Die Situation der ungelernten Arbeiterinnen an den Berufsschulen läßt sich nicht nur von den Lehrplänen und von der Beurteilung der Direktoren her erfassen. Um zu ermessen, wie notwendig eine Umstrukturierung der Schulorganisation und der Lehrpläne ist, wenn den Arbeiterinnen geholfen werden soll, sich der Automatisierung der Arbeitsprozesse besser anzupassen, muß vor allem erkannt werden, wie sie sich auf die verschiedenen Industrien und Dienstleistungsbereiche verteilen und wie groß die Zahl ist im Verhältnis zu den weiblichen Lehr- und Anlernlingen an den Berufsschulen der Bundesrepublik:
- a) Die Anzahl der Berufsschüler in der BRD und Berlin betrug 1967 780 205[1]; davon waren
994 587 Jungen (55,8%)
785 618 Mädchen (44,2%).
Von diesen waren ungelernte jugendliche Arbeiter (in fremden Betrieben) sowie im elterlichen Familienhaushalt lebende Mädchen ohne Beruf und »Arbeitslose«
67 032 (6,7%) männliche Jugendliche
und
163 854 (20,9%) weibliche Jugendliche. - b) Die Anzahl der Lehrlinge in den kaufmännischen und gewerblichen Lehrberufen in der BRD (einschl. Berlin) betrug 1968 734 445[2]; davon waren
425 506 (58,0%)) männlich
und
308 939 (42,0%)) weiblich.Die Anzahl der Anlernlinge betrug 35 109[3]; davon waren
3 577 (10,0%) männlich
und - 31 532 (90,0%) weiblich
- c) Die Mädchen, die eine Berufsschule besuchen, konzentrieren sich auf wenige Berufe. Bei den kaufmännischen Lehrberufen konzentrieren sich 79% der 288 2174 Mädchen auf 5 der 33 Lehrberufe; nämlich auf
Industriekaufmann 38 832
Kaufmann in Groß- und Außenhandel 29 729
Verkäuferin 29 955
Einzelhandelskaufmann 104 327
Bürokaufmann 25 523
In den kaufmännischen Anlernberufen konzentrieren sich 88,4% der 18 751 Mädchen auf einen der 4 Anlernberufe, nämlich auf die Bürogehilfin (16 595)[5]
Bei den gewerblichen Lehrberufen konzentrieren sich 82% der 20 722 Mädchen auf 4 der 273 Lehrberufe, nämlich auf
Technischer Zeichner 4 597
Bauzeichner 3 686
Chemielaborant 2 608
Damenschneider 6 021
Bei den gewerblichen Anlernberufen konzentrieren sich 83%) der 12 781 Mädchen auf das Bekleidungsgewerbe. In den kaufmännischen und gewerblichen Lehr- und Anlernberufen konzentrieren sich
- die weiblichen Lehrlinge zu 80% auf nur 9 Lehrberufe und sogar zu 90% auf den Anlernberuf Bürogehilfin und auf Anlernberufe im Bekleidungsgewerbe.
Der Anteil der Jungangestellten an den Schülern der kaufmännischen Berufsschulen betrug 1967 im Bundesdurchschnitt 0,5% der männlichen und 4,7% der weiblichen Schüler.
Differenziert man nach Bundesländern (einschl. Berlin), so ergeben sich starke Unterschiede. Während in Schleswig-Holstein, Hamburg, Baden-Württemberg und Saarland der Anteil der weiblichen Jungangestellten nur /% der Berufsschülerinnen ausmacht, liegt er in Niedersachsen und Bayern bei 2,6 bzw. 2,0%, in Bremen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz bei ca. 4%. In Berlin nimmt er mit 5,s% und in Hessen mit 7,5% die höchsten Werte ein.
- d) Die 143 991 ungelernten, berufsschulpflichtigen Arbeiterinnen (in fremden Betrieben) verteilen sich auf
die Landwirtschaft mit 3 860 ( 2,7%)[7]
die Hauswirtschaft mit 56 797 (39,5[)
die sonstigen Arbeitsbereiche mit 83 334 (57,8%))
Differenziert man nach Bundesländern, so ergibt sich, daß in Schleswig-Holstein und Niedersachsen 2/3 bis 1/4 der ungelernten Arbeiterinnen in der Hauswirtschaft, in Hamburg und Berlin 68 bis 1j% der ungelernten Arbeiterinnen allein in der Industrie beschäftigt sind.
Untersucht man weiterhin den Anteil dieser ungelernten Arbeiterinnen an der Gesamtzahl der Berufsschüler in der Hauswirtschaft und den gewerblichen Arbeitsbereichen, so ergibt sich, daß in Bayern, Baden-Württemberg, Hamburg und Schleswig-Holstein 90% bis 95% der im hauswirtschaftlichen Bereich tätigen Berufsschülerinnen ungelernte Arbeiterinnen sind; in Bremen, Nordrhein-Westfalen und Hessen sowie dem Saarland dieser Prozentsatz immerhin bei 8o% bis 86% liegt und in Berlin und Rheinland-Pfalz mit 52,5% und 70% am niedrigsten liegt, aber immer noch mehr als die Hälfte ausmacht. Im gewerblichen Bereich zeigt sich, daß der Prozentsatz der darin beschäftigten ungelernten Arbeiterinnen, bezogen auf die Berufsschülerinnen in Schleswig-Holstein und Bremen nur 24,6 bzw. 37,0% beträgt, in den meisten Bundesländern (Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Bayern, Saarland) 45 % erreicht, um in Baden-Württemberg, Berlin, Rheinland-Pfalz auf über 55% bzw. 60%, bzw. 64% anzusteigen.
Neben dem traditionell hohen Anteil (85%) der Ungelernten in der Hauswirtschaft gibt es also auch einen großen Prozentsatz (49%) im gewerblichen Bereich. Wenn man den Anteil der ungelernten Berufsschülerinnen in bezug setzt zu allen weiblichen Lehrlingen und Anlernlingen, erhält man den überall zitierten Prozentsatz von 20,9%, der jedoch die Massierung der Ungelernten im hauswirtschaftlichen und gewerblichen Bereich verschleiert.
Während sich unter den männlichen Berufsschülern nur 6,7% ungelernte Arbeiter befinden, beträgt der entsprechende Prozentsatz bei den Berufsschülerinnen eben diese 20,9%. Dieser eklatante Unterschied zeigt schon, daß sich bei den ungelernten Arbeiterinnen eine große Begabungsreserve befinden muß. Die Hinwendung zu einer ungelernten Tätigkeit wird verursacht durch das häusliche Milieu, durch die traditionelle Vorstellung von dem Leben der Frau, von dem Wunsch der Eltern, daß ihre Töchter bis zur Heirat Geld verdienen sollen und von den wenigen Erwerbstätigkeiten, in die die Mädchen durch Konvention und Arbeitsangebote hineingedrängt werden. Auch die Zahl der Sonderschülerinnen unter den Arbeiterinnen widerspricht dieser These nicht, da ein großer Teil dieser Mädchen milieugeschädigt und nicht unintelligent sein dürfte. Diese Auffassung wird bestätigt durch eine Untersuchung in Bremen aus dem Jahre 1966. Die Einstufung der Sonderschülerinnen als minderbegabt folgt aus einem unkritischen Intelligenzbegriff und aus den falschen Maßstäben, nach denen Intelligenz gemessen wird. An den gewerblich-hauswirtschaftlichen Berufsschulen werden diese Sonderschülerinnen meistens in gesonderten Klassen unterrichtet. Diese Benachteiligung wird allerdings dadurch gemildert, daß sie von besonders ausgebildeten Lehrkräften intensiver, länger und in kleineren Klassen unterrichtet werden. Wie die vorhergehende Statistik zeigt, kommen die ungelernten Arbeiterinnen zu ca. 58% aus dem gewerblichen, zu 40% aus dem hauswirtschaftlichen Bereich. Gemeinsame Unterrichtung von hauswirtschaftlichen und gewerblichen Hilfskräften ist aber zumindest für die industriellen Ballungszentren nicht zu rechtfertigen. In fast allen Bundesländern aber werden diese ungelernten Arbeiterinnen an hauswirtschaftlichen Berufsschulen eingeschult. Es werden meistens noch nicht einmal Fachklassen gebildet, obwohl die Anzahl der Jungarbeiterinnen genau so groß ist wie die Zahl der weiblichen Lehrlinge und die Lehrlinge in der Industrie sich auf nur 4 Berufe konzentrieren. Es ist unwahrscheinlich, daß namentlich in den Großstädten die Streuung über die gesamte gewerbliche Wirtschaft so groß ist, daß keine Fachklassen gebildet werden könnten. Wenn es z. B. in Berlin möglich ist, wo es nur 3312 Jungarbeiterinnen gibt, müßte es auch anderswo einzurichten sein, denn in Nordrhein-Westfalen gibt es 42 284, in Bayern 24 345, in Baden-Württemberg 21 007 und in Hessen 10 147 ungelernte Arbeiterinnen.
Diese Zahlen zeigen, daß selbst in Flächenstaaten bei besserer Organisation Industrieklassen gebildet werden könnten. In den Landgemeinden und kleinen Städten, in denen der Prozentsatz der Jungarbeiterinnen relativ klein ist, müßte es aber möglich sein, sie in den entsprechenden Lehrlings- oder Anlernklassen unterzubringen, wie es z. B. bei Jungangestellten im Saarland praktiziert wird. Bei dieser unterschiedlichen Behandlung mag ein Statusdenken mitspielen. Auch ungelernte Angestellte sind Angestellte; meistens üben sie Spezialtätigkeiten aus. Zwar wurden in einigen Städten Versuche gemacht, Jungarbeiterinnen in die entsprechenden Lehrlings- und Anlernklassen einzuschulen, aber die Schulverwaltungen und Direktorinnen halten sie für mißlungen, wie an anderer Stelle der Arbeit bereits ausgeführt. Um eine Erklärung dafür zu finden, müßte die Verteilung von Lehrlingen und ungelernten Arbeiterinnen in den einzelnen Klassen bekannt sein. Es gibt wahrscheinlich eine optimale Verteilung; der Anteil der Jungarbeiterinnen in den Lehrlingsklassen müßte zweifellos kleiner sein als die der Lehrlinge. Auch wäre eine Aufteilung nach Intelligenzleistungen notwendig. Bei einem gemeinsamen Unterricht müßte es möglich sein, die Leistungsstimulierung, die von der abzulegenden Prüfung für Lehrlinge ausgeht, auch für ungelernte Arbeiterinnen wirksam zu machen, indem ihnen die Vorteile eines Anlernberufs am Lehrstoff und an den Aufstiegsmöglichkeiten bewußt gemacht werden.
Diese Stimulierung ist an hauswirtschaftlichen Schulen nicht möglich, auch nicht, wenn Berufsfachschulen und Berufsaufbauschulen in einem Gebäudekomplex untergebracht sind. Das Lehrerinnen-Kollegium ist einseitig auf die Fächer des »Familienhauswesens« ausgerichtet, mit Ausnahme der Gewerbelehrerinnen, die Deutsch, Wirtschafts- und Sozialkunde und Rechnen unterrichten. Alle haben zum Industriebetrieb keine Beziehung, sie kennen ihn meistens nur von einem Praktikum her. Die Tätigkeiten der angelernten Arbeiterinnen kennen sie kaum, wie die Direktorinnen bestätigen. Die soziologischen Untersuchungen über die ungelernten Jungarbeiterinnen kennen sie nicht mit Ausnahme derjenigen, die in den Städten Hamburg und Köln unterrichten, wo die beiden letzten gemacht wurden.[9]
Carola Möller stellte in ihrer Arbeit fest, daß 86% der Arbeitsvollzüge der ungelernten Jungarbeiterinnen »eine stets gleichbleibende Zahl von ganz wenigen, gleichbleibenden Arbeitsgriffen innerhalb eines äußerst beschränkten Bewegungsradius« umfassen.[10]
Durch arbeitswissenschaftliche und psychologische Untersuchungen ist erwiesen, daß solche Arbeitshandlungen sowohl unökonomisch sind als auch auf die Leistungsintensität der Arbeitenden eine nachteilige Wirkung ausüben. Es stellt sich eine schnelle Ermüdbarkeit ein sowie Langeweile und Monotonieempfindlichkeit.[11] Der soziale Handlungsspielraum ist bei diesen Arbeiten eingeschränkt. Sie verlangen Fingerfertigkeit, Handgeschicklichkeit und Griffsicherheit, die als Basisfertigkeiten von den Jungarbeiterinnen verlangt werden. Um sie sich anzueignen, brauchen die Jugendlichen nicht viel Zeit, es genügen dazu einige Stunden, höchstens ein paar Tage. Länger dauert es, bis sie das durchschnittliche Arbeitstempo erreicht und den für sie zuträglichen Arbeitsrhythmus gefunden haben.[12] Arbeitsvollzüge an Maschinen, die Werkzeugcharakter haben, erfordern meistens nur wenige regelmäßig wiederkehrende Handgriffe. Wenn die Maschine Arbeitstakt und Tempo bestimmt, braucht ihr nur irgendein Material zugeführt werden, das von ihr dann bearbeitet wird. In diesen beiden Gruppen von Zuarbeiten werden meistens jugendliche Arbeiterinnen beschäftigt. »Diese Arbeitsvollzüge verlangen weder technisches Wissen, noch technisches Können, noch technische Intelligenz, noch ein spezifisch technisches Verhalten..., welches über das Maß des Alltäglichen hinausgeht.«[13]
Schon diese wenigen Charakterisierungen genügen, um den Unterricht in den Berufsschulen beurteilen zu können. In der technischen Grundlehre lernen die Jugendlichen nichts, was sie im Betrieb gebrauchen können. Die Arbeitsvollzüge sind so simpel, daß hier von einem Lernen nicht gesprochen werden kann. Es sind nur Habitualisierungen notwendig, die sich sehr schnell einstellen. Sie in der Schule an Hausarbeit zu üben ist sinnlos, einmal, weil die Jugendlichen sie schon beherrschen, dann weil Ha-bitualisierung kein Lernvorgang ist. Die elementaren technischen Kenntnisse, die sie in der Anwendung von Haushaltsgeräten erwerben können, helfen ihnen im Betrieb nicht, selbst wenn sie kompliziertere sich aneignen sollten, z. B. beim Auseinandermontieren und Wieder-Zusammensetzen von Haushaltsgeräten können diese technischen Kenntnisse im Betrieb nicht verwendet werden. Wartung und Reparatur der Maschinen obliegt besonderen Reparaturkolonnen. Materialkenntnisse können auch nicht verwendet werden, da die Arbeiterinnen mit immer demselben Material in einer gleichen Beschaffenheit und Qualität zu tun haben. Seine Beurteilung gehört nicht zu ihren Aufgaben. Die Berufsschule lehrt, ob nach den neuen oder nach den alten Lehrplänen, immer an der Betriebs- und Arbeitssituation vorbei. Das von ihnen erzeugte Klima ist antiindustriell, was auf den Unterricht in der Hauptschule nicht mehr zutrifft, sei die Arbeitslehre auch noch so dilettantisch angelegt. Was hier angestrebt wird, kontrastiert aber stark mit dem Deutschunterricht und den dort verwandten Lesebüchern. Maschine und Technik werden darin mystifiziert und dämonisiert. Dieser Mystifikation und Dämonisierung werden die Jungen weniger erliegen als die Mädchen, weil ihre Erziehung in der Familie und in der Schule sie auf einen nichttechnisch bestimmten Arbeitsumkreis verweist. Ein methodisch und didaktisch falsch angelegter technischer Unterricht und der individuelle Familienhaushalt als Mittelpunkt im Berufsschultag verfehlen ihr Ziel.
Eine Reform müßte ausgehen von einem genauen Studium der Arbeits- und sozialen Situation der Jungarbeiterin im Betrieb. Es müssen also Curricula geschaffen werden mit einem komplexen Inhalt von arbeitssoziologischen, betriebssoziologischen, psychologischen und technischen Erkenntnissen. Dazu gehört ein interdisziplinäres Team, wie es bisher von den Kultusministerien nicht zusammengerufen worden ist.
Nur mit einem völlig revidierten Unterricht könnte die Jungarbeiterin in die automatisierten Prozesse eingeführt werden.