Der Kampf der Frau um die Bildung

1. Die Revolution im häuslichen Leben

Obgleich die gekennzeichnete Entwicklung in der Stellung der Frau mit Händen zu greifen ist, jeder sie sehen muß, der offene Augen hat, hört man noch täglich das Geschwätz vom »Naturberuf« der Frau, der sie auf Häuslichkeit und Familie hinweise. Diese Redeweise wird am lautesten dort gehört, wo die Frau den Versuch macht, in den Kreis der höheren Berufsarten einzudringen, zum Beispiel in die höheren Lehr- und Verwaltungsfächer, den ärztlichen und juristischen Beruf, die Naturwissenschaften usw. Die lächerlichsten Einwendungen werden hervorgesucht und unter dem Scheine der Gelehrsamkeit verteidigt. Als gelehrt geltende Herren berufen sich hier, wie in vielen anderen Dingen, auf die Wissenschaft, um das Absurdeste und Widersinnigste zu verteidigen. Ihr Haupttrumpf ist, die Frau sei an geistiger Befähigung dem Mann inferior, sie könne auf geistigem Gebiet nichts Bemerkenswertes leisten.
Diese Einwände entsprechen so sehr dem Vorurteil der meisten Männer über Beruf und Fähigkeiten der Frau, daß, wer sie erhebt, auf ihren Beifall rechnen kann. Neue Ideen werden, solange allgemeine Bildung und Einsicht noch so tief stehen wie heute, stets harten Widerspruch finden, namentlich wenn es im Interesse der herrschenden Klassen liegt, Einsicht und Bildung möglichst auf ihre Schicht zu beschränken. Daher werden neue Ideen anfangs nur eine kleine Minderheit für sich gewinnen, und diese wird in der Regel verspottet, verlästert und auch verfolgt. Sind aber die neuen Ideen gute und vernünftige, sind sie als notwendige Konsequenz aus den bestehenden Zuständen erwachsen, so werden sie an Verbreitung gewinnen, die Minderheit wird schließlich Mehrheit. So erging es bisher allen neuen Ideen im Laufe der Geschichte, und die Idee, die wirkliche und volle Emanzipation der Frau herbeizuführen, wird den gleichen Erfolg haben. Waren einst nicht auch die Bekenner des Christentums eine kleine Minderheit? Hatten nicht die Reformatoren, das moderne Bürgertum übermächtige Gegner? Trotzdem haben sie gesiegt. Oder wurde die Sozialdemokratie vernichtet, weil sie im Deutschen Reiche zwölf Jahre ausnahmegesetzlich geknebelt wurde? Nie war ihr Sieg gewisser, als da man glaubte, sie tot gemacht zu haben. Die Berufung auf den Naturberuf der Frau, wonach sie Haushälterin und Kinderwärterin sein soll, ist ebenso sinnreich als die Berufung darauf, daß es ewig Könige geben müsse, weil, solange es eine Geschichte gebe, es irgendwo solche gab. Wir wissen nicht, wo der erste König entstand, sowenig wie wir wissen, wo der erste Kapitalist sich zeigte, aber wir wissen und sehen, daß sich das Königtum im Laufe der Jahrtausende wesentlich verändert hat und die Tendenz der Entwicklung ist, es mehr und mehr seiner Macht zu entkleiden, bis eine Zeit kommt, und sie ist nicht mehr fern, in der es überflüssig ist. Wie das Königtum, so ist jede staatliche und gesellschaftliche Institution beständigen Wandlungen und Umformungen und schließlich dem Untergang unterworfen. Wir sahen in den historischen Darlegungen dieser Schrift, daß die heute geltende Form der Ehe und die Stellung der Frau keineswegs »ewig« so war wie heute, daß vielmehr beide das Produkt eines geschichtlichen Entwicklungsganges sind, der keineswegs seinen Abschluß gefunden hat. Konnte es vor ca. 2350 Jahren Demosthenes als den einzigen Beruf der Frau hinstellen, »legitime Kinder zu gebären und treue Hüterin des Hauses zu sein«, so ist heute dieser Standpunkt überwunden. Wer wagte heute solches als »naturgemäß« zu verteidigen, ohne sich den Vorwurf der Geringschätzung der Frau zuzuziehen? Allerdings gibt es auch noch heute solche Käuze, die im stillen die Auffassung des alten Atheners teilen, aber keiner wagt öffentlich auszusprechen, was vor Jahrtausenden einer der bedeutendsten Männer Griechenlands frei und offen als selbstverständlich erklären durfte. Darin liegt der Fortschritt. Hat nun die moderne Entwicklung Millionen Ehen untergraben, so hat Ehe günstig beeinflußt. sie auch andererseits wieder die Entwicklung der Vor wenigen Jahrzehnten galt es in jedem Bürger- und Bauernhaus nicht nur als selbstverständlich, daß die Frau nähte, strickte und wusch, obgleich auch das schon vielfach aus der Mode gekommen ist, sie buk auch das Brot, spann, webte, bleichte, braute Bier, kochte Seife, zog Lichte. Außerhalb des Hauses ein Kleidungsstück anfertigen zu lassen wurde als maßlose Verschwendung angesehen. Wasserleitung, Gasbeleuchtung, Gasoder Petroleumkocher usw. - von der Elektrizität zu schweigen - nebst einer Unzahl anderer, heute in Haus und Küche vorhandenen Einrichtungen waren unbekannte Dinge. Allerdings bestehen auch noch heute veraltete Zustände, aber sie sind Ausnahmen. Die Mehrzahl der Frauen unterläßt viele früher als selbstverständlich angesehene Verrichtungen, weil sie durch die Industrie besser, praktischer und billiger besorgt werden, als es die Hausfrau vermag, weshalb auch, wenigstens in den Städten, jede häusliche Einrichtung dazu fehlt. So hat in wenigen Jahrzehnten sich innerhalb unseres Familienlebens eine große Revolution vollzogen, der wir nur so wenig Beachtung schenken, weil wir sie für selbstverständlich halten. Veränderungen, die dem Menschen sozusagen unter den Augen hervorwachsen, beachtet er nicht, wenn sie nicht plötzlich vor ihn treten und die gewohnte Ordnung stören, aber gegen neue Meinungen, die ihn aus dem gewohnten Schlendrian zu reißen drohen, lehnt er sich auf. Diese Revolution, die sich in unserem häuslichen Leben vollzog und immer weiter vorschreitet, hat die Stellung der Frau in der Familie auch nach anderer Richtung wesentlich verändert. Die Frau ist freier, unabhängiger geworden. Unsere Großmütter durften, waren sie ehrsame Meistersfrauen, nicht daran denken und dachten nicht daran, zum Beispiel Arbeiter und Lehrburschen fern vom Haushalt und vom Tische zu halten, dafür aber Theater, Konzerte und Vergnügungslokale, sogar an einem Wochentage, zu besuchen. Und welche von jenen guten, alten Frauen wagte daran zu denken, sich um öffentliche Angelegenheiten zu bekümmern, wie das bereits von vielen Frauen geschieht. Man gründet Vereine für die verschiedensten Zwecke, hält und gründet Zeitungen, beruft Kongresse. Als Arbeiterinnen treten sie in Gewerkschaften zusammen, sie kommen in die Versammlungen und Vereine der Männer und besaßen bereits hier und da wir reden jetzt von Deutschland - das Recht, zu Gewerbeschiedsgerichten wählen zu dürfen, ein Recht, das ihnen die rückständige Reichstagsmehrheit im Jahre des Heils Eintausendachthundertneunzig wieder aberkannte. Welcher Zopf wollte die geschilderten Veränderungen beseitigen, obgleich sich nicht bestreiten läßt, daß neben den Licht- auch Schattenseiten vorhanden sind, die mit unseren gärenden und faulenden Zuständen zusammenhängen - aber es überwiegen die Lichtseiten. Die Frauen selbst, so konservativ sie bis jetzt im ganzen sind, besitzen auch gar keine Neigung mehr, in die alten, engen, patriarchalischen Verhältnisse früherer Zeit zurückzukehren. In den Vereinigten Staaten steht die Gesellschaft zwar auch auf bürgerlichem Boden, aber sie hat sich weder mit alten europäischen Vorurteilen noch überlebten Einrichtungen herumzuschlagen und ist daher weit geeigneter, neue Ideen und Einrichtungen anzunehmen, wenn sie Vorteil versprechen. Dort sieht man seit geraumer Zeit die Stellung der Frau anders an als bei uns. Dort ist man zum Beispiel in besser situierten Kreisen schon längst auf den Gedanken gekommen, daß es nicht bloß mühselig und umständlich und für den Geldbeutel nicht einmal vorteilhaft ist, wenn die Frau noch selber Brot bäckt und Bier braut, man hält es auch für überflüssig, daß sie in der eigenen Küche kocht. Die mit allen möglichen Maschinen und zweckmäßigen Hilfsmitteln eingerichtete Zentralküche der Speisegenossenschaft hat die Privatküche ersetzt; die Frauen der Genossenschaft versehen abwechselnd den Dienst, und das Essen wird billiger und wohlschmeckender hergestellt, es bietet mehr Abwechslung, und seine Herstellung verursacht bedeutend weniger Mühe. Unsere Offiziere, die keine Sozialisten und Kommunisten sind, machen es ähnlich; sie bilden in ihren Kasinos eine Wirtschaftsgenossenschaft, ernennen einen Verwalter, der den Einkauf der Lebensmittel im großen besorgt, der Speisezettel wird vereinbart und die Fertigstellung der Speisen in der Dampfküche der Kaserne bewerkstelligt. Sie leben weit billiger als im Hotel und haben ein mindestens ebenso gutes Essen. Wie bekannt, leben auch Tausende der reichsten Familien das ganze Jahr oder Teile des Jahres hindurch in Pensionen und Hotels, ohne daß sie die häusliche Küche vermissen; sie halten es für eine große Annehmlichkeit, von der Privatküche befreit zu sein. Die ablehnende Haltung namentlich wohlhabender und reicher Frauen gegen die Beschäftigung in oder mit der Küche spricht auch nicht dafür, daß diese Tätigkeit zum »Naturberuf« der Frau gehört, ja, die Tatsache, daß fürstliche und vornehme Familien, wie die größeren Hotels, sämtlich Köche zur Herstellung der Speisen engagieren, könnte sogar dafür sprechen, daß Kochen eine männliche Beschäftigung ist. Das denen zur gefälligen Beachtung, die sich die Frau nicht ohne schwingenden Kochlöffel vorstellen können. Nun liegt nichts näher, als mit der Zentralküche die Zentralwaschanstalt und entsprechende Trockenvorrichtungen - wie solche bereits in allen größeren Städten von reichen Privaten oder Spekulanten errichtet sind und sich vortrefflich bewähren - für den allgemeinen Gebrauch einzurichten, ferner mit der Zentralküche die Zentralfeuerung neben der Kaltwasser- die Warmwasserleitung einzurichten, und eine Menge lästiger und zeitraubender Arbeiten sind beseitigt. Große Hotels, viele Privathäuser, Krankenhäuser, Schulen, Kasernen, öffentliche Gebäude aller Art usw. haben diese und ähnliche Einrichtungen - elektrisches Licht, Badeeinrichtungen usw. -, der Fehler ist, daß es nur öffentliche Anstalten und die wohlhabenden Klassen sind, die diese Vorteile genießen, die, allen zugänglich gemacht, ein enormes Maß von Zeit, Mühe, Arbeitskraft und Material ersparen und die Lebenshaltung und das Wohlsein aller erheblich steigern würden. Im Sommer 1890 brachten die Zeitungen eine Beschreibung der Fortschritte, die in den Vereinigten Staaten betreffs der zentralen Beheizung und Luftversorgung im Werke waren. Darin hieß es unter anderem: »Die in neuerer Zeit hauptsächlich in Nordamerika angestellten Versuche, die Beheizung ganzer Häuserviertel oder Stadtteile von einer Stelle aus zu bewirken, haben nicht unbeträchtliche Erfolge zu verzeichnen und sind in konstruktiver Beziehung so sorgfältig und zweckmäßig durchgeführt, daß in Anbetracht der günstigen Erfahrungen und der gebotenen finanziellen Vorteile eine weitere Verbreitung erwartet werden darf. Neuerdings ist man noch weiter bemüht, nicht allein die Beheizung, sondern auch die Versorgung mit frischer Luft, sei es in erwärmtem, sei es in abgekühlten Zustande, für einzelne räumlich nicht allzuweit ausgedehnte Stadtteile von Zentralstellen aus zu bewirken.« Was damals projektiert wurde, ist heute vielfach und verbessert verwirklicht. Die spießbürgerliche Engherzigkeit und Beschränktheit zuckt gern bei uns die Achsel über solche und ähnliche Pläne, obgleich wir uns auch in Deutschland in jener technischen Revolution befinden, welche die Privatküche und andere bisher in der Häuslichkeit vorgenommenen Verrichtungen geradeso überflüssig erscheinen lassen, wie es der handwerksmäßige Betrieb durch die Maschine und die moderne Technik geworden ist. Zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts erklärte selbst ein Napoleon die Idee, ein Schiff durch Dampf in Bewegung zu setzen, für die Idee eines Verrückten; die Idee, eine Eisenbahn zu bauen, wurde von für klug geltenden Leuten als eine Albernheit erklärt, kein Mensch könne auf solch einem Fahrzeug am Leben bleiben, weil die Raschheit des Fahrens dem Passagier den Atem benehme, und so werden noch heute eine Menge neuer Ideen ähnlich behandelt. Wer unseren Frauen vor hundert Jahren den Vorschlag gemacht hätte, das Wasserholen durch eine Wasserleitung abzunehmen, wäre der Anklage ausgesetzt gewesen, er wolle Frauen und Dienstboten zur Faulheit verleiten. Aber die große technische Revolution ist auf allen Gebieten in vollem Marsche, nichts hält sie mehr auf, und die bürgerliche Gesellschaft hat die geschichtliche Aufgabe, diese Revolution, wie sie dieselbe ins Leben rief, auch ihrem Höhepunkt entgegenzutreiben und auf allen Gebieten die Keime zu Umgestaltungen ans Licht zu fördern, die eine auf neuer Grundlage stehende Gesellschaft nur ins Große und Allgemeine zu entwickeln und zum Gemeingut aller zu machen hat. Die Entwicklung unseres sozialen Lebens geht also nicht dahin, die Frau wieder ins Haus und an den Herd zu bannen, wie unsere Häuslichkeitsfanatiker wollen und wonach sie, wie die Juden in der Wüste nach den verlorenen Fleischtöpfen Ägyptens, schreien, sondern sie fordert das Heraustreten der Frau aus dem engen Kreise der Häuslichkeit und ihre volle Teilnahme am öffentlichen Leben - zu dem man alsdann die Männer nicht mehr allein zählen wird - und an den Kulturaufgaben der Menschheit. Laveleye hat recht, wenn er schreibt: »In dem Maße, in welchem das, was wir Zivilisation zu bezeichnen pflegen, zunimmt, schwächen sich die Gefühle der Pietät und die Bande der Familie ab und üben weniger Einfluß auf die Handlungen der Menschen aus. Diese Tatsache ist so allgemein, daß man in derselben ein soziales Entwicklungsgesetz erblicken kann.«[44] Nicht allein ist die Stellung der Frau eine andere geworden, sondern auch die Stellung von Sohn und Tochter zur Familie, die allmählich eine Selbständigkeit erlangt haben, die früher unbekannt war, namentlich in den Vereinigten Staaten, in welchen die Erziehung zur Selbständigkeit und Unabhängigkeit des einzelnen in weit höherem Grade als bei uns stattfindet. Die Schattenseiten, die auch heute diese Form der Entwicklung besitzt, sind nicht notwendig mit ihr verbunden, sie liegen in den sozialen Zuständen unserer Zeit. Die bürgerliche Gesellschaft ruft keine neue erfreuliche Erscheinung hervor, die nicht auch ihre dunkle Seite hat, sie ist in allen ihren Fortschritten, wie schon Fourier sehr scharfsinnig hervorhob, doppelseitig und zwieschlächtig. Wie Laveleye erkennt auch Dr. Schäffle den veränderten Charakter der Familie unserer Zeit als Wirkung der sozialen Entwicklung an. Er sagt: »Durch die Geschichte zieht sich allerdings die unter II. erörterte Tendenz, die Zurückbildung der Familie auf ihre spezifischen Funktionen, hindurch. Die Familie gibt eine provisorisch und stellvertretend gehandhabte Funktion um die andere ab, sie weicht, soweit sie bloß surrogativ in die Lücke sozialer Funktionen eingetreten war, den selbständigen Anstalten für Recht, Ordnung, Macht, Gottesdienst, Unterricht, Technik usw., sobald sich diese Anstalten ausbilden.«[45]

2. Die geistigen Fähigkeiten der Frau

Die Frauen drängen weiter, wenn zunächst auch nur in einer Minorität und darunter nur ein Teil mit vollkommen klaren Zielen. Sie wollen nicht bloß ihre Kräfte auf dem gewerblichen und industriellen Gebiet mit jenen des Mannes messen, sie wollen nicht nur eine freiere, unabhängigere Stellung in der Familie einnehmen, sie wollen auch ihre geistigen Fähigkeiten in höheren Lebensstellungen und im öffentlichen Leben verwerten. Man macht ihnen mit Vorliebe den Einwand, daß sie dazu nicht fähig, weil von Natur nicht veranlagt seien. Die Frage der höheren Berufstätigkeit geht in der heutigen Gesellschaft nur eine kleine Zahl Frauen an, aber sie ist von prinzipieller Wichtigkeit. Die große Mehrzahl der Männer glaubt allen Ernstes, die Frauen müßten stets ihnen auch geistig untergeordnet bleiben und besäßen kein Recht auf Gleichstellung, und sie sind deshalb die entschiedensten Gegner dieser Bestrebungen. Dieselben Männer, die nichts dagegen einzuwenden haben, daß die Frau in Beschäftigungsarten Stellung findet, von denen viele äußerst anstrengend, oft gefährlich sind, in welchen ihrer Weiblichkeit die höchste Gefahr droht, in denen sie ihre Mutterpflichten in eklatantester Weise verletzt, wollen sie von Berufen ausschließen, in welchen diese Hemmnisse und Gefahren weit weniger vorhanden sind und die ihrer Körperverfassung weit besser zusagen. Namentlich hat die in Deutschland reger gewordene Agitation für die Zulassung von Frauen zum Studium auf den Universitäten eine starke Gegnerschaft auf den Plan getrieben, die sich namentlich gegen ihre Zulassung zum Studium der Medizin wendet. So Pochhammer, Fehling, S. Binder, Hegar usw. v. Bärenbach glaubte namentlich die Befähigung der Frau zur Wissenschaft damit zurückweisen zu können, daß bisher unter den Frauen noch kein Genie erstanden sei und sie offenbar für das philosophische Studium unfähig seien. Hat die Welt genug männliche Philosophen, so kann sie ohne Schaden auf weibliche verzichten. Auch der Einwand, die Frauen hätten noch keine Genies hervorgebracht, ist weder stichhaltig noch beweiskräftig. Genies fallen nicht vom Himmel, sie müssen Gelegenheit zur Ausbildung und Entwicklung haben, und diese hat den Frauen bisher gemangelt, man hat sie Jahrtausende unterdrückt und ihnen Gelegenheit und Möglichkeit zur Ausbildung ihrer geistigen Kräfte genommen oder verkümmert. Sagt man, die Frauen besitzen keine Anlage zum Genie, weil man glaubt, der immerhin leidlich großen Zahl bedeutender Frauen Genie absprechen zu müssen, so ist das ebenso schief, als behauptete man, in der Männerwelt seien nicht mehr Genies vorhanden gewesen, als die man als solche betrachtet. Jeder Dorfschullehrer weiß aber, welche Menge von Fähigkeiten unter seinen Schülern nicht zur vollen Entwicklung kommt, weil die Möglichkeit ihrer Ausbildung fehlt. Ja, jeder einzelne von uns hat im Leben Menschen kennengelernt, von denen er sich sagen muß, daß, wenn sie unter glücklicheren Umständen ihre Fähigkeiten hätten entfalten können, sie Zierden des Gemeinwesens, geniale Menschen geworden wären. Die Zahl der Talente und Genies unter den Männern ist weit größer, als bisher sich offenbaren konnte. Genauso verhält es sich mit den Fähigkeiten des weiblichen Geschlechts, das seit Jahrtausenden noch weit mehr als das männliche geistig unterdrückt, gehemmt und verkrüppelt wurde. Wir haben keinen Maßstab, wonach wir genau beurteilen könnten, welche Fülle von geistigen Kräften und Fähigkeiten sich bei Männern und Frauen entwickeln, sobald diese sich unter naturgemäßen Bedingungen zu entfalten vermögen. Heute ist es in der Menschenwelt wie in der Pflanzenwelt. Millionen kostbarer Samenkeime gelangen nicht zur Entfaltung, weil der Boden, auf den sie fallen, ungünstig ist oder bereits okkupiert wurde und so dem jungen Pflänzlein Luft, Licht und Nahrung geraubt wird. Dieselben Gesetze wie in der Natur gelten im Menschenleben. Wenn ein Gärtner oder Landwirt von einer Pflanze behaupten wollte, dieselbe ließe sich nicht vervollkommnen, obgleich er den Versuch dazu nicht machte, so würde er von jedem seiner aufgeklärteren Nachbarn für einen Einfaltspinsel erklärt. Dasselbe geschähe, wenn er es ablehnte, eines seiner weiblichen Haustiere mit dem männlichen einer vollkommeneren Rasse zu kreuzen, um ein vollkommeneres Tier zu erhalten. Heute gibt es keinen Bauer mehr, der so unwissend ist, nicht die Vorteile einer vernünftigen Behandlungsweise seines Pflanzen- oder Viehbestandes einzusehen - eine andere Frage ist, ob seine Mittel ihm erlauben, die bessere Methode durchzuführen -; nur in der Menschenwelt wollen selbst gelehrte Leute nicht gelten lassen, was von ihnen für die übrige Welt als unumstößliches Gesetz angesehen wird. Und doch kann jeder, ohne Naturforscher zu sein, im Leben seine lehrreichen Beobachtungen machen. Woher kommt es, daß Bauernkinder sich von Stadtkindern unterscheiden? Woher kommt es, daß Kinder der besser situierten Klassen sich in der Regel von Kindern armer Leute in der Gesichts- wie der Körperbildung und in gewissen geistigen Eigenschaften unterscheiden? Es kommt von der Verschiedenartigkeit der Lebens- und Erziehungsbedingungen. Die Einseitigkeit, die in der Ausbildung zu einem bestimmten Beruf liegt, drückt dem Menschen einen besonderen Charakter auf. In den meisten Fällen wird mit Leichtigkeit ein Pfarrer oder ein Schullehrer durch seine Haltung und seinen Gesichtsausdruck erkannt, ebenso ein Militär, auch wenn er im Zivilrock steckt. Ein Schuhmacher wird sehr leicht von einem Schneider, ein Tischler von einem Schlosser unterschieden. Zwei Zwillingsbrüder, die in der Jugend sich sehr ähnlich waren, werden im späteren Alter bedeutende Abweichungen zeigen, wenn die Berufsart eine ganz verschiedene ist, der eine harter Handarbeit, zum Beispiel ein Schmied, der andere dem Studium der Philosophie oblag. Vererbung auf der einen, Anpassung auf der anderen Seite spielen in der menschlichen Entwicklung so gut wie im Tierreich eine entscheidende Rolle, und zwar ist der Mensch das bieg- und schmiegsamste aller Geschöpfe. Oft genügen wenige Jahre einer anderen Lebens- und Berufsweise, um aus einem Menschen einen anderen zu machen. Veränderungen im Äußeren treten nirgends auffallender hervor, als wenn ein Mensch aus ärmlichen und kleinen Verhältnissen in wesentlich bessere -versetzt wird. Seine Vergangenheit wird er vielleicht am wenigsten in seiner Geisteskultur verleugnen; das liegt daran, daß die meisten Menschen über ein gewisses Alter hinaus kein Streben nach geistiger Weiterbildung empfinden und oft auch nicht nötig haben. Ein Emporkömmling hat unter diesem Fehler selten zu leiden. In unserer Zeit, die auf Geld und materielle Mittel sieht, beugt man sich weit bereitwilliger vor dem Manne mit großem Geldbeutel als vor dem Manne von Wissen und großen Geistesgaben, namentlich wenn dieser das Unglück hat, arm zu sein und keinen Rang zu besitzen. Die Anbetung des goldenen Kalbes stand zu keiner Zeit höher als in unseren Tagen. Dafür leben wir »in der besten der Welten«. Das schlagendste Beispiel dafür, was grundverschiedene Lebensbedingungen und Erziehung aus dem Menschen machen, sehen wir in unseren Industriebezirken. Dort bilden schon äußerlich Arbeiter und Unternehmer einen solchen Gegensatz, als gehörten sie zwei verschiedenen Menschenrassen an. In einer fast erschreckenden Weise kam uns dieser Gegensatz anläßlich einer Wahlversammlung vor Augen, die im Winter 1877 in einer erzgebirgischen Industriestadt stattfand. Die Versammlung, in der ein Disput mit einem liberalen Professor stattfinden sollte, war so arrangiert, daß beide Parteien gleich stark vertreten waren. Den vorderen Teil des Saales hatten die Gegner eingenommen, fast ohne Ausnahme gesunde, kräftige, oft große Gestalten, im hinteren Teile des Saales und auf den Galerien standen die Arbeiter und Kleinbürger, zu neun Zehntel Weber, meist kleine, schmalbrüstige, bleichwangige Gestalten, denen Kummer und Not aus dem Gesicht sahen. Die einen repräsentierten die satte Tugend und zahlungsfähige Moral der bürgerlichen Welt, die anderen die arbeitenden Bienen und Lasttiere, aus deren Arbeitsertrag die Herren so wohl aussahen. Man setze eine Generation unter gleich günstige Lebensbedingungen, und der Gegensatz wird bei der Mehrzahl verschwinden, er ist sicher bei ihren Nachkommen getilgt. Im allgemeinen ist es bei den Frauen schwerer, ihre soziale Stellung festzustellen, als bei den Männern, sie finden sich mit großer Leichtigkeit in neue Verhältnisse und nehmen rasch höhere Lebensgewohnheiten an. Ihre Anpassungsfähigkeit ist größer als die des schwerfälligeren Mannes. Was für die Pflanze guter Boden, Licht und Luft, sind für den Menschen gesunde soziale Verhältnisse, die ihm die Entfaltung seiner geistigen und körperlichen Anlagen gestatten. Der bekannte Satz: »Der Mensch ist, was er ißt«, drückt etwas zu einseitig einen ähnlichen Gedanken aus. Es handelt sich nicht bloß um das, was der Mensch ißt, sondern um seine ganze Lebenshaltung, um das soziale Milieu, in dem er sich bewegt, das seine körperliche und geistige Entwicklung hemmt oder fördert, sein Fühlen, sein Denken, sein Handeln in günstigem oder ungünstigem Sinne beeinflußt. Wir sehen jeden Tag, daß Menschen auch in guten materiellen Verhältnissen geistig und moralisch zugrunde gehen, weil außerhalb des engen Rahmens ihrer häuslichen oder persönlichen Verhältnisse ungünstige Einflüsse sozialer Natur auf sie einwirken und so übermächtigen Einfluß auf sie erlangen, daß sie in falsche Bahnen gelenkt werden. Die allgemeinen Zustände, unter denen jemand lebt, sind sogar von weit größerer Bedeutung als die in der Familie. Sind aber die sozialen Entwicklungsbedingungen für beide Geschlechter die gleichen, besteht für keines irgendeine Hemmung und ist der Sozialzustand der Gesellschaft ein gesunder, so erhebt auch die Frau sich auf eine Höhe der Vollkommenheit ihres Wesens, von dem wir noch keine rechte Vorstellung besitzen, weil bisher ein solcher Zustand in der Entwicklungsgeschichte der Menschen fehlte. Was zeitweilig einzelne Frauen leisteten, läßt das Beste erwarten, denn diese ragen über die Masse ihres Geschlechts ebenso bedeutend hervor wie die männlichen Genies über die Masse ihrer Geschlechtsgenossen. Mit dem Maßstab gemessen, mit dem man zum Beispiel Fürsten zu messen pflegt, haben sogar die Frauen durchschnittlich zum Regieren mehr Talent bewiesen als die Männer. Als Beispiele seien erwähnt Isabella und Blanche von Kastillen, Elisabeth von Ungarn, Katharina Sforza, Herzogin von Mailand und Imola, Elisabeth von England, Katharina von Rußland, Maria Theresia usw. Gestützt auf die Tatsache, daß Frauen unter allen Rassen und in allen Teilen der Welt ausgezeichnet regierten, selbst über die wildesten, turbulentesten Horden, veranlaßt Burbach zu der Bemerkung, daß aller Wahrscheinlichkeit nach die Frauen sich besser für die Politik eignen würden als die Männer.[46] Als im Jahre 1901 die Königin Viktoria von England starb, machte ein großes englisches Blatt den Vorschlag, man solle in England ausschließlich die weibliche Thronfolge einführen, da die Geschichte Englands zeige, daß seine weiblichen Könige besser regierten als seine männlichen. Mancher große Mann würde in der Geschichte bedeutend zusammenschrumpfen, wüßte man immer, was er sich selbst, was er anderen zu danken hat. Als eines der größten Genies der Französischen Revolution wird von den deutschen Geschichtsschreibern, zum Beispiel von Sybel, Graf Mirabeau angesehen. Aber die Forschung hat ergeben, daß er die Konzepte fast aller seiner Reden der bereitwilligen Hilfe einiger Gelehrten zu danken hatte, die im stillen für ihn arbeiteten und die er zu benutzen verstand. Auf der anderen Seite verdienen Erscheinungen wie eine Sappho, eine Diotima zur Zeit des Sokrates, eine Hypatia von Alexandrien, eine Madame Roland, Mary Wollstonecraft, Olympe de Gouges, Frau v. Stael, George Sand usw. die größte Hochachtung; neben ihnen erbleicht mancher männliche Stern. Was Frauen als Mütter bedeutender Männer wirkten, ist ebenfalls bekannt. Die Frauen haben geleistet, was unter den für sie im ganzen äußerst ungünstigen Umständen möglich war, und das berechtigt für die Zukunft zu den besten Hoffnungen. Tatsächlich hat erst die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts begonnen, den Frauen in größerer Anzahl die Wege zu ebnen und sie zum Wettbewerb mit dem Manne auf den verschiedensten Gebieten zuzulassen. Die erlangten Resultate sind sehr zufriedenstellende. Aber gesetzt den Fall, die Frauen wären durchschnittlich nicht so entwicklungsfähig wie die Männer, es gäbe unter ihnen keine Genies und großen Philosophen, war denn dieser Umstand für die Männer maßgebend, als man ihnen, nach dem Wortlaut der Gesetze, die volle Gleichberechtigung mit den »Genies« und »Philosophen« einräumte? Dieselben Gelehrten, die der Frau die höhere Befähigung absprechen, sind geneigt, dies auch gegenüber dem Handwerker und Arbeiter zu tun. Beruft sich der Adel auf sein »blaues« Blut und seinen Stammbaum, so lächeln sie spöttisch und zucken die Achseln; aber gegenüber dem Manne niederen Standes halten sie sich für eine Aristokratie, die, was sie geworden ist, nicht den günstigeren Lebensumständen zu verdanken hat, sondern einzig dem ihnen eigentümlichen Talent. Dieselben Männer, die auf dem einen Gebiet zu den vorurteilslosesten gehören und eine geringe Meinung von jenen besitzen, die gleich ihnen nicht frei denken, sind auf anderen Gebieten, sobald es sich um ihr Standes- oder Klasseninteresse, um ihre Eitelkeit oder Eigenliebe handelt, beschränkt bis zur Borniertheit und gegnerisch gesinnt bis zum Fanatismus. Die höhere Männerwelt urteilt absprechend über die niedere und ähnlich fast die gesamte Männerwelt über die Frauen. Die Männer sehen in ihrer großen Mehrzahl in den Frauen nichts als Mittel zu ihrem Nutzen und Vergnügen, sie als Gleichberechtigte anzusehen, widerstrebt ihrem Vorurteil. Die Frau soll demütig und bescheiden sein, sie soll sich auf das Haus beschränken und alles übrige dem »Herrn der Schöpfung« als Domäne überlassen. Die Frau soll ihren Gedanken und Neigungen jeden denkbaren Zügel anlegen und abwarten, was ihre irdische Vorsehung, der Vater oder Gatte, über sie beschließt. Je mehr sie allen diesen Forderungen nachkommt, um so »vernünftiger, sittsamer und tugendhafter« wird sie gepriesen, mag sie als Folge ihrer Zwangsstellung unter der Last physischer und moralischer Leiden zugrunde gehen. Spricht man aber von der Gleichheit aller Menschen, dann ist es ein Unding, davon die Hälfte des Menschengeschlechts ausschließen zu wollen. Die Frau hat das gleiche Recht wie der Mann auf Entfaltung ihrer Kräfte und auf freie Betätigung derselben; sie ist Mensch wie der Mann, und sie soll wie er die Freiheit haben, über sich zu verfügen als ihr eigener Herr. Der Zufall, als Frau geboren worden zu sein, darf daran nichts ändern. Die Frau, weil sie als Frau und nicht als Mann geboren ist - woran der Mann so unschuldig ist wie die Frau -, von der Gleichberechtigung auszuschließen ist ebenso ungerecht, als wenn Rechte und Freiheiten von dem Zufall der Religion oder der politischen Gesinnung abhängig gemacht werden, und ebenso unsinnig wie, daß sich zwei Menschen als Feinde betrachten, weil sie durch den Zufall der Geburt verschiedenen Volksstämmen oder verschiedenen Nationalitäten angehören. Das sind eines freien Menschen unwürdige Anschauungen. Der Fortschritt der Menschheit besteht darin, alles zu beseitigen, was einen Menschen von dem anderen, eine Klasse von der anderen, ein Geschlecht von dem anderen in Abhängigkeit oder Unfreiheit erhält. Es hat keine andere Ungleichheit Berechtigung als jene, welche die Natur in der Verschiedenheit des Wesens der einzelnen und zur Erreichung des Naturzwecks schuf. Die Naturschranken wird aber kein Geschlecht überschreiten, weil es damit seinen Naturzweck vernichtete. [...]

3. Die Frau und die freien Berufe

Die Frauen sollen auch auf geistigem Gebiet den Wettkampf mit dem Manne aufnehmen; sie haben nicht zu warten, bis es den Männern beliebt, ihre Gehirnfunktionen zu entwickeln und ihnen freie Bahn zu schaffen. Diese Bewegung ist in vollem Fluß. Schon haben die Frauen viele Hindernisse hinweggeräumt und sich in die geistige Arena begeben - in einer Reihe von Ländern mit besonderem Erfolg. Die Bewegung, die sich unter ihnen für die Zulassung zum Studium auf Universitäten und Hochschulen und zu den diesem Studium entsprechenden Wirkungskreisen immer mehr bemerkbar macht, ist nach der Natur unserer Verhältnisse auf die bürgerlichen Frauenkreise beschränkt. Die proletarischen sind dabei nicht direkt interessiert, denn ihnen sind vorläufig diese Studien und die auf Grund derselben zugängigen Stellungen verschlossen. Gleichwohl ist diese Bewegung und ihr Erfolg von allgemeinem Interesse. Einmal handelt es sich um eine prinzipielle Forderung, welche die Stellung der Frau im allgemeinen gegenüber der Männerwelt betrifft, dann soll bewiesen werden, was die Frauen schon gegenwärtig, unter im ganzen für ihre Entwicklung höchst ungünstigen Verhältnissen, zu leisten vermögen. Weiter haben die Frauen ein Interesse, zum Beispiel in Krankheitsfällen von Ärzten ihres Geschlechtes, welchen sie sich ungenierter anvertrauen als männlichen, behandelt zu werden, falls sie dies für notwendig erachten. Für einen großen Teil unserer Frauen sind weibliche Ärzte eine Wohltat, denn der Umstand, daß sie sich in Krankheitsfällen und in ihren so verschiedenartigen, mit dem Geschlechtszweck zusammenhängenden körperlichen Störungen Männern anvertrauen sollen, hindert sie häufig, rechtzeitig oder überhaupt ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Daraus entstehen eine Menge von Unannehmlichkeiten und die schlimmsten Folgen nicht bloß für die Frauen, sondern auch für ihre Männer. Es gibt kaum einen Arzt, der über diese manchmal verbrecherische Zurückhaltung der Frauen und ihre Abneigung, ihre Übel einzugestehen, nicht zu klagen hätte. Das ist begreiflich, unvernünftig ist, daß die Männer, und namentlich auch viele Ärzte, nicht einsehen wollen, wie berechtigt und notwendig deshalb auch das Studium der Medizin für Frauen ist.
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Nach langen Kämpfen und großen Anstrengungen ist endlich auch Deutschland, wenn auch erst zaghaft, in neue Bahnen eingelenkt. Durch Beschluß des Bundesrats vom 24. April 1899 sind den Frauen die medizinischen und zahnärztlichen Prüfungen sowie die Prüfung zum Apothekerberuf unter den gleichen Bedingungen wie den Männern freigegeben. Durch einen zweiten Beschluß des Bundesrats vom 28. Juli 1900 wurden die im Ausland approbierten Ärztinnen im Deutschen Reiche, wenn sie Reichsangehörige sind, zugelassen, auch werden Ärztinnen ihre im Ausland begonnenen Studien angerechnet. Schon vor dem Jahre 1898 war an einzelnen deutschen Universitäten, so in Heidelberg und Göttingen, Frauen das Studium gestattet worden. Im Wintersemester 1901/02 wurden bereits in den Universitätsverzeichnissen 1270 Hörerinnen aufgeführt. Auch wurden von einer Reihe deutscher Städte Mädchengymnasien und Realgymnasien gegründet, so in Karlsruhe, Stuttgart, Hannover, Königsberg, Hamburg, Frankfurt a. M., Breslau, Berlin, Schöneberg, Mannheim usw. Erst im Frühjahr 1902 war wiederum das Gesuch um Immatrikulation weiblicher Studierender, wenn sie das Reifezeugnis eines deutschen Gymnasiums haben, vom Senat der Berliner Universität abgelehnt worden. Der Widerstand sehr einflußreicher Kreise in Deutschland gegen das Frauenstudium war noch nicht gebrochen. So hielt der preußische Kultusminister im März 1902 im preußischen Landtag eine Rede, in der er unter anderem ausführte: Die Mädchengymnasien seien ein Experiment, das die Unterrichtsverwaltung ablehnen müsse; er fürchte, daß die durch die Natur gegebenen und durch die Kultur entwickelten Unterschiede zwischen Mann und Frau durch den Gymnasiums- und Universitätsbesuch leiden könnten. Der deutschen Familie müsse die Eigentümlichkeit der deutschen Frau nach Möglichkeiten erhalten werden. Das ist ganz nach der alten Schablone gedacht. Auch ein großer Teil der deutschen Professoren war nach wie vor dem weiblichen Studium abgeneigt*, (* Anm. Seifert: Das ist auch heute noch so. Vgl. Hans Anger, Problem der deutschen Universität, Tübingen 1960, Kapitel Universität und Frau. [M. S.]) obgleich andere zugaben, daß viele der zum Studium zugelassenen Frauen den an sie gestellten Ansprüchen im vollsten Maße entsprechen, manche sogar in ausgezeichneter Weise. Und wie ein Teil der Studentenschaft - wahrscheinlich die sehr große Mehrheit - über das Frauenstudium dachte, davon legt ein Protest der Klinikerschaft zu Halle aus dem März 1902 Zeugnis ab, den diese zur Unterstützung an die Kliniker Deutschlands veröffentlichte. Nachdem darin auseinandergesetzt worden war, daß die Agitation des Vereins »Frauenbildung - Frauenstudium« in Berlin für Zulassung der Frauen zum medizinischen Studium ihren Protest veranlaßt habe, heißt es: »Nachdem durch diesen Schritt die Frage vor das Forum der Öffentlichkeit gezogen ist, wendet sich die Hallenser Klinikerschaft an die Kreise, für welche die Entscheidung in dieser Frage in erster Linie Interesse und Bedeutung hat, an die Kliniker der deutschen Universitäten, weil sie entweder die erwähnten Unerträglichkeiten aus eigener Erfahrung kennen oder sich doch vorstellen können, welche peinlichen und jeder Schamhaftigkeit spottenden Situationen dieser gemeinsame klinische Unterricht hier und da herbeiführen muß, Situationen, welche zu widerwärtig sind, als daß man sie, ohne Anstoß zu erregen, hier genauer präzisieren könnte. Die medizinische Fakultät der Universität Halle hat als eine der ersten im Deutschen Reiche den Versuch gemacht, Frauen zum medizinischen Studium zuzulassen, und dieser Versuch ist als durchaus mißglückt zu bezeichnen. In den Stätten ehrlichen Strebens ist mit den Frauen der Zynismus eingezogen, und Szenen, für Lehrer und Schüler wie für die Patienten in gleichem Maße anstoßerregend, sind an der Tagesordnung. Hier wird die Emanzipation der Frau zur Kalamität, hier gerät sie mit der Sittlichkeit in Konflikt, und deshalb muß ihr hier ein Riegel vorgeschoben werden. Kollegen! Wer könnte es wagen, angesichts dieser Tatsachen noch Stellung zu nehmen gegen unsere berechtigten Forderungen! Wir fordern die Ausschließung der Frauen vom klinischen Unterricht, weil uns die Erfahrung gelehrt hat, daß ein gemeinsamer klinischer Unterricht der männlichen und weiblichen Zuhörer sich mit dem Interesse eines gründlichen medizinischen Studiums ebensowenig verträgt als mit den Grundsätzen der Schicklichkeit und Moral. Die von uns angeregte Frage hat jetzt ihren lokalen Charakter verloren. Schon hat man höheren Ortes von einer definitiven Zulassung der Frauen zum medizinischen Studium etwas verlauten lassen. Ihr alle seid jetzt in gleicher Weise an unserer Sache interessiert, und deshalb fordern wir euch auf: Nehmt Stellung zu dieser Frage und vereinigt euch mit uns zum gemeinsamen Protest.«
Dieser »Protest« ist ein schlagender Beweis für die Beschränktheit, aber auch für den Konkurrenzneid der studierenden Kliniker, denn auf diesen sind die moralischen Bedenken zurückzuführen. Was in den meisten Kulturstaaten ohne jeden Schaden für Moral und Schicklichkeitsgefühl der Studierenden, zum Teil seit Jahrzehnten, zulässig ist, sollte für Deutschland eine Gefahr sein. Die deutschen Studenten stehen nicht im Rufe besonderer Tugendboldigkeit und sollten solche Scherze unterlassen.[47]
Verschlägt es der Schicklichkeit und Moral nichts, daß Pflegerinnen in Gegenwart der Ärzte allen möglichen Operationen an männlichen und weiblichen Kranken beiwohnen und dabei die ausgiebigste Hilfe leisten, ist es schicklich und moralisch, daß Dutzende junger Männer Studienzwecke halber als Zuschauer am Bette einer Kreißenden oder bei Operationen weiblicher Kranken teilnehmen, dann ist es lächerlich, weiblichen Studenten nicht das gleiche Recht einräumen zu wollen. Einen ganz anderen Grund wie die Hallenser Kliniker führte der verstorbene Professor Bischoff gegen die Zulassung der Frauen zum medizinischen Studium an, nämlich: die Roheit der Studenten!, worüber er wohl am besten urteilen konnte. Doch wie immer man sich von seiten beschränkter oder konkurrenzneidischer Männerkreise zum Studium der Frauen stellte, die Frage ist zugunsten des weiblichen Geschlechts entschieden. Am 18. August 1908 erschien ein Erlaß, betreffend die Zulassung der Frauen zum Universitätsstudium in Preußen, das bisher Frauen nur als Hörerinnen zuließ. Die Vorschriften für die Studierenden der Landesuniversitäten finden auf Frauen mit der Maßgabe Anwendung, daß Reichsinländerinnen in einem Falle und Ausländerinnen in allen Fällen zur Immatrikulation der Genehmigung des Ministers bedürfen.[48]
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