Hildegard von Bingen

Das Verhältnis des Menschen zum Kosmos

In der nun folgenden Betrachtung wollen wir uns der Mystikerin und Ordensfrau Hildegard von Bingen zuwenden. Bei ihr wird besonders deutlich, wie der Mensch aus den Kräften der gesamten Schöpfung lebt und wie die Geheimnisse des christlichen Glaubens ihn prägen. Die monastische Lebensform gab ihr zu jener Zeit die Gelegenheit zur geistigen Entfaltung, nahm ihr aber nicht die Möglichkeit, durch Wort und Tat auf die Menschen ihres Jahrhunderts einzuwirken.
Hildegard von Bingen, deren Lebenszeit die volle Breite des 12. Jahrhunderts umfaßt, stammt wahrscheinlich aus dem adeligen Geschlecht von Bermers-heim in der Pfalz. Ihre Geistigkeit ist geprägt durch die Gabe bildhaften Schauens, wie sie ihr von frühester Kindheit an zuteil wurde. Der Berufung zum Ordensstande folgend, wurde sie in späteren Jahren Äbtissin des Benediktinerklosters Rupertsberg bei Bingen, weshalb sie unter dem Namen Hildegard von Bingen in die Geschichte einging.
Wegen ihrer Fähigkeit, den aktiven Einsatz für die Welt mit mystischer Verinnerlichung zu verbinden, muß man sie an die Seite ihres Zeitgenossen Bernhard von Clairvaux stellen; sie gehört aber auch in jene Geistesrichtung, welche in dem Jahrhundert vor der Hochscholastik ein geschichtstheologisches Denken mit der mystischen Weltschau vereinigte. In dieser Hinsicht kann man Ähnlichkeiten mit Rupert von Deutz, Hugo von St. Viktor und Gerhoh von Reichersberg feststellen. So ist Hildegard einerseits mit der Geistesbewegung ihres Jahrhunderts eng verknüpft, anderseits ist sie aber auch aus allen Zeitströmungen unableitbar und nur aus sich zu verstehen.
Drei Wissenschaften beanspruchen Hildegard für ihr Gebiet: die Medizin, die Philosophie und die Theologie. Von der Geschichte der Medizin wird sie wegen ihrer heilkundlichen Erfahrenheit als erste deutsche Ärztin genannt, für die Philosophie ist sie zuständig durch den Aufweis der makrokosmisch-mikrokosmischen Beziehungen, womit sie eine naturphilosophische Tradition eröffnet, die bis in die Gegenwart führt. In der Theologie aber lebt Hildegard als heilsgeschichtlich orientierte Mystikerin, deren Mystik nicht aus dem exklusiv aufgefaßten Verhältnis der Einzelseele zu Gott zehrt, sondern vom objektiven Wort der Heiligen Schrift inspiriert ist und sich weitet im Gedanken der gesamten Christenheit.
Hildegards Werke, die in die reifere Lebenszeit und in das Alter fallen, umkreisen von verschiedenen Ansatzpunkten aus diese Dreiheit von wissenschaftlichen Themen. Das Hauptwerk »Scivias«, dessen Form die Beschreibung und Deutung von Visionen ist, gibt in aufeinanderfolgender Schau den Ursprung alles Seienden aus dem Willen Gottes an, begleitet die Geschichte des Menschengeschlechtes mit den Angelpunkten von Schuld und Erlösung und schließt mit den so wichtigen Erörterungen über das Zeitenende. Unter die allgemein bekannten Werke Hildegards gehören auch die Bücher »Physica« und »Causae et Curae«, worin in vollkommener Enthaltung von Magie und Zauber die Einflüsse der Natur auf den Menschen dargestellt werden. Der »über vitae meritorum« führt die Scivias-Schau nach der ethischen Seite weiter, bis in die kosmischen Auswirkungen des menschlichen Handelns. Eine vertiefende Neufassung der Konzeption von »Scivias«, aber aus der strengeren Altersperspektive Hildegards, liegt im »Liber divinorum operum« vor.
Der Stil und die Eigenart aller Werke Hildegards ist gekennzeichnet durch die Farbigkeit ihrer Sprache und ihres Wortes. Beim Lesen ihrer Texte erwacht niemals der Eindruck eines eintönigen Grau in Grau, sondern die Dinge gewinnen unter ihrer Aussage Gestalt und fangen an zu leuchten. Dieser besondere Charakter ihrer Schriften bezeugt mehr noch als ihre lyrischen Dichtungen der Sequenzen und Hymnen, daß sie in dichterischer Kraft schreibt, wodurch alles, über das sie zu sprechen hat, auch das an sich nicht Schöne, den Glanz des Schöpfungsgerechten erhält.

a) Das Wissen von der Natur

Für die Naturauffassung Hildegards ist vor allem das Werk »Physica« zuständig, im vollen Titel: Liber Subtilitatum diversarum Naturarum creaturarum. Hier geht es also um das Subtile des einzelnen, um den Aufbau der kleinen Welt, die Elemente, Steine, Metalle, Pflanzen und Tiere der Erde in ihrem Einfluß auf das menschliche Leben. Voraussetzung für Hildegards Naturauffassung ist es nun, daß sie die außermenschliche wie menschliche Natur unter dem nicht nur theologisch, sondern für sie auch philosophisch bedeutsamen Oberbegriff der Schöpfung — creatio — zusammenschließt.
Im philosophischen Sinne bedeutet der Schöpfungsbegriff bei ihr für alles Seiende die Ursprungsgleichheit, welche die für ihre Anthropologie so wesentliche Beziehung von Mensch und Erde mit sich bringt.

  • »Als der Mensch geschaffen wurde, ward Erde von der Erde genommen, und diese Erde ist der Mensch. Alle Elemente dienten ihm, weil sie in ihm das Lehen spürten. Und sie neigten sich ihm zu in all seinem Handeln und Wandeln und wirkten mit ihm und er mit ihnen. Da gab die Erde ihre Grüne nach Art und Natur und Charakter und jeglicher Eigenschaft des Menschen. So tut die Erde in ihren nützen Kräutern die Beschaffenheit der geistigen Anlagen des Menschen bezeichnend kund, in ihren unnützen Kräutern aber offenbart sie seine unnützen und teuflischen Anlagen.«[1]

Wenn Hildegard den Menschen in der Sprache des biblischen Schöpfungsberichtes als Erde bezeichnet, so bringt sie damit nicht nur seine Lebensverwurzelung im elementaren Aufbau der Welt zum Ausdruck, sondern auch seine Absonderung von der übrigen Erde, über die er sich erhebt, der er aber durch die Gleichheit des Ursprungs vom Schöpfer immer verwandt bleibt. Diese Verwandtschaft äußert sich in der Symbolfunktion, welche die Erde für den Menschen ausübt. Mit Recht hat man zwischen Hildegards Naturauffassung als charakterologischer und symbolischer Durchdringung der ganzen Schöpfung und der heutigen Phänomenologie eine Ähnlichkeit entdeckt und sie insbesondere mit der Philosophie von Hedwig Conrad-Martius verglichen.[2] Will man Hildegard in Annäherung an eine moderne philosophische Methode verstehen, so kommt ihr in der Tat die phänomenologische am nächsten. Aber auch die Gedanken des Teilhard de Chardin über die geistige Potenz der Materie sind bei Hildegard von Bingen vorgeformt.
Das Werk »Physica« gibt von der für Hildegard selbstverständlichen Überzeugung Kunde, daß dem Menschen aus dem Belebten und Unbelebten der Erde heilende Kräfte entgegenkommen, die er nur zu kennen und zu erkennen braucht, um sie sich zur Auferbauung seiner Physis nutzbar zu machen. Auf dem Wissen um die Weltdinge liegt bei Hildegard aller Nachdruck. Dem Menschen wächst aus seiner Stellung inmitten des Seienden die Aufgabe zu, um die ganze Schöpfung zu wissen, soweit es für ein geordnetes Menschsein erforderlich ist. Dieses naturphilosophische Erkennen führt zu einem Wissen der Unterscheidung.
Es ist eine der nicht wegdenkbaren heilsgeschichtlichen Voraussetzungen bei Hildegard, daß die Welt und alles in ihr durch den Sündenfall des Menschen seinsmäßig zum Schlechteren verkehrt wurde. Dennoch gibt es gewisse Bereiche der Natur, welche die Kräfte und Zustände der ursprünglichen Ordnung besonders bewahrt haben, und wiederum andere, in denen sich die Wirkung der menschlichen Schuld festgesetzt hat. Diese Wirklichkeiten in ihrem Einfluß auf die menschliche Natur zu unterscheiden, sich den positiven zuzuwenden, die negativen aber zu meiden, dazu dient nach allen Werken Hildegards das Wissen über die Naturbeschaffenheit. Es ist die Vorbedingung dafür, daß sich der Mensch in Freiheit zu den Weltdingen verhalten kann. Er soll als Wissender in der Welt sein um der Anwendung willen, wegen des praktischen Gebrauches der ihm zu Gebote stehenden Hilfen aus der Schöpfung. Hildegard würde nicht auf den Gedanken kommen, das physische Wohlergehen des Menschen nur in ihm selbst zu suchen, etwa durch eine ganz nach innen gerichtete Meditation. Der Weg über die Welt, über die sichtbare Schöpfung, das Gute und Heilsame in ihr, ist für sie die vorgegebene Ordnung. Wenn auch noch nicht im Sinne des Experimentes, so durchstößt doch Hildegard mit ihrer Art des naturkundlichen Wissens immer das bloß Theoretische und unternimmt den Versuch, die Qualität der Einzeldinge zu erkennen, wie sie ist.
Aus der heilsgeschichtlichen Betrachtungsweise geht schon hervor, daß die Natur bei Hildegard nicht in einer objektiven Unschuld organischer Entwicklung gesehen sein kann. Das Problem des Dämonischen und Magischen beschwert ihre Naturphilosophie. Hierbei handelt es sich nicht um eine religiöse Naivität, sondern um etwas, das den Weltzusammenhang des Menschen als ganzen angeht. Das Dämonische und Magische in der Natur ist Abfall, und wenn der Mensch sich in diesen Bezirk hineinbegibt, so verläßt er die ihm zukommende Geborgenheit in der Welt und zerstört sein schöpfungsgegebenes, klares Verhältnis zur Erde. So weist Hildegard neben der dem Menschen aufgetragenen »scientia bona« eine »scientia mala« auf, als ein dem Menschen nicht angemessenes Wissen, das ihn in der Welt untergehen läßt, dämonisch verstrickt und nicht mehr in die Dimension des Schöpfers führt. Man muß das Nein Hildegards zur Magie vor dem Hintergrund der im Abendland immer wiederkehrenden Versuchung verstehen, der Natur über das Okkulte auf die Spur zu kommen und so ein höheres Wissen zu erreichen.
Hildegard hat ein höheres Wissen um die Natur, aber dieses liegt auf völlig anderer Ebene. Sie weiß, daß die Dinge der Schöpfung nicht nur durch den Menschen in den Abfall gezogen werden können, sondern daß sie auch mit ihm erhebbar sind auf der Grundlage der anderen heilsgeschichtlichen Vorgegebenheit, der Erlösung. In ihren natürlichen Qualitäten, die durch das geistliche Wort des Menschen zu seinem erlösten Sein in Beziehung gesetzt werden, sind die Weltdinge nach Hildegards Auffassung »sacramenta«. Hier berührt sie sich mit Hugo von St. Viktor, der auch die ganze Welt von heilshaften Zeichen durchwaltet sieht. Im Unterschied zu Hugos geschichtshafter Sakramentenauffassung hat sie aber mehr die sakramentalienhafte Struktur der Schöpfung betont.
Bei all ihrem sicheren Wissen um die in den Pflanzen und Elementen der Erde enthaltene Kraft hält sie den Menschen aber doch an, vor dem Gebrauch der Erdendinge eigens um die Zuwendung dieser Kräfte zu beten. Sie formuliert selbst aus dem Wortschatz der kirchlichen Orationen neue Gebete, worin die Wirkkräfte der Natur und der Erlösung einander zugeordnet werden. So gehen die Dinge in ihrer Zweckdienlichkeit nicht auf, werden vielmehr durch das Wort des Menschen transparent für die Gnade Gottes.
Wie stellt sich nun Hildegard von Bingen im einzelnen die Wirkung der außermenschlichen Natur auf die menschliche vor? Es ist eine Wirkung auf die gesamte menschliche Person, nicht nur auf das leibliche Befinden. So spricht sie bei den Kräutern der Erde von solchen, die dem Menschen ein frohes Gemüt, einen klaren Intellekt, einen guten Geist bereiten. Sie spricht von solchen Pflanzen, die Herz und Sinne reinigen, sie nennt Heilkräuter gegen die Traurigkeit der Seele und gegen die Unfruchtbarkeit des Leibes wie des Geistes. Hildegard unterscheidet auch Pflanzen, die etwa durch ihren schönen Duft eine Nähe zum Heiligen haben und Dämonen vertreiben. Sie empfiehlt Gewächse, die eine starke »virtus« in sich bergen, wobei sie das Wort »virtus« im Doppelsinn von Kraftfülle und dinghaft verstandener Tugend gebraucht. Die Blumen, Kräuter und jegliches Gewächs der Erde sind also nicht bloß Sinnbild einer bestimmten für den Menschen heilvollen Qualität, sondern sie enthalten auch wirklich die positive oder negative Kraft, die sie ausdrücken, und teilen sie dem Menschen mit, der durch Essen, Trinken, Einatmen oder auf andere Art in physischen Kontakt mit ihnen kommt.
Wie eine Fortsetzung dieser Gedanken wirkt es, wenn Teilhard de Chardin schreibt:

  • »Unsere Lage hier auf Erden ist in Wirklichkeit folgende: Weil wir ins Universum eingefügt sind, ist jeder von uns in seinen Fluten oder an seinem Berghang an einen bestimmten Punkt gestellt, der durch den gegenwärtigen Stand der Weltentwicklung, durch den menschlichen Ort unserer Geburt wie auch durch unsere persönliche Berufung festgelegt ist. Die Aufgabe unseres Lebens heißt: von diesem verschieden hoch gelegenen Punkte aus zum Licht aufsteigen, indem wir, um Gott zu erreichen, eine bestimmte Reihe von Geschöpfen überschreiten. Diese Geschöpfe sind nicht unbedingt Hindernisse; sie sind eher Stützpunkte, die wir überwinden; Zwischenglieder, die wir benützen; Nahrung, die wir verzehren; Säfte, die wir läutern; Elemente, mit denen wir uns verbünden und die wir mit uns fortziehen müssen.«[3]

Es zeigen sich bei Hildegard zwischen dem pflanzlichen Sein und dem des Menschen, vor allem dem weiblichen, über das rein Heilkundliche und den alltäglichen Lebensbezug hinaus tiefgreifende Entsprechungen, so daß der Mensch in den Schöpfungsdingen sein eigenes Wesen ausgedrückt findet. An der samenhaften und sprießenden Beschaffenheit der Kräuter spiegelt sich auch die menschliche Fortpflanzungskraft mit ihrem Sinn in Blüte und Frucht, weshalb schon allein von hier aus das Leibliche bei Hildegard in einem echten Schöpfungsbewußtsein steht und der im Mittelalter zuweilen untertönig mitklingenden Abwertung des Leiblichen und Geschlechtlichen ein Damm entgegengesetzt ist.
Die so bestimmte Anthropologie der Entsprechungen von Mensch und Natur ist in Hildegards Darlegungen über die Edelsteine besonders klar zu erkennen. An diesem kostbaren Bereich der Schöpfung kann nach ihrer Auffassung der Mensch auf die Weise des läuternden Schauens entdecken, wie er eigentlich sein sollte. Er findet in der farbigen Lichtnatur der Steine seine ihm in der ursprünglichen Schöpfungsordnung geschenkte Geistesklarheit vor, das Einssein des Wahren und Guten im Schönen. Das Verwunderliche an den edlen Steinen erklärt Hildegard mit dem echt mittelalterlichen Gedanken, daß sie den Glanz der Schöpfung vor dem Sündenfall behalten haben, weshalb alles Dämonische sie flieht. Wegen ihrer Wasser- und Feuernatur sind sie auch das Symbol des Heiligen Geistes und versinnbildlichen jegliches Heilvolle, das dem Menschen anheimgegeben ist. Sie zeigen das menschliche Wesen ohne schuldhafte Verzerrung und sind seinen niederen Anlagen so entgegengesetzt wie die Tugenden dem Laster.

  • »Wie Gott den Adam (d. h. den Menschen) wieder in einen besseren Stand gehoben hat, so ließ er auch nicht zu, daß der Glanz und die Kraft der edlen Steine verlorengingen, sondern er wollte, daß sie auf der Erde blieben zur Herrlichkeit und zum Segen und zur Heilung.«[4]

An der Tierwelt sieht Hildegard insbesondere die charakterlichen Beschaffenheiten des Menschen gespiegelt. Jedoch herrschen hier die Spiegelungen des Häßlichen und Schädlichen vor. Vieles von diesen Beschreibungen mutet bizarr und grotesk an, da auch bestimmte biologische Irrtümer noch nicht getilgt sind. Die Analogie zwischen Mensch und Schöpfung wird aber weitergeführt bis zu der notwendigen Unterscheidung von Genießbarem und Ungenießbarem, von dem, was dem Menschen zuträglich ist und was nicht.
Ohne Zweifel hat sich bei Hildegard von Bingen mit ihrem tiefen Einfühlungsvermögen in den Rhythmus des Lebens viel altes germanisches Naturwissen erhalten, ist aber umgeformt durch das ihr eigene christliche Bewußtsein von der Schöpfung. Wenn auch der Mensch in die Natur eingebettet ist, so weiß Hildegard doch, daß er sein Leben gleichsam in die Hand nehmen muß und seine Daseinswelt nur in geistiger Verantwortung vom Naturgeschehen prägen lassen darf.

b) Die metaphysische Gründung der Schöpfung

Hildegard denkt den Menschen nicht nur in seiner Beziehung zur Erde, die ihn für dieses Leben beheimatet; Mensch und Erde stehen für sie vielmehr in einem übergreifenden Bereich metaphysischer Art, dem Weltall. Die verschiedenen Weltallvisionen Hildegards halten sich an das ptolemäische Weltbild. Wie man es später bei Bonaventura und Dante ähnlich beobachten kann, geht es ihr dabei nicht um eine naturwissenschaftliche Bedeutung ihrer Visionen, sondern um eine der Veranschaulichung bedürftige, kosmische Metaphysik. Weil Hildegards Weltallvisionen diese metaphysische Symbolkraft haben und nicht im Kosmologischen aufgehen, sind sie noch heute von größtem Belang.
Das Weltall ist nach ihrem Verständnis der geborgene, endliche Raum, abgegrenzt von der unendlichen Seinsweise Gottes, es ist die große kosmische Ordnung, aus der alles Geschaffene seine Bestimmung erhält, die es nicht überschreiten kann und in der es durch sein eigenes Dasein das Ganze mitformt. Wie die Dinge der Welt eine räumliche Begrenzung haben, so haben sie auch durch die Schöpfungstat Gottes einen zeitlichen Anfang. Die kosmische Zeit wird bei ihr aber sogleich zur geschichtlichen Kategorie, weil sie ohne Beziehung zum Geschick des Menschengeschlechtes gar nicht erst gedacht ist.
In ihrem Werk »Scivias« beschreibt Hildegard das Weltall unter der Gestalt eines Eies, wodurch das Organische, Behütete und Umhüllte der Schöpfung deutlich wird. Die Erde bildet gleichsam als Eidotter die fruchtbare Mitte des Weltalls, da sie den Menschen, den Inbegriff der Schöpfung, hervorgebracht hat. In der um nahezu drei Jahrzehnte späteren Schau des »Liber divi-norum operum« hat Hildegard unter ausdrücklicher Berücksichtigung ihrer früheren Vision das Weltall anders dargestellt, in der Gestalt eines Rades. Sie will dadurch nicht das Weltbild von »Scivias« aufheben, sondern aus einem neuen Gesichtspunkt ergänzen. Gegenüber dem Organischen am Bilde des Eies soll durch das des Rades das Dynamische, das Mechanische und das Rotierende des Weltalls hervorgehoben werden, also sein ineinandergreifendes Kräftespiel. Weniger seine Zusammensetzung aus verschiedenen Elementen als deren Verhältnis und Harmonie zueinander sowie die metaphysische Bedeutung der Bewegung stehen jetzt im Vordergrund.
Während in »Scivias« das Weltall gleichsam beziehungslos und für sich allein da ist, wird es im »Liber divinorum operum« in der Brust jener großen Menschengestalt geschaut, welche die Liebe Gottes bedeutet und selbst wiederum »in mysterio Dei« ihren überräumlichen Ort hat. Bei dieser zweiten Weltallvision sieht Hildegard im Mittelpunkt des Rades nicht das Bild der Erde,  sondern die Gestalt des Menschen, weil der Mensch die Mitte der Weltstruktur ausmacht. So wird in beiden Visionen auf je verschiedene Weise, einmal stärker seinshaft, einmal stärker ethisch, der Kosmos anthropozentrisch gedeutet. Es ist die wohl in der Liebe Gottes ruhende, aber vom Ort des Menschen aus orientierte Gesamtordnung alles Seienden.
Hildegard beschreibt jedoch den Menschen in der Ordnung von Erde und Weltall nicht, ohne daß sie auch darauf eingeht, wie er in sich selbst gegründet ist. Sie wandelt dabei die Leib-Seele-Dualität ab. In »Scivias« spricht sie von drei Pfaden im Menschen, Leib, Seele, Sinn, wobei sie den im Singular gebrauchten Begriff Sinn als das innere Einprinzip der äußeren Sinne versteht. Der Leib ist das Zelt und der Halt aller Seelenkräfte, die Seele selbst aber ist das Beherrschende, da von ihr die Lebensmitteilung ausgeht.
Auch in diesem Zusammenhang gebraucht Hildegard keine abstrakten Begriffe. Bei ihrer Beschreibung des menschlichen Wesens überlagern sich mehrere Bilder, unter denen das des Baumes von besonderer Einprägsamkeit ist. Die Seele ist im Leibe wie der Saft im Baum und entfaltet in ihm ihre Kräfte wie der Baum seine Gestalt. Die Sonne, die den Baum zur Reife führt, ist die Gnade Gottes, und der Regen, der ihn nährt, der Hauch des Heiligen Geistes. Man sieht an dieser Ausdrucksanalogie, daß es Hildegard im Grunde nicht auf das rationale Denken als Vollendung des Menschen ankommt, sondern daß sie seine eigentliche Würde im Lebendigwerden des Gnadenhaften erblickt. Das ist der wahre Lebenssinn, der alles Naturhafte, Kosmische, Organische, Geistige im Menschen zur letzten Entfaltung bringt.
Da der Mensch in dieser Weise zu allem ihn Umgebenden auf getan ist, erschließt sich sein metaphysisches Wesen bei Hildegard als ein Sein der Mitte. Im »Liber divinorum operum« wird eine Philosophie der Entsprechungen zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos, zwischen den Kräften und Strömungen des Weltalls und den innermenschlichen, leiblich-seelischen Vorgängen entwickelt, ähnlich wie in »Physica« die Beziehung zu den Pflanzen, Steinen und Tieren der Erde aufgedeckt ist. Wir finden wieder den Gedanken vor, daß alle Kreaturen zur Nutzung und Unterstützung des Menschen geschaffen sind und daß nichts seinem Leibe wahrhaft dienlich ist, was nicht zugleich auch seiner Seele hilft. So üben die kosmischen Erscheinungen wie Wind, Licht und Luft auf den Menschen einen Einfluß aus, der eine seelische Wirkung hat, der das Aufsteigen von Gedanken und Regungen kennt oder fördert, ein Bewährungsfeld für ethische Entscheidungen entstehen läßt. Wie groß aber die Gleichartigkeit des ganzen geschöpflichen Seins und die Abhängigkeit des Menschen von Einflüssen aus dem Kosmos auch sein mag, so liegt doch in Hildegards Denken keine Determination vor. Sie empfindet es bis in ihre biologischen Einzelbeschreibungen geradezu als wohltuend, daß der Mensch eine ihm zugeordnete Welt hat und daß er in ihr als ethisches Wesen in Freiheit existiert.
Will man das Menschenbild Hildegards aus seinen philosophischen Voraussetzungen verstehen, so sieht man sich auf ihren Exemplarismus zurückverwiesen. Dieser steht in engstem Zusammenhang mit der im Abendland geläufigen Ideenlehre, wandelt sie aber um ein Beträchtliches ab. Während bei den verschiedenen Ausgestaltungen, welche die Ideenlehre bis dahin gefunden hatte, die Idee immer einen Sinn in sich selbst besaß und das Konkrete oft vor diesem zurücktrat, ist es bei Hildegards Exemplarismus so, daß die in Gott von Ewigkeit vorhergedachten Wesenheiten eine direkte Zielrichtung  auf  die  konkrete  Verwirklichung  in Schöpfung und Geschichte besitzen. So gibt das plastisch-gestalthafte Vorbilddenken ihr die Möglichkeit, die seinshaften Strukturen der Welt entdecken und philosophisch beschreiben zu können.
Seine klarste Ausprägung erreicht der Exemplarismus Hildegards im Symbol der Menschengestalt, nicht nur weil jeder hohe Wert von ihr in der Gestalt des Menschen versinnbildlicht wird, sondern vor allem wegen der Bedeutung der Menschwerdung für die Schöpfung und für die Geschichte. Obwohl der Mensch nicht das Geschöpf mit der höchsten Seinsvollendung ist, bildet er doch, wie Hildegard immer wieder hervorhebt, die Mitte und die Fülle der ganzen Schöpfung. Die Engel, die ihn in der Seinsvollendung überragen, spiegeln ihn von oben, wie er von unten die elementare und kosmische Natur in sich aufnimmt.
Das Symbol der Menschengestalt hat nun in der großen Trinitätsvision von »Scivias« seinen erhabensten Ort. Hier steht es nicht mehr für einen ethischen, geschichtshaften oder metaphysischen Wert, sondern für die zweite Person der Trinität, die Mensch geworden ist.
»Danach sah ich ein überhelles Licht und darin eine saphirblaue Menschengestalt, die durch und durch im sanften Rot funkelnder Lohe brannte. Das helle Licht durchflutete ganz die funkelnde Lohe und die funkelnde Lohe ganz das helle Licht. Und beide, das helle Licht und die funkelnde Lohe, durchfluteten ganz die Menschengestalt, alle drei als eine einzige Lichtfülle wesend in einer Kraft und Macht.«[5]
Durch die von Ewigkeit her im Plane Gottes beschlossene Menschwerdung des Logos ist gleichsam der Mensch in das Geheimnis Gottes und sein dreifach personales Leben hineingenommen, ohne mit dem göttlichen Wesen vermischt zu werden. Höher als in dieser vom Glauben getragenen philosophischen Aussage, welche die Vision versinnbildlicht, dürfte die Würde des Menschen wohl nicht auszudrücken sein. Der Mensch als Mitte der Schöpfung ist aufgrund seiner Ebenbildlichkeit über sie hinausgehoben in die Liebe Gottes.

c) Mystik und Heilsgeschichte

Wie wir schon mehrfach gesehen haben, ist das Naturhafte und Kosmische bei Hildegard von Bingen von der Kategorie des Heilsgeschichtlichen durchwaltet. Erst hierdurch werden ihre Aussagen über den Menschen in seiner Welt endgültig. Jede heilsgeschichtliche Betrachtungsweise setzt an bei der Erfahrung von Geschichte und Gnade in ihrem vielfältigen Miteinander. Die Geschichte wird nicht bloß in ihrem historischen Sinn gedeutet, sondern als das mit oder gegen Gott erfolgende Gesamthandeln des Menschengeschlechtes, das auf das Endziel der Schöpfung zuläuft, wie auch die einzelnen Entscheidungen fallen mögen. Wie sieht nun Hildegard in ihren mystischen Vergegenwärtigungen die Heilsgeschichte des Volkes Gottes im Alten Bund, die in der Kirche Christi weiterwirkt?
Die Schöpfung ist der von Gott gesetzte radikale Anfang alles Zeitlichen. Sofern es sich aber um Geschichte im eigentlichen Sinne handelt, liegt der Ausgangspunkt im Abfall der Menschen von Gott, so daß der Geschichtsverlauf nach Hildegard von Bingen von vornherein darauf angelegt ist, die Menschheit in eine neue, heilvolle Beziehung zu Gott zu führen. Der Urheber dieser Bewegung kann deshalb auch nicht der Mensch sein, sondern nur Gott in seiner Beharrlichkeit sowohl der Liebe wie des Gerichtes. Hildegard weiß nun diesen auf das Heil zielenden Geschichtsgang des Menschengeschlechtes mit seinen verschiedenen Stufen im Alten Testament, der Menschwerdung des Logos und dem Zeitalter der Kirche bis zum Ende der Zeiten hin in visionären Bildern zu verdeutlichen.
Zwei große symbolische Gestalten sind es, an denen sie die Heilsgeschichte schaut: Synagoge und Kirche. In ihrer Gestalthaftigkeit enthüllen sie die einzelnen Phasen des Geschichtsganges, den sie verkörpern. So birgt die Synagoge in ihrem Herzen Abraham, in ihrer Brust Moses, und in ihrem Schoß ist sie trächtig von den Propheten des Alten Bundes, die aus ihr hervorgingen. Abraham stellt durch den Bund der Beschneidung die ununterbrochene Linie der Fleischeseinheit dar, die von ihm bis auf Christus geht, in dem sie sich erfüllt; Moses ist gesehen als derjenige, durch den das Gesetz Gottes in die Herzen aller Menschen eingesenkt wurde, und die Propheten versinnbildlichen den von der Synagoge zur Kirche führenden Übergang.
Wegen dieser vielfachen Beziehungen des Alten Bundes zur Menschwerdung Christi wird die Synagoge auch von Hildegard »Mutter der Inkarnation des Logos« genannt, wenngleich sie dieses nur sein kann in einer Verkettung von Heilvollem und Unheilvollem. So ist der untere Teil ihrer Gestalt von Hildegard in tiefem Schwarz geschaut, um die Sünde der Treulosigkeit am Gottesbund auszudrücken, ihre Füße aber erscheinen in blutigem Rot, weil sie am Ende ihrer Zeit den Propheten der Propheten ermordet hat und dadurch sich selbst zu Fall brachte. Hildegard weiß jedoch, daß Gott die in der Gestalt der Synagoge symbolisch zusammengeschlossenen Menschen des Alten Bundes, die ihrer Bestimmung zuwiderhandelten und auch weiterhin in dieser Erstarrung durch die Geschichte gehen, nicht einfach fallenläßt, und so erwartet sie als entscheidendes Zeichen Gottes vor dem Zeitenende, daß die Synagoge ihren Unglauben aufgibt und in die Kirche Christi heimgeholt wird.
Das Erstehen der Kirche wird von Hildegard in zweifacher Weise geschildert, sowohl aus dem Mysterium der Menschwerdung wie aus dem Tode Christi, in dessen Kraftfeld sich die Lehre der Apostel über den Erdkreis verbreitete. Das Sein der Kirche und die Weise, wie sie sich durch die Jahrhunderte fortpflanzt, wird nun in genauer Entsprechung zur Menschwerdung des Sohnes beschrieben als ein Fruchtbringen im Heiligen Geiste. Dies aber bedeutet nichts anderes als die Jungfräulichkeit der Kirche, von der alle Menschen durch die Taufe für immer ein jungfräuliches Gepräge erhalten, auch wenn sie selbst nicht eine jungfräuliche Lebensform angenommen haben. Das Empfangen und Gebären  aus dem Heiligen Geiste ist für die Kirche wesentlich. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß einzelne Zeitabschnitte, wie sie bei der Synagoge so stark hervortraten, sich an der Kirche kaum noch abzeichnen. Dies deutet jedoch nicht auf einen Stillstand der Heilsgeschichte, wohl aber auf eine prinzipielle Gleichartigkeit ihres Verlaufes seit der Menschwerdung. Nur
das eine, den Zeitengang beschließende Ereignis des Weltendes steht noch aus und wird auch in der Abfolge von Hildegards visionären Beschreibungen am Leibe der Kirche sichtbar. Der untere Teil ihrer Gestalt zeigt die vielfachen Leiden und Bedrängnisse der Endzeit. So hat auch die Kirche noch kein abgeschlossenes Sein, sondern ist die Wartende, die durch die Wirren der
Welt hindurchgeht, in ihrer inneren sakramentalen Struktur heil bleibt und die Menschen durch alle Katastrophen der Weltgeschichte zum Reich Gottes hinführt. Mit der so zu ihrem Ende gelangenden Heilsgeschichte  wird  auch  das  Kosmische  zu  seinem Ziel geführt und seiner letzten Erfüllung entgegengebracht.

  • »So wirkt also Gott, wie du geschaut, vom Osten zum Norden, zum Westen bis zum Süden, wo er durch seinen Sohn in der Liebe zur Kirche alles, was vor der Erschaffung der Welt beschlossen war, zu jener Vollendung führt, die der Jüngste Tag bedeutet.«[6] — »Und alsbald leuchteten alle Elemente in klarster Heiterkeit, als wenn ihnen eine schwarze Haut abgezogen worden wäre. Das Feuer kannte keine Brunst, die Luft keine Verdichtung, das Wasser keine hitzige Wallung, die Erde keine Gebrechlichkeit mehr. Sonne, Mond und Sterne funkelten in voller Leuchtkraft und Schönheit wie der herrlichste Schmuck am Himmel. Und sie standen still, ohne kreisende Bewegung, so daß sie keine Scheide mehr bildeten zwischen Tag und Nacht. Es war nicht mehr Nacht, es war Tag. Das Ende war gekommen.«[7]

Was bedeutet nun dieser großartige Ablauf der Heilsgeschichte für den einzelnen Menschen? Es ist Hildegards grundlegende Einsicht, daß sie selbst durch den Glauben in der Heilsgeschichte steht und daß sie dieses Bewußtsein in jedem Menschen ihrer Umgebung für seinen eigenen Lebensgang wachzuhalten hat. Die innermenschliche Aneignung der Heilsgeschichte, das Lebendigwerden ihrer Impulse und die damit gegebene Durchgeistigung und Aufgeschlossenheit für die Welt, bringt den Gläubigen zu seiner Vollendung inmitten alles Naturhaften und Kosmischen. Dies und nichts anderes besagt für Hildegard die Mystik, die das tägliche Leben mit seinen Anforderungen in keiner Weise ausschließt, keinen Ausnahmezustand hervorruft, sondern so, wie Hildegard sie lebt und gestaltet, als Möglichkeit für jeden Menschen gedacht ist. Es handelt sich bei ihr nicht um die später so beliebte individuelle Brautmystik, wie etwa bei Mechthild von Magdeburg.
Für diese Mystikerin aus dem 13. Jahrhundert sind es eigentlich nur zwei heilsgeschichtliche Wirklichkeiten, um die ihr ganzes geistliches Leben kreist, die Geburt Christi und sein Erlösungsleiden. Zur Mystik kommt es dadurch, daß Geburt und Leiden Christi durchlebt und innerlich angeeignet werden. Sie sind in der Seele der Mystikerin zu einer zweiten, spirituellen Wirklichkeit geworden. Insbesondere das Ereignis der Menschwerdung Christi in Maria ist von Mechthild gleichsam als Urbild jeder Gotteserfahrung herangezogen. Es steht für die persönliche Begegnung von Gott und menschlicher Seele. So kommt Mechthild zu einer Mystik der Gottesminne. Wenn sie sich  dabei der Sprache der höfischen Minnedichtung bedient, dann deshalb, um auch im religiösen Akt die menschliche Innerlichkeit zum Klingen zu bringen. Mit dem Freisein für die Gottesminne hängt das Leerwerden der menschlichen Seele zusammen. Die Liebe des Herzens muß arm sein, muß sich selbst ihrer Tugenden und Werke entäußern, um die Fülle Gottes in sich einströmen zu lassen.[8]
Gegenüber dieser späteren Entwicklung einer mehr individuellen Mystik beruht Hildegards Mystik allein auf dem gläubigen Innewerden der starken Liebe in der Ekklesia, welche als ganze die Braut Christi ist. Die visionären Bilder bei Hildegard zeugen von der immer neuen Sagbarkeit und Unerschöpflichkeit der christlichen Heilsgeschichte. Ausgehend von Gott, führt sie durch die Welt und kehrt zu ihm. als dem Richtenden, dem Erlösenden und Erfüllenden zurück. So ist es möglich, daß nicht nur der Mensch, sondern auch die Naturdinge und der Kosmos der mystischen Erkenntnis unterliegen.
Hier ist der Unterschied christlicher Mystik gegenüber jeder nichtchristlichen zu finden, die wohl einen hohen Grad von Innerlichkeit besitzt, die man auch nicht als rein natürliche Mystik einzuschränken berechtigt ist, die aber nicht einen so objektiven Hintergrund hat wie den der Heilsgeschichte, auf den christliche Mystik nie ganz verzichten kann.

d) Jungfräuliches Frausein

Das menschliche Selbstverständnis, aus dem Hildegard ihre Welthaltung vollzieht, ist das der Jungfräulichkeit. Sie ist Selbstverständnis und Lebensform in einem. Deshalb wird bei Hildegard das Wesen der Frau vornehmlich von Kennzeichen der Jungfräulichkeit aus beschrieben und gedeutet.
Was Hildegard als Jungfräulichkeit gelebt und gelehrt hat, erhielt seinen bleibenden Ausdruck in einer Anzahl mystischer Symbole von dichterischer Kraft, die jeder Generation von neuem zur Interpretation offenstehen und nie veralten. Wo sich Hildegard dagegen begrifflich über die Jungfräulichkeit geäußert hat, da blieb sie oft in der Vorstellung der mittelalterlichen Theologie befangen, der Mensch erlitte durch das leibliche Einswerden von Mann und Frau sozusagen eine Befleckung, einen Verlust seines integren Seins, was auch die Sakramentalität der Ehe nicht hindern, sondern gleichsam nur entschuldigen könne. Wenn Hildegard aber die symbolische Ausdrucksweise anwendet, dann ist diese so weit und offen, daß alle Mißdeutungen fernliegen.
Die Jungfräulichkeit zeigt sich bei ihr als das Charismatische am christlichen Frausein. Dies ist bei Hildegard in der Vielfalt ihrer Gedanken unter drei wesentliche Symbole gefaßt, die aber auch wechselweise auf die Kirche angewandt werden: die Morgenröte vor dem Aufgang der Sonne, die wunderbare Blüte, deren Duft direkt zu Gott aufsteigt, und das neue Lied, das niemals vor der Vollendung des Erlösungswerkes Christi gehört wurde. Die drei Symbole meinen im Grunde das gleiche, das sie von verschiedenen Gesichtspunkten aus umkreisen.
Bei der Morgenröte, die erscheint, wenn die Sonne noch nicht da ist, die aber bereits die Gewähr für ihren sicheren Aufgang in sich schließt, ist daran zu denken, daß die Jungfräulichkeit in ihrer unlösbaren Bindung an die Kirche den Zustand des Vorläufigen und Unvollendeten dieser Weltzeit verdeutlicht, aus der aber mit Sicherheit die Erfüllung im Reiche Gottes hervorgeht. Dieses Symbol deutet also auf den geschichtsjenseitigen Sinn der Jungfräulichkeit, für den sie in der Geschichte Zeichen ist. Von hier aus läßt sich vielleicht sagen, daß die Ehe die der Geschichte angemessene Lebensform ist, die in der Geschichte selbst zur Erfüllung kommt und den Geschichtsgang weiterträgt, wenngleich auch die in ihr frei werdende Liebe über die Geschichte hinausweist, während aber die Jungfräulichkeit gewissermaßen als eine innergeschichtliche Vorwegnahme des Geschichtsjenseitigen begriffen werden kann.
Freilich ist im Sinne Hildegards hinzuzufügen, daß Ehe und Jungfräulichkeit im Christentum nicht nur zwei getrennte Lebensformen sind, sondern daß die unmittelbare Verfügbarkeit, das Charismatische der Jungfräulichkeit, auch in die Ehe hineinzuwirken hat. Denn sie nimmt ja teil an der Jungfräulichkeit der gesamten Kirche.
Durch das zweite Symbol Hildegards nun, das der Blüte, die ihren Duft direkt zu Gott aufsteigen läßt, darf man sich zunächst an das voll entfaltete Menschsein gemahnt fühlen, bei dem gewiß auch die Leiblichkeit nicht auszuschließen ist. Dieses ist aber gekennzeichnet durch den Verzicht auf die Frucht, oder wenn man so will, nimmt hier der das Wohlgefallen Gottes erweckende Duft die Stelle der Frucht ein. Es gehört zum tiefsten Gehalt dieses Symbols, daß die Vollendung der Welt und der Schöpfung nicht aus naturhaften und kosmischen Kräften erwächst, sondern aus einem die Gnade rufenden Entsagen. Das Ausbleiben der Frucht bedeutet, schöpfungsmäßig gesehen, einen Mangel. Dieser wird aber überboten durch die besondere Hingabe für das Reich Gottes und die damit gegebene Form der Gottesbegegnung. Das Symbol der Blüte weist auf die Freude, welche in der Lebensform der Jungfräulichkeit gelegen ist. Hildegard kennt aber auch die Haltung des Kampfes, der Bewährung und der Beharrlichkeit gegen alle Anfechtungen aus der menschlichen Natur, die der mit Freiwilligkeit in die jungfräuliche Existenzform eingetretene Mensch immer von neuem zu vollziehen hat.
Das dritte Symbol Hildegards endlich, das des neuen Liedes, weist auf die beständige Neuheit der christlichen Jungfräulichkeit hin, die trotz aller ähnlich gelagerten Phänomene niemals vor oder außerhalb des Christentums zu finden ist, sondern im Geheimnis der Menschwerdung Christi ihren Ursprung hat. In dieses Symbol wirkt aber auch die Fülle des Heiligen Geistes und die eschatologische Vollendung in der Harmonie der Seligen mit ein.

  • »Denn die Morgenröte der Jungfräulichkeit, die unverbrüchlich dem Sohne Gottes anhängt, birgt in ihren Tiefen das mächtigste Lob. Keine Erdenpflicht und kein Gesetzesband kann dieses brausende Frohlocken hindern, sich auszusagen in einem himmlischen Liede zur Ehre Gottes. Frei geworden, rauscht es plötzlich hervor und erklingt in jenem neuen Liede, das nie gehört wurde, bevor der eingeborene Sohn Gottes, die wahre Blüte der Jungfräulichkeit, als Menschensohn aus der Welt in den Himmel zurückkehrte und seinenPlatz zur Rechten des Vaters einnahm. Da wurde, wie etwas ganz Neues, das man früher nicht kannte, dieses unerhörte Geheimnis im Himmel zur Ehre der Jungfräulichkeit offenbar vor der Majestät Gottes, die es gewirkt.«[9]

Mit dieser symbolischen Erhellung der jungfräulichen Lebensform verbinden sich bei Hildegard die auch sonst in der theologischen Tradition bekannten anthropologischen und metaphysischen Kennzeichen der Jungfräulichkeit. Sie sind aber bei ihr so wesentlich mit ihrer gesamten Weltschau verknüpft, daß sie in mehr oder weniger intensiver Weise für alle Frauen Geltung
haben, die um den Sinn ihres Menschseins bemüht sind. Es handelt sich hierbei näherhin um folgende Merkmale: die Unvermischbarkeit des weiblichen Wesens, die bei allem Eingefügtsein in das Naturhafte und Kosmische die notwendige Distanz zu diesem gewährleistet; die strenge Abhebung des Mannseins und Frauseins voneinander, die als Grundgesetz in jegliche zwischenmenschliche Beziehung hineinwirkt; die innere Geordnetheit im leiblich-seelischen Gefüge, die dem menschlichen Individuum seine Freiheit und Eigenständigkeit gewährleistet und der Ehe eine Form der Reinheit schenkt, die das Erbübel der Konkupiszenz überwindet. Bei allem aber geht es um die Integrität des Seins, die den Sinn in sich schließt, das ganze Leben durch die Gnade Gottes vor schöpfungswidrigen Brüchen, Knickungen oder Zerstörungen in seiner ursprünglichen Geradheit zu bewahren. Sicher ist es nicht zuviel gesagt, daß nach Hildegard jede echte Geistigkeit der Frau in irgendeiner Weise jungfräulich bestimmt sein muß.
Als Kontrast und auch Verdeutlichung von Hildegards Lebensform und Selbstverständnis sei auf eine Frau ihres Jahrhunderts hingewiesen, deren Leben nicht ohne Brüche und schmerzliche Umwandlungen verlief. Es ist Heloise, die mit dem Schicksal des Philosophen und Theologen Abaelard unlösbar verknüpft ist. Ihnen ging jene andere Möglichkeit schöpferischen Menschseins auf, die im Eros zwischen Mann und Frau bereitliegt. Ihr Liebesschicksal hat aber nicht den Charakter einer kurzen Episode, wie man oft glaubt, sondern wird zu einer sich über die Lebenszeit erst allmählich enthüllenden Zeichenhaftigkeit. Denn das gemeinsame Sein dieser beiden Menschen ist mit der nach der Geburt des Kindes heimlich geschlossenen Ehe, der gewaltsamen Entmannung Abaelards und dem Eintritt beider ins Kloster nicht abgeschlossen, es dauert fort bis zu ihrem Tode.
Heloise schöpft aus dem unverminderten Andauern ihrer Liebe die Gewißheit, daß die Bindung an Abaelard einen endgültigen Charakter hat. So ernst sie ihren neuen Lebensstand auch nimmt, jegliche Sublimierung liegt ihr fern. Noch als Äbtissin ruft sie Gott zum Zeugen dafür an, daß nicht die Gottesminne, sondern die Liebe zu Abaelard sie zum Eintritt in den klösterlichen Stand veranlaßt habe. Abaelard bedient sich in seinen Briefen einer rhetorischen Dialektik, um die Fortdauer des gemeinsamen Seins und zugleich die Distanz zwischen ihnen auszudrücken: »Gattin, nein Schwester, Tochter, nein Herrin, einst in der Welt Geliebte, jetzt aber in Christo mehr als Geliebte.«[10]
Wie verhält sich dies nun zu den Anforderungen der Jungfräulichkeit? Das klösterliche Leben ist bei Heloise alles andere als nur ein Ausweg nach der Katastrophe ihres irdischen Geschickes. Es ist Heilung ihres Seins, Vertiefung ihres Glaubens und Aufarbeitung ihres Lebensschicksals. Daran sieht man, daß die Jungfräulichkeit auch als ein nachträglicher Anspruch an das Leben möglich ist, ohne das Vorhergehende zu entwerten. Die integrierende Funktion der Jungfräulichkeit für das menschliche Leben bedeutet in jedem Falle Läuterung, Klarheit und eine Unmittelbarkeit zu sich selbst.
Kommen wir nun zu Hildegard von Bingen zurück. Zu diesen allgemeineren Kennzeichen der Jungfräulichkeit wie Unvermischbarkeit des Seins, Distanz und innere Geordnetheit, fügt sich alles andere, was sie sonst noch über die Frau gesagt hat: ihr pflanzenhaft sich entfaltendes Verbundensein mit der Erde, ihre Liebe zu allem Lebendigen, ihre im Alltäglichen und Gewöhnlichen ansetzende Religiosität, der Sinn zu heilen und zu helfen, überhaupt das Gefühl der Geborgenheit in der Welt Gottes. Wenn auch der Jungfräulichkeit als Lebensform nach Hildegard wie nach dem Verständnis der christlichen Tradition der höchste Rang zukommt, so darf doch nicht übersehen werden, daß jene Merkmale eines in sich ruhenden und zu Gott geöffneten Menschseins das allgemeine Menschenbild Hildegards mitprägen. Dementsprechend bleibt auch sie selbst bei der Außergewöhnlichkeit ihrer Begabung für sich und die anderen doch immer der »simplex homo«, der einfältige Mensch.