Pronomen, er sagt »ich«. Wir wissen nicht genau, wer gemeint ist. Der Autor? Oder ein anderer, dem er vorübergehend seinen Namen geliehen hat? Es heißt, das Personalpronomen sei eine Leerstelle, die sich beliebig füllen läßt, die, wenn sie uns ihre nackte Form präsentiert, auf jene unendliche Vielzahl von Sprechern verweist, die in der Lage sind, »ich« zu sagen. Listige Form der shifters: auch wir sind gemeint, wir, die Leser. Das Ich erscheint und wandelt sich sogleich (und wir mit ihm): es altert und wird zur Frau. Doch ist das nur grob gesprochen. Denn war es nicht möglicherweise schon vorher eine alte Frau?
Ich höre den Einwand eines Linguisten. Um das Identitätsproblem, das die shifters uns aufgeben, zu lösen, hat man verschiedene Strategien entwickelt. Die wirksamste scheint immer noch die von Benveniste zu sein: man bezieht die pragmatische Situation des Sprechaktes, den Kontext, mit ein und ist auf diese Weise in der Lage, die Identität des Sprechers zu ermitteln.[6] Hier, keine Frage, stünde niemand anderes als der Autor selbst dahinter. Ein Schluß, der seine Plausibilität nicht zuletzt aus der Umkehrung des Satzes selbst bezieht: wer von sich sagt, daß er als alte Frau ginge, der wird entweder eine junge Frau oder aber ein Mann sein, andernfalls hätte der Satz wohl kaum einen Sinn. Doch wie, wenn die personelle Identität, der Autorname, für Walser nur wiederum Maskerade wäre (wie in jenen zahllosen Verrückten-Witzen, in denen die Normalität als List benutzt wird, um die Normalen zu täuschen)? Dann stünde man hier tatsächlich vor jenem überaus rätselhaften Phänomen, daß eine alte Frau als alte Frau ginge, ein A sich selbst als A setzte. Doch halten wir uns an die Plausibilität der wahrscheinlichen Deutung; denn nicht die Frage der shifters soll uns hier interessieren, sondern jener Modus der Verknüpfung, den das Wörtchen »als« darstellt.
Ich ging eine Weile als alte Frau. Gehen wir also davon aus, das Ich sei überführt, dem Pronomen ein identifizierbares Subjekt zugeordnet (daß es Walser nicht um die Maskierung seiner personellen Identität geht, haben wir schon gezeigt). Sehen wir in der Maskerade die Beschreibung eines Maskenballs, so scheint der Satz nicht weiter aufregend. Es wäre nichts anderes als die realistische (verfremdete) Beschreibung einer Verhaltensimulation, das Protokoll einer Inszenierung, der Bericht eines Spiels. Doch läßt der Text — ich wiederhole mich — keine eindeutigen Schlüsse darüber zu, ob hier von Maskenbällen berichtet wird oder nicht. Eben dadurch entsteht der eigentliche Schwebezustand dieser Maskerade und man ist geneigt, sie als Metapher zu deuten. Schließlich gehört die Metapher, wie das Bild, die Allegorie, der Vergleich, das Rätsel... zu jenen Stilmitteln, die eine Bedeutung nicht geradewegs nennen (was immer das sein mag, ich spreche hier sehr ungenau), sondern einen Umweg nehmen, die »eigentliche« Bedeutung verhüllen, maskieren. Konkret könnte man den Satz als versteckten Hinweis auf eine gewisse Alterschwäche des Autors oder seiner Literatur (immerhin wird Walsers Sprachstrom wenige Zeit später für immer versiegen) lesen oder gar die Rätselhaftigkeit der Sprache schlechthin. Das Störende an diesen oder ähnlichen Interpretationen ist nicht nur der Umstand einer gewissen Beliebigkeit, die sich aus der vorschnellen Hereinnahme textexterner Signifikate ergibt. Die Metapher scheint darüberhinaus eine zu starre, zu abgelegte Form, um den leichten, unmerklichen Gang dieser Verwandlung zu klassifizieren.
Ich ging eine Weile als alte Frau. Alles ändert sich, wenden wir uns der Form des Satzes zu und lesen das Prädikat als Metapher für das Subjekt, und zwar als Metapher in präsentia (im Sinne von Dubois et al.)[7] Im Gegensatz zur Metapher in absentia bleibt der Gegenstand der Umschreibung nicht ausgespart, er wird gesagt. Ganz offen stehen Maske und Subjekt sich gegenüber. Kein vorne, kein hinten. Die Metapher spricht das Subjekt als Maske. Die Verkleidung selbst wird transparent; darin ist sie dem Vergleich verwandt.
Im französischen unterscheidet man nicht zwischen wie und als (in beiden Fällen heißt es comme). Wie eine alte Frau, als alte Frau, hieße allemal: comme une vielle femme. Im Deutschen gibt es zwei Wörter, die sich in ihrer Bedeutung unterscheiden. Wenigstens um eine Nuance. Im ersten Fall handelt es sich um einen Vergleich (ich vergleiche meinen Gang mit dem einer alten Frau), im anderen Fall um eine Fiktion oder Metapher in präsentia. So tun als ob. Ich gehe, als ob ich eine alte Frau wäre.
Charakteristisches Merkmal der Fiktion: das Prädikat wird dem Subjekt nicht einverleibt, es bleibt eine Differenz gewahrt. Subjekt und Prädikat gehen eine spielerische Ehe ein. Und das, was dabei entsteht, ist weder das eine noch das andere, auch nicht ein vermittelnder Begriff, sondern die Differenz einer Gleichheit. Einer vorläufigen, nur probehalber formulierten Gleichheit.
So gesehen lebt das Subjekt für Walser weiter. Nicht aber als Ganzes, das seine Teile ordnend in sich aufnimmt, nicht als sich vermittelnder Geist, der alle Stufen des Wissens durchläuft; aber auch nicht als Leerstelle, Spur eines Mangels (an Sein), als kahle Projektionsfläche unzähliger, verstreuter gesellschaftlicher Bewegungen, sondern: als Fiktion.
Frage: Wäre das Subjekt dieser so verstandenen Maskerade nicht vielleicht doch nur eine, wenngleich subtilere Variante jenes abendländischen Subjekts, das sich bei allen Verwandlungen doch immer wieder gleichbleibt, das sich hier und da mit einer Maske schmückt, vornehmlich der Maske der Frau, des Exotischen, des Geheimnisvollen und Unwägbaren, aber nur, um auf diese Weise seine Potenz (ich bin alles, ich bin die Welt) noch weiter ausdehnen zu können? Wäre das Walsersche Subjekt nicht am Ende doch jener viel beklagte narzißtische Schauspieler, den er so heftig attackierte?
Jakob von Gunten: »Ich respektiere ja mein Ich gar nicht, ich sehe es bloß, und es läßt mich ganz kalt. O in Wärme kommen! Wie herrlich! Ich werde immer in Wärme kommen können, denn mich wird niemals etwas Persönliches, Selbstisches am Warmwerden, am Entflammen und am Teilnehmen verhindern. Wie glücklich ich bin, daß ich in mir nichts Achtens- und Sehenswertes zu erblicken vermag.« (VI, 144 f.)
In dieser Fiktion geht es weder um Tarnung des Ich durch die Maske, noch um Entlarvung der Maskerade auf der Suche nach einem verlorenen Ich. Die Verkleidung hat auch nicht die Funktion, das Ich vor dem Zugriff der Außenwelt zu schützen (um diese so besser beherrschen zu können). Das grausame Maskenspiel des Masochisten erfüllt den umgekehrten Zweck: es soll die Welt vor der Kälte des Ich schützen. Gerade dazu ist es jedoch beständig erforderlich, die Erinnerung an das Ich gleichsam wie ein Bild, wie eine erkaltete Fiktion mit sich zu tragen. Denn nur solange ich es in der Tasche habe, bin ich vor seiner Kälte sicher. Nur wenn ich es ganz in meiner Nähe weiß, habe ich genügend Distanz, um mich immer wieder neu erwärmen zu können. Auch deshalb lebt das Ich weiter: als gezähmte Fiktion, als Bild, verpackt, verschnürt, in Gewahrsam genommen, auf Eis gelegt...

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