Die Erwerbsstellung der Frau

1. Entwicklung und Verbreitung der Frauenarbeit

Das Streben der Frau nach selbständigem Erwerb und persönlicher Unabhängigkeit wird bis zu einem gewissen Grade von der bürgerlichen Gesellschaft als berechtigt anerkannt, ähnlich wie das Bestreben der Arbeiter nach freier Bewegung. Der Hauptgrund für dieses Entgegenkommen liegt in dem Klasseninteresse der Bourgeoisie. Die Bourgeoisie braucht die volle Freigabe der männlichen und weiblichen Arbeitskräfte, um die Produktion aufs höchste entwickeln zu können. In dem Maße, wie Maschinerie und Technik sich vervollkommnen, der Arbeitsprozeß in immer mehr Einzelverrichtungen sich teilt und geringere technische Ausbildung und Kraft erfordert, andererseits die Konkurrenz der Industriellen untereinander und der Konkurrenzkampf ganzer Produktionsgebiete - Land gegen Land, Erdteil gegen Erdteil - sich steigert, wird die Arbeitskraft der Frau immer mehr gesucht.
Die speziellen Ursachen, die zu dieser stets steigenden Anwendung der Frau in einer stets steigenden Anzahl von Erwerbszweigen führen, sind schon oben ausführlicher dargelegt worden. Die Frau findet neben dem Manne oder an seiner Stelle auch immer häufiger Beschäftigung, weil ihre materiellen Forderungen geringer sind als jene des Mannes. Ein aus ihrer Natur als Geschlechtswesen hervorgehender Umstand zwingt sie, sich billiger anzubieten; sie ist durchschnittlich öfter als der Mann körperlichen Störungen unterworfen, die eine Unterbrechung der Arbeit herbeiführen und bei der Kombination und Organisation der Arbeitskräfte, die in der Großindustrie besteht, leicht Arbeitsunterbrechungen erzeugen. Schwangerschaft und Wochenbett verlängern solche Pausen.[34] Der Unternehmer nutzt diesen Umstand aus und findet für die Unannehmlichkeiten, die er aus solchen Störungen hat, einen doppelten Ersatz in der Zahlung erheblich geringerer Löhne. Auch ist die Frau an den Ort ihres Aufenthaltes oder dessen nächste Umgebung gebunden; sie kann nicht, wie in den meisten Fällen der Mann, ihren Aufenthaltsort wechseln. Weiter hat die Arbeit, namentlich der verheirateten Frauen - wie aus dem Zitat auf Seite 143 aus Marx' »Kapital« zu ersehen ist -, noch ihren besonderen Anreiz für den Unternehmer. Als Arbeiterin ist die verheiratete Frau »viel aufmerksamer und gelehriger« als die unverheiratete; die Rücksicht auf ihre Kinder nötigt sie zur äußersten Anstrengung ihrer Kräfte, um den notwendigsten Lebensunterhalt zu erwerben, und so läßt sie sich manches bieten, was sich die unverheiratete Frau nicht bieten läßt und erst recht nicht der Arbeiter. Im allgemeinen wagt die Arbeiterin noch selten, sich mit ihren Arbeitsgenossen zur Erlangung besserer Arbeitsbedingungen zu verbinden. Auch das erhöht in den Augen des Unternehmers ihren Wert; oft bildet sie sogar in seinen Händen einen guten Trumpf gegen widerspenstige männliche Arbeiter; sie besitzt ferner größere Geduld, gewandtere Fingerfertigkeit, einen entwickelteren Geschmackssinn, Eigenschaften, die sie für eine Menge Arbeiten geschickter machen als den Mann. Diese weiblichen Tugenden weiß der tugendhafte Kapitalist voll zu würdigen, und so findet die Frau mit der Entwicklung unserer Industrie von Jahr zu Jahr ein immer größeres Anwendungsgebiet, aber - und das ist das Entscheidende - ohne ihre soziale Lage merkbar zu verbessern. Wird weibliche Arbeitskraft angewandt, so setzt sie häufig männliche Arbeitskraft frei. Aber die verdrängte männliche Arbeitskraft will leben, sie bietet sich zu einem geringeren Lohne an, und dieses Angebot drückt wieder auf die Löhne der Arbeiterin. Das Herabdrücken des Lohnes wird zu einer Schraube, die durch die stets in der Umwälzung begriffene Technik des Arbeitsprozesses in Bewegung gesetzt wird, namentlich da dieser Umwälzungsprozeß auch weibliche Arbeiter durch Ersparnis von Arbeitskräften freisetzt, was abermals das Angebot von »Händen« vermehrt. Neu auftauchende Industriezweige wirken dieser beständigen Erzeugung von relativ überschüssiger Arbeitskraft einigermaßen entgegen, aber nicht stark genug, um dauernd bessere Arbeitsbedingungen zu erzielen. Wird doch in diesen Industrien, wie zum Beispiel in der elektrotechnischen, die männliche Arbeitskraft von der weiblichen verdrängt.
So werden in der gesamten Kleinmotorenfabrik der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft die meisten Arbeitsmaschinen von Mädchen bedient. Jedes Steigen des Lohnes über ein gewisses Maß veranlaßt den Unternehmer, auf weitere Verbesserung seiner Maschinen zu sehen, die willenlose, automatische Maschine an Stelle von menschlichen Händen und menschlichem Hirn zu setzen. Im Beginn der kapitalistischen Produktion steht auf dem Arbeitsmarkt der männliche Arbeiter fast nur dem männlichen Arbeiter gegenüber, jetzt wird Geschlecht gegen Geschlecht und in der Reihe weiter Alter gegen Alter ausgespielt. Die Frau verdrängt den Mann, und die Frau wird wieder durch die Arbeit der jungen Leute und der Kinder verdrängt. Das ist die »sittliche Ordnung« in der modernen Industrie. Dieser Zustand würde schließlich unerträglich, wirkte nicht die Macht der Organisation der Arbeiter in ihren Gewerkschaften demselben mit aller Macht entgegen. Diesen Organisationen sich anzuschließen ist auch speziell für die Arbeiterin ein Gebot der Notwendigkeit, weil sie als einzelne noch weit weniger widerstandsfähig gegenüber dem Unternehmer ist als der Arbeiter. Allmählich begreifen das auch die Arbeiterinnen. So waren den freien Gewerkschaften angeschlossen in Deutschland 1892: 4355, 1899: 19 280, 1900: 22 884, 1905: 74 411, 1907: 136 929, 1908: 138 443.[35] Im Jahre 1892 waren es nur 1,8 Prozent aller Mitglieder der Gewerkschaften, im Jahre 1908 7,6 Prozent.* (* Anm. Seifert: Von 9,7 Millionen erwerbstätigen Frauen waren im April 1970 1 Million Mitglieder des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Frauenbericht 1971, [M. S.])
[...]
Das Bestreben der Unternehmer, den Arbeitstag zu verlängern, um größeren Mehrwert aus ihren Arbeitern zu pumpen, wird durch die geringere Widerstandskraft der Arbeiterinnen erleichtert. Daher die Erscheinung, daß zum Beispiel in der Textilindustrie, in der die Frauen weit über die Hälfte der Gesamtzahl der Arbeitskräfte stellen, überall die Arbeitszeit am längsten ist, weshalb auch gerade hier der staatliche Schutz durch gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit einsetzen mußte. Durch die häusliche Tätigkeit daran gewöhnt, daß es für sie kein Zeitmaß für die Arbeit gibt, läßt sie die gesteigerten Anforderungen über sich ergehen, ohne Widerstand zu leisten.
In anderen Erwerbszweigen, wie der Putzmacherei, der Blumenfabrikation usw. [...], verderben sie sich Löhne und Arbeitszeit dadurch, daß sie Extraarbeiten mit nach Hause nehmen und nicht beachten, daß sie dadurch nur sich selbst Konkurrenz machen und bei sechzehnstündiger Arbeitszeit nicht mehr verdienen, als sie bei geregelter zehnstündiger Arbeitszeit verdienen würden.

2. Die Fabrikarbeit der verheirateten Frauen
Hausindustrie und gesundheitsgefährliche Industrien

Es ist ein sehr hoher Prozentsatz, den die verheirateten Arbeiterinnen unter den Arbeiterinnen überhaupt bilden, ein für das Familienleben der Arbeiter sehr bedenklicher Zustand, und die Zahl der beschäftigten verheirateten Frauen wird stetig größer. Die deutschen Gewerbeinspektoren hatten für das Jahr 1899 den Auftrag, über die Dauer der Arbeit und die Gründe, die verheiratete Frauen zur gewerblichen Arbeit veranlassen, Erhebungen zu veranstalten. [ ... ] Hiernach sind insgesamt 229 334 Frauen als in Fabriken tätig ermittelt worden. Außerdem wurden im Betrieb von Bergwerken nach den Berichten der preußischen Bergbehörden 1063 Frauen über Tage beschäftigt. In Baden stieg in den der Gewerbeinspektion unterstellten Betrieben die Zahl der verheirateten Arbeiterinnen im Zeitraum von 1894 bis 1899 von 10 878 - 27,05 Prozent auf 15 046 = 31,27 Prozent sämtlicher erwachsener Arbeiterinnen. In welchem Umfang die Hauptindustriezweige an der ermittelten Summe von 229 334 beteiligt sind, geht aus der folgenden Zusammenstellung hervor:

Textilindustrie 111 194
Industrie der Nahrungs- und Genußmittel 39 080
Industrie der Steine und Erden  19 475
Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe 13 156
Papierindustrie 11 049
Metallverarbeitung   10 739
Industrie der Holz- und Schnitzstoffe 5 635
Polygraphische Gewerbe 4 770
Maschinenindustrie 4 493
Chemische Industrie 4 380
Andere 5 363
Zusammen 229 334

Nächst der Textilindustrie wird die starke Beteiligung der Industrie der Nahrungs- und Genußmittel hervorgehoben, in welcher vor allem die Zigarren- und Tabakfabrikation zahlreichen Frauen Beschäftigung gibt. Dann folgen die Papierindustrie, insbesondere die Lumpensortieranstalten, und Ziegeleien. »Die Frauen werden vorwiegend in anstrengenden Berufen (Steinbrüchen, Ziegeleien, Färbereien, chemischen Fabriken, Zuckerfabriken usw.) mit schwerer, oft unsauberer Arbeit beschäftigt, während sich die jüngeren Arbeiterinnen unter 21 Jahren in Porzellanfabriken, Spinnereien, Webereien, Papierfabriken, Zigarrenfabriken und im Bekleidungsgewerbe finden. Für die schlechteste, von anderen gemiedene Arbeit sind nur die älteren Arbeiterinnen und besonders verheiratete zu haben.«[36]
Unter den vielen Äußerungen über die Gründe und Ursachen der Verbreitung der Arbeit der verheirateten beziehungsweise geschiedenen und verwitweten Frauen seien einige wenige erwähnt. Im Bezirk Potsdam wurde als Grund für die Fabrikbeschäftigung von den Frauen sehr häufig die Unzulänglichkeit des Verdienstes des Mannes angegeben. In Berlin behaupteten nach dem Bericht zweier Inspektoren 53,62 Prozent der mitverdienenden Frauen, daß der Verdienst der Ernährer unzulänglich sei. Ganz ähnlich äußern sich die Aufsichtsbeamten der Bezirke Westpreußen, Frankfurt a. O., Mittelfranken, Württemberg II, Unterelsaß usw. Der Magdeburger Beamte gibt denselben Grund für die Mehrzahl der beschäftigten Frauen an; andere müßten aber auch arbeiten, weil der Mann für sich zuviel verbrauche oder liederlich sei. Andere Frauen arbeiteten wieder aus Gewohnheit und weil sie für den Beruf der Frau nicht erzogen seien. Zugegeben, daß für einen kleinen Teil der Fälle solche Gründe gelten, die große Mehrzahl arbeitet, weil sie muß. Das hat auch die Gewerkschaft der Holzarbeiter in Stuttgart konstatiert anläßlich einer Enquete im Jahre 1900. Der Beamte für Unterelsaß konstatiert, daß der Hauptgrund für die Ehefrauenarbeit in der modernen Kultur, den Verkehrsmitteln und dem durch den unbeschränkten Wettbetrieb geschaffenen Verlangen der Industrie nach billigen Arbeitskräften zu suchen sei. Auch werde die verheiratete Frau gern beschäftigt, weil bei ihr eine größere Zuverlässigkeit und Stetigkeit im Arbeitsverhältnis vorhanden sei. Der badische Fabrikinspektor (Dr. Wörishoffer) sagt: »Vor allem aber sind es die niedrigen Löhne der Arbeiterinnen, die ihre Verwendung den Arbeitgebern überall erwünscht scheinen lassen, wo sie stattfinden kann. Genügender Beweis hierfür ist, daß die Löhne in den Industriezweigen am niedrigsten sind, in denen Arbeiterinnen in größerer Zahl verwendet werden ... In diesen Industriezweigen bewirkt daher die Möglichkeit, weibliche Arbeiter in großem Umfang zu beschäftigen, in den Arbeiterfamilien die Notwendigkeit, sie auch tatsächlich eintreten zu lassen.« Der Koblenzer Beamte äußert: »Die Frauen sind allgemein zuverlässiger und arbeiten fleißiger als junge Mädchen. Jüngere Arbeiterinnen haben durchgängig eine Abneigung gegen unsaubere und unangenehme Arbeiten, welche infolgedessen mit Vorliebe den anspruchsloseren Frauen überlassen bleiben. So müssen zum Beispiel die Lumpensortierereien vielfach Frauen beschäftigen.«[37] Was die Arbeitslöhne betrifft, so ist es ein bekannte Tatsache, daß allgemein Frauenarbeit schlechter bezahlt wird als Männerarbeit, auch dort, wo sie das gleiche leistet. Darin unterscheidet sich der Privatunternehmer weder vom Staat noch von der Gemeinde.
Frauen im Eisenbahn- und Postdienst erhalten weniger als Männer für die gleiche Arbeit; Lehrerinnen bezahlt jede Gemeinde schlechter als Lehrer. Gründe dafür sind: Die Frau ist bedürfnisloser und vor allen Dingen hilfloser; ihr Erwerb ist in sehr vielen Fällen nur eine Ergänzung zu dem Einkommen des Gatten oder des Vaters als des eigentlichen Ernährers; der dilettantische, provisorische und zufällige Charakter der Frauenarbeit; die große industrielle Reservearmee der Arbeiterinnen und daher ihre geringere Widerstandsfähigkeit; der »unlautere Wettbewerb« des sogenannten »Mittelstandes« in der Schneiderei, Putzmacherei, Blumen- und Papierindustrie; die Frau ist auch in der Regel an ihren Wohnort gebunden. Daher währt die Arbeitszeit der Frauen am längsten, wenn nicht die Gesetzgebung schützend eingreift. In einer Untersuchung über die Löhne der Fabriksarbeiter in Mannheim im Jahre 1893 teilte der verstorbene Dr. Wörishoffer den wöchentlichen Arbeitsverdienst in drei Klassen ein:[38] Die unterste Klasse umfaßt den Wochenlohn bis zu 15 Mark, die mittlere von 15 bis 24 Mark und die hohe über 24 Mark.
Hiernach ergaben die Löhne folgendes Bild. Es erhielten Löhne:

  Niedere Mittlere Hohe
Sämtliche Arbeiter  29,8 Prozent 49,8 Prozent 20,4 Prozent
Männliche 20,9 Prozent 56,2 Prozent 22,9 Prozent
Weibliche 99,2 Prozent 0,7 Prozent 0,1 Prozent

Die Arbeiterinnen verdienten zum größten Teil wahre Hungerlöhne, denn es erhielten:

Einen Wochenlohn unter 5 Mark 4,62 Prozent
  von 5 bis 6 Mk 5,47
  6 bis 8 Mk 43,96
  8 bis 10 Mk 27,45
  10 bis 12 Mk 12,38
  12 bis 15 Mk 5,38
  Der Rest über 15 Mk 0,74

Nach den Ergebnissen einer Umfrage, die von der Berliner Gewerbeinspektion veranstaltet war, betrug der durchschnittliche Wochenlohn der Arbeiterinnen 11,36 Mark. Unter 6 Mark erhielten 4,3 Prozent, 6 bis 8 Mark 7,8 Prozent, über 12 bis 15 Mark 27,6 Prozent, über 15 bis 20 Mark 11,1 Prozent, über 20 bis 30 Mark 1,1 Prozent. Die meisten Löhne liegen zwischen 8 und 15 Mark (75,7 Prozent). In Karlsruhe beläuft sich der durchschnittliche Wochenverdienst sämtlicher Arbeiterinnen auf 10,02 Mark.[39] Am elendsten ist die Bezahlung der Arbeiter in der Hausindustrie, und zwar sowohl die der Männer wie der Frauen, aber für die Frauen ist sie noch erbärmlicher. Dabei ist die Arbeitszeit ohne Grenze und maßlos in der Saison. Auch ist vielfach in der Hausindustrie das Schwitzsystem in Übung, das heißt, die Arbeit wird durch Mittelspersonen an die Arbeiter vergeben, wofür die Mittelsperson - Faktor, Meister usw. - einen erheblichen Teil des vom Unternehmer gezahlten Lohnes als Entschädigung für Mühewaltung beansprucht.
Wie erbärmlich weibliche Arbeit in der Hausindustrie bezahlt wird, zeigen folgende Angaben über Berliner Verhältnisse. Bunte Männerhemden (Barchenthemden), die 1889 pro Dutzend noch mit 2 bis 2,50 Mark bezahlt wurden, bekam der Unternehmer 1893 für 1,20 DM geliefert. Eine Näherin mittlerer Qualität muß von früh bis spät arbeiten, will sie pro Tag 6 bis 8 Stück Hemden fertigstellen; der Verdienst pro Woche beträgt 4 bis 5 Mark. Eine Schürzenarbeiterin verdient 2,50 bis 5 Mark pro Woche, eine Krawattennäherin 5 bis 6 Mark, eine geschickte Blusennäherin 6 Mark, eine sehr tüchtige Arbeiterin auf Knabenanzüge 8 bis 9 Mark, eine geübte Jackettarbeiterin 5 bis 6 Mark. Eine sehr geübte Näherin auf feine Oberhemden kann bei flotter Saison und wenn sie von früh 5 Uhr bis abends 10 Uhr arbeitet, 12 Mark verdienen. Putzarbeiterinnen, die selbständig Modelle kopieren können, verdienen pro Monat 30 Mark, flotte Garniererinnen, die schon jahrelang tätig sind, verdienen während der Saison pro Monat 50 bis 60 Mark. Die Saison nimmt im ganzen fünf Monate in Anspruch. Eine Schirmmacherin verdient bei zwölfstündiger Arbeit wöchentlich 6 bis 7 Mark. Solche Hungerlöhne zwingen die Arbeiterinnen zur Prostitution, denn unter den bescheidensten Ansprüchen kann in Berlin keine Arbeiterin die Woche unter 9 bis 10 Mark existieren. Die angeführten Tatsachen zeigen, daß die Frau durch die moderne Entwicklung mehr und mehr dem Familienleben und der Häuslichkeit entrissen wird. Ehe und Familie werden untergraben und aufgelöst, und so ist es auch vom Standpunkt dieser Tatsachen aus absurd, die Frau auf die Häuslichkeit und die Familie zu verweisen. Das kann nur der tun, der gedankenlos in den Tag lebt, die Dinge, die sich um ihn herum entwickeln, nicht sieht oder nicht sehen will. In einer großen Anzahl von Industriezweigen sind weibliche Arbeiter ausschließlich beschäftigt, in einer größeren Anzahl bilden sie die Mehrheit, und in den meisten der übrigen Arbeitszweige sind Arbeiterinnen mehr oder weniger zahlreich beschäftigt, ihre Zahl wird immer größer, und sie dringen in immer neue Berufszweige ein. Durch die deutsche Gewerbeordnungsnovelle vom Jahre 1891 war für die Beschäftigung von erwachsenen Arbeiterinnen in Fabriken eine Normalarbeitszeit von elf Stunden täglich festgesetzt worden, die aber durch eine Menge Ausnahmen, welche die Behörden zulassen konnten, oft durchbrochen wurde. Die Nachtarbeit der Arbeiterinnen in Fabriken wurde auch verboten, doch konnte auch hier der Bundesrat Ausnahmen für Fabriken mit ununterbrochenem Betrieb oder für bestimmte Saisonbetriebe (zum Beispiel Zuckerfabriken) zulassen. Nur nachdem die internationale Berner Konvention vom 26. September 1906 die Einführung einer elfstündigen Nachtruhe (für Fabriken) vorschreibt, nachdem jahrelang die Sozialdemokratie energisch die Forderung des Verbots der gewerblichen Nachtarbeit der Frauen und der Herabsetzung der täglichen Arbeitszeit bis auf acht Stunden befürwortet hat, geben endlich nach langem Widerstand Regierung und bürgerliche Parteien nach. Dann wurde aus der in der Kommission stecken gebliebenen umfassenden Novelle zur Gewerbeordnung das Stück herausgegriffen, das sich auf die Regelung der Frauenarbeit bezieht.
Außer dieser Bestimmung war in dem Gesetz vom 28. Dezember 1908 eine zehnstündige Maximalarbeitszeit für Frauen vorgesehen in allen Betrieben, in denen mindestens zehn Arbeiter beschäftigt sind. An Vorabenden der Sonn- und Feiertage darf die Dauer acht Stunden nicht überschreiten. Arbeiterinnen dürfen vor und nach ihrer Niederkunft im ganzen während acht Wochen nicht beschäftigt werden. Ihr Wiedereintritt ist an den Ausweis geknüpft, daß seit ihrer Niederkunft wenigstens sechs Wochen verflossen sind. Arbeiterinnen dürfen weiter nicht in Kokereien und nicht zum Transport von Materialien bei Bauten aller Art verwendet werden. Trotz des energischen Widerstandes der Sozialdemokratie wurde ein Antrag angenommen, daß die höheren Verwaltungsbehörden die Überarbeit für fünfzig Tage gestatten können. Besondere Beachtung verdient § 137 a, der den ersten Eingriff in die Ausbeutung durch Heimarbeit bildet. Diese Bestimmung lautet: »Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern darf für die Tage, an welchen sie in dem Betrieb die gesetzlich zulässige Arbeit hindurch beschäftigt waren, Arbeit zur Verrichtung außerhalb des Betriebs vom Arbeitgeber überhaupt nicht übertragen oder für Rechnung Dritter überwiesen werden.« Ungeachtet seiner Mängel bedeutet das neue Gesetz immerhin einen Fortschritt gegenüber dem gegenwärtigen Zustand.
Die immer stärkere Heranziehung der Frau zu industrieller Beschäftigung trifft aber nicht nur jene Beschäftigungsarten, für die sie sich entsprechend ihrer schwächeren physischen Kraft eignet, sondern alle Tätigkeiten, in welchen das Ausbeutertum aus ihrer Anwendung höheren Profit schlagen kann. Dazu gehören sowohl die anstrengendsten wie die unangenehmsten und für die Gesundheit gefährlichsten Tätigkeiten, und so wird auch hierdurch jene phantastische Auffassung auf ihre wahre Bedeutung reduziert, die in der Frau nur zarte, fein besaitete Wesen sieht, wie es vielfach Dichter und Romanschreiber für den Kitzel des Mannes schildern. Tatsachen sind halsstarrige Dinger, und wir haben es nur mit Tatsachen zu tun, denn diese bewahren uns vor falschen Schlüssen und sentimentalen Faseleien. Die Tatsachen aber lehren uns, wie wir schon wissen, daß unter anderem die Frauen beschäftigt werden: in der Textilindustrie, in der chemischen Industrie, in der Metallverarbeitungsindustrie, in der Papierindustrie, in der Maschinenindustrie, in der Holzindustrie, in der Industrie der Nahrungs- und Genußmittel, im Bergbau über Tage - in Belgien auch beim Bergbau unter Tage, sobald die Arbeiterin das 21. Lebensjahr überschritten hat. Ferner auf dem weiten Gebiet des Garten- und Feldbaus und der Viehzucht und den damit zusammenhängenden Industrien, endlich in den verschiedenen Erwerbszweigen, in denen sie schon seit langem, gewissermaßen als Privilegierte, ausschließlich zu tun hatten: bei dem Herstellen der Wäsche und der Frauenkleider, in den verschiedenen Zweigen des Modefachs, in der Stellung als Verkäuferinnen, Kontoristinnen, Lehrerinnen, Kindergärtnerinnen, Schriftstellerinnen, Künstlerinnen aller Art usw. Zehntausende von Frauen des kleinen Mittelstandes sind als Ladensklavinnen in Verwendung und im Marktwesen tätig und sind damit fast jeder häuslichen Tätigkeit und namentlich der Kindererziehung entzogen. Endlich finden jüngere und namentlich hübsche Frauen immer mehr Verwendung, zum höchsten Nachteil ihrer ganzen Persönlichkeit, in öffentlichen Lokalen aller Art als Bedienungspersonal, Sängerinnen, Tänzerinnen usw. zur Anlockung der genußgierigen Männerwelt, ein Gebiet, auf dem die scheußlichsten Mißstände herrschen und das weiße Sklavenhaltertum die wüstesten Orgien feiert. Unter den angeführten Beschäftigungen gibt es viele von der höchsten Gefährlichkeit.
So ist die Gefahr der Einwirkung von schweflig-sauren und alkalischen Gasen in hohem Grade vorhanden in der Strohhutfabrikation und den Strohhutwäschereien, die Gefahr der Einatmung von Chlordämpfen bei dem Bleichen pflanzlicher Stoffe; Vergiftungsgefahren gibt es in der Buntpapier- und bunten Oblaten- und Blumenfabrikation, bei der Herstellung der Metachromotypie, der Gifte und Chemikalien, dem Bemalen von Bleisoldaten und bleiernen Spielwaren. Das Belegen der Spiegel mit Quecksilber ist für die Leibesfrucht der Schwangeren geradezu tödlich. Wenn von den lebendgeborenen Kindern im preußischen Staate durchschnittlich 22 Prozent während des ersten Lebensjahres gestorben sind, so, nach Dr. Hirt, von den lebendgeborenen Kindern der Spiegelbelegerinnen 65 Prozent, der Glasschleiferinnen 55 Prozent, der Bleiarbeiterinnen 40 Prozent. Im Jahre 1890 wurden von 78 Wöchnerinnen, die in den Schriftgießereien des Regierungsbezirkes Wiesbaden tätig gewesen waren, nur 37 normal entbunden. Nach Dr. Hirt ist von der zweiten Hälfte der Schwangerschaft an besonders gefährlich die Tätigkeit bei der Fabrikation von buntem Papier und von künstlichen Blumen, das sogenannte Einstäuben der Brüsseler Spitzen mit Bleiweiß, die Herstellung von Abziehbildern, das Belegen von Spiegeln, die Kautschukindustrie und alle Fabrikbetriebe, in denen die Arbeiterinnen der Einatmung schädlicher Gase Kohlenoxydgas, Kohlensäure und Schwefelwasserstoffgas - ausgesetzt sind. Höchst gefährlich ist auch die Phosphorzündholzfabrikation und die Beschäftigung am Shoddywolfe. Nach den Mitteilungen des badischen Gewerbeinspektors für das Jahr 1893 stieg die jährliche Durchschnittszahl der vorzeitigen Geburten bei erwerbstätigen Frauen von 1039 in den Jahren von 1882 bis 1886 auf 1244 in den Jahren 1887 bis 1891. Die Zahl der Geburten, denen eine Operation vorhergehen mußte, betrug im Jahresdurchschnitt von 1882 bis 1886 1118, von 1887 bis 1891 aber 1385. Noch viel bedenklichere Tatsachen würden zutage treten, fänden ähnliche Untersuchungen überall in Deutschland statt. In der Regel begnügen sich aber die Gewerbeinspektoren in ihren Berichten mit der Bemerkung: »Besondere Nachteile bei der Beschäftigung von Frauen in Fabriken wurden nicht beobachtet.« Wie sollten sie dieselben auch bei ihren kurzen Besuchen, und ohne ärztliche Gutachten zu Rate zu ziehen, beobachten? Daß ferner große Gefahren für das Leben und die Gliedmaßen vorhanden sind, besonders in der Textilindustrie, in der Zündwarenfabrikation und der Beschäftigung bei landwirtschaftlichen Maschinen, ist festgestellt. Außerdem gehört eine Menge der angeführten Arbeiten zu den schwersten und anstrengendsten, selbst für Männer, das sagt uns ein Blick auf die sehr unvollständige Liste. Man sage nur immer, diese und jene Beschäftigung ist der Frau unwürdig, was hilft's, wenn man ihr nicht eine andere, entsprechendere Tätigkeit zuweisen kann. Als Industriezweige oder als Manipulationen in Industriezweigen, in denen junge Mädchen gar nicht beschäftigt werden sollten, wegen Gefahr für ihre Gesundheit, speziell wegen der Schädlichkeit für ihre sexuellen Funktionen, bezeichnet Dr. Hirt:[40] Herstellung von Bronzefarben, Samtpapier und Schmirgelpapier, Fachen (Hutmacherei), Schleifen (von Glassachen), Abfegen der Bronze von den Steinen (Lithographie), Flachshecheln, Roßhaarzupfen, Barchentraufen, Verzinnen von Eisenblech, Arbeiten an der Flachsmühle und am Shoddywolfe. In den folgenden Beschäftigungen sollten junge Mädchen nur Anwendung finden dürfen, wenn die nötigen Schutzmaßregeln (Ventilationsanlagen usw.) vorhanden und geprüft sind: bei der Herstellung von Papiertapeten, Porzellan, Bleistiften, Bleischrot, ätherischen Ölen, Alaun, Blutlaugensalz, Brom, Chinin, Soda, Paraffin und Ultramarin, (giftigen) bunten Papieren, (gifthaltigen) Oblaten, Metachromotypien, Phosphorzündhölzern,[41] Schweinfurter Grün und künstlichen Blumen. Ferner mit dem Schneiden und Sortieren von Lumpen, mit dem Sortieren und Mahlen von Tabakblättern, dem Baumwolleschlagen, Wolle- und Seidehaspeln, Bettfedern reinigen, Sortieren von Pinselhaaren, mit Waschen (Schwefeln) der Strohhüte, mit Vulkanisieren und Lösen von Kautschuk, mit Färben und Bedrucken von Zeugstoffen, Bemalen von Bleisoldaten, Einpacken von Schnupftabak, mit dem Anstreichen von Drahtgeweben, dem Belegen von Spiegeln, dem Schleifen von Nähnadeln und Stahlfedern. Es ist wahrlich kein schöner Anblick, Frauen, sogar im schwangeren Zustand, mit den Männern um die Wette beim Eisenbahnbau schwer beladene Karren fahren zu sehen oder sie als Handlanger, Kalk und Zement anmachend oder schwere Lasten Steine tragend, beim Hausbau zu beobachten oder beim Kohlen- oder Eisensteinwaschen. Dabei wird der Frau alles Weibliche abgestreift und ihre Weiblichkeit mit Füßen getreten, wie umgekehrt unseren Männern in vielen verschiedenen Beschäftigungsarten jedes Männliche genommen wird. Das sind die Folgen der sozialen Ausbeutung und des sozialen Krieges. Unsere korrupten sozialen Zustände stellen die Dinge auf den Kopf. Es ist begreiflich, daß bei dem Umfang, den die weibliche Arbeit auf allen Gebieten gewerblicher Tätigkeit einnimmt und weiter einzunehmen droht, die interessierte Männerwelt wenig freundlich dazu steht. Unzweifelhaft geht bei dieser Ausdehnung der Frauenarbeit das Familienleben des Arbeiters immer mehr zugrunde, ist Auflösung von Ehe und Familie die natürliche Folge und nehmen Sittenlosigkeit, Demoralisation, Degeneration, Krankheiten aller Art und Kindersterblichkeit in erschreckendem Maße zu. Nach der Bevölkerungsstatistik des Deutschen Reiches hat sich in den Städten, die in den letzten Jahrzehnten echte und rechte Fabrikstädte wurden, die Kindersterblichkeit bedeutend gesteigert. Außerdem steigt sie in den Landgemeinden, wo durch die Milchverteuerung und Milchentziehung die Güte der Kost sinkt. Am höchsten ist die Säuglingssterblichkeit in der Oberpfalz, in Oberbayern und Niederbayern, in einigen Kreisen der Regierungsbezirke Liegnitz und Breslau und der Kreishauptmannschaft Chemnitz.
So starben im Jahre 1907 von 100 Lebendgeborenen im ersten Lebensjahr in Stadtamhof (Oberpfalz) 40,14, in Parsberg (Oberpfalz) 40,06, in Friedberg (Oberbayern) 39,28, in Kelheim (Niederbayern) 37,71, in München 37,63, in Glauchau (Sachsen) 33,48, in Waldenburg (Schlesien) 32,49, in Chemnitz 32,49, in Reichenbach (Schlesien) 32,18, in Annaberg 31,41 usw. Noch schlimmer lagen die Verhältnisse in der Mehrzahl der großen Fabrikdörfer, von welchen manche eine Sterblichkeitsziffer von 40 bis 50 Prozent aufzuweisen hatten. Trotz alledem ist diese soziale Entwicklung, die so traurige Resultate erzeugt, ein Fortschritt, genauso ein Fortschritt, wie es die Gewerbefreiheit, die Freizügigkeit, die Verehelichungsfreiheit usw. ist, welche die großkapitalistische Entwicklung begünstigen, wodurch aber unserem Mittelstand der Todesstoß versetzt wird. Die Arbeiter sind nicht geneigt, dem Kleinhandwerk zu helfen, wenn dieses eine Einschränkung der Gewerbefreiheit und Freizügigkeit und die Wiederaufrichtung der Innungs- und Zunftschranken versucht, um künstlich das Zwerggewerbe am Leben zu erhalten, denn um nichts anderes kann es sich handeln. Ebensowenig läßt sich aber auch in bezug auf die Frauenarbeit der alte Zustand zurückführen, was nicht ausschließt, daß strenge Schutzgesetze das Übermaß von Ausbeutung der Frauenarbeit verhindern und die gewerbliche Arbeit für schulpflichtige Kinder verboten wird. Hierin treffen die Interessen des Arbeiters mit den staatlichen und den allgemein menschlichen Kulturinteressen zusammen. Ist zum Beispiel der Staat genötigt, wie das in den letzten Jahrzehnten mehrfach der Fall war, zuletzt 1893, als es sich um eine abermalige große Verstärkung der Armee handelte, das Minimalmaß für das Militär herabzusetzen, weil infolge der degenerierenden Wirkungen unseres Wirtschaftssystems die Zahl der militäruntauglichen jungen Männer immer größer wird, so sind alle an schützenden Gegenmaßregeln interessiert.[42] Das Endziel muß sein, die Nachteile, die das Maschinenwesen, verbesserte Arbeitswerkzeuge und die moderne Arbeitsweise hervorrufen, zu beseitigen, dagegen die enormen Vorteile, die sie der Menschheit geschaffen haben und in noch höherem Maße schaffen können, durch eine entsprechende Organisation der menschlichen Arbeit allen Gesellschaftsgliedern zustatten kommen zu lassen. Es ist ein Widersinn und ein schreiender Mißstand, daß Kulturfortschritte und Errungenschaften, die das Produkt der Gesamtheit sind, nur denen zugute kommen, die kraft ihrer materiellen Gewalt sie sich aneignen können, daß dagegen Tausende fleißiger Arbeiter und Arbeiterinnen, Handwerker usw. von Schrecken und Sorge befallen werden, vernehmen sie, daß der menschliche Geist wieder eine Erfindung machte, die das Vielfache der Handarbeit leistet, wodurch sie Aussicht haben, als unnütz und überzählig aufs Pflaster geworfen zu werden.[43] Dadurch wird das, was von allen mit Freuden begrüßt werden sollte, ein Gegenstand der feindseligsten Gesinnung, die in früheren Jahrzehnten mehr als einmal zu Fabrik-Sturm und Maschinendemolierung die Ursache wurde. Eine ähnliche feindselige Gesinnung besteht heute vielfach zwischen Mann und Frau als Arbeiter. Diese ist ebenfalls unnatürlich. Es muß also ein Gesellschaftszustand zu begründen versucht werden, in dem die volle Gleichberechtigung aller ohne Unterschied des Geschlechts zur Geltung kommt. Das ist durchführbar, sobald die gesamten Arbeitsmittel Eigentum der Gesellschaft werden, die gesamte Arbeit durch Anwendung aller technischen und wissenschaftlichen Vorteile und Hilfsmittel im Arbeitsprozeß den höchsten Grad der Fruchtbarkeit erlangt und für alle Arbeitsfähigen die Pflicht besteht, ein bestimmtes Maß von Arbeit zu leisten, das zur Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse notwendig ist, wofür die Gesellschaft wieder jedem einzelnen die Mittel zur Entwicklung seiner Fähigkeiten und zum Lebensgenuß gewährt. Die Frau soll wie der Mann nützliches und gleichberechtigtes Glied der Gesellschaft werden, sie soll wie der Mann alle ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten voll entwickeln können und, indem sie ihre Pflichten erfüllt, auch ihre Rechte beanspruchen können. Dem Manne als Freie und Gleiche gegenüberstehend, ist sie vor unwürdigen Zumutungen gesichert. Die gegenwärtige Entwicklung der Gesellschaft drängt immer mehr auf einen solchen Zustand hin, und es sind gerade die großen und schweren Übel in unserer Entwicklung, die einen neuen Zustand herbeizuführen nötigen.

Nachbemerkung (Monika Seifert):

Eine Analyse der heutigen Situation müßte zum einen den gesellschaftlichen Stellenwert von Frauenerwerbsarbeit überhaupt und zum anderen den der aktuellen Situation erwerbstätiger Frauen in der Wirtschaft beschreiben. Liest man den Text von Bebel, meint man an vielen Stellen, daß es sich nicht um die Beschreibung einer Situation handelt, die bereits 70 Jahre zurückliegt. Dies muß uns Anlaß sein zu fragen, was an Strategie und Taktik der Frauenbewegung vielleicht geändert werden muß, damit es in weiteren 70 Jahren nicht immer noch nötig ist, Bebel aus aktuellem Anlaß neu herauszugeben.

Gesellschaftliche Bedingungen und Einstellungen zur Frauenerwerbsarbeit
Bebel konstatiert, daß im Zuge der zunehmenden Industrialisierung immer mehr Frauen die Arbeitsplätze von Männern einnahmen. Mit dieser Formulierung drückt er die herrschende Vorstellung von der auch er sich stellenweise nicht freimachen konnte - aus, daß Arbeitsplätze eine zusätzliche Eigenschaft haben, nämlich männlich zu sein. Die Frauen erscheinen also notwendig als Eindringlinge und Konkurrenten, obwohl ja nicht sie, sondern die Kapitalisten über die Arbeitsplätze verfügen - es also nicht männliche, sondern kapitalistische Arbeitsplätze sind. Diese verhängnisvolle Spaltung der Arbeiterklasse hat tiefe Wunden hinterlassen. Es wäre einer genaueren Untersuchung wert, wie weit sie auch heute noch in der Einstellung zur Frauenarbeit nachwirkt.* (* Es wäre allerdings falsch zu glauben, die Einstellung zur Frauenerwerbsarbeit sei allein durch die kapitalistische Produktionsweise bestimmt. Dann müßte die Situation der Frauen in allen kapitalistischen Ländern gleich sein. Die Französinnen haben aber in weit höherem Maß bessere Ausbildungen und deshalb bessere Positionen in der Arbeitshierarchie. Für ihre Kinder stehen in ausreichendem Maß gesellschaftliche Einrichtungen zur Verfügung. (Vgl. dazu Helge Pross: Gleichberechtigung im Beruf. Ffm. 1973.) Die Tradition der Französischen Revolution und ihrer Frauen wirken dort fort. (S. S. 207 ff. dieses Buches.))
Für das patriarchalisch bestimmte Selbstwertgefühl des Arbeiters war es eine tiefe Erniedrigung, wenn die Frau die Familie unterhielt oder gezwungen war, dazuzuverdienen, weil sein Lohn nicht ausreichte. Nun war der Kapitalismus nur auf einen Teil der Frauen als Arbeitskräfte angewiesen. Frauen stellen seit der Jahrhundertwende etwa ein Drittel der Erwerbstätigen. Dieser Prozentsatz ist relativ konstant und wird nur von schweren Krisen, wie z. B. den beiden Weltkriegen, beeinflußt. Die Folge für die Frauen war, daß sie gegensätzlichen Rollenerwartungen genügen mußten. Sie mußten sowohl in der Lage sein, Hausfrau oder eben auch Hausfrau und erwerbstätig zu sein. Würden alle Frauen meinen, nur durch Berufsarbeit seien sie vollgültige Menschen, bedeutete das unter sonst unveränderten Arbeitsbedingungen Massenarbeitslosigkeit; entschieden sich alle für die Hausfrauenrolle, brächen ganze Industriezweige zusammen. Die Frauen müssen also für die eine wie die andere Lösung verfügbar sein, je nachdem, ob man sie gerade in der Produktion braucht oder nicht. Sie dürfen in ihrem Selbstverständnis auf keine Rolle festgelegt sein, was bedeutet, sie dürfen kein Selbstverständnis haben. Auch ökonomische Notwendigkeit ist keineswegs ein objektives Kriterium. Ob der Lohn des Mannes »ausreicht«, orientiert sich auch an der Möglichkeit, als Frau Arbeit zu finden, d. h. an dem Bedürfnis der kapitalistischen Produktion. Bis man sich in den letzten Jahren darauf besann, daß man ja im eigenen Land ein bisher nicht genutztes Reservoir an Arbeitskräften hat, gab es schon eine Million Gastarbeiter. Die Gründe dafür sind, daß es billiger schien, Gastarbeiter zu beschäftigen, da sie zunächst keine Folgekosten, wie Mutterschutz, Kindertagesstätten* (* Die vermehrte Einrichtung von Kindertagesstätten in den letzten Jahren hat ihre Ursache nicht in der vermehrten Nachfrage nach Frauenarbeit, sondern in der Notwendigkeit, ein größeres Reservoir an bildungsfähigen Arbeitskräften für die Zukunft zu produzieren.
Das läßt sich schon daran zeigen, daß zwar für jedes dritte Vorschulkind ein Kindergartenplatz vorhanden ist, daß aber nur jedes vierte Kind einer berufstätigen Mutter (1970 Frauenbericht) eine solche Einrichtung besuchte. Heige Pross spricht in diesem Zusammenhang von der BRD als einem Großmutterland) und Ganztagsschulen verursachten. Als klar wurde, daß sich diese zusätzliche Ausbeutung der Gastarbeiter nicht folgenlos würde durchhalten lassen, wurde Frauenarbeit wieder attraktiver. Es ist aber nicht auszuschließen, daß das Frauenbild der CDU - Frauen gehören ins Haus - in der Phase des Wiederaufbaus die Entscheidung für die Gastarbeiter und gegen die Frauen beeinflußt hat. Die im Augenblick übliche verbale Wertschätzung von Frauenerwerbsarbeit kann nicht über ihre faktische weitere Diskriminierung hinwegtäuschen, wie sich an der Stellung der Frauen in der Produktion unschwer zeigen läßt.

Stellung der Frauen in der Produktion
Etwa die Hälfte der weiblichen erwerbsfähigen Bevölkerung ist berufstätig, mindestens drei Viertel von ihnen am untersten Ende der Arbeitshierarchie.
Diese seit Bebels Zeiten nicht verbesserte Situation der erwerbstätigen Frauen läßt fragen, ob sich wenigstens durch den technischen Wandel* (*Anm. Seifert: Frauenarbeit und technischer Wandel. Rationalisierungskuratorium der deutschen Wirtschaft. Ffm. 1973) Verbesserungen für die Frauen erwarten lassen, da zum einen mit Rationalisierung und Automatisierung zumindest das Argument wegfällt, die Frauen könnten physisch die schwere Arbeit nicht leisten, und zum anderen die tägliche Arbeitszeit verkürzt wird. Schlüssige Angaben lassen sich im Moment zu diesem Problem nicht machen. Das einzige Material, auf das ich mich stützen kann, ist eine vorbereitende Untersuchung über Frauenarbeit und technischer Wandel. Die Autoren kommen zu folgendem Ergebnis: Die durch technischen Wandel neu entstehenden Arbeitsplätze verlangen in der Regel mehr oder weniger Qualifikation als die wegfallenden Arbeitsplätze. Frauen haben keine Schwierigkeiten, auf die unqualifizierten Arbeitsplätze umgesetzt zu werden; ob das im Falle der qualifizierten Arbeitsplätze auch geschieht, hängt von der Einstellung der Unternehmensleitung ab. Es gibt sowohl Beispiele für als auch gegen die Besetzung dieser Stellen mit Frauen. Da keine Untersuchung darüber existiert, wie häufig weiche Lösung gewählt wird, läßt sich keine Aussage über den Trend der Entwicklung machen. Festzustellen bleibt, daß die Entscheidung, ob Frauen auf qualifizierte Arbeitsplätze umgesetzt werden, von Männern abhängt, denn in den Unternehmensleitungen sind in der Regel auch keine Frauen vertreten. Wie diese sich entscheiden, hängt davon ab, ob männliche Arbeitskräfte zur Verfügung stehen und ob Frauen evtl. billiger sind. Ist die Entscheidung einmal für die Frauen gefallen, dann schmückt man sich gerne mit seiner Fortschrittlichkeit. Bei negativen Entscheidungen mögen beim Betriebsrat wie der Unternehmensleitung die alten Ängste, Frauen könnten den Männern Arbeitsplätze wegnehmen, mitschwingen. Der Grund, warum man nie von Arbeitskämpfen hört, in denen Frauen gegen das Vorenthalten von qualifizierten Arbeitsplätzen protestiert hätten, liegt wohl darin, daß sie sich für diese Arbeitsplätze nur befähigt fühlen, wenn man ihnen diese Fähigkeiten zutraut. Die gesellschaftliche, auch die von den Gewerkschaften de facto praktizierte, Diskriminierung von Frauenerwerbsarbeit zeigt sich an dieser Tatsache nur zu deutlich. Wären wenigstens auch die Gewerkschaften nicht nur verbal an der Gleichberechtigung der Frauen im Erwerbsleben interessiert, müßten sie die Frauen ganz anders ermuntern und unterstützen und dürften nicht im stillen nach dem Motto handeln, die Frauen wollten es ja gar nicht anders. Als ob Unterdrückte schon je ohne Hilfe in der Lage gewesen wären, sich selbst zu befreien.* (* Anm. Seifert: Es sei daran erinnert, daß die Arbeiterbewegung immer aus den qualifiziertesten Arbeitern bestand). Der Arbeitskräftemangel der letzten Jahre ließ viele Unternehmer zustimmen, wenn Frauen nur halbtags arbeiten wollten. Halbtagsarbeit scheint vielen Frauen die Lösung, ihre verschiedenen Rollen zu versöhnen. Daß dies aber gerade kein Kompromiß für gut ausgebildete Frauen ist, zeigt sich daran, daß anspruchsvollere Arbeitsplätze kaum halbtags zu bekommen sind.* (* Anm. Seifert: Die Assistenten der Frankfurter Universitätskinderklinik haben z. B. beschlossen, daß keine Ärztin eine Halbtagsstelle bekommen soll)
»Auch das konsequentere, erst seit wenigen Jahren breiter erörterte Modell einer partnerschaftlichen Teilung von familialen und außerfamilialen Aufgaben zwischen Mann und Frau würde keine Patentlösung sein. Nicht nur setzt es eine heute noch utopisch scheinende Umstrukturierung des Arbeitsplatzangebots voraus, die es Männern und Frauen erlauben würde, halbtags im Erwerb und die andere Tageshälfte zu Hause zu sein. Vielmehr verlangt auch dieses Modell, daß beide Beteiligte auf volles Sachengagement verzichten.«* (* Anm. Seifert: Helge Pross: Gleichberechtigung im Beruf? Ffm. 1973, S. 175)
Wenn schon Helge Pross, die sich als Anwältin der Frauen versteht, so argumentiert, besteht in der Tat wenig Hoffnung, daß sich an der Lage der Frauen im Berufsleben etwas Entscheidendes verändert. Insofern hat auch die Reduzierung der Frauen auf geringere Ausbildung durchaus »Sinn«, gesamtwirtschaftlich gesehen, ist die Qualifizierung des Mannes eben ein besseres Geschäft. Erst in einer Gesellschaft, in der allumfassende Bildung als Menschenrecht begriffen würde, in der die Verwertung der Fähigkeiten eines Menschen nicht oberstes Prinzip wäre, und die so organisiert wäre, daß berufliches Sachengagement nicht mit Aufgabe anderer Lebensbereiche (z. B. Kinder zu haben) verbunden wäre, kann das Dilemma der Frauen gelöst werden. Die nicht anti-feministischen Sozialisten haben 100 Jahre lang die Ansicht vertreten, die Befreiung der Frauen sei nur über ihre Eingliederung in die kapitalistische Wirtschaft möglich. Wie oben gezeigt wurde, sind weder alle berufstätig, noch können sie es im Moment sein. Auch ist die Rolle des under dogs der Wirtschaft nicht dazu angetan, Klassenbewußtsein zu erzeugen. So scheint mir, daß den Frauen ein Weg für ihre Befreiung gewiesen wurde, der keine materielle Basis hat. Die Behauptung, die Befreiung der Frauen sei nur durch ihre Eingliederung in den Produktionsprozeß zu erreichen, hätte dann befreiend wirken können, wenn für diese Behauptung auch ein politischer Kampf geführt worden wäre. Heute noch ist es Privatangelegenheit der Genossen, ob die Frauen arbeiten oder nicht. In der Regel sind sie zu Hause, wie alle anderen Frauen auch. Was sich als Analyse der Frauenfrage ausgab, erweist sich als Ideologie. Das sogenannte Dilemma der Frau schien sich »natürlich« aus ihrer Doppelrolle zu ergeben», so blieb es das individuelle Problem der Frauen, und war und ist für die einzelne Frau auch nicht zu lösen. Mit dieser alleinigen Strategie für die Befreiung der Frauen geht eine Abwertung der Hausfrauen einher. Ihr »Arbeitsplatz« verwies sie darauf, weiterhin unterdrückt zu bleiben, da sie sich nicht an der Seite der Männer in den Klassenkämpfen befreien können. Sie sind also darauf angewiesen, sich von den dazu Befähigten befreien zu lassen (was man ja durch geduldiges Warten, Sockenwaschen und Kaffeekochen unterstützen kann). Die Spaltung der Frauen blieb also auch in der sozialistischen Bewegung erhalten. Zu fragen ist, warum die Frauen erst in den letzten Jahren eigene, ihrer wahren Lage entsprechende Ansätze für politische Arbeit zu entwickeln begannen.* (* Anm. Seifert: S. dazu Mariarosa Dalla Costa/Selma James: Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft. Berlin 1973).
Die folgenden Überlegungen zu dieser Frage gehen nicht davon aus, daß die Argumente, die wir heute finden können, früher auch schon verfügbar waren. Dem unterschiedlichen Verwertungsinteresse des Kapitals an der weiblichen Ware Arbeitskraft setzten die Sozialisten kein eigenes Interesse entgegen.

  • Weil ein Teil der Frauen entlohnt arbeitete, hatten wohl die anderen das Gefühl, ihre Arbeit sei unbezahlt. Das entspricht nicht den historischen Tatsachen. Auf Dauer konnten sich es die Kapitalisten gar nicht leisten, Frauen und Kinder in der Fabrik arbeiten zu lassen, da das die Ware Arbeitskraft unbrauchbar machte. Ein erwachsenes Mitglied der Familie mußte so bezahlt werden, daß ein anderes sich um den Reproduktionssektor kümmern konnte. Eine Parole wie der halbe Lohn ist der Lohn der Frau und der Kampf, das z. B. auch gesetzlich zu verankern, hätte den Frauen klar gemacht, daß sie nicht nur von dem eigenen Mann abhängig sind, sondern auch von den Kapitalisten. Wenn es einen Kampf für kollektive Lebensformen, wie Bebel (mehrere Frauen wirtschaften gemeinsam) sie ja auch antizipierte und auch schon zu seiner Zeit für verwirklichbar hielt, gegeben hätte, wäre das eine Möglichkeit gewesen, die individuelle Abhängigkeit aufzuheben.
  • Es wäre darauf hinzuweisen, daß die Einschätzung der Arbeit im Haushalt sich in nichts von der bürgerlichen Ökonomie unterscheidet. In jedem Lehrbuch der Ökonomie ist zwar zu lesen, daß auch in den Haushalten produziert wird, aber im Bruttosozialprodukt taucht der Wert des dort Produzierten nicht auf. Die im Haushalt geleistete Arbeit ist für das Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft ebenso wichtig wie die lndustriearbeit. Weil die Hausarbeit außerhalb der Warenzirkulation bleibt, wird sie auch bei Sozialisten vernachlässigt - obwohl hier etwas produziert wird, was »unbezahlbar« ist, nämlich die zukünftige Ware Arbeitskraft (und nicht zuletzt auch die Genossinnen und Genossen von morgen). So genießt auch die Hausfrau keinerlei Prestige. Politisch bleibt sie das bloße Opfer von Agitation, mit dem Ziel, daß sie sich in Arbeitskämpfen nicht gegen ihre Männer stellen. Auch Sozialisten halten die bürgerliche Trennung von Öffentlichkeit und Privatem aufrecht.
  • Die in der Stufentheorie angelegte Oberzeugung, eine Gesellschaft müsse für die nächste Stufe reif sein, d. h. die auf einer Stufe vorherrschende Produktionsweise muß sich durchgesetzt haben, ehe eine neue Stufe möglich ist.* (* Anm. Seifert: Um den Grad der Reife zu messen, kann man konstatieren, daß die objektiven Bedingungen reif seien, aber die Menschen müssen auch reif dazu sein, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Marx sprach von der Alternative Sozialismus oder Barbarei)
  • In unserem Fall: vorkapitalistische Produktionsweisen wie Handwerk und Hauswirtschaft müssen auch in die große Industrie einbezogen sein. Eine Bewegung für den Sozialismus, die übersieht, daß ein Teil der Gesellschaft die Bedingungen nicht erfüllen kann, die sie für das Reiferwerden stellt, sondern die Frauen in (infantiler) Abhängigkeit läßt, wird ihr Ziel schwerlich erreichen.

Rückblickend können wir uns fragen, ob es nicht eine List der Geschichte war, uns ökonomische Gleichberechtigung bis heute vorzuenthalten. So waren wir nicht gezwungen, das männliche Leistungsprinzip voll zu übernehmen. Angesichts der Entwicklung der Produktivkräfte läßt es sich m. E. zu recht fragen, ob unser Beitrag zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise nicht etwas anderes sein kann, als eben diese noch weiter zu vervollkommnen.