Der Anteil der Mädchen an den Schülern der Realschule betrug 1967 in der BRD etwa 53%. Die Ausbildung der Mädchen an den Realschulen verdient daher eine besondere Aufmerksamkeit. Dieser Schultyp gilt seit seinem Bestehen bei Unternehmen und auch Gewerkschaften als Zubringerschule für die gehobenen Positionen im kaufmännischen, technischen, sozialpädagogischen und sozialpflegerischen Bereich. Die mittlere Reife ist die Voraussetzung für den Besuch der Höheren Fachschulen und der Fachoberschulen, die dann ihrerseits zu einer Fachhochschule führen können.
Als Bestätigung für diese These seien einige Zitate aus den Richtlinien für die Realschulen einiger Bundesländer gebracht.
- »Die Realschule hat als weiterführende Schule die besondere Aufgabe, ihren Schülern eine realistische Grundbildung zu vermitteln, die die Grundlage für den Besuch Höherer Fachschulen und anderer Ausbildungseinrichtungen mit entsprechenden Anforderungen bildet. Damit schafft die Realschule auch wesentliche Voraussetzungen für die Berufsausbildung der Realschulabsolventen, die durch eine enge Verbindung zwischen praktischem Tun und theoretischer Durchdringung der Arbeitsvollzüge gekennzeichnet ist und die Fähigkeit erfordert, erhaltene und zu erteilende Weisungen in größere Zusammenhänge einzuordnen und kritisch über sie zu reflektieren. Im Hinblick auf diesen Auftrag muß die Realschule in größerem Umfang als das Gymnasium Themenkreise aus dem wirtschaftlichen, dem technischen und dem sozialen Lebensbereich in ihren Unterricht einbeziehen, nicht um ein bestimmtes berufsspezifisches Wissen zu vermitteln, sondern um den Schülern einen Einblick in grundlegende Sachverhalte der industriellen Gesellschaft zu geben.«[1]
- »Den künftigen gehobenen Fachkräften soll die Realschule diejenigen Fähigkeiten und Kenntnisse geben, die sie brauchen, um eine selbständige und verantwortliche Tätigkeit in Wirtschaft und Verwaltung auszuüben. Damit hat das Abschlußzeugnis der Realschule einen besonderen Wert erreicht.«[2]
- »Die Realschule ist die geeignete Bildungsstätte für jene Stellungen in Wirtschaft, Verkehr, Verwaltung, sozial-pflegerischen und technisch-künstlerischen Berufen, bei denen ein spezifisches Maß an Können, Einsicht, Selbständigkeit und Verantwortungsbereitschaft vorausgesetzt wird. Daher lenkt sie den Blick ihrer Schüler bewußt auf das spätere Berufsleben, erstrebt dadurch eine vertiefte Berufsauffassung, ohne beruflich vorzubilden.«[3]
- »Im Unterricht (der Realschule) wird den Schülern das in sich abgerundete über die Lehrziele der Hauptschule hinausgehende Wissen und Können vermittelt, das sie zur Übernahme und Lösung von Aufgaben des praktischen Lebens mit erhöhter fachlicher, wirtschaftlicher und sozialer Verantwortung fähig macht.«[4]
- »Ihre (der Realschule) Bildungsarbeit liegt... zwischen dem wissenschaftlichen und praktischen Erkenntnisansatz, d. h. sie strebt nicht die Systematik der Wissenschaften an, sondern zielt im wesentlichen darauf hin, die Arbeitswelt in ihren vielfältigen Erscheinungen objektiv zu erkennen und zu bewältigen.«[5]
Die Realschule wird gerechtfertigt mit einer besonderen Begabungsart, die als »praktisch-theoretisch« bezeichnet wird. Sie wirbt um Schüler, die bereits im ersten Sozialisationsprozeß der Familie dazu erzogen wurden, den Leistungsanforderungen willig nachzukommen, aufstiegsbewußt zu sein, sich den geltenden Bewertungsmaßstäben für Leistungen und Verhalten zu unterwerfen und sich in eine hierarchische Sozialstruktur leicht einzufügen. Auch dafür seien einige Beispiele gebracht.
- »Sie (die Realschule) erfaßt Schüler und Schülerinnen, die einer erweiterten und vertieften Allgemeinbildung zugänglich sind, und fordert von ihnen eine gute Haltung, Leistungswillen und zuchtvolle Arbeit.«[6]
- »Die Realschulen stehen allen Schülern offen, die nach ihren erkennbaren geistigen Fähigkeiten, nach Haltung und charakterlichen Anlagen zum Besuch dieser Schulen geeignet sind.«[7]
- »Die Schule soll das Kind ... zur richtigen Arbeitshaltung erziehen. Dazu gehören Zuverlässigkeit, Beweglichkeit und Leistungswille.«[8]
- »Die Absolventen der Realschule werden später verantwortliche Stellen zumeist im kaufmännischen, im technischen, im technisch-künstlerischen, im Verwaltungs- und im sozialpfle-gerischen Bereich innehaben. Ihr beruflicher Aufgabenkreis schließt in hohem Maße mitmenschliche Pflichten ein, bei deren Erfüllung sie häufig mit dem >Gesetz der Sache<, mit den Anforderungen der rationalisierten und mechanisierten Arbeitswelt in Konflikt geraten. Ihre Schüler auf solche Situationen vorzubereiten, muß sich die Realschule besonders angelegen sein lassen.«[9]
Die Realschule ist also ein selbständiger Schultyp, der ein selbständiges, nur ihm eigenes Bildungsziel verwirklichen will, welches durch seinen Fächerbestand und durch deren Lehrinhalte für in sich konsistent und »abgeschlossen« gilt. Die Lernziele sollen sich von denen der Volksschule und denen des Gymnasiums unterscheiden.
Die Begabungsart der Realschüler wird wie folgt charakterisiert:
- »Die Realschule beachtet in ihrem Unterricht, daß die meisten ihrer Schüler zu einem vorwiegend anschaulich-vorstellungsgebundenen Denken neigen; sie vermögen mit diesem Denken auch komplizierte Sinnzusammenhänge zu erfassen, wenn ihnen diese an anschaulich gegebenen oder in der Vorstellung reproduzierbaren Dingen, Situationen, Vorgängen oder Erlebnissen deutlich gemacht werden.«[10]
- »Der Realschüler unterscheidet sich nicht grundsätzlich von dem Volksschüler, zeigt aber ein größeres geistiges Leistungsvermögen und ein tiefer eindringendes Verständnis für praktisch-technische und für theoretische Zusammenhänge. Andererseits orientiert sich auch seine Betrachtungsweise weiterhin am Gegenständlichen und Konkreten.«[11]
- »Der Unterricht der Realschule wendet sich an Schüler, die ein offenes und waches Sachinteresse mit der Fähigkeit zum Durchdringen der Zusammenhänge verbinden. Ihr gegenstandsgebundenes Denken bedingt eine Unterrichtsweise, die auch dann sach- und lebensgebunden bleibt, wenn die Arbeit zur Abstraktion führt und ihre Ergebnisse zu einer systematischen Ordnung reifen, Anschaulichkeit und Lebensnähe des Unterrichts sind deshalb auf allen Entwicklungsstufen erforderlich. Der stark ausgeprägte Realitätssinn der meisten Realschüler macht es notwendig, im Unterricht von Tatsachen auszugehen, zu den Ursachen und Zusammenhängen vorzustoßen, ihre Deutung aber gleichzeitig mit persönlicher Auswertung zu verbinden.«[12]
Diese Zitate stammen aus Richtlinien, die (mit einer Ausnahme) in der 2. Hälfte der sechziger Jahre erarbeitet wurden, und sie gelten noch, wenn auch in den meisten Bundesländern schon wieder Veränderungen der Lernziele zu erwarten sind im Zusammenhang mit den Empfehlungen der Bildungskommission zur Neugestaltung der Abschlüsse im Sekundarschulwesen (Stuttgart 1969) und im Zusammenhang mit dem Strukturplan für das Bildungswesen (Stuttgart 1970).
Die Bundesländer unterscheiden sich in solche, die auch nach diesen Empfehlungen die Realschule als gesonderten Schultyp vorerst oder überhaupt bestehen lassen und solche, die die Realschule in eine einheitliche Sekundarstufe I einbringen wollen. Das ist vor allem in Hessen und außerdem in Berlin der Fall. In allen anderen Bundesländern weichen auch die neueren Vorstellungen von der Bildungsaufgabe der Realschule nicht von den oben zitierten ab. Nach wie vor gilt dieser Schultyp als Zubringerschule für die oben angeführten Berufe. Wenn auch die Anforderungen in den einzelnen Fächern, namentlich in den Naturwissenschaften, der wissenschaftlichen Entwicklung gemäß andere Schwerpunkte erhalten.
Die seit Jahrzehnten bestehende Konzeption der Realschule wird jetzt noch verstärkt herausgearbeitet im Hinblick auf die Berufsfelder, in denen die Schüler später tätig sein werden. Die Schulverwaltungen der Länder Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Baden-Württemberg haben eine gemeinsame Kommission gebildet, um die Struktur der Realschule zu vereinheitlichen, um ihr dadurch ein größeres Gewicht zu geben.
Die Realschule soll in Zukunft einen mathematisch-technischen, einen wirtschaftlichen und einen musisch-sozialpädagogischen Zug erhalten. Baden-Württemberg fügt diesen dreien noch einen vierten hinzu, der den Schülern offensteht, die beabsichtigen, nach der mittleren Reife zu der Kollegstufe der Gymnasien überzuwechseln.
Diese Pläne unterscheiden sich von der bayerischen Lösung, die dort 1967 erarbeitet wurde und sich im dritten Versuchsjahr befindet. In Bayern wurden nicht Schwerpunkte gebildet, sondern den Schülern werden in einer dreiklassigen Schule nach einer gemeinsam durchlaufenen 7. Klasse drei Abteilungen: eine naturwissenschaftlich-technische, eine kaufmännische und eine musisch-sozialpädagogische Abteilung angeboten, in denen sie weiter im Klassenverband unterrichtet werden. Diese Aufgliederungen in den genannten Ländern unterscheiden sich nur in ihrer Organisationsform, nicht aber in ihren Zielen, der Wirtschaft, der Verwaltung und dem Dienstleistungsbereich Arbeitskräfte anzubieten, welche sich bereits während ihrer Schulzeit an späteren Berufsfeldern orientieren. Um die Lernziele stärker als bisher noch den Berufsanforderungen anzupassen, hat das Kultusministerium von Baden-Württemberg Stellungnahmen von zahlreichen Großbetrieben verschiedener Wirtschaftszweige über deren Anforderungen an die Tätigkeiten eingeholt, für die ein mittlerer Abschluß Voraussetzung ist. Diese »inneren Reformen« der Realschule haben an ihrem alten Konzept nichts Wesentliches verändert. Ihm liegt die Vorstellung einer dreigliedrigen Berufsstruktur - von »einfachen«, »mittleren« oder »gehobenen« und »höheren« Berufen — und einer dreigliedrigen Sozialschichtung von Unter-, Mittel- und Oberschicht zugrunde. Diese Dreiteilung soll auch eine dreigliedrige Begabungsstruktur von rein praktischen, theoretisch-praktischen und rein theoretischen Begabungen entsprechen, die ihrerseits ein dreigliedriges Schulsystem rechtfertige. Diese Vorstellungen waren schon im »Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens« des Deutschen Ausschusses für das Erzie-hungs- und Bildungswesen im Jahre 1959 entwickelt worden. Die Kritik, die an diesen Auffassungen seither geübt wurde, ist in den Kultusverwaltungen der meisten Bundesländer kaum zur Kenntnis genommen worden. Um nur einen Kritiker anzuführen: Schon 1961 hatte Helmut Schelsky darauf hingewiesen, daß die »Trinitätssoziologie der Berufsgruppen jeder realsoziologischen Grundlage« entbehre.
»...Ein Vorrang dieser Art Dreiteilung in >geistig führende< >ausführende< und >vermittelnde< Berufe mit erhöhter Verantwortung ist nur eine unhaltbare Wiederholung der hochbürgerlichen Berufsunterscheidung in Kopfarbeit und Handarbeit mit dem Eingeständnis, es gäbe noch etwas in der Mitte. Gerade die These der >Vermittlung< oder >mittleren< Berufsschichten der Angestelltenschaft oder anderer Berufsgruppen des neuen Mittelstandes... ist nun wirklich in der neueren Soziologie als völlig unhaltbar widerlegt worden...«[13]
Nicht die Dreigliederung der Berufe bestimmt das Schulsystem, sondern umgekehrt die Dreigliederung der Schule trägt eine Sozial- und Bildungssystematik in das Berufswesen hinein, die sozial und beruflich immer fragwürdiger wird.
»... Gerade dieses Festhalten an der Dreigliederung der allgemeinen Schule (ist) eine sozialkonservative Grundentscheidung ... Hier hat sich der Ausschuß dem sozialen Fortschritt an Hand der realen Berufsentwicklungstendenzen versagt.«[14]
Erst der Bildungsbericht der Bundesregierung zieht die Konsequenz aus der innerdeutschen und internationalen Kritik an jeglichem dreigliedrigen Schulsystem.
»Trotz vielfacher Bemühungen um Verbesserungen und um partielle Reformen wirken sich die dreigliedrige Struktur des Sekundarbereiches und die frühzeitige Auslese nach dem 4. Schuljahr auch heute noch weitgehend so aus, daß die soziale Schichtung der Bevölkerung im Bildungswesen erhalten und reproduziert wird.«[15]
In diesem Bericht wird auch die Auffassung einer dreigliedrigen Begabung in Frage gestellt:
»Der spezifische Bildungsauftrag für jede Schulreform, ihre Lerninhalte, Unterrichtsverfahren, Abschlüsse und Berechtigungen blieben in den allgemeinbildenden Schulformen der Sekundarstufe weitgehend von der traditionellen Vorstellung geprägt, es gebe drei unterschiedliche Begabungsgruppen, die den Schulformen zuzuordnen seien, wobei sich dann eine starke Übereinstimmung zwischen Begabungsgruppe und sozialer Herkunft ergab. Danach vermittelt die Hauptschule eine volkstümlich-handwerklich-praxisorientierte, die Realschule eine gehobene praxis- und berufsorientierte und das Gymnasium eine theoretisch-wissenschaftsorientierte Bildung.«[16]
Der Bildungsbericht kann sich auf internationale Forschungen und Ergebnisse stützen, die im 4. Band der Gutachten und Studien der Bildungskommission zusammengetragen wurden.[17]
Auch diese wurden in den Kultusministerien nicht beachtet. Wie könnten sich sonst die traditionellen Meinungen über Begabungsarten noch bis in die neuesten Richtlinien hinein fortsetzen und immer noch zur Rechtfertigung einer »eigenständigen« Realschule dienen? Auch dort, wo wie in Rheinland-Pfalz im August 1970 vom Kultusministerium einheitliche Stundentafeln für die drei Schultypen erarbeitet wurden, hebt die Vereinheitlichung der Stundenzahl die unterschiedlichen Lehr- und Lernziele der Schulgattungen nicht auf. Es müßten dazu neue Curricula entwickelt werden, die den gemeinsamen Kern einer wissenschaftsorientierten Grundbildung sichern. Die Abschließung der Schultypen voneinander wird seit Jahren durch Übergangsmöglichkeiten gemildert. Im Gegensatz zu den Hauptschülern haben die Realschüler von jeder Klasse aus die Möglichkeit, in ein Gymnasium zu wechseln, wenn sie eine Prüfung ablegen oder eindeutig gute Noten vorweisen. In dieser Regelung spiegelt sich die Auffassung, daß die Realschüler ein größeres Reservoir für sie darstellen als die Hauptschüler, weil sie unter diesen eine positive Auslese von naturwissenschaftlichen und sprachlichen Begabungen bedeuten.
1. Abiturienten-Nachwuchs in der Realschule
Da in allen Bundesländern die Abiturientenzahlen erhöht werden sollen, werden erhebliche Anstrengungen gemacht, den Schülern der Realschulen den Übergang zum Gymnasium zu ermöglichen.
Es scheint nach einer Reihe von Begabungsuntersuchungen und Strukturanalysen von Begabungen wahrscheinlich, daß bei den augenblicklichen Verhältnissen die Zahl der »abiturfähigen«, aber in der Volksschule verbleibenden Schüler mit 4% angegeben werden kann. Nach einer Untersuchung von Josef Hitpass, die im Auftrag des Kultusministeriums Nordrhein-Westfalen anhand von Zeugnisanalysen, Motiv- und Begabungsuntersuchungen durchgeführt wurde, sollen ca. 40% der Realschüler unbedingt »abiturfähig« sein und 34% bedingt »abiturfähig« gegenüber rund 61% bzw. 24% der Gymnasiasten. Daraus zieht der Verfasser den Schluß, daß die Realschule »ein Hort wider Erwarten großer Begabungsreserve ist, deren Absolventen zu einem qualifizierteren Abschluß gelangen könnten, als die Realschule ihn im Augenblick bietet.«[18]
Wenn diese Resultate Beweiskraft beanspruchen können, weil das verwandte Prüfungsverfahren (»Hamburg-West-Yorkshire« Gruppentest) sowohl in England als auch in der Bundesrepublik validiert wurde, dann ist die Annahme widerlegt, daß die Realschüler eine besondere Begabungsstruktur (technisch-praktisch oder theoretisch-praktisch) aufweisen, denen ein besonderes Fächer- und Bildungsangebot entsprechen müßte. Hitpass folgert aus seinen Untersuchungen, daß Gymnasiasten sich von Realschülern nach der Höhe der Begabung, jedoch nicht nach der Begabungsstruktur unterscheiden. Es wurden auch keine signifikanten Unterschiede zwischen der Berufszugehörigkeit der Väter und der Begabungshöhe ihrer Kinder festgestellt. Ebensowenig ergaben sich signifikante Unterschiede zwischen den Begabungen von Jungen und Mädchen. Bei einer Gegenüberstellung der Notenverteilung in den Hauptfächern Deutsch, Englisch, Mathematik zeigte sich, daß die Mädchen während der gesamten Schulzeit in all diesen Fächern signifikant bessere Noten erzielten als die Jungen. Die Mädchen haben nach dieser Untersuchung auch eine signifikant höhere Chance, die mittlere Reife zu erreichen. Leider werden die Ergebnisse der Untersuchung in bezug auf die Begabungshöhe und die Begabungsstruktur nicht nach Geschlechtern aufgeteilt, so daß nicht angegeben werden kann, wieviel Mädchen sich innerhalb der Begabungsstufen I und II befinden. Da das Bildungsziel der Realschule ist, die Schüler auf die Bewältigung des praktischen Lebens vorzubereiten, sich aber unter ihren Schülern ein hoher Prozentsatz »abiturfähiger« Kinder befindet, stellt sie sich als »eigenständiger« Schultyp selbst in Frage. Die Untersuchungen von Hitpass beweisen, daß die Bestrebungen der Kultusministerien, die eine einheitliche Sekundarstufe mit Differenzierungen nach Begabungen und Leistungen anstreben, geeigneter sind, die Begabungsreserven der Kinder auszuschöpfen ohne Rücksicht auf Geschlecht und soziale Zugehörigkeit. Die Übergangsmöglichkeiten von einem Schultyp zum anderen, die in allen Ländern bestehen, sind nur Behelfsmaßnahmen, da immer nur wenige Eltern das Risiko eines solchen vereinzelten Übergangs auf sich nehmen werden. Die anfangs erwähnte Strukturierung der Realschulen nach Schwerpunkten und die Ausrichtung auf Berufsfelder verhindert, daß ihr Reservoir an »abiturfähigen« Schülern ausgenutzt wird. Lediglich in Bayern besteht im Gegensatz zu den anderen Bundesländern ganz konsequent nur die Möglichkeit, erst nach bestandener mittlerer Reife in die Oberstufe eines Gymnasiums überzutreten.
2. Die Benachteiligung der Mädchen an den Realschulen
Der hohe Prozentsatz der Mädchen an den Schülern der Realschulen beweist, daß sie bereits vom Elternhaus auf einen mittleren Abschluß hin gedrängt werden und sich bei dieser mittleren Reife bescheiden. Sie bedürften einer besonderen Ermutigung, einer besonderen Förderung, damit sie ihre Begabungen ausnutzen. Infolge der Schwerpunktbildung in der Realschule werden sie schon in die kaufmännischen und sozialpflegerischen Berufsfelder hineingedrängt, die als eine Domäne der Frauen gelten.
Welchen Schwerpunkt auch immer sie wählen: in allen drei Zügen (oder Abteilungen) werden die Mädchen in den Klassen 8 und 9 in textilem Werken und Hauswirtschaft unterrichtet und in der io. Klasse noch in Erziehungskunde. Da für Jungen und Mädchen die gleiche Stundenzahl festgelegt ist, kann der Unterricht in den Pflichtfächern Hauswirtschaft, textiles Werken und Erziehungskunde ebenso wie in der Hauptschule nur auf Kosten der anderen Fächer gehen. Da aber die neuen Stundenverteilungspläne für die Realschulen von keinem Kultusministerium zu erhalten waren, ist nur zu vermuten, daß diese Fächer immer noch auf Kosten von Chemie und Physik unterrichtet werden, wie es bislang z. B. in Hamburg der Fall war:
»In Klasse 9 sind für Mädchen vier Stunden Hauswirtschaftsunterricht vorgesehen. Sie erhalten in diesem Jahr keine Fachstunden für Physik und Chemie. In dem Hauswirtschaftsunterricht müssen daher auch Fragen der Physik und Chemie geklärt werden. Soweit die Zeit für eine gründliche Behandlung biologischer Probleme nicht ausreicht, sind dafür die zwei Fachstunden für Biologie heranzuziehen.«[19]
Die Auffassung, daß Mädchen »von Natur aus« für bestimmte Berufe (sozialpflegerische, erzieherische und kaufmännische) bestimmt seien, die nachträglich auch noch durch die von der Tradition bestimmte Wahl scheinbar gerechtfertigt wird, benachteiligt die Mädchen in zweifacher Hinsicht: einmal durch die vorgegebene Orientierung des Elternhauses und zum anderen durch die Schwerpunktbildung der Schule mit ihrer spezifischen Fächcherkombination.
3. Das Bildungsziel von Hauswirtschaft und textilem Werken
Obwohl sich die Bildungsziele der Realschule von denen der Volksschule (Hauptschule) unterscheiden, wie oben dargelegt wurde, weil sie für einen angeblich anderen Schülertyp, für eine andere Begabungsart konzipiert wurden, stimmen die Bildungs-1 ziele der Fächer textiles Werken und Hauswirtschaft für Mädchen in beiden Schultypen überein. Sie sollen für die späteren Aufgaben als Hausfrau und Mutter vorbereiten
- a) durch die Einübung von Fertigkeiten und praktischen Arbeiten,
- b) durch eine technologische und naturwissenschaftliche Ausrichtung der Hauswirtschaft,
- c) durch eine ökonomische Ausrichtung der Hauswirtschaft,
- d) durch Einübung von Verhaltensweisen, deren die spätere Mutter und Hausfrau bedürfe.
Diese Thesen können wieder durch eine große Zahl von Zitaten aus den Lehrplänen der verschiedenen Bundesländer belegt werden.
- »Die ideelle Einstellung der Mädchen zu Heim und Familie soll dabei gefördert werden, d. h. sie sollen zur Familienfähigkeit erzogen werden.«[20]
- »Der Hauswerkunterricht soll die Schülerinnen auf die Aufgaben vorbereiten, die sie in Haus und Familie erwarten, indem er ... die Freude an schöner, harmonischer Häuslichkeit weckt, ihr ästhetisches und musisches Empfinden pflegt und sie zu Verantwortungsbewußtsein und Hilfsbereitschaft erzieht.«[21]
- »Der hauswirtschaftliche Unterricht soll die Schülerinnen mit den Arbeiten des Haushalts vertraut machen und sie zu einer zweckmäßigen Haushaltsführung anleiten. Er erzieht zu Ordnung, Sauberkeit, Hilfsbereitschaft und zu sparsamer Wirtschaftsführung.
- »Je nach den örtlichen Verhältnissen können auch Jungen daran teilnehmen.«[22]
- »Der Handarbeitsunterricht bildet die Kräfte des Gemüts und des Verstandes, erzieht zur Pünktlichkeit, Sorgfalt, Ausdauer, Zuverlässigkeit, Ordnungsliebe und Hilfsbereitschaft, leitet zu selbständigem Arbeiten und Gestalten an und weckt so schöpferische Kräfte.«[23]
- »Die Möglichkeiten, den Unterricht fächerübergreifend zum Beispiel zur Hauswirtschaft, zu den Naturwissenschaften, zur Wirtschafts- und Gemeinschaftskunde zu erteilen, sind sorgfältig zu nutzen.«[24]
- »Im soziologischen Bereich muß der junge Mensch verstehen lernen, daß sich das wirtschaftliche Handeln im Haushalt deutlich von dem auf Gewinn ausgerichteten Tun in der Erwerbswirtschaft unterscheidet. Sein Wert wird ausschließlich von der Bedeutung für das Familienleben bestimmt.«[25]
- »Ein besonderer Vorzug des Hauswirtschaftsunterrichts liegt darin, daß er die Erfahrungsgrundlage und den konkreten Ausgangspunkt für wirtschaftliche, technische und ernährungsphysiologische Überlegungen bietet.«[26]
- »Einsichten in die Wechselbeziehung innerhalb der Marktwirtschaft sollen die Schülerin erkennen lassen, daß ein verantwortungsbewußtes Konsumverhalten zu persönlichem Wohlergehen beiträgt und überdies die Entwicklung der gesamten Volkswirtschaft positiv beeinflußt.«[27]
Aus diesen Zitaten geht hervor, daß der Unterricht in Hauswirtschaft in der Realschule ebenso wie in der Hauptschule eine ideologische Funktion erfüllt, im Gefolge des Hauswirtschaftstheoretikers Erich Egner den privaten Haushalt »zur entscheidenden Grundlage alles Wirtschafts- und Soziallebens« zu machen, in denen die »haushälterische Vernunft« Produktion und Konsum zu lenken habe.
»Die im privaten Haushalt zu fällenden Sachentscheidungen, aber auch eine bewußte Erziehung tragen zu wirtschaftlich sinnvollem Planen und Handeln der Haushaltsmitglieder bei, mögen sie erwachsen oder noch jugendlich sein, einer Erwerbstätigkeit nachgehen oder im eigenen Haushalt arbeiten.«[28]
Es sollen die Schülerinnen davon überzeugt werden, daß es eine durchgängige wirtschaftliche Rationalität in der Volkswirtschaft gibt, von der Warenherstellung über die Befriedigung von Bedürfnissen bis zum Verbrauch im privaten Haushalt, zu der die Frauen durch sparsames Wirtschaften im eigenen Haushalt beitragen sollen.
Durch einen solchen Unterricht wird der Eindruck einer Harmonie von Produktion, Verteilung und privatem Verbrauch erweckt, die gar nicht besteht und auch nie bestanden hat. Der Hauswirtschaftsunterricht leistet also nicht das, was er vorgibt zu tun, nämlich eine Hinführung zur wirtschaftlichen Realität, die seit eh und je gekennzeichnet ist durch Disproportionalitäten von Produktion und Verbrauch, Absatzkrisen, Preissteigerungen, durch künstliche Veralterung von Konsumgütern. Die verharmlosende Darstellung der Wirtschaft, die unter einem ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Niveau sich hält, läßt sich aus den Stoffplänen entnehmen, die eher eine Apotheose des Familienhaushalts als realistische Beschreibungen der Wirklichkeit sind.
Aufgrund der Stoffpläne von »Handarbeit« ist zu bezweifeln, daß der Unterricht das angestrebte Ziel, »das Erwecken schöpferischer Kräfte«, leisten kann, wenn weder eine kunsthistorische noch eine ästhetische Aufklärung darüber gegeben wird, in welchem Zusammenhang die textilen Techniken, Formen, Muster, Farben mit den jeweiligen Wirtschafts- und Kulturstufen standen, um danach zu einer für das industrielle Zeitalter adäquaten Form- und Farbengebung zu kommen. Die Trennung des Handarbeitsunterrichts von Kunsterziehung wirft ihn auf das Einüben von Handfertigkeiten und Verhaltensweisen zurück. Da die Mädchen auch in der Realschule vom Werken ausgeschlossen sind, lernen sie noch nicht einmal wie die Jungen, sich mit den verschiedenen Materialien auseinanderzusetzen, wie es z. B. in den Lehrplänen für Schleswig-Holstein für die Schüler gefordert wird:
»Das Werken soll den Schüler zu Einsichten in elementare Zusammenhänge körperhaft-räumlicher Gestaltung und funktional-konstruktiver Ordnungen führen. Dies geschieht durch tätige Auseinandersetzung mit geeigneten Werkstoffen und Werkverfahren sowie durch selbständige Lösung von Problemen...«[29]
Die Situation an den Realschulen erweist sich somit für die Mädchen nicht günstiger als an den Hauptschulen.