Annette von Droste-Hülshoff

Die Frau in der Auseinandersetzung mit ihrem Selbst

Die dichterische wie religiöse Sendung, die Annette v. Droste-Hülshoff in der Geistesgeschichte der Neuzeit erfüllt hat, soll der Gegenstand unserer nächsten Betrachtung sein. Diese Dichterin steht inmitten der literarischen Welt des 19. Jahrhunderts, die noch weitgehend aus der christlichen Tradition ihre Impulse erhielt, sie zählt aber zu den wenigen, bei denen de christliche Glaube in keiner Weise humanistisch aufgeweicht ist. Dies sagt nichts gegen die Einsichten, welche derartige Weltinterpretationen vermitteln können. Aber es läßt uns aufhorchen, daß Annette unter dem immer stärkeren Einfluß solcher Strömungen ihre Glaubenssubstanz behauptet hat. Sie hat diese in Auseinandersetzung mit der Tradition neu gewonnen wie der unruhig forschende Friedrich Schlegel und der noch schonungslosere Kierkegaard.
Annette voraus ging jene interessante, schöpferisch anregende Frauengeneration der Romantik, welche wie schon vorher die Frauen der Renaissance, eine besondere Beziehung zur Kunst hatte. Frau und Kunst gehören seitdem als Vorstellungseinheit zusammen: die Frau als Gegenstand der Kunst, als Inspirierende des künstlerischen  Schaffens,  auch  als  Ausübende  der Kunst, aber kaum als Schöpferin eines großen künstlerischen Werkes.
Die Frauen der Romantik, vor allem Caroline und Dorothea Schlegel wie auch Bettina v. Arnim, riefen eine neue künstlerische Atmosphäre hervor, Annette aber, mit führenden literarischen Kreisen bekannt und doch einsam, durchbrach die dichterische Atmosphäre dieser Generation zum großen dichterischen Werk selbst. Jene unheimliche Erwartung der romantischen Frauen, durch die Kunst dem Leben zutiefst innezuwerden, ist für sie zum harten, entscheidungsvollen Lebensweg geworden. Die geistige Welthaltung Annette v. Droste-Hülshoffs wurde bei ihrer Verwurzelung im Christentum keineswegs restaurativ, sondern — und das kann man ohne Einschränkung sagen — ihre Dichtung blieb, die Zeit überdauernd, modern.
Was ihr Bewußtsein in der traditionell festgelegten Lebensweise des Adelsfräuleins durchstand, der Welt nicht ausweichend, sich Gott nicht entziehend, die Natur bis auf ihren vergänglichen Todeskern durchfühlend, ist nichts anderes als die Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Selbst, wie sie sich als Frau in der christ-lich-säkularisierten Neuzeit zurechtfinden mußte. Es ist bei ihr etwas Ähnliches wahrzunehmen wie schon einige Jahrhunderte früher bei Katharina von Genua oder Teresa von Ävila: eine Prüfung des eigenen Innern, die Unabhängigkeitserklärung von der Umwelt und ein Vertrauen zur inneren Tiefe und Selbständigkeit. Die Frau konfrontiert sich mit Welt und Ich in einer Art, welche der mittelalterlichen Hildegard von Bingen noch fremd war. Mit dieser Strenge verbindet sich bei Annette v. Droste-Hülshoff ein Reichtum an Menschlichkeit und Güte, die ihre Religiosität frei halten von allem Gewollten und Erzwungenen. Sie lebt auf ihre Art den Stand der unverheirateten Frau in der Welt vor, die nicht von einer klösterlichen Gemeinschaft getragen ist.

a) Heimatgebundenes Dasein

Der Name Annette v. Droste-Hülshoff ist von dem ihres Heimatlandes Westfalen untrennbar. Ihre Gedanken und Worte tragen den Charakter dieses bodenständigen Volksstammes. Dennoch wäre es falsch, würde man Annette im allgemein üblichen Sinne unter die Heimatdichter einreihen. Sie besitzt die Vorzüge dieser in jeder deutschen Landschaft damals auftretenden und das Heimatgefühl gegen Verstädterung und Industrialisierung wachhaltenden Dichter, darüber hinaus aber eignet ihr eine noch ganz andere geistige Weite. Mit Stifter und Jeremias Gotthelf hat Annette in aller Deutlichkeit gesehen, daß es einen Unterschied gibt zwischen Menschen von einem heimatgebundenen Dasein und solchen, die dieses nicht mehr haben oder sogar bewußt preisgeben. Das heimatgebundene Dasein ist für sie eines der wertvollsten Güter des Menschen, die man vor der Veräußerlichung bewahren muß:
Hat jeder doch sein eigenes Blut Und seiner Heimat Segen [1]
Es gibt aber bei dieser Dichterin keinen einseitig auf ihr Land gerichteten Heimatstolz, vielmehr kommt es ihr darauf an, daß jeder Mensch das Heilvolle seiner Heimat annehme und die Welt als ganze davon präge. Heimat bedeutet nach ihren vielen einzelnen Aussagen ein in Liebe entgegengenommenes, im allgemeinen schon von den Eltern sinnvoll durchlebtes Stück Welt. Bei Annette lernen wir, daß die Heimat den selbstverständlichen Lebensort ausmacht, wo sich der Mensch geborgen weiß. Heimatlos zu sein bedeutet dagegen, nicht zu wissen, wohin man auf dieser Erde gehört, nicht erfahren zu haben, daß es im Getriebe der Welt einen dem Menschen zugedachten Mittelpunkt gibt, auf den alles noch so Entfernte sich beziehen kann. Für eine Frau ist die Haus-, Heimat- und Landschaftsgebundenheit besonders wichtig. Sie gewährleistet jene Ruhe, die der Frau bis in ihre personalen Anstrengungen wohltut. Annette brauchte, da sie nicht geheiratet hat, keine zweite Heimat zu adoptieren. Wie lange sie auch am Bodensee lebte, sie blieb im Herzen Westfalen heimatverbunden. Daß dieses sich nie änderte, gibt ihrem Wesen und Werk die seinshafte Kontinuität. Aus der an inneren Erfahrungen so reichen Lebenswelt Annettes ist diese Form der Beständigkeit nicht wegzudenken.
In welcher Weise macht sich nun die Heimatverbundenheit im Werk der Dichterin bemerkbar? Sie kommt niemals von außen heran wie eine übernommene Idee, die man als richtig erkannt hat und die es durchzusetzen gilt, sondern in allen Bezügen des Lebens ist sie bereits vorgegeben, schwingt mit und trägt das ganze Dasein. Die Natur, die Menschen, die Sitte und das Land bestimmen das heimatliche Sein und geben ihm den Charakter einer wirklich gelebten Welt.
Verweilen wir zuerst bei dem Gedanken des Landes. Es gibt verschiedene Dichtungen Annettes, die ihn direkt zum Gegenstand haben. In den »Bildern aus Westfalen« versucht die Dichterin, einen nach Landschaft, Sitte und wirtschaftlichem Leben geordneten Überblick zu geben. Dieses Prosawerk enthält Studien, in denen sie sich mit den Zuständen ihres Landes vertraut gemacht hat, um sie besser kennenzulernen und nach Art einer kulturkundlichen Abhandlung anderen mitzuteilen. In dem als Roman vorgesehenen Fragment »Bei uns zu Lande auf dem Lande« hat Annette etwas anderes unternommen, sie will die engere Heimat begreifen, das Haus mit seinen Menschen und dessen unmittelbare Umgebung. Charakteristisch ist die Einleitung dieses Werkes, wo sich Annette selbst hinter dem Namen des Herausgebers einer angeblich alten Handschrift verbirgt:

  • »Ich bin ein Westfale, und zwar ein Stockwestfale, nämlich ein Münsterländer — Gott sei Dank! füge ich hinzu —, und denke gut genug von jedem Fremden, wer er auch sei, um ihm zuzutrauen, daß er gleich mir den Boden, wo seine Lebenden wandeln und seine Toten ruhen, mit keinem andern auf Erden vertauschen würde... Möge die zivilisierte Welt also getröstet sein, denn ihre Fortschritte zu der alles nivellierenden Unbefangenheit der wandernden Schauspieler, Scherenschleifer und vagierenden Musikanten sind schnell und unwidersprechlich.« [2]

Die Heimat ist demnach das Land, das durch die gestorbenen, jetzt lebenden und weiter leben werdenden Menschen des Familien- und Freundeskreises bezeichnet ist. Dagegen hebt sich die Welt der beginnenden Technik und Zivilisation ab; sie kennt diesen Lebensgrund nicht mehr, löscht die von der Landschaft geprägten menschlichen Eigentümlichkeiten aus und ist von der Gefahr der Nivellierung bedroht.
In dem Versepos »Schlacht im Loener Bruch« erweist sich das eigene Land als der vom Geschichtsgang durchpflügte, aber doch beständig bleibende, wenn auch nicht unveränderliche Lebensgrund des Menschen. Am Anfang dieses Epos hat Annette ihre menschliche wie dichterische Haltung zur Heimat direkt ausgesprochen:

Es war' mir eine werte Saat,
blieb' ich so treu der guten Tat,
als ich mit allen tiefsten Trieben,
mein kleines Land, dir treu geblieben!
So sei dir alles zugewandt,
mein Geist, mein Sinnen, meine Hand ...[3]

Aus dem Gedanken der heimatlichen Landschaft ergibt sich auch Annettes Verhältnis zur Natur. Sie gestaltet diese nicht nur aus der Dimension des ästhetischen Erlebnisses; die Natur ist für sie Schöpfung. Es ist aber auch nicht allein die von der bäuerlichen Kultur in Bearbeitung genommene, in Fruchtbarkeit und Erntesegen umgewandelte Natur, was wir bei Annette finden. Sie berücksichtigt alle diese Arten der Naturerfahrung, kennt aber noch etwas anderes. Sie liebt die Natur, sie gibt sich ihr hin mit ihrer ganzen Seele, und hier erwartet sie ihre irdische Erfüllung. Mit einem solchen Verhältnis zur Natur durchbricht sie ihre heimatliche Menschenwelt, ohne daß sie diese aufgibt. Sie geht ihren einsamen, auf Seligkeit hoffenden Weg in die Natur, kehrt aber immer in gelöster oder auch aufgeschreckter Seelenhaltung zur heimatlichen Sphäre zurück. So geschieht eine jahrzehntelang andauernde Auseinandersetzung, nicht nur mit der Natur, sondern an der Natur mit ihrem eigenen weiblichen Selbst.
Den Weg Annettes in die Natur kann man auf drei Stufen beschreiben. Die erste Stufe ist ein Betrachten, ein Wahrnehmen auch des Kleinen und Unscheinbaren; nennen wir es das Sich-Einlassen in die Natur. Diese erscheint als das Schöne, Erfreuliche und Beseligende, nimmt die Sorgen und das seelische Niedergedrücktsein auf, gewährt aus der Fülle ihrer Erscheinungen Gegenkräfte und weitet das Daseinsgefühl. So entsteht ein untrennbares Miteinander von Seele und Natur, die Verwandlung zum inneren Erlebnis:

Süße Ruh, süßer Taumel im Gras,
von des Krautes Arome umhaucht,
tiefe Flut, tief, tief trunkne Flut,
wenn die Wolk am Azure verraucht,
wenn aufs müde, schwimmende Haupt
süßes Lachen gaukelt herab,
liebe Stimme säuselt und träuft
wie die Lindenblüt auf ein Grab [4]

Diese Anfangsstrophe aus dem Gedicht »Im Grase« hat gar nicht erst eine gegenständliche Naturbetrachtung aufkommen lassen. Alle seelischen Wahrnehmungsorgane sind wach: das Sehen, das Lauschen, das innere Schmecken, das Gewiegtwerden von Träumen, Duft und die Nähe zum übermütigen Lachen. Das weibliche Gemüt in seinem Einfühlungsvermögen braucht sich keine Schranken aufzuerlegen. Wenngleich noch völlig im Zusammenhang verbleibend, schlägt die letzte Zeile aber schon einen anderen Ton an. Er verheißt die nächste Stufe, vor der kein banges Sich-bewahren-Wollen Einhalt gebieten kann: die Erfahrung des Dunklen, des Unheimlichen, des Vergänglichen und des Todes.
Trotz ihrer bergenden Macht für den Menschen ist die Natur nicht heil. Diese Erfahrung hat sich der Dichterin stets von neuem bestätigt, und sie hat sie in ihrem großen Gedicht »Die ächzende Kreatur« mit aller Deutlichkeit ausgesprochen. Aber auch der Mensch ist nicht heil, davor rettet kein Einspinnen in die Natur, davor hilft keine noch so feingeistige Resignation, sondern das bei dieser Naturverbundenheit zunächst vielleicht Unerwartete: Standhalten, Hinnahme dieser Einsicht unter Verzicht auf jede ästhetische Umdeutung, um stattdessen auf eine Kraft zu hoffen, die dem Dunkel der Todesahnung und dem Zerstäubenden der Vergänglichkeit gewachsen ist. Hierfür ist Annette in ihrem Wesen ein starkes Selbstvertrauen mitgegeben. Im Unheimlichen der Natur stößt sie auf den Todeskern der eigenen Existenz, auf ihr Endlichsein und Begrenztsein. Daher gibt es bei Annette trotz aller Naturvers enkung nicht das Einswerden mit der Natur, sondern letztlich setzt sich immer das Gesetz der menschlichen Distanz und geistigen Überlegenheit durch.
Diese zweite Stufe auf dem Weg Annettes in die Natur, deren Ergebnis die Betroffenheit von der eigenen Vergänglichkeit ist, greift auf die letzte über, wo es gilt, angesichts der Natur zu sich selbst zu kommen. Die Verankerung im christlichen Glauben sowie in der heimatlichen Mensdienwelt bietet ihr den Rückhalt dazu.

Komm her, komm nieder — um ist deine Zeit!
Ich harre dein, im heiligen Bad geweiht.
Ich fuhr empor und schüttelte mich dann
wie einer, der dem Scheintod erst entrann,
und taumelte entlang die dunklen Hage,
noch immer zweifelnd, oh der Stern am Rain
sei wirklich meiner Schlummerlampe Schein
oder das ew'ge Licht am Sarkophage.[5]

Was Hildegard von Bingen warnend abgelehnt hat, dem Unheimlichen der Natur nachzuspüren, das wird von Annette mit dem Bewußtsein der Gefahr übernommen. Sie fühlt sich jedoch als Christin stark genug, dem Sog des Dunklen, Dämonischen und Mythischen, dem in der Neuzeit immer mehr nachgegeben worden ist, nicht zu unterliegen. So kann sich an ihrem eigenen Selbst eine ganz bestimmte Form der Läuterung vollziehen. Die seelische Veranlagung der Frau, sich auszugeben, sich zu verströmen, mit den Dingen verschlungen und verquickt zu sein, sich also in einer unkontrollierbaren Dynamik zu befinden, führt bei Annette zu einer Klärung und Verwesentlichung ihres personalen Selbst. Für diesen Durchgang kennt sie das Bild des Lichtes, das in der eben zitierten Strophe dreifach gebrochen da ist: als noch an die Naturverhaftung mahnender Stern, als die in der Menschenwelt Geborgenheit verheißende Heimatlampe und als das die Nähe Gottes ankündigende Totenlicht. Es liegen also dem Naturverständnis Annettes die Züge einer modernen Subjektivität zugrunde. Diese sind aber so sehr in das nach Heilung und Erlösung rufende Selbst hineingenommen, daß sie dadurch der christlichen Gläubigkeit zurückgegeben werden.
An dem Naturverhältnis Annettes wird ohne weiteres klar, daß ihr heimatgebundenes Dasein bei aller Selbstverständlichkeit nicht krisenlos und unproblematisch ist. Die aus dem Christentum gewachsene Lebensart hat sie voll und ganz anerkannt und doch den Weg der Einsamkeit eingeschlagen, wo sich neues menschliches Sein ereignet. An sich ist diese Doppelheit nicht etwas Widersprüchliches, in geringem Maße muß sie jeder durchhalten, der in einer von Sitte und Brauchtum gehaltenen Welt lebt.
Eine feste Beziehung zum eigenen Selbst haben dabei für Annette die Toten, insbesondere die aus der Verwandtschaft und Freundschaft. Ihre Gräber machen die Erde über Generationen hinweg vertraut. So sind die Toten nicht furchtbar, auch nicht weit weggerückt, sondern dem Gebet anheimgegeben. Weil sie das Leben bestanden haben und um das Gericht Gottes wissen, nehmen sie für die Lebenden eine richterliche Strenge an und verhelfen ihnen in den Wirren dieser Welt zur Klarheit. Das Nahebleiben der Toten bewirkt, daß der Mensch den Anruf aus der jenseitigen Welt nicht überhören kann.
In allen ihren dichterischen wie brieflichen Äußerungen läßt uns Annette v. Droste-Hülshoff erkennen, wie sehr eine durch Generationen als recht erwiesene Lebensordnung auch in der neuzeitlichen Welt noch Halt gewährt und die Kontaktarmut und Vereinzelung aufhebt. Aufgrund dieser metaphysischen Bedeutung ist die Sitte kein enger Moralkodex. Das menschliche Versagen ist gleichsam einkalkuliert, so daß selbst bei größten Unzulänglichkeiten das Leben immer noch möglich bleibt. Mit den Menschen der näheren Umwelt am Alltag zu arbeiten und die Feste des Jahres in Familie und Kirche zu feiern, den großen Ereignissen des Lebens genügend Zeit zu widmen, dies alles macht den Rhythmus und die Kontinuität des heimatgebundenen und doch ureigenen Daseins aus. Man muß aber bei Annette darüber hinaus von einer ausdrücklichen Liebe zum Heute sprechen, zu allem, was im gegenwärtigen Leben unter den Mitmenschen geschieht.
So ist ihr Heimatgefühl alles andere als eine Festlegung auf althergebrachte Zustände. Sicher will Annette im Zeitalter der beginnenden Verstädterung und Tra-ditionslosigkeit durch das Festhalten des Heimatgefühls die Lebenskräfte der Menschen sammeln. Es wäre aber nicht in ihrem Sinne gedacht, wenn der Mensch durch das Heimatgefühl den Blick für die weite Welt und für das Wagnis einer außerhalb seines ursprünglichen Lebenskreises liegenden Aufgabe verlöre. Heimat kann man sich überall erwerben, wo man menschliche Gemeinschaft erfährt, wo man sinnvoll arbeiten und intensiv leben kann. In unserer heutigen Situation des Wechsels der Wohnstätten und Arbeitsplätze ist es uns vielleicht weniger aufgegeben, Heimat zu bewahren, als vielmehr, Heimat zu schaffen.

b) Die religiöse Problematik

Was über das Verhältnis von Sitte und eigenem Selbst bei Annette gilt, läßt sich auch von der Beziehung zwischen der allgemeinen Frömmigkeitswelt und ihrem persönlichen Glauben feststellen. Zwar bleibt für sie der objektive Gehalt des christlichen Glaubens unantastbare Wahrheit und ihre Zugehörigkeit zur kirchlichen Gemeinschaft selbstverständlich, problematisch aber ist die Glaubensaneignung im eigenen Selbst. Die im 19. Jahrhundert das Christentum emotional stärkende Frömmigkeitshaltung wird von der Dichterin als unzulänglich erlebt. Sie nimmt gleichsam die Krise der heutigen Zeit, wo diese Frömmigkeitshaltung brüchig geworden ist und die Menschen nicht mehr trägt, in sich schon vorweg und erringt eine auch heute zu respektierende, haltbare christliche Position. Diese hat sie aber nie als ruhigen Besitz, sondern immer nur in der Anfechtung und neuen Bewährung. Das »Geistliche Jahr« Annettes ist deshalb eines der entscheidenden Dokumente des 19. Jahrhunderts, weil es noch aus der allgemeinen Frömmigkeitswelt hervorgegangen ist und aus ihr seine Impulse holt, aber dennoch zu einer neuen religiösen Existenzform vorstößt.
Welche Art von Frömmigkeit ist es nun, die Annette in sich überwindet? Entstanden im Spätmittelalter, als die Theologie sich durch abstrakte Spekulationen immer mehr vom praktischen Glaubensvollzug entfernte, hat diese Frömmigkeitshaltung auf der Ebene des Gefühls und der religiösen Ergriffenheit einen Ersatz gesucht. Dabei wurde oft das Wesentliche der Mysterien des christlichen Glaubens nicht mehr gesehen oder verzeichnet, bloße Vorbereiche wurden zu wichtig genommen, und es entstand eine allgemein religiöse Atmosphäre, wie sie in allen Religionen anzutreffen ist. Verfehlt wäre es, wollte man diese Frömmigkeitshaltung von vornherein nur negativ bewerten. Allein schon der Gedanke daran, wieviel Leid, Krankheit und menschliches Schicksal aus ihr Trost gefunden haben, läßt nicht zu, daß man ihr den Charakter des Echten abspricht.
Was wir im 19. Jahrhundert an Frömmigkeit antreffen, ist sogar zum guten Teil eine aus der Romantik hervorgegangene Intensivierung und Neubelebung. Wenn Annette sich dennoch in ihr nicht mehr aussprechen und wiederfinden kann, so liegt es daran, daß sie in ihrem Glauben jenen Anspruch wahrnimmt, der den Menschen über das Emotionale und Subjektive hinausführt. Indem die Frömmigkeit sich bei Annette intensiviert und radikalisiert, drängt sie das Ich in eine existentielle Betroffenheit, die nicht mehr beruhigt, sondern aufschreckt. Damit erreicht Annette, auf ihre Zeit angemessen, eine Religiosität, wie man sie bei Augustinus und Pascal vorgeformt sehen kann. Ihr »Geistliches Jahr« ist ein in die eigene Tiefe führendes, das Selbst zum Mitmenschen weitendes und zu Gott öffnendes Bekennen, beschwert um die im Herzen auszutragende Gewissensproblematik. So spielt sich bei Annette auf der religiösen Ebene eine über das Naturerleben noch hinauslangende entscheidende Auseinandersetzung mit ihrem Selbst ab.[6]
Ihre Reihenfolge im »Geistlichen Jahr« einhaltend, wollen wir drei Gedichte näher betrachten. Es sind die Gedichte auf den Montag der Karwoche, den Pfingstmontag und den 6. Sonntag nach Pfingsten. Das erste steht im ersten Teil des »Geistlichen Jahres« und spiegelt die geistige Verfassung der jungen Annette am Anfang ihrer Zwanziger jähre, die beiden andern, aus dem zweiten Teil des »Geistlichen Jahres«, zeigen uns, wie die Dichterin nach nahezu zwei Jahrzehnten die gleiche Problematik tiefer treibt.
Das Gedicht zum Montag der Karwoche behandelt die Perikope vom verdorrten Feigenbaum, die in dem Annette vorliegenden Formular auf diesen Tag traf. Annette gibt der in ihrem biblischen Sinn so rätselvollen Begebenheit eine dichterische Deutung. Sie läßt sich nicht auf eine Paraphrasierung der Verfluchungstat Jesu ein, vielmehr sieht sie den verdorrten Baum als Mahnmal aus der Schöpfung für ein verfehltes Menschsein. Im Dialog zwischen Mensch und Feigenbaum bringt das Gedicht zur Sprache, was dem Menschen für das Leben zu wissen not tut:

»Wie stehst du doch so dürr und kahl,
Die trocknen Adern leer,
O Feigenbaum!
Ein Totenkranz von Blättern fahl

Hängt rasselnd um dich her
Wie Wellenschaum.«
»O Mensch, ich muß hier stehn, ich muß
Dich grüßen mit dem Todesgruß,
Daß du das Lehen fassest,
Es nicht entlassest!«

»Wie halt ich denn das Leben fest.
Daß es mir nicht entrinnt,
O Feigenbaum?«
»O Mensch, der Wille ist das Best,
Die wahre Treu gewinnt!
Hältst du im Zaum
Die Hoffart und die Zweifelsucht,
Die Lauheit auch in guter Zucht,
Muß dir in diesem Treiben
Das Leben bleiben.«

»Wie bist du denn so völlig tot,
So ganz und gar dahin,
O Feigenbaum?«
»O Mensch, wie üpp'ges Morgenrot
Ließ ich mein Leben ziehn
Am Erdensaum.
Und weh, und dachte nicht der Frucht!
Da hat mich Gott der Herr verflucht,
Daß ich muß allem Leben
Ein Zeugnis geben« ...

»Wo bleibt denn seine große Huld,
Was fruchtet denn die Reu,
O Feigenbaum?«
»O Mensch, gedenk an deine Schuld,
Gedenk an seine Treu!
Schau, in den Raum
Hat er mich gnadenvoll gestellt,
Daß ich durch seine weite Welt
Aus meines Elends Tiefe
Dir warnend riefe.«

»Steht denn kein Hoffen mehr hei dir,
Kein Hoffen in der Not,
O Feigenbaum?«
»O Mensch, kein Hoffen steht bei mir,
Denn ich bin tot, bin tot!
O Lebenstraum,
Hätt ich dein schweres Sein gefühlt,
Hätt ich nicht frech mit dir gespielt,
Ich stände nicht gerichtet,
Weh mir, vernichtet!« [7]

Der Grundgedanke in diesem Gedicht ist das Leben, das dem Menschen geschenkt ist und das er scheinbar selbstverständlich besitzt. Annette hat hier mit dem Wort Leben alles das zusammengefaßt, was das menschlich-geschöpfliche Sein ausmacht. Für dieses Leben muß der Feigenbaum dem Menschen Zeugnis ablegen. Er ist das allen erkennbare Zeichen des entzogenen Lebens, aus dem hervorgeht, daß der Mensch das Leben nicht unwiderruflich hat. Das Thema des Feigenbaumes ist für Annette eine Variation des ihr so wichtigen Gedankens vom Festhalten, womit sie den geistigen Akt der Intensivierung meint, um das je Einmalige im menschlichen Lebensverlauf in die Dauer zu heben und sich davon prägen zu lassen. Damit soll der Flüchtigkeit des Lebens und dem Entgleiten seiner Sinn spendenden Augenblicke entgegengewirkt werden.
Wie dieses Festhalten erreicht werden kann, ist aus der Dialogik der zweiten Strophe zu entnehmen. Dabei fallen eine Reihe von Begriffen wie Wille und Treue als Grundsätze für das Bewahren des Lebens und Hoffart, Zweifelsucht, Lauheit als Ursache für seinen Verlust. Alle diese Begriffe sind wesentlich für Annettes Menschenbild, aber nicht in ihrem gängigen Alltagsverständnis einer auf unmittelbare Anwendung bedachten Moral, das man zuerst dahinter vermuten könnte und an das sie auch bewußt anklingen, sondern in einer Annette eigenen Tiefenschicht. Hoffart, Lauheit und Zweifelsucht meinen in bezug auf verschiedene Bereiche das   gleiche  menschliche  Versagen:   die  schöpfungswidrige Gründung des Menschen auf sich selbst, eine Absurdität, welche von Gott mit dem Entzug des Lebens beantwortet wird. Hoffart bezieht sich bei diesem von vornherein verfehlten Selbstgründungsversuch auf den Geist, Lauheit auf den Willen, Zweifelsucht auf das menschliche Wissen.
Der Zustand der Selbstherrlichkeit, in welchem der Mensch das volle Leben zu haben wähnt, kommt aber dennoch nichts anderem gleich als einem unfruchtbaren und sinnlosen Dahinleben, wovon vor allem die dritte Strophe spricht. Das scheinbar kräftige Leben kann vom heimlichen Verfall ausgezehrt sein, der aber Gott nicht verborgen bleiben kann. Vor der Strafe für die Schuld der Schöpfungswidrigkeit, die ihm am Feigenbaum demonstriert wird, sucht sich der Mensch mit dem Rückgriff auf Gottes Erbarmen und die Kraft seiner Reue zu decken. Gott hat aber seiner Gerechtigkeit mit der Errichtung von äußeren Warnzeichen bereits genug getan.
In der letzten Strophe wird der Mensch aus der Dialogik des Gedichtes entlassen und gleichsam sich selbst überlassen mit der vom Feigenbaum an ihn ergangenen Warnung, sein Geschöpf sein nicht zu verfehlen: dem irdischen Leben voll innezusein, sich mit allen Kräften in der Welt zu verwurzeln und gerade dabei das eigene Selbst auf Gott zu gründen, um so zur Frucht des Menschseins zu gelangen. Dem Menschen bleibt diese Hoffnung, wenn er das für ihn gesetzte Zeichen zu Herzen nimmt. Der Feigenbaum aber verstummt mit der Klage, das schwere Sein der Schöpfung ausgeschlagen zu haben und durch das  als gerecht erkannte Gericht Gottes vernichtet zu sein.
Im verdorrten Feigenbaum hat Annette den Mitmenschen wie sich selbst ein Zeichen vor Augen gestellt, welches mehr ist als nur Gleichnis und Symbol. Es ist ein Paradox aus biblischer Denkweise, sofern das schuldhaft Gewordene, das Verfluchte, das Tote für das Heile künden muß. Daher haftet diesem Zeichen auch eine so unwiderstehliche Wirkung an. Nichts lockert sich, nichts wird zurückgenommen vor dem immer wiederkehrenden, auf das Leben hinweisenden Anspruch, so daß der verdorrte Feigenbaum sogar eine auf das Kreuz transparente Allgewalt über die Welt annehmen kann. Man hat sich im allgemeinen daran gewöhnt, im Kreuz zu schnell das heilvolle Zeichen des Sieges zu erblicken, während es doch zunächst wie der Feigenbaum bei Annette das vernichtende Gericht Gottes über die sündige Menschheit ausdrückt. Indem also der verdorrte Feigenbaum von der Dichterin in eine Vorschau des Kreuzes gerückt wird, brechen sich an ihm die drei christlichen Grundbegriffe von Schöpfung, Schuld, Erlösung zur unbedingten Frage nach dem menschlichen Leben.
Das Pfingstmontagsgedicht hat nicht mehr diese Totalität des Lebens zum Gegenstand, sondern den Glauben als das innere Leben des Menschen, von dem alles andere seinen Ausgang nimmt. Es zeigt vielleicht am deutlichsten, wie die Frömmigkeitswelt des 19. Jahrhunderts für Annettes eigene religiöse Bemühung zwar noch die Grundlage bildet, aber überwunden wird. Durch das schwerwiegende Wort aus dem Festevangelium »Wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet« ist das ganze Gedicht dem Thema des Glaubens zugewandt. Dennoch sind alle Strophen von einer jeweils besonderen Inhaltlichkeit. Die erste enthält schon den Annette eigentümlichen Glaubensbegriff, der im Verlauf des »Geistlichen Jahres« für sie immer festere Formen angenommen hat, während die zweite jener Frömmigkeitshaltung verpflichtet ist, von der sich die Dichterin allerwärts umgeben sieht. Die dritte Strophe drückt zunächst eine einmalige personale Betroffenheit aus, die aber noch nicht durchstanden wird, sondern wieder in der Frömmigkeitsweit ihren Rückhalt sucht. Als ausgesprochen theologische Strophe stellt sich die vierte dar, die in dieser Hinsicht das für ein Gedicht eben noch Mögliche wagt. In der fünften geht es um das Problem des Zweifels, das bei Annette eine ganz bestimmte Bedeutung annimmt. Über dem ganzen Gedicht aber wie über jeder einzelnen Strophe schwingt der scheinbare Gegensatz von Glauben und Liebe, sofern die Liebe als das Menschlichere und leichter zu Verwirklichende gegen die Härte des Glaubensanspruchs ausgespielt wird. Dieser vorläufige Überblick soll uns dazu verhelfen, aus dem Gedicht die religiöse Existenz der Dichterin besser zu verstehen.

Ist es der Glaube nur, dem du verheißen,
Dann bin ich tot.
O Glaube wie lebend'gen Blutes Kreisen,
Er tut mir not!
Ich hab ihn nicht.
Ach, nimmst du statt des Glaubens nicht die Liebe
Und des Verlangens tränenschweren Zoll,
So weiß ich nicht, wie mir noch Hoffnung bliebe:
Gebrochen ist der Stab, das Maß ist voll
Mir zum Gericht.

Mein Heiland, der du liebst, wie niemand liebet,
Fühlst du denn kein
Erbarmen, wenn so krank und tief betrübet
Auf kaltem Stein
Dein Ebenbild
In seiner Angst vergehend kniet und flehet?
Ist denn der Glaube nur dein Gotteshauch?
Hast du nicht tief in unsre Brust gesäet
Mit deinem eignen Blut die Liebe auch?
O sei doch mild!

Ein hartes, schweres Wort hast du gesprochen:
Daß, wer nicht glaubt,
Gerichtet ist. So bin ich ganz gebrochen;
Doch so beraubt
Läßt er mich nicht,
Der hingab seinen Sohn, den eingebornen,
Für Sünder wie für Fromme allzugleich.
Zu ihm ich schau, die Ärmste der Verlornen,
Nur um ein Hoffnungswort; er ist so reich,
Mein Gnadenlicht.

Du Milder, der die Taufe der Begierde
So gnädiglich
Besiegelt selbst mit Sakramentes Würde:
Nicht zweifle ich,
Du hast gewiß
Den Glauben des Verlangens, Sehnens Weihe
Gesegnet auch; sonst wärst du nimmermehr
So groß an Milde und so stark an Treue,
Schlügst du den Kranken, der sich leidensschwer
Auf dich verließ.

Was durch Verstandes Irren ich verbrochen,
Ich hob es ja
Gebüßt so manchen Tag und manche Wochen;
So sei mir nah
Nach meiner Kraft,
Die freilich ich geknickt durch eigne Schulden,
Doch einmal aufzurichten nicht vermag,
Will hoffen ich, will sehnen ich, will dulden:
Dann gibst du Treuer wohl den Glauben nach,
Der Hülfe schafft.[8]

Fangen wir bei jener Schicht des Gedichtes an, in der Annette die Sprache ihrer religiösen Umwelt spricht, wo sie leidend an die erbarmende Heilandsliebe appelliert und sich selbst als die Verlorene bezeichnet, die auf das für Sünder wie für Fromme vergossene Blut Christi hofft. Mit derartigen Worten beklagt man in der Frömmigkeitshaltung des 19. Jahrhunderts sonst nicht den Zustand der Glaubenslosigkeit, sondern die Sünde. Es ist der Ton des Sündenelends und der Zerknirschung, den Annette hier anschlägt, aber sie meint damit etwas ganz anderes, etwas, das dann freilich auch für sie auf Sünde hinausläuft. Da in der Frömmigkeitswelt durchweg der Glaubensbegriff des bloßen Festfürwahrhaltens galt, konnte der Glaube als solcher dort kaum als problematisch empfunden werden. Um so mehr aber besaß die Frömmigkeitswelt ein Gespür für Sünde und Schuldverfallenheit und wußte dies auch im Lebensgefühl genügend vor Gott auszudrücken.
Annette nimmt nun für ihre eigene Existenz das Festfürwahrhalten der christlichen Glaubensgeheimnisse, das auch am vollen Glaubensbegriff der theologischen Tradition immer nur eine letzte Abschattung war, nicht mehr im Sinne des wirklichen Glaubens ernst, weil dabei der Mensch zuwenig beteiligt ist. Sie spürt, daß mit einem solchen Glauben nicht die Forderung des Neuen Testamentes erfüllt sein kann und daß es ein anderer Glaube sein muß, für dessen Fehlen das Gericht angekündigt wird. Weil sie aber einen solchen erfüllten und lebendigen Glauben in sich nicht wahrnehmen kann, weil sie an ihrem inneren Zustand feststellt, daß ihr Menschsein im Argen liegt, schreibt sie sich mit aller Schwere und Härte die Glaubenslosigkeit zu. Um dies auszudrücken, bedient sie sich der Sprache des Sündenbewußtseins aus der Frömmigkeitswelt.
Was Annette sich unter dem wirklichen Glauben vorgestellt hat, der den Menschen lebendig macht, kann man aus dem Bilde des bluthaften Kreisens entnehmen, das sie hier und anderwärts für ihn gebraucht. Der Glaube muß den Menschen durchpulsen wie das Blut seinen Leib, sonst kann er nicht leben. Mit dem Bilde des kreisenden Blutes ruft sich die Dichterin ins Bewußtsein, daß ein solcher Glaube wohl etwas ungeheuer Kraftvolles, aber eigentlich nichts Außergewöhnliches darstellt. Wie ist es nun möglich, muß man sich fragen, daß sich dieser Glaube so häufig verbirgt? Die Antwort legt sich nahe, wenn man das Christsein niemals als einen fertigen, vollendeten Zustand ansieht, sondern bei aller sakramentalen Vorgegebenheit als ein dauerndes Christwerden. Annette erfährt stellvertretend für viele, wie der gläubige Mensch sich im Mysterium des Erlöstseins noch weiterhin mit den verbleibenden Dunkelheiten auseinanderzusetzen hat. Hier liegt die Krise ihres geistlichen Lebens. Wenn sie das lebendige Kreisen des Glaubens in sich auch vermißt, so nimmt sie doch eine Hinbewegung auf ihn wahr, die so stark ist, daß sie nie aufhört.
Von Annette wird uns durch das geistliche Wort der Dichtung gezeigt, wie wichtig die ersten Ansatzpunkte der christlichen Existenz sind und wie sich gerade an ihnen die Intensität der religiösen Anstrengung bemerkbar macht. Mit diesem Gedanken gelangt sie zu dem der Begierdetaufe analog gebildeten Begriff vom Glauben des Verlangens, den sie als unerläßliche Bedingung für ihr Heil postuliert.
Was meint Annette nun näherhin mit der Anfechtung der Glaubenslosigkeit? Das selbstherrliche Leben des Feigenbaumes war für sie eine Warnung aus der Schöpfung, jetzt dagegen geht es um eine innere Problematik, die sich in dem Wort vom schuldhaften Irren des Verstandes ausspricht. Wir haben hier nicht das mittelalterliche Problem vor uns, ob ein Zusammenbestehen von Glauben und Wissen möglich ist, sondern ein neuzeitliches, wie es um die gleiche Zeit auch von Friedrich Schlegel empfunden worden ist. Das in der Neuzeit entfaltete Wissen, wie Annette es versteht, beruht auf weltanschaulichen Voraussetzungen, die mit dem Christentum nur schwer zu vereinbaren sind. Man hält das menschliche Bewußtsein so, wie es sich vorfindet, für heil und in Ordnung, ebenso die monologische, in der Ichbefangenheit verharrende Denkweise. Annette steht nun in der Spannung zwischen diesem auf sich selbst gegründeten Verstandeswissen und einem durch das Wort der Offenbarung ermöglichten Heilswissen. Sie hat mit aller Eindringlichkeit an sich erfahren, daß der Verstand diejenige Potenz im Menschen ist, die zu einem Selbstrettungsversuch vor dem Anspruch Gottes verlockt, sie weiß aber auch, wie fade und absterbend das Leben ist, das sich hinter dem eigenmächtigen Verstand auftut. Der Auseinanderfall von Verstand und Glauben bringt über sie jene Art von Anfechtung, die sie Zweifel nennt. Zweifel ist also bei Annette kein Bezweifeln der christlichen Heilsgeheimnisse, sondern das Geteiltsein zwischen dem alles Wissen zur Weisheit formenden Heiligen Geist und einem sich absolut im Recht wähnenden Menschengeist.
Das Gedicht zum Evangelium über den wunderbaren Fischzug des Petrus, das Annette für den 6. Sonntag nach Pfingsten niedergeschrieben hat, läßt uns ermessen, wieviel das Wort der Heiligen Schrift für das eigene Selbst bedeuten kann. Es wäre zuwenig und zu äußerlich, wollte man sagen, Annette habe es auf sich persönlich angewandt; dahinter steht mehr. Indem sie aus der biblischen Situation die für die menschliche Person allgemein gültige Heilsbotschaft herauslöst, wird sie selbst davon unmittelbar angesprochen. Sie geht in diesem Gedicht ganz in die Rolle des Petrus ein, dem nach der Vergeblichkeit und Mühsal seiner ersten Anstrengung der Erfolg im Übermaß verheißen wird. Dabei entsteht aber nicht, was man vermuten könnte, eine Allegorisierung des Evangeliums, vielmehr nimmt Annette hier einen radikalen Bildbruch vor, wie er an sich dem »Geistlichen Jahr« nicht ungewöhnlich ist und auch im Rahmen des Neuen Testaments verbleibt: An die Stelle des gefüllten Fischnetzes aus der Tiefe des Meeres tritt die eine Perle aus dem Grund des eigenen Herzens.

Die ganze Nacht hob ich gefischt
Nach einer Perl in meines Herzens Grund
Und nichts gefangen.
Wer hat mein Wesen so gemischt,
Daß Will gen Wille steht zu aller Stund
In meiner Brust wie Tauben gegen Schlangen ? ...

Herr, geh von mir, ich bin ein arm
Und gar zu sündig Wesen; laß mich los,
Ach laß mich liegen!
Weiß ich, wovon mein Busen warm?
Ob Sehnens Glut, ob nicht die Drangsal bloß
So heiß und zitternd läßt die Pulse fliegen?

Wenn sich die Sünde selber schlägt,
Wenn aus der Not nach Rettung Sehnen keimt,
Ist das die Reue?
Hast du den Richter doch gelegt
In unser Blut, das gen die Sünde schäumt,
Daß es vom wüsten Schlamme sich befreie ...

Und hast Gewissens Stachel du
Mir auch vielleicht geschärft als andern mehr,
Ich xoerd es büßen,
Dringt nicht der rechte Stich hinzu,
Der Freiheit gibt dem warmen, reinen Meer,
Daraus die echten Reuetränen fließen.

O, eine echte Perle nur
Aus meiner Augen ühersteintem Quell,
Sie war ein Segen!
Du Meister jeglicher Natur,
Brich ein, du Retter, lös die Ströme hell!
Ich kann ja ohne dich mich nimmer regen.

Du, der gesprochen: Furcht dich nicht!
So laß mich denn vertraun auf deine Hand
Und nicht ermüden.
Ja, auf dein Wort, mein Hoffnungslicht,
Will werfen ich das Netz. — Ach, steigt ans Land
Die Perle endlich dann und bringt mir Frieden?[9]

Der seelische Stimmungsgrund und die geistige Verfassung dieses Gedichtes enthüllen sich als Ungewißheit über den Sinn eines religiösen Bemühens, dessen Ende man noch nicht absieht. Annette beklagt ihre Gespaltenheit im Willen, ihr gemischtes Wesen, ihre innere Zwietracht, vor allem aber die Unkontrollierbarkeit dessen, wovon sie so mächtig bewegt wird. Sie traut sich nicht die Unterscheidung zu, ob es das zu Gott führende, echte Verlangen ist oder, wie sie es in diesem Gedicht nennt, bloße Drangsal.  Sie rechnet mit der Möglichkeit, daß ihre innere Unruhe nicht die Tendenz auf das Ziel in sich schließt, sondern im Sinnlosen verläuft. Die Dichterin weiß um die zu nichts fruchtende Selbstzermalmung und die zu späte Umkehr.
Aber dennoch bleibt Annette auch hier nicht in vollkommener Ungewißheit über die zum Heil gereichenden innerseelischen Kräfte des Menschen befangen. Was sie vor allem nicht relativiert, sind Reue und Gewissen, wenngleich sie sich nicht darüber im klaren ist, ob diese Kräfte in ihr die rechte christliche Form annehmen, in der sie allein wirksam werden können. Das Gewissen bedeutet ein unumgängliches Erleiden des aus der Un Vollkommenheit hervorgegangenen Verfalls und die Reue die schmerzvolle Sehnsucht nach Heil. Beide stören das Innere des Menschen auf und fördern alle Unklarheit zutage, die hier mit dem Bilde des wüsten Schlammes bezeichnet ist. Nur wenn jeglicher Vorbehalt und Restbestand dessen, was am Leben verfehlt war, unter die Richterfunktion des Gewissens tritt, kann der den Menschen in sich verschließende Zustand des Schuldigseins behoben werden. Denn Schuld ist in der geistlichen Dichtung Annettes nicht zuerst ein objektiver Verstoß, sondern bedeutet ein Sich-Schulden gegenüber Gott, den Mitmenschen und dem eigenen Selbst.
Der »rechte Stich« des Gewissens, der das Schuldigsein aufhebt, kommt deshalb nicht aus der Selbstzerknirschung des Menschen, sondern nur aus der Gnade Gottes. Der Bewegungsgang dieses Gedichtes drängt mit aller Macht aus der Dunkelheit und Verworrenheit zur Reinigung und Klärung, zum Atmenkönnen, in das Lösende und Helle.
Bis zur Schlußstrophe hin ist das ganze Gedicht aus der Situation nach dem vergeblichen Fischzug gesprochen, wodurch die Niedergeschlagenheit und Ungewißheit eine vom Evangelium selbst verursachte Schärfe hat. Es ist aber dennoch eine Situation der Bereitschaft, bei aller scheinbaren Sinnlosigkeit auf das Wort Gottes hin neu anzufangen. Die mit der Du-Anrede während des ganzen Gedichtes gewahrte fast leibhaftige Nähe zu Christus macht die Bitte verständlich, daß er als Retter in das menschliche Selbst einbrechen und es heilen möge. Nur so kann aus dem erstarrten Innern die Perle befreit werden. Zunächst ist es aber noch nicht die Perle vom Grunde des Herzens, um die gebeten wird, sondern ihr äußeres Gleichbild, die Träne. Echte Tränen lösen den Menschen und machen ihn frei zu jeglichem Neubeginn. Wie Petrus durch Christus das Vertrauen zum zweiten Fischzug gewann, so kann auch die Dichterin in der letzten Strophe wieder Vertrauen schöpfen. Es ist die Hoffnung auf das Wort Gottes, die Perle zu finden, welche die Kostbarkeit des menschlichen Wesens in seinem Kreatur-und Erlöstsein besagt. Mit dem Fischen der Perle ist angedeutet, daß der Mensch in die eigene Tiefe dringen soll, wo er das ihm eingesenkte Mysterium finden kann. Anderwärts spricht Annette in diesem Sinne auch von Kleinod oder Lebenskeim im Menschen. Daß das Suchen der Perle, die doch schon da ist, zu einem so schmerzvollen Grundproblem des Christseins anwachsen kann, wie wir es in diesem Gedicht erleben, zeigt uns, mit welcher Dringlichkeit das noch nicht voll hereingebrochene Reich Gottes, für das im Neuen Testament das Bild der Perle steht, den Menschen angeht. So verbindet sich bei Annette die Perle als Sinnzeichen der höchsten Erfüllung mit dem Gedanken des Friedens, wonach die Heilsunruhe des Menschen sich ausstreckt.

c) Lebensintensität und Entsagung

Versucht man nun, allgemein zu kennzeichnen, wie dieses religiös angespannte Selbst der Dichterin im menschlichen Leben steht, so bieten sich zwei Begriffe an: eine vor nichts zurückscheuende Intensität, um der Fülle des Lebens erschöpfend innezuwerden, und dabei doch eine Form der Entsagung, welche alles Unbotmäßige fernhält und so wiederum zurückführt zur Lebensintensität. Annette hat ein untrügliches Wissen darum, was gut und wahr ist und wie weit der Spielraum dessen geht, was sich der Mensch zutrauen und womit er sich belasten darf. Dieses bei ihr hervortretende menschliche, vielleicht besonders weibliche Lebensgesetz von Intensität und Entsagung, von Hingabe und Bewahrung wollen wir uns in seinen verschiedenen Nuancen an einzelnen Gedichtstellen vor Augen führen. In dem Gedicht »Am Turme« hat Annette sich einen Ausdruck von Lebensintensität geschaffen, der bei seinem wilden und ungebändigten Freiheitsdrang fast als dionysisch bezeichnet werden kann. Vielfach hat man geglaubt, in diesem und anderen Gedichten ein Selbstzeugnis Annettes dafür erblicken zu dürfen, daß sie sich als Frau nicht wohl gefühlt und zeitlebens den Wunsch gehegt habe, ein Mann zu sein. Aber dies ist eine oberflächliche Deutung, die dem weitgespannten Seelenraum Annettes nicht gerecht wird. Es ist vielmehr so, daß sie die höchste Intensität des Lebens, wie man sie in die Natur und in die Welt hinein aufbringen kann, an der Daseinsweise des Mannes gemessen hat. So sagt sie, was sie sich als Frau nicht auszudrücken getraut, aber doch erfahren hat, oftmals in der Rolle des Mannes. Das Gedicht »Am Turme« aber verzichtet bewußt darauf, die ihr damals gesetzten Grenzen des Weiblichen zu überschreiten. Hier ist es nur die irreale Sprache der Sehnsucht, mit der sie sich in die männliche Art der Lebensintensität hineinbegibt. Am Bilde des Zweikampfes auf Leben und Tod in schwindelnder Höhe, der Jagd und der gefahrvollen Seefahrt wird deutlich, worum es hier geht: um das mit allen Kräften gegen einen Widerstand durchgesetzte und deshalb um so wertvollere Leben. Auf sich selbst bezieht Annette in dieser Situation teilnehmenden Ausgeschlossenseins das emphatische Bild der Mänade, deutet aber von Verwirklichung nichts weiter an als das Flatternlassen ihrer Haare im Winde. Gerade diese Geste, welche sie die geschilderte Lebensintensität in abgeschwächter Weise mitempfinden läßt, wird dann aber in der letzten Strophe auch zum Anzeichen ihres Rückzugs und ihrer Entsagung im Sinne dessen, was ihr als Frau zugestanden wird, das sie mit dem Flatternlassen der Haare vielleicht nur um ein Weniges überschreitet. Aber dieses Wenige kann sie sich nicht versagen.

Nun muß ich sitzen so fein und klar
Gleich einem artigen Kinde
Und darf nur heimlich lösen mein Haar
Und lassen es flattern im Winde![10]

Drei einander verwandte Gedichte aus den »Letzten Gaben« zeigen uns gegenüber diesem Gedicht jene Art von Lebensintensität, welche Annette insbesondere dem weiblichen Sein zuerkennt. Wiederum ist das Äußerste an Steigerung und Erfüllung des Lebens angestrebt, aber die Richtung verläuft anders. Es ist eine Hingabe des Selbst zum Mitmenschen oder ein Abstieg in die eigene Tiefe. In dem Gedicht »Halt fest« gibt Annette zu bedenken, daß das viele Dahinströmende des Lebens nur dann in seiner Einmaligkeit wahrgenommen und vor dem Schalwerden bewahrt sein kann, wenn es von vornherein mit der Haltung der Entsagung übernommen wird. So sind hier Lebensintensität und Entsagung nicht zwei einander korrigierende Pole, sondern beide sind im geistigen Akt des Festhaltens ein und dasselbe. Die zahlreichen konkreten Lebenssituationen, für die Annette in diesem Gedicht an die Unwiederholbarkeit erinnert, gipfeln im erfüllten Augenblick schlechthin, der nach vorwärts und rückwärts das Leben zu durchlichten vermag, wenn er recht gelebt ist:

Und dann die Gabe, gnädig dir verliehen,
Den köstlichen Moment, den gottgesandten,
O feßle, feßle seinen Quell im Fliehen,
Halt jeden Tropfen höher als Demanten![11]

Es können aber nur die verschiedenen Situationen und Augenblicke im menschlichen Leben festgehalten werden, wenn zugleich das Selbst nicht preisgegeben ist. So fällt als Schwerpunkt des Gedichtes das Wort vom »angefochtenen Selbst, von Gott gegeben«. Daß dieses sich nicht an wesenlose Dinge verliert, sondern die Kraft des Sammeins behält, ist Annettes Sorge und Warnung. Das Gedicht »Im Grase« wandelt das Thema des Festhaltens ab in den Zug der Dankbarkeit. Der Mensch wird dadurch, daß er für alles ihm Widerfahrende dankbar ist, in die ihm gemäße Haltung des Antwortgebens, der Lebensbejahung und der Liebe versetzt.

Jeder warmen Hand meinen Druck,
und für jedes Glück meinen Traum.[12]

Die totale Hingabe des Selbst in der Liebe ist in der Schlußstrophe des Gedichtes »Grüße« ausgedrückt. Die Dichterin spricht aus dem Gefühl der Verlassenheit und der Fremde und sehnt sich nach denen, die ihre Liebe aufnehmen. Um das Übermaß ihrer Hingabe zu bezeichnen, bedient sie sich sogar der Bilder des Krankhaften. Dadurch wird darauf aufmerksam gemacht, daß die Hingabe immer in der Nähe und Gefahr der Preisgabe steht. Die Korrektivnorm einer solchen dichterischen Hingabe an die Menschen kann auch nicht mehr in entsagender Zurückhaltung bestehen, sondern nur in der Echtheit und Rechtgerichtetheit dieser Hingabe selbst.

Ich macht euch alle an mich schließen,
Ich fühl euch alle um mich her,
Ich möchte mich in euch ergießen,
Gleich siechem Bache in das Meer.

O wüßtet ihr, wie krank gerötet,
Wie fieberhaft ein Äther brennt,
Wo keine Seele für uns betet
Und keiner unsre Toten kennt![13]

Die Begegnung mit dem eigenen Selbst, die im »Geistlichen Jahr« von Annette auf religiöser Basis geleistet ist, tritt als psychologisches Problem in dem Gedicht »Das Spiegelbild« auf. Das reflektierende Blenden eines Spiegels lockt hier das Selbst hervor. Es ist aber kein Abglanz des Schönen und Gefälligen, der zufriedenstellen oder gar ergötzen könnte, vielmehr ein Furcht einflößendes Selbstbildnis, welches, wahr und falsch zugleich, aus dem Innern aufsteigt. Das Grauen vor den eigenen, im unwirklich Wirklichen liegenden Zügen läßt die Dichterin zwar erschauern, hindert sie aber nicht, mit ihrem Wahrheit suchenden Blick weiter-zubohren und alles noch so Fremde, Glastende, Unheimliche aus der eigenen Tiefe hervorzuholen.
Dann setzt jedoch eine vor der Selbstzerreibung schützende Zurückhaltung ein, sofern die Dichterin sich mit dem Spiegelbild nicht vollkommen identifiziert. Es ist ein Phantom aus ihren unbewußten Abgründen und Möglichkeiten, vielleicht, um mit einem Annette eigenen Bild für solche Phänomene zu sprechen, ein Golem, der keine Seele besitzt und aus den Lebenden das Blut saugt. Daher wendet sie wohl alles dichterische Sinnen für ihr Spiegelbild auf, aber nicht die bluthafte Hingabe. Am weitesten geht Annette, wenn sie sagt, daß sie um das Phantom des Spiegelbildes weinen könnte.
Zurückhaltung und Anteilnahme überlagern sich bei dieser Erfahrung.
Eine andere Ausprägung dieses allgemeinen Lebensgesetzes enthalten Annettes sogenannte Liebesgedichte. Sie haben einen so eigentümlichen Charakter, daß man sie kaum als solche bezeichnen kann. Wenn wir es doch tun, dann um jener geistigen Qualität willen, die den meisten Liebesgedichten fehlt: ein seinsgerechtes Sich-Versagen. Vielleicht die ausgewogenste Balance zwischen Lebensintensität und zugeordneter Entsagung, die wir bei Annette finden können, liegt in den Levin-Schücking-Gedichten vor. Die Liebe der Dichterin überwindet den Widerstand eines anormalen Altersunterschiedes und gewinnt sich ein Gegenüber, das ihre dichterische Schaffenskraft mitträgt. Diese Gedichte sind Werbung um eine solche verletzbare und doch geistig so wertvolle Verbundenheit zwischen dem aufstrebenden Leben und dem schon sinkenden, personale Schwebe, die allein von der Kraft des Dichterwortes gehalten ist. Es ist eine Liebe, die schon im Vorweg die Entsagung geleistet hat und sie mit der verbleibenden Lebensintensität durchdringt. Hierdurch entsteht ein der Jugend zugewandtes Gewähren, aber auch ein Reifen in die geistige Kraft des Alterns.
Bei der Selbstbesinnung Annettes auf ihr Dichtertum kann man die Entsagung als Gegengewicht der Lebensintensität zunächst kaum feststellen. Im Vordergrund steht die schöpferische Kraft, auf die sie ihr ganzes Vertrauen setzt. Nehmen wir das Gedicht »Lebt wohl«, so erregt die Wucht ihres Selbstzeugnisses und der unbedingte Wille zum Zauberwort der Kunst unser Erstaunen:

Solange noch der Arm sich frei
Und waltend mir zum Äther streckt
Und jedes wilden Geiers Schrei
In mir die wilde Muse weckt.[14]

Wenn Annette in ihrer geistlichen Dichtung sich bisweilen als Norne oder Herold bezeichnet oder auch, mehr oder weniger indirekt, die Kategorie des Prophetischen auf sich anwendet, so erleben wir an diesem Punkte das Entsprechende auf menschlich-dichterischer Ebene. Die Lebensintensität bricht sich Bahn in der Kraft des Wilden, sucht einen Ausweg im Wort. Fern von einer resignierenden Bescheidung, wendet sich die Dichterin der einsamen Höhe zu, in der, um in ihrer eigenen Vorstellung zu bleiben, nur der »Alpengeist« und das »Ich« Bestand haben. Ein klein und beschränkt machendes Entsagen wird gleichsam zugrunde getreten, und doch entsteht bei dieser dichterischen Selbststeigerung, die nicht zuletzt als Gegensatz zum Verzicht in der Liebe aufgefaßt werden muß, keine Auflehnung und kein Trotz. Davor bewahrt das tief erfahrene Wissen um die eigene Vergänglichkeit. Dieses spricht sich nicht nur in Annettes Naturverhältnis und religiöser Erfahrung aus, sondern gerade auch in ihrem Gedicht über den Dichter.
Indem sie hier die Trughaftigkeit, Vergänglichkeit und Straffälligkeit offenbart, die einer nicht gebannten Lebensintensität innewohnt, gelangt sie zur Entsagung als heilender Kraft. Dies ist der Schlüssel zu ihrem gesamten Werk: Dichtung soll heilen. Da das Schöne in dieser Welt nur selten ein direkter Glanz der ewigen Schönheit und des kreatürlichen Seins ist, sich vielmehr mit dem Kranken und Vergehenden, sogar mit den Spuren von Schuld und Sünde verbindet, ist nach Annette so etwas wie opferbereite Stellvertretung des Dichters für alle andern notwendig. Der Dichter kann nur heilen, wenn er die Menschen an das Geheimnis der Erlösung Gottes heranführt, dessen er selbst bedarf.

Ach, muß ich denn die Rose sein,
Die zernagte, um andre zu heilen?[15]

Wenn wir auf die verschiedenen Weisen zurückblicken, in denen die Auseinandersetzung Annettes mit ihrem Selbst geschieht, dann gewahren wir einen Reichtum an neuen und ursprünglichen Erfahrungen. Man erkennt bei ihr eine untrügliche Kompaßrichtung auf das Echte und Gute, wohin immer sie sich wendet. Sie spricht das aus, was ihrem Leben gemäß ist. Ihre Selbstentfaltung vollzieht sich zuweilen jenseits des Horizonts ihrer gesellschaftlichen Umwelt, die für sie oft nicht einfach war, setzt sich aber in geistiger Hinsicht ungehemmt durch. Wurden von jeher solche Menschen, die dem Anspruch des Glaubens und den Anforderungen ihrer Zeit unbedingt Folge leisteten, als Heilige verehrt, so hat sich unter dem Einfluß jener Frömmigkeitshaltung, die Annette in ihrer Dichtung überwindet, eine andere Vorstellung durchgesetzt: Die Heiligen haben die Frommen zu sein, die persönlich Vollkommenen und von der Welt Zurückgezogenen. Dagegen ist es aber gerade den Weltverhafteten aufgetragen, aus der Welt das Gesetz der Erlösung herauszuschlagen, damit sie und die andern leben können.
Es ist notwendig, zum Abschluß unserer Betrachtung über Annette v. Droste-Hülshoff einen solchen Hinweis zu geben. In der christlichen Vergangenheit hat man sich um das Selbst des Heiligen gekümmert, weil man das Wirken Gottes am Menschen erkennen wollte; in der Neuzeit interessiert man sich für das Selbst des Dichters um des Menschlichen willen, und eine neue Weltreligion des Ästhetischen hat unversehens die alte Gläubigkeit abzulösen unternommen. Welch eigenartigen, an beiden Seiten ansetzenden Brückenschlag bietet uns da die christliche Dichterin Annette v. Droste-Hülshoff!