Seelischer Innenraum und geistige Distanz
Wie man bei den Generationen der Frauenbewegung von Frauenberufen und Frauenbildung spricht, um die von der Frau ergriffenen und verwalteten Bereiche zu kennzeichnen, so kann man auch die Bezeichnung Frauendichtung verwenden. Damit ist nicht nur gemeint, daß diese Dichtung von Frauen stammt, sondern auch, daß die Lebenserfahrungen der Frau von innen her gedeutet werden und daß das, was sich im Verborgenen vollzieht, durch das dichterische Werk allgemein zugänglich gemacht wird. Für die jetzt schreibende Generation ist der Begriff Frauendichtung weniger zutreffend, weil es nicht mehr so sehr wie noch bei Ina Seidel und Sigrid Undset um die Welt der Frau geht, vielmehr um die sprachliche Benennung und Aufarbeitung menschlicher Bewußtseinslagen. In dieser Betrachtung von Frauendichtung kann aber keine literarische Auseinandersetzung geboten werden, eher eine Analyse der Haltung und Welteinstellung, die der so einflußreichen Frauengeneration vor und nach dem Zweiten Weltkrieg die Impulse gegeben haben.
Überblickt man unsere Frauendichtung, so ist sie keineswegs auf die Darstellung des seelischen Innenraumes eingeschränkt, sie umfaßt insgesamt die Spannweite von innerseelischem Erleben und geistiger Distanz. Keineswegs schreiben die Frauen nur mit Gemüt und Seele, sondern verfügen über das Wissen und die sprachlichen Möglichkeiten, die Welt außerhalb ihres Ich gegenständlich zu erfassen. So hat Ricarda Huch zugleich die Möglichkeit, wissenschaftlich zu analysieren und dichterische Innerlichkeit wachzurufen. Aber es gibt auch den mittleren Weg, den Weg der geistreichen und graziösen Schriftstellerin wie Annette Kolb. Sie erzählt, berichtet, beleuditet Geschehnisse, pflegt also jene literarische Art, wie sie bei den Frauen der Romantikerkreise schon geübt wurde.
Beginnen wir mit einer Dichterin, die heute nur noch wenig bekannt ist, aber doch einen eigenen und unnachahmlichen Stil gefunden hat. Es ist Ruth Schaumann. Zu vielen ihrer Gedichte, besonders jenen der frühen Zeit, gibt es eine Plastik oder ein Bild gleichen Themas als Entsprechung, so daß eines dem anderen zur Erläuterung dient. Innerhalb ihrer Dichtung entwickelt Ruth Schaumann die Eigenart, die verschiedenen Gattungen ineinander zu verweben. So sind viele ihrer Prosaerzählungen durchwirkt von einer Fülle liedhafter Verse, die dem Ganzen eine lyrische Grundstimmung verleihen. Diese Verse sind keineswegs eine Zugabe zur Prosa, so daß man sie, ohne das Sinnganze zu verlieren, beim Lesen überschlagen könnte.
Der Zurückhaltung in der Form der Sprache ist auch der Inhalt angemessen. Es handelt sich sowohl um einen Bereich vorbewußter, präexistenter und kindhafter Weisheit, als auch um das Aussprechen schon todesjenseitig anmutender Einsichten.
In den Bereich des Kindes führt uns das Buch »Amei«, das in jedem seiner Kapitel ein seliges oder schmerzvolles Erlebnis dieses kleinen Mädchens erzählt. Hier wird man in die Unmittelbarkeit der kindlichen Daseinsweise hineingenommen, die vor der Erwachsenenwelt manchmal als Torheit erscheint, in Wirklichkeit aber dem Ursprung viel näher ist. So weitet sich das Ostererlebnis der kleinen Amei — um nur eines aus dieser Kindheitswelt herauszugreifen — zum Inbegriff der Osterfreude schlechthin: wie sie sich noch fast in der Nacht aus dem Bett und aus dem Hause stiehlt und bei Sonnenaufgang am Himmel das große Osterlamm mit seinen Strahlen erblickt, unter dem die ganze Welt ruht. Aber auch beim Umgang mit den kleinen Dingen der Erde, mit Tieren und Blumen, kommt Amei den das Weltgeschehen bewegenden Kräften nahe und sucht ihnen den Sinn abzulauschen.
Zu der zeitenthobenen Gattung des Märchens gehört die Dichtung »Solamen«, in welcher durch die eingefügte Versrede auf fast traumhafte Art eine Symbolik der Namen entsteht. Diese Szene sei kurz herausgegriffen: Durch die Vorahnung des weisen Korbflechters Glaukus, dem sich das Versinken der reichen und sündhaften Inselstadt Vineta im Schlafe angekündigt hat, entkommen er und wenige Menschen dem Verderben. Im Boote des Fischers Stilicho erleben sie auf dem nächtlichen Meer das allmähliche Verschwinden der Türme und Zinnen Vinetas unter dem Wasserspiegel. Von den Reichen der Stadt rettet sich nur ein adliger Knabe namens Heliodor, indem er vom Turm in das Fischerboot springt, was dem Korbflechter Glaukus den Tod bereitet. Heliodors Ruf »Sol«, mit dem er beim Absprung die aufgehende Sonne grüßt, wird beantwortet durch das »Amen« des Sterbenden. Im gleichen Augenblick gebiert das Weib des Stilicho unter ihrer Vliesdecke ein Kind, dessen Name, den Rettungs- und den Sterberuf umschließend, gleichsam deren Echo wird:
Solamen, Solamen
Ist meines Kindes Namen!
summte die junge Mutter schwach vor sich hin.
Solamen aber heißt Trost. Diesen Trost allen zu schenken, die seiner bedürftig und nicht zu stolz sind, ihn anzunehmen, ist der Lebenssinn des Mädchens Solamen in der Stadt Doriat,wo die Geretteten Aufnahme gefunden haben.
Mit demselben innerseelischen Empfinden, durch welches sie Märchenhaftes und Kindhaftes zu gestalten vermag, kommt Ruth Schaumann auch den härtesten Lebensproblemen bei, was man vor allem an ihrer Dichtung »Die Übermacht« sieht. In deren Rahmenbegebenheit wie in der Haupthandlung liegt die gleiche Problematik vor, in der letzteren bereits durchstanden und abgeschlossen und für die erstere als Erhellung dienend. Die Dichterin zeigt eine heile und sinnvolle Ehe, reich mit Kindern gesegnet, in welche der Einbruch wüster Gewalt geschieht und beide Ehegatten an die Grenze des Todes führt. Das schuldlos und wider Willen von der Frau empfangene Kind bringt zunächst eine Kluft zwischen die Ehegatten, so daß sie einander meiden und sowohl der Mann wie die Frau im Leid zu erstarren droht.
Fortgegangen, um den Frevler zu töten, gelangt der Mann an den Ort, wo seiner Frau das Unheil geschah, und hat dort wie Jakob im Buche Genesis die geheimnisvolle Erfahrung des Gotteskampf es, in dem jeder von beiden über den andern Sieger bleibt. Die einzelnen Phasen dieses die ganze Nacht über währenden Kampfes werden jeweils mit den Worten Jakobs beschlossen: Gott, ich lasse dich nicht, und man hört gleichsam den biblischen Nachklang: du segnest mich denn. Es ist ein Kampf um das Annehmenkönnen des frevelhaft gezeugten Lebens, das schon im Keim nichts als Unheil zu bringen scheint.
Dem Manne erwächst aus dieser Begegnung die Kraft, zu leisten, was ihm bis da über seine Kräfte zu gehen schien, und so kann er die Worte sprechen: O Gott, ich lasse mich dir. Mit dieser Umkehr des Wortes: O Gott, ich lasse dich nicht, ist in seinem Herzen der Bann des Bösen gebrochen. Er findet seine Frau am Morgen zwischen zwei Schränken, den Gürtel zur Schlinge geknotet über sich. Aber er vermag ihr mit seiner neugewonnenen Kraft nicht nur über die Anfechtung des Selbstmordes hinwegzuhelfen, sondern ihr auch die Bereitschaft zu geben, das Kind schon unter ihrem Herzen zu lieben, und noch mehr, als sie es mit seinem Beistand zur Welt gebracht hat.
Mit dieser aus der gesunden Substanz ihres Glaubens hervorgegangenen Dichtung kann Ruth Schaumann die Einsicht vermitteln, daß die grenzenlose Macht des Bösen in der Welt niemals zur Übermacht wird, solange sich der Mensch in Vertrauen und Hingabe dem ihn zu überfordern scheinenden Anspruch Gottes stellt. Die Hingabe ist in dieser Erzählung nicht nur eine weibliche Haltung, sondern wie in allen Werken Ruth Schaumanns, auch in ihren Plastiken, die menschliche Grundhaltung schlechthin. Aufschlußreich ist hierfür ihre frühe Holzskulptur der Verkündigung an Maria. Mächtig steht der Verkündigungsengel hinter Maria; sie, in die Knie gesunken, sucht Rückhalt an seiner Gestalt, ihre Hände liegen offen. Das Gegenübersein zum Engel ist nahezu aufgehoben vor der Haltung der Ergebung.
In der Novelle »Die Frau des guten Schachers« macht die Hingabe den Wesenszug der Witwenschaft aus. Die mädchenhafte Innerlichkeit, die für Ruth Schaumann so bezeichnend ist, hat sich in ihren letzten Werken aus der Erinnerung, Einsamkeit und Hoffnung der Witwenschaft umgewandelt.
Wie ein aus furchtbarem Traum erwachendes Kind blickte die Witwe mich an. Am Blick wuchs sie wieder zum Weibe . .. Ich verneigte mich tiefer, im Verneigen spürte ich über mir dreierlei: ihre Kindlichkeit, ihre Liebe zum Gatten, ihre Ergebung, und aus der Ewigkeit herüber heute schon ein Büschelchen Licht wie ein Büschelchen Ähren.
Bei Gertrud von le Fort nimmt man einen schon stärker nach außen gewandten Dichtungsraum wahr, dem nicht mehr in gleichem Maße die seelische Verhaltenheit eignet. Die Innenschau des menschlichen Daseins entfaltet sich in der Spannung zu den objektiven Vorgegebenheiten von Geschichte und Kirche. Da aber die Innerlichkeit nicht aufgegeben wird, sondern sich nur abwandelt vor den Forderungen der Außenwelt, ist leicht einsichtig, wie sehr die beiden Dichterinnen verwandt sind und einander ergänzen. Vielschichtig sind die Probleme, die Gertrud von le Fort in ihren Novellen und Romanen darstellt. Gerade sie war es, die all das ausgesprochen hat, was mehr oder weniger jede religiös gesinnte Frau bewegt.
In dem kompositorisch klar durchgeführten frühen Roman »Die Magdeburgische Hochzeit« ist es der Gedanke der Preisgabe, der von der Dichterin gestaltet wird. Preisgabe ist aber nichts anderes als der ins Negative umgeschlagene Gedanke der Hingebung und insofern dem des Opfers gefahrvoll benachbart. Das Menschliche, das Geschichtliche, das Religiöse hat sich zur Treulosigkeit entäußert, so daß die Kräfte zur Überwindung der Preisgabe nur aus der Opferbereitschaft erwartet werden können.
Aus der Gefahr des echten Opfers, sich in Preisgabe zu verkehren, muß man vor allem den nach dem letzten Krieg so viel gelesenen und diskutierten Roman »Der Kranz der Engel« verstehen. Diesem Werk ist unter dem gemeinsamen Titel »Das Schweißtuch der Veronika« der architektonisch strengere Roman »Der römische Brunnen« vorangestellt. Die dichterische Kraft äußert sich in der Darstellung des dreifach gespiegelten Romerlebens, dem jeweils verschiedene Menschen zugeordnet sind. Das antike Rom der ruhigen Schönheit von Baukunst und Plastik wird gelebt von der Großmutter Veronikas, das Rom der Christen erhält einen zweifachen Widerklang, einen tragischen bei Veronikas Tante Edelgart und einen jetzt noch völlig ungebrochenen bei ihr selbst. Das dunkle Rom der Geschichte ist auf den jungen Dichter Enzio bezogen.
Veronika ist aber nicht nur durch ihr Christwerden, das sich in diesem Roman langsam anbahnt, in den Dreiklang der verschiedenen Welten eingespannt, sondern sie übergreift sie atich durch ihre seltsame Begabung, die Erlebnissphäre der andern in sich zu spiegeln. Sie reflektiert die Welt der Großmutter, die des Enzio und die der Tante Edelgart, indem sie sich in jeder
innerlich auskennt und zurechtfindet. Zu dieser Begabung gehört aber, daß Veronika in der Relativität der aufgenommenen Welten dennoch die Klarheit zur Erkenntnis dessen aufbringt, was den Charakter absoluter Wahrheit hat. Die am Ende dieses Romans sich ereignende Lebensentscheidung ist daher Veronika Konversion zum Christentum.
Im »Kranz der Engel«, der in der deutschen Stadt Heidelberg spielt und damit die Romantik als geistesgeschichtlichen Rückhalt hat, ist das Romerlebnis abgeklungen vor der nunmehr alles beherrschenden Auseinandersetzung der Welten Enzios und Veronikas. In den zwischen beiden Romanen liegenden Jahren des Ersten Weltkrieges ist Enzio mehr und mehr in die Richtung des Düsteren geraten und sucht einen Ausweg in einer atheistischen Weltanschauung. Das Dichten hat er aufgegeben, und sein Geschichtssinn klammert sich noch an den immer schwächer werdenden Gedanken des Deutschen Reiches.
Veronika ist dagegen durch die Taufe über das Humanistisch-Christliche hinaus in den bergenden Raum der Kirche geschritten. Die unbekümmert gewachsene Liebe von beiden tritt zunehmend in einen unversöhnlichen Zwiespalt, wodurch sich die Problematik des Romans ständig vergrößert. Eine gewisse Zwischenstellung hat der Vormund Veronikas, jener liberalprotestantische Professor, der die pessimistische Anschauung Enzios über die gegenwärtige Geschichtssituation teilt, Veronika aber in ihrem christlichen Anspruch zu bestärken sucht, weil er im Christentum die möglichst lange zu haltende Abendröte der abendländischen Kultur erblickt.
Zur Auslösung des Konfliktes kommt es durch die seelisch in den Vordergrund rückende Frage der Ehe, von der Enzio wie Veronika geistige Einheit erhoffen. Enzio kann aber den Forderungen der Kirche, die Veronika ihm unterbreitet, deshalb nicht zustimmen, weil er dadurch seine Lebenswelt an sie und die künftigen Kinder verlieren würde. Es liegt eine nahezu ausweglose Situation vor.
Veronika ist jetzt nicht mehr das »Spiegelchen« wie vordem, vielmehr diejenige, welche sich aus Liebe in die Problematik ihres künftigen Mannes hineinbegibt. Wenn aber Veronika zu dem Opfer bereit ist, die sichtbare Kirche zu verlassen und in ihrer Ehe, auf den Trost der Sakramente verzichtend, sein Schicksal zu teilen, so gelangt sie an den äußersten Rand des christlichen Wagnisses. Sie glaubt aber, sich zutrauen zu dürfen, daß sie auch so noch die Liebe Gottes festhalten und dadurch Enzio mit ihr in Berührung bringen kann. Die hiermit verbundene Gefahr der Preisgabe der eigenen Existenz wird von der Dichterin an der bis zur Todeskrise führenden Krankheit Veronikas sichtbar gemacht.
Am Ausgang des Romans bleibt es in der Schwebe, ob Veronika in die Irre gegangen ist oder ob gerade ihr Ausharren bei Enzio der Grund dafür war, daß dieser sich aus der Erstarrung lösen kann. Der Gedanke des Opfers steht also im »Kranz der Engel« in der bewußt aufrechterhaltenen Zwielichtigkeit von Preisgabe und Angenommensein durch Gott. Indem diese beiden so grundverschiedenen Möglichkeiten offengelassen werden, betont die Dichterin die absolute Freiheit der Gnade, durch welche allein ein Opfer überhaupt zu einem solchen werden kann. In diesem Roman liegt so etwas vor wie eine christliche Tragik, weil Veronika sich bei ihrem höchstmöglichen Einsatz für den andern selbst seelisch und geistig zugrunde richten kann. Widersinnig wäre es, daraus eine Richtschnur für die Entscheidung ähnlich gelagerter Schicksale ablesen zu wollen.
In der Novelle »Die Frau des Pilatus« hat Gertrud von le Fort das Motiv der sich für das Heil des Mannes bereitstellenden Frau noch intensiviert. Aber hier erscheint das Opfer ganz und gar sinnvoll. Die Dichterin hat die Form des Briefes gewählt, in dem über den Lebensweg der Claudia Procula berichtet wird. Ausgehend vom Traum dieser Frau am Morgen der Verurteilung Jesu, in welchem sie die geistigen Räume der Zukunft durchschreiten und dabei die Worte aus dem christlichen Glaubensbekenntnis hören muß: »Gelitten unter Pontius Pilatus«, führt die Novelle in der Strenge ihrer Thematik bis zu einer Wiederholung des Richterspruches, den Pilatus über Christus gesprochen hat, an die zu verfolgenden Christen.
Claudia Procula hat seit der Verurteilung Jesu die Schuld ihres Gatten übernommen, um sie mit ihrem Leben zu sühnen. Nach Jahrzehnten der inneren Einsamkeit, in denen sie mit ihrer Liebe wie ihrer Suche nach Heil ohne menschlichen Beistand war, stößt sie auf die Christengemeinde Roms und muß hier erkennen, daß diese nicht die erbarmende Nähe Christi fortträgt, sondern aus einem puren Gerechtigkeitssinn über Pilatus das Verdammungsurteil spricht. Als sie aber in der Verfolgung die christlichen Märtyrer erlebt, die, ihren Feinden verzeihend, zu sterben wissen, fühlt sie sich eins mit dieser Kirche und nimmt freiwillig auf sich, durch ihren Mann und zugleich für ihn unter den verfolgten Christen das Martyrium zu erleiden, in der Gewißheit, daß ihr Opfer angenommen ist.
Welche menschlichen und fraulichen Verhaltensweisenwerden nun an den Werken Gertrud vonle Forts sichtbar? In der »Magdeburgischen Hochzeit« und im »Römischen Brunnen« ist die Welthaltung der Gestalten, von denen die heilvollen Lebensimpulse ausgehen, eine gesunde, klare Anteilnahme, und es kommt nicht zum Eingehen oder gar Aufgehen in der Welt des anderen. Die so bestimmte Welthaltung ist nun im »Kranz der Engel« einerseits überboten, anderseits auch verwischt. Das Spiegelsein ist aufgegeben zugunsten einer Intensität zum andern, welche die Unversehrtheit des eigenen Selbst bedroht. Das Ich geht in die Lebensbefindlichkeit des andern mit all ihren Verwirrungen und Trübungen ein, um ihm aus der eigenen, im Heil geglaubten Existenz Kräfte der Auf erbauung zukommen zu lassen.
An der »Frau des Pilatus« nun kann man eine dritte Stufe der Opferbereitschaft wahrnehmen. Die Frau trägt alles in ihrem eigenen Selbst aus, geht nicht in die Welt ihres Mannes ein und verlangt auch nicht, daß er an der ihren teilhat. Ohne daß er es ahnt, nimmt sie sein Urteil stellvertretend als Schuld auf sich. Ihr personaler Kern ist dabei in keiner Weise in Frage gestellt, und das Opfer für den Mann als Hingabe des Lebens ist zugleich religiöses Martyrium. Auf dieser letzten Stufe mündet der Opfergedanke am deutlichsten ein in das christliche Verständnis des Opfers. Die im Seelischen verbleibende Form der Hingabe, wie wir sie bei Ruth Schaumann kennenlernten, muß bei Gertrud von le Fort durch die objektiveren Anforderungen der Welt den Charakter des Opfers annehmen. Geistige Anteilnahme, ein das Ich bedrohendes Miterleben und die sühnende Stellvertretung sind also die verschiedenen Stufen in der opfernden Beziehung zum Mitmenschen.
Das Opfermotiv ist in den anderen, größeren und kleineren Werken der Dichterin vielfältig variiert. In unterschiedlicher Stufenlage zieht es sich durch den großen Roman »Der Papst aus dem Ghetto«. Die Erfahrung des Mütterlichen ist es, die in der Novelle »Das Gericht des Meeres« den Feindeshaß überwindet und die Bereitschaft zum Opfer verleiht. In der Novelle »Die Letzte am Schafott« geht es um die Berufung der Schwachen zum Martyrium und um die Nichtannahme der Starken, deren Opfer gerade darin besteht, daß sie die Verschmähung ihrer Bereitschaft erdulden muß. Mehrfach erscheint das Opfermotiv in der Nachkriegsnovelle »Die Unschuldigen«, welche durch eine doppelte Analogie, nach rückwärts im bethlehemitischen Kindermord, nach vorwärts in dem Geschick eines für seine Mutter sterbenden Kindes, den dichterischen Aufweis erbringt, daß die toten Kinder des letzten Krieges auch Opferkinder waren.
Das Opfer ist für Gertrud von le Fort jene Grundkraft aus dem christlichen Glauben, die einen verworrenen Weltzustand nicht fallenläßt, sondern der Erlösung nahebringt. Beim Opfer stoßen Menschenwerk und Gotteswerk zusammen. Meist sind es Frauen, die bei Gertrud von le Fort diesen Weg gehen und so ihren religiösen Auftrag erfüllen.
Im dichterischen Werk Elisabeth Langgässers begegnet uns an Thematik und Darstellungsweise zunächst etwas völlig anderes. Aber auch sie hat die Welt aus religiösem Blickpunkt befragt. Einer oberflächlichen Betrachtung könnte ihr Werk nur als eine bis ins einzelne gehende Kultur- und Gesellschaftskritik mit negativen Vorzeichen erscheinen. Daß die Dichterin die verschiedensten Formen menschlichen Abfalls so hüllenlos zeichnen kann, ist aber nur möglich, weil ihre eigene Person nicht in der Erzählung mitschwingt, sondern klar vom Werk distanziert ist. Man kann bei ihr von einer modernen Art der Gegenständlichkeit sprechen. Aufgrund dieser für eine Frau vielleicht mehr zu erwerbenden als naturgeschenkten Fähigkeit kann die Welt durchschaut und in ihren Vordergründigkeiten abgebaut werden, um an dem so weitgehend dämonisch strukturierten Leben nicht zu scheitern. Bei Elisabeth Langgässer ist die Gegenständlichkeit darüber hinaus noch der geistige Schutz für das kostbar im Innern bewahrte Seelische und für die Geheimnisse des christlichen Glaubens.
Ihr Hauptwerk, der umfangreiche Roman »Das unauslöschliche Siegel«, bedarf zum Verständnis einer eigenen Formanalyse. Er besteht aus einer großen Anzahl von Einzelszenen, die wie Theaterkulissen vor-und hintereinandergeschoben sind. Zeitlich erstreckt sich das Romangeschehen von den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg bis gegen Ende des letzten Krieges. Die einzelnen Romanszenen folgen aber nicht dieser Zeitkontinuität, es unterbricht vielmehr zuweilen ein Jahrzehnte später liegendes Gespräch oder Handlungsge-füge den Zusammenhang, der dann mit der folgenden Szene wieder aufgegriffen wird. Durch dieses Vor-und Rückwärtsbeleuchten wird das Inkommensurable menschlicher Denk- und Lebensformen zum Ausdruck gebracht, aber auch die weitere Entwicklung schon vorweggenommen, so daß es dem Roman nicht auf Pointen und Überraschungen ankommt. Den Zusammenhang zwischen den einzelnen Szenen herzustellen, bleibt vielfach ganz dem Leser überlassen.
Welche Bedeutung hat nun dieses Aufbauprinzip des Romans für seinen Inhalt? Der Szenenwechsel ist die Voraussetzung für ein ständiges Umschalten der Perspektive, die erforderlich ist, um in die Undurchdringlichkeit des Weltganzen einiges Licht zu werfen. Die Dichterin versteht das Satanische im christlichen Sinne als das schlechthin Böse und nicht etwa als eine für den innerweltlichen Prozeß notwendige Gegenkraft, als welche das Dämonische bei Goethe aufgefaßt ist. Das Satanische ist für Elisabeth Langgässer die nackte Bosheit in ihrer widergöttlichen Verführungskraft. Die Darstellung dieser Mächte nimmt im »Unauslöschlichen Siegel« den breitesten Raum ein, weil sie nach der Erfahrung der Dichterin das Erscheinungsbild der heutigen Welt bestimmen. Zu Unrecht hat man gegen sie den Vorwurf erhoben, sie stelle das Böse aus Lust am Bösen dar. Die Tatsache, woraus dieser Vorwurf erwächst, ist vielleicht ihre Fähigkeit, die Saugkraft und das innere Beziehungsfeld des Bösen unmittelbar erstehen zu lassen, sowie auch die Spiegelung einer Inkarnation des Satanischen durch die andere; und doch ist es der Sinn des Romans zu zeigen, daß nicht das Böse, das in dieser Welt das letzte Wort zu sprechen scheint, die Oberhand behält, sondern die Gnade. Diese wird aber nicht als Antwort auf einen Prozeß der Läuterung gezeigt, sondern als plötzlicher, blitzhafter Einbruch in das Gespinst des Satanischen. Sie steht jedoch im Zusammenhang mit verborgener menschlicher Hingabe, denn auch diese Dichterin veranschaulicht den christlichen Gedanken des Füreinander-Eintretens in stellvertretender Sühne.
Die Hauptgestalt des Romans, die aber nicht immer im Vordergrund steht, ist der Kaufmann Lazarus Beifontaine in einer rheinhessischen Stadt vor dem Weltkrieg. Er ist jüdischer Herkunft, hat aber am Tage vor der Vermählung mit seiner christlichen Frau aus eigenem Willen die Taufe empfangen. Am siebenten Jahrestag seiner Taufe setzt der Roman ein mit einer Besinnung Belfontaines auf sein bisheriges Leben als Christ. Objektiv glaubt er feststellen zu können, daß er seit dem Tauftag ohne Todsünde lebt, ein korrekter Katholik, als welchen ihn seine bürgerliche Umwelt anerkennt. In einem tieferen Sinne wird er sich jedoch darüber klar, daß die sieben Jahre einen ständigen Stillstand bedeuteten und daß er keinen Schritt weitergekommen ist. Bei dieser Erkenntnis hört er wie zufällig den überdrüssigen Ruf seines Kindes: »Ich habe keine Lust mehr//, der in seiner Seele ein tiefes Echo hinterläßt. In Schalheit spielt sich sein weiteres Leben ab, wie sehr er es auch mit äußeren Vergnügungen füllt.
Beifontaine kommt nun in Berührung mit den verschiedensten einander ablösenden Welten des Bösen, denen er verfällt. Einer solchen Inkarnation des Satanischen folgend, verläßt er, scheinbar nur zu einer Reise, Stadt und Familie und begibt sich nach Paris.
Durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird er in Frankreich festgehalten und gilt nach dessen Ende in Deutschland als Verschollener. Er geht eine bigamische Ehe ein mit dem verworfenen Mädchen Susette, das im Mittelpunkt eines der vielen satanischen Kraftfelder steht. Für sich selbst dem Glauben längst absagend, führt er wiederum nach außen das Leben eines ehrenvollen Christen, von der um seine Freundschaft bemühten Geistlichkeit völlig undurchschaut.
Die letzte Inkarnation des Bösen, ein Matrose, von dem Susette nach dem Ehebruch ermordet wird, ist für Beifontaine das Erlebnis der Spiegelung aller früheren und hat vielleicht deshalb keine Macht mehr über ihn. Es naht der Augenblick, wo er unter dem Eindruck eines ihn zu Boden werfenden Gewitters aus der Umklammerung des Bösen gelöst werden soll, scheinbar ohne jede Bereitung. Sein Name Lazarus ergreift im Augenblick des Durchbruchs der Gnade gleichsam von Beifontaine Besitz, als er die biblischen Worte der Totenerweckung hört: »Lazarus, komm heraus!« Dieses scheinbar unvermittelte Gnadengeschehen wird von der Dichterin dargestellt als Wiederaufstrahlen des unauslöschlichen Siegels der Taufe, das er dem sühnenden Leben seiner wahren Frau zu verdanken hat, von der aber im Roman nur noch sehr wenig die Rede ist, um die Verborgenheit ihres Leides und ihrer Hingabe auch in der dichterischen Form nicht aufzuheben. Das weitere Schicksal Belfontaines wird in einem knappen, kursiv gedruckten Bericht zusammengefaßt als das eines duldenden Bettlers, dessen Weg durch Konzentrationslager und Seuchen führt und dessen Spur sich schließlich verliert.
Der erst nach dem Tode der Dichterin erschienene Roman »Märkische Argonautenfahrt« schildert die Situation der Nachkriegszeit. Es geht um das Schicksal von sieben Menschen, das typisch ist für den am Kriegsende auf dem menschlichen Dasein lastenden Gesamtzustand. Zunächst wird jeder einzelne in der eigenen, inneren wie äußeren Bedrängnis dargestellt. Es sind ein Geschwisterpaar, ein heimgekehrter Soldat, ein Mädchen aus alter Adelsfamilie, ein Schauspieler und ein jüdisches Ehepaar, das den Gasöfen entkommen ist. Jeder für sich faßt den Entschluß, durch eine nicht unbedingt religiös gemeinte Pilgerfahrt zum Anastasienkloster der Zisterzienserinnen nach innerer Klärung zu suchen. Auch dieser Roman ist von einer die Einzelschicksale übergreifenden Fülle. Dazu gelangt die Dichterin hier aber nicht durch ein Verschieben der Perspektive, sondern durch die beiden Stilmittel des in die unmittelbare Vergangenheit des Krieges führenden Berichtes und des in die Breite gehenden Zeitbildes. Der Bericht, der zuweilen aus dem Munde der Erzählenden genommen und zum Selbstbericht von Toten wird, macht offenbar, daß die im verborgenen das Schicksal durchwirkenden Kräfte direkt gegenwärtig sind. Im Zeitbild enthüllen sich die in Zerfall und Verwilderung befindlichen Zustände der Nachkriegszeit, wobei aber im Gegensatz zum »Unauslöschlichen Siegel« gezeigt wird, daß die dem Bösen Verfallenen dennoch nicht absolut böse zu sein brauchen.
Es ist, als ob sich die verschiedenen Erscheinungsformen des Satanischen im Kriege gegenseitig vernichtet hätten, und geblieben ist eine ungeheure Leere. So ist die eigentliche Erfahrung die des Nichts. Zu welchen Einsichten auch die einzelnen Gestalten auf ihrem gemeinsamen Weg gelangen, diese sind nicht so entscheidend wie das, was ihnen an Lebenssinn gleichsam unter die Füße wächst: die Erde. Der Gedanke nimmt seinen Ausgang von der realen Erde der märkischen Landschaft, in welcher nach der alten Ordensregel das Anastasienkloster seinen festen Ort hat. Hier ruhen die Hände der Nonnen nicht nur im Gebete, sondern ebensosehr sind sie mit den Früchten des Feldes beschäftigt. Der von der Erde erwachsende neue Lebenssinn findet seine Vollendung in dem Bewußtsein, daß alles menschliche Schicksal, so sinnlos es auch vorerst erscheinen mag, in der Auferstehung umgewandelt wird.
Dieser feste Glaube kommt am deutlichsten zum Ausdruck in dem Nachtrag des Romans, wo ein Bauer, der als Soldat in Rußland war, mit einem andern Bauern beim Schaufeln eines Grabes ein Gespräch hat. Die Erde ist das alle Menschen Verbindende und Trostvolle, das immer noch bleibt, wenn schwerste Heimsuchungen über die Menschheit hinweggehen. Aber noch mehr bedeutet die Erde. Wie sie das gemeinsame Fundament aller Menschen ist, so verleiht sie auch allen Menschen eine religiöse Hoffnung auf das Heil und entreißt sie der nihilistischen Leere.
»Die Erde ist überall gleich. Hier... in dem Dnjeprbogen ... und hinter dem Ural...«
»Aber die Menschen sind doch dort anders?«
»Nein. Auch die Menschen sind gleich«
»Aber sie sind doch ganz ohne Gott?«
»Das gibt es nicht«, sagte er. »Letzte Ostern war ich in einem Wald —
... In der Dämmerung kam ich hin, die Sonne ging eben auf.
Da waren Bauern, Männer und Frauen,
welche am Boden lagen.«
»Am Boden?«
»Ja, über einem Kreuz an der Erde, das jeder mit Mund
und Brust berührte .. . Sie haben auch gesungen dabei.«
»Was haben sie denn gesungen, Pachulke?«
»Das Dreimalheilig, wie sie es nennen ... Heiliger Gott.
Unsterblicher Gott. Heiliger, starker Gott. Unsterblicher,
heiliger, starker Gott. Starker Unsterblicher.«
»Und immer über die Erde hin?«
»Ja, über die Erde hin ...«
»Das hast du doch nur geträumt, Pachulke«, sagte der
Bauer mit offenem Mund, setzte von neuem den Fuß auf
die Schaufel und warf die Erde empor...
An den Romanen von Elisabeth Langgässer wird deutlich, was man mit einer gegenständlichen Betrachtungsweise dichterisch erreichen kann. Dazu ist geistige Distanz erforderlich. Aber diese Form würde sich selbst aufheben, wenn ihr nicht eine starke innere Freiheit entspräche, die das Leben als ganzes bejaht.
In der Dichtung ist es vor allem die Lyrik, die mit ihren differenzierten Sprachmöglichkeiten die menschliche Innerlichkeit klärt. Die Lyrik der Frauen behandelt die uralten Themen der geistlich-religiösen Erfahrung, des Naturerlebens, der Liebe und der Todesbedrohung.
Bei Gertrud von le Fort steht für das erstere der Anspruch des Glaubens an das eigene Selbst, wie er in den Hymnen an die Kirche gestaltet ist.
Ich bin in das Gesetz deines Glaubens gefallen wie in ein
nackendes Schwert!
Mitten durch meinen Verstand ging seine Schärfe, mitten
durch die Leuchte meiner Erkenntnis!
Bei Elisabeth Langgässer wird die christliche Heilserfahrung im Naturerleben widergespiegelt. Der Mensch muß beim Durchkosten der Natur verschiedene übereinander gelagerte Schichten erkennen, um zu erfahren, was Schöpfung ist und was den verborgenen Heilsgrundriß Gottes ausmacht. Die Natur mit ihrer Üppigkeit von Samenfülle und Fruchtbarkeit gibt sich als der Inbegriff des Lebendigen. Sofern sie den Menschen einschließt und aus dem Zyklus des Zeugens, Sprießens und Absterbens nicht freigibt, wird sie ihm zur lügnerischen, magischen oder sogar dämonischen Umstrickung. So spielt in die Natur das Mythische hinein, das Elisabeth Langgässer mit Bildern aus der griechischen und nordischen Sagenwelt benennt. Aber dies ist nicht das Letzte. Die Welt hat noch einen anderen Wortgrund, der dann aufstrahlt, wenn sie so intensiv geliebt wird, daß ihre Hinfälligkeit und Erlösungsbedürftigkeit an den Tag kommt. Dann wird sie transparent für das Mysterium, das die Dichterin vor allem im Bilde der Rose beschreibt. Die altchristliche Parallele Christus-Orpheus ist von ihr bewußt einbezogen.
In dem Hauch der Rose ruht
wunschlos mein Geschlecht.
Wenn einst der Mänade Wut
mir zerstücket Fleisch und Blut,
ist es Orpheus recht.
Haupt und Leier schwimmen dann
auf dem Samenstrom.
Beides ward ich: Weib und Mann,
Allnatur, erlöst vom Bann,
Wurzel und Arom ...[1]
Bei Gertrud Kolmar findet man jene Liebeslyrik, die immer noch vom Hohenlied inspiriert ist. Sie strahlt eine weibliche Intensität aus, welche vor den Anforderungen der äußeren Welt nicht versagt, aber auch nicht von ihnen aufgesaugt werden kann.
Da unsere Atemzüge sich mischten zu köstlichem Wein,
den wir in Rosenquarzschale darboten unserer Herrin, der Liebe,
Da in Gebirgen der Finsternis die Druse uns wuchs und reifte,
Hohlfrucht aus Bergkristallen und fliedernden Amethysten,
Da die Zärtlichkeit unserer Arme Feuertulpen und porzellanblaue
Hyazinthen aus welligen, weiten, ins Morgengraun reichenden Schollen rief. ..
Wann wieder werden wir uns begegnen?[2]
Eine ähnliche Erlebnisschwere hat die Lyrik der noch bekannteren jüdischen Dichterin Else Lasker-Schüler. Die Sprache der Propheten klingt an, aber auch die Sprache des Expressionismus. Die Liebe stiftet nicht nur einen seelischen Innenraum, sondern auch eine Gemeinsamkeit im Überdauern gegen die Mächte des Todes.
Der Fels wird morsch,
Dem ich entspringe
Und meine Gotteslieder singe.
Jäh stürz ich vom Weg
Und riesele ganz in mir
Fernab, allein über Klagegestein
Dem Meer zu.
Hab mich so abgeströmt
Von meines Blutes
Mostvergorenheit.
Und immer, immer noch der Widerhall
In mir,
Wenn schauerlich gen Ost
Das morsche Felsgebein,
Mein Volk,
Zu Gott schreit.[3]
Die Dichtung ist das Gebiet, wo die Frau schon seit Jahrhunderten schöpferische Kräfte gezeigt hat und wo sie als Kulturkonsumentin das meiste Interesse bekundet. Vielleicht ist dasjenige, was man mit Frauendichtung bezeichnen konnte, heute an ein Ende gelangt. Das heißt aber nicht, daß nicht weiterhin Frauen schreiben, sie werden vielleicht sogar das literarische Feld mehr als je zuvor bestellen. Dabei wird weiterhin frauliche Lebensform, Erlebnis- und Daseinsweise gestaltet werden, aber nicht mehr so wie vorher die beherrschende Thematik sein.
Für die Zukunft bleibt uns die Frage, ob die Frau auch auf dem Gebiet der Bildkunst und der Musik die nur nachvollziehende Haltung überwinden und immer mehr den schöpferischen Durchbruch machen wird.