Die Einheit von tätigem und betrachtendem Leben
Simone Weil und Edith Stein, die ungefähr um die gleiche Zeit während des letzten Krieges verstorben sind, kannten einander nicht, werden aber in Zukunft immer mehr mitsammen genannt werden müssen. Sie sind wie ein gegensätzliches Geschwisterpaar, ähneln einander und haben doch auch ganz verschiedene Züge. Von beiden wurde etwas Äußerstes unternommen, das nicht auf der innermenschlichen Ebene des Gedankens und Bewußtseins allein verblieb, sondern immer auch zur Verwirklichung drängte. Radikalität und Kompro-mißlosigkeit, sogar herbe und abstoßende Züge, erschweren manchem den Zugang zu Simone Weil, während Edith Stein, zwar nicht in ihren schwierigen philosophischen Gedankengängen, wohl aber als Gestalt, sanftere und gefälligere Konturen hat.
Beide Frauen sind jüdischen Geblüts, die eine wurde jedoch agnostizistisch, die andere in der strengen Religiosität des Judentums erzogen. Die eine verharrte als Glaubende bewußt außerhalb der Kirche, aus Solidarität zu allem, was schicksalhaft außerhalb ihrer verbleiben muß, und wollte in der Anonymität des modernen Massendaseins untertauchen. Die andere dagegen vollzog nicht nur den Schritt der Taufe, sondern auch die Entscheidung zum Leben in der Stille und Kontemplation des Karmel, im Gedanken an die innergeschichtliche Bedrängnis und in der Hoffnung auf die endzeitliche Heimholung ihres jüdischen Volkes.
Während Simone Weil zur christlichen Geistigkeit Frankreichs erheblich beisteuerte, war Edith Stein der deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts verpflichtet und erarbeitete von da einen neuen Zugang zur Tradition des Mittelalters. Beide wurden von der Entäußerung, dem Leiden und Unglück der Zeit bis zur Hingabe ihres Lebens betroffen, und ihr Todesschicksal hat eine stellvertretende, aber zugleich auch grauenvolle Zeichenhaftigkeit. Jäh abgebrochenes, jedoch nicht unvollendetes Dasein; kein literarisch abgeschlossenes Werk, und dennoch ein menschlicher Aufbruch, um den gewußt sein muß und den wir nicht versanden lassen dürfen.
a) Die Arbeitswelt und das soziale Gefühl
Simone Weil entwirft kein neues Frauenbild. Typisch weibliche Züge sucht man bei ihr vergebens, so wie sie sich auch nicht sonderlich für die Lebensbedingungen der Frau interessierte. Sie hatte ihrem Denken das Thema des sozialen Daseins gestellt, das Thema der Arbeit und des arbeitenden Menschen. Theologisch ausgedrückt, ging es ihr um die Dialektik von Leid, Übel, Unglück und Gottesliebe. Der vielfach umkreiste Mittelpunkt ihres Philosophierens aber ist die Materie und damit das geschöpfliche Sein, der Weltstoff. Alles dies spiegelt sich in ihrer geistlichen Selbstbiographie.
Simone Weils Denken ist wesentlich Kritik und Entlarvung von Zweideutigkeiten. Sie analysiert das soziale Gefühl als die große Möglichkeit, aber auch die verwirrendste Versuchung des modernen Menschen. In Abstraktion von allen ideologischen oder auch religiösen Zielsetzungen möchte sie dem auf den Grund gehen, was über die weltanschaulichen Gegensätze hinweg eine so starke Triebkraft im Menschsein bildet. Sie betrachtet es als die ihr auferlegte intellektuelle Redlichkeit, dabei alle Ideen gleichmütig gelten zu lassen, die griechische Antike, die außerchristlichen Religionen, miteinbegriffen den Materialismus und Atheismus.[1]
Was Simone Weil überall als das soziale Gefühl vorfindet, unterliegt nun einer grundsätzlichen Unterscheidung: Es kann, wenn es auf echter Nächstenliebe beruht, eine selbstverständliche Form der Gottesliebe sein und damit auch ihr mächtiger Antrieb. Es kann jedoch ebenso, und zwar innerhalb jeden Milieus, auch des christlichen, ein Ersatz und eine Verdrängung des religiösen Gefühls sein, da es diesem zum Verwechseln ähnlich sieht.
Das Soziale als Selbstzweck ist daher die gefährlichste aller Versuchungen. »Die Falle der Fallen, die fast unvermeidbare Falle ist die soziale Falle. Überall, immer, in allen Dingen verschafft das soziale Gefühl eine vollkommene, d. h. eine völlig trügerische Nachbildung des Glaubens. Diese Nachbildung hat den großen Vorteil, alle Teile der Seele zufrieden zu stellen.«[2]
Simone Weil liebt nicht die außergewöhnliche Lebensform für die religiöse Existenz des Menschen. Es gehört zu ihrem eigenen sozialen Verhalten, daß sie »gewissermaßen anonym bleiben will, so beschaffen, daß man sich in jedem beliebigen Augenblick mit dem Teig der allgemeinen Menschheit vermengen kann.[3] Sie will auch in jedem beliebigen menschlichen Milieu aufgehen können, was aber gerade voraussetzt, daß sie an keinem wirklich teilhat, sondern einsam bleibt. Also eine Ausnahmeexistenz ? Dagegen spricht ihr Selbstverständnis, dem man Glauben schenken muß: »Es erscheint mir immer als eine wahnwitzige Vermessenheit, anzunehmen, man könne eine Ausnahme sein.[4]
Das soziale Gefühl ist für Simone Weil aber nicht nur zweideutig innerhalb des vagen Umkreises der menschlichen Gesellschaft allgemein, es ist ebenso trügerisch innerhalb der Kirche. Auch hier sieht sie kollektive Einflüsse am Werk, denen Widerstand zu leisten, sie sich nicht gewachsen fühlt. Damit begründet sie ihr für eine Berufung gehaltenes und als Entsagung geleb-tes Verharren außerhalb der Kirche. »Die sozialen Gefühle sind heute so übermächtig, sie sind derart imstande, die Menschen bis zum äußersten Grade des Heroismus im Leiden und Sterben zu erheben, daß ich es für gut erachte, wenn einige Schafe außerhalb des Stalles bleiben, um zu bezeugen, daß die Liebe zu Christus wesentlich etwas ganz anderes ist.«[5] Seltsam hellsichtig wirkt es, wenn Simone Weil zwanzig Jahre vor dem Konzil schreibt, die Kirche müsse erklären, daß sie sich geändert habe oder ändern werde, um wirklich wie ein Keil in das soziale Leben der modernen Welt eindringen zu können.
Was Simone Weil selbst an Vorschlägen zur Änderung des Massenelends und des Arbeiterdaseins gemacht hat, ist unbrauchbar und utopisch, wie es schon die frühmarxistische Literatur war, soweit es um praktische Einzelheiten geht.[6] Unentbehrlich sind jedoch ihre theoretischen Einsichten in den Zustand und die Befindlichkeiten des körperlich schwer arbeitenden Menschen, die sie in eigener Arbeitserfahrung gewonnen hat. Dadurch kommt es bei ihr zu einer Aufhebung der Hierarchie des Geistigen über das Praktische, zu einer Gleichwertung, ja sogar Höherwertung der vita activa. Simone Weil appelliert an das Gewissen der Menschen zur Neuformung eines Sozialbewußtseins, wo die menschlichen Rangunterschiede nicht als ein Mehr oder Weniger, sondern als andersartig gelten, wo der Beruf des Ministers und der des Bergarbeiters einfach zwei verschiedene Berufungen bezeichnen, so wie der des Dichters und der des Mathematikers.[7]
Das Unglück des Arbeiters liegt nach Simone Weil in der Erfahrung der Auslöschung. Dies ist eine menschliche Erfahrung, die Intellektuelle und Bürger nur selten machen, auch wenn sie von großem Leid heimgesucht werden. Ein junger Arbeiter sieht sich beim Übergang von der Schule zur Fabrik plötzlich von einem Wesen mit Selbstberechtigung, das er als Kind immerhin ist, zu einem Ergänzungsteil der Maschinenwelt degradiert. Diese Erfahrung der Auslöschung bringt eine Nähe zur Todeserfahrung mit sich. Sie wiederholt sich aber im Gegensatz zu dieser jeden Tag, macht die Zeit zu einem unerträglichen Druck und erregt Überdruß in der Monotonie. Sie entwurzelt den Arbeiter, indem sie die Liebe zur Arbeit zerstört, die kostbarste Mitgift des Menschen.
Die innere Nähe zwischen der Erfahrung der physischen Arbeit und dem Todeserlebnis, aber auch die darin gelegenen Möglichkeiten, sind für Simone Weil im biblischen Bericht bezeugt. »Der Mensch war aus dem Gehorsam gewichen. Gott hat als Strafen die Arbeit und den Tod gewählt. Infolgedessen stellen Arbeit und Tod, wenn der Mensch, der sie erleidet, in dieses Leiden einwilligt, eine Rückführung in das höchste Gut des Gehorsams gegen Gott dar.«[8] Arbeit bringt den Menschen in physischen Kontakt mit der Materie. Das Altertum aber sah in der Materie die Vollkommenheit des Gehorsams gegen Gott.[9] Dies hat nun bei Simone Weil eine wesentliche Bedeutung für die körperliche Arbeit. »Arbeiten heißt, sein eigenes Sein, mit Leib und Seele, in den Kreislauf des leblosen Stoffes einschalten . .. Das Universum gibt sich dem Menschen in Nahrung und Wärme nur dann, wenn der Mensch sich dem Universum in der Arbeit gibt.«[10]
Es ist nun entscheidend für die geistige Existenz des Menschen, ob er Arbeit und Tod mit Widerwillen oder mit innerer Einwilligung erfährt. Denn dem objektiven Gesetz des Gehorsams der Materie kann er sich auch dann nicht entziehen, wenn er sich widersetzt. Von der Vergewaltigung seiner Natur durch den Druck der Arbeit vermag der Mensch jedoch befreit zu werden eben durch diese bewußte Einwilligung in den Gehorsam. Man muß ihm nur den Weg dahin weisen und die Arbeit selbst so gestalten, daß der arbeitende Mensch diesen Weg auch wirklich gehen kann. So ist es nicht nur die Auseinandersetzung mit Marx und dem nach ihrer Meinung weit von ihm entfernten Marxismus, was Simone Weil darauf sinnen läßt, die geistigen Voraussetzungen für die Aufhebung des Proletariats zu entdecken, es ist vielmehr ihr eigener theologischer Denkansatz.
Sie sieht diese geistigen Voraussetzungen einerseits in der Heranbildung eines Arbeiterstandes aus Fachkräften, anderseits in einer Geistesbildung für den Arbeiterstand, die nicht Vulgarisierung, sondern echte Übersetzung des Bildungsgutes ist. »Vorbedingung einer Arbeiterbildung ist, daß zwischen denen, die man die Intellektuellen nennt.. . und zwischen den Arbeitern eine Vermischung stattfindet.«[11]
Was Simone Weil am tatsächlich bestehenden Sozialismus kritisiert, ist die Tendenz, die Entwurzelung vom Arbeiterstand auf die ganze Gesellschaft auszudehnen, statt den Arbeiter wiederum einzuwurzeln.
Eine nicht ideologisierte Kultur aus dem Geiste der Arbeit zu schaffen, ist nach Simone Weil die vom Geisteserbe der Antike unabhängige, eigenständige Aufgabe unserer Zeit. »Eine Kultur, die aus der Durchsee-lung der Arbeit erwüchse, wäre der höchste Grad der Verwurzelung des Menschen im Weltall.[12] Dazu gehört nach Simone Weil, daß Arbeitsbedingungen geschaffen werden, in denen der Mensch wohl die Härte der Arbeit erfährt, aber das unfrei machende Gefühl der Sklaverei verliert, damit er fähig ist, die körperliche Arbeit als besondere Berührung mit der Schönheit der Weltordnung wahrzunehmen. Die Regelung von Verdienst und Arbeitszeit genügt nicht, sondern eine Aufwertung des Arbeitsprozesses selbst ist notwendig, was sowohl durch geistige Einsicht in das Ziel des Arbeitsganges, als auch durch Umformung der technischen Gegebenheiten im Interesse des arbeitenden Menschen ermöglicht werden könnte. Ein Aufhören der Handlangerdienste, ein freieres Umgehen mit der Maschine, sollen der Arbeit nicht die Schwere und den Ernst nehmen, wohl aber das Unglück und das Niederdrückende. »Der Mensch, dessen Glieder wie zerschlagen sind von der Mühsal eines Arbeitstages, das heißt eines Tages, an dem er der Materie unterworfen war, trägt die Wirklichkeit des Universums in seinem Fleisch wie einen Dorn. Das Schwierige für ihn ist: zu schauen und zu lieben; gelingt es ihm, dann liebt er das Wirkliche. Dies ist das ungeheure Vorrecht, das Gott seinen Armen vorbehalten hat. Aber sie wissen es fast niemals. Man sagt es ihnen nicht. Das Übermaß der Erschöpfung, die unablässig nagende Sorge um das Geld und der Mangel an wahrer Bildung hindern sie, seiner gewahr zu werden. Es genügte, ihre Lebensbedingungen nur ein wenig zu ändern, um ihnen den Zugang zu einem Schatz zu erschließen. Es zerreißt einem das Herz, wenn man sieht, wie leicht die Menschen in sehr vielen Fällen ihresgleichen einen Schatz verschaffen könnten und wie sie Jahrhunderte hingehen lassen, ohne sich darum zu bemühen.«[13]
b) Verwurzelung in der Gottesliebe
Der physisch arbeitende Mensch, sein Unglück und seine Möglichkeiten, der Realität der Welt innezuwerden, sind bei Simone Weil zum Ausgangspunkt ihrer Deutung des Menschseins überhaupt geworden. Sie unterscheidet vom Unglück das Leiden als ein objektives Übel, das dem Menschen widerfährt, aber noch nicht seine Seele so mit Beschlag zu belegen braucht, daß er unglücklich wird. So sind nach ihr die Märtyrer, die unter Gesängen in die Arena zogen, keine Unglücklichen. Christus aber war es. Er ist nicht als Märtyrer gestorben, denn seine Seele war betrübt, er wurde als Verbrecher hingerichtet und hatte sogar an der Lächerlichkeit des Unglücks teil.[14]
Unglück ist immer Entwurzelung, schließt ein soziales, ein physisches und ein psychisches Element in sich und bringt Verachtung mit sich. Unglück besagt aber auch für die betroffene menschliche Seele die Abwesenheit Gottes auf Zeit. Was muß der Mensch tun, damit dieser Zustand nicht endgültig wird in der Verzweiflung? Er muß weiterlieben, er muß gleichsam so lange ins Leere hinein lieben, bis Gott sich wieder zeigt. Denn Liebe ist nach Simone Weil nicht ein Zustand, sondern eine Richtung der Seele. Der Mensch muß in sich die Triebkraft der Liebe festhalten, auch wenn sie keinen Gegenstand mehr zu haben scheint. »Dann eines Tages naht sich Gott selbst. . . und enthüllt die Schönheit der Welt, wie dies bei Hiob der Fall war. Hört aber die Seele auf zu lieben, so stürzt sie schon hienieden in etwas hinab, das fast der Hölle gleichkommt.[15]
Das Unglück des Menschen hat eine wesentliche Beziehung zur Heilsgeschichte. Die Glaubensgeheimnisse von Inkarnation und Passion beinhalten nach Simone Weil so etwas wie eine Entfernung Gottes von sich selbst. »Die Einheit Gottes, in der jede Vielheit verschwindet, die Verlassenheit, in der Christus sich zu befinden glaubt, ohne daß er aufhört, seinen Vater mit vollkommener Liebe zu lieben, dies sind zwei Formen der gleichen Kraft der göttlichen Liebe, die Gott selbst ist.«[16] Das menschliche Unglück bekommt von hier den Sinn, Teilhabe an diesem Abstand zwischen Sohn und Vater zu sein, den die Heilsgeschichte aufreißt. Was den Menschen als Übel trifft, der blinde Mechanismus und die Notwendigkeit der Materie, behält seine Härte. Aber nur durch die Abkehr von Gott wird dies für den Menschen zur Auslieferung an die Schwerkraft.
Wenn der Mensch jedoch an seinem Impuls der Liebe festhält, wenn der Mensch diese Transzendierungskraft nicht aufgibt, so begibt er sich gleichsam auf einen Standpunkt außerhalb des Universums oder, wie es Simone Weil an anderer Stelle sagt, außerhalb des Welteis, und was vorher Mechanismus und Notwendigkeit war, erscheint ihm dann als der völlige Gehorsam des Weltstoffes, einschließlich der positiven oder negativen Entscheidungen der menschlichen Freiheit. »Was Notwendigkeit schien, wird Gehorsam. Die Materie ist völlige Passivität und also völliger Gehorsam gegen den Willen Gottes. Sie ist ein vollkommenes Vorbild für uns. Es kann kein anderes Sein geben als Gott und das, was Gott gehorcht... In der Schönheit der Welt wird die rohe Notwendigkeit zum Gegenstand der Liebe.[17]
Der Mensch muß sein Empfindungsvermögen darauf einrichten, den Gehorsam als Substanz der Materie immer mehr wahrzunehmen. Beides, die verwandelnde Kraft des Schmerzes und die der Freude, sind ihm dazu in gleicher Weise notwendig. So ist das Unglück zugleich Fluch und Gnade für den Menschen. In seiner Tendenz auf die Verzweiflung, auf das Nicht-hindurch-schauen-Können zum Sinn, ist es Fluch, in seiner verwandelnden Kraft für das Innewerden des Seins ist es Gnade. Wie man das eigene Unglück in einer Kreuzesmystik durchleben und lieben soll, so soll man das Unglück des Nächsten, das sich in Düsternis zu verfestigen droht, zu beheben versuchen.
Nächstenliebe ist nach Simone Weil eine schöpferische Aufmerksamkeit für den anderen Menschen, der sich im Unglück befindet. Sie ist eine völlig universale Liebe, so daß man sie anonym nennen könnte. Freundschaft ist die einzige rechtmäßige Ausnahme von dieser Verpflichtung, auf universale Weise zu lieben. Nächstenliebe ist aber auch Verzicht auf eigene Selbstentfaltung. Der Anspruch auf Selbstentfaltung wird also gemindert durch das Erfordernis der Nächstenliebe. »Der Mensch willigt in eine Minderung ein, indem er sich für einen Kraftaufwand sammelt, der seine Macht nicht erweitern wird, der nur ein von ihm unterschiedenes .. . unabhängiges Wesen im Dasein erhält. Mehr noch, das Dasein des anderen wollen, heißt, sich aus Mitgefühl in ihn hineinversetzen und also teilhaben an dem Zustand des leblosen Stoffes, in dem er sich befindet.«[18]
Von dieser Deutung des Unglücks, das durch Nächstenliebe überwunden wird, leitet sich nach Simone Weil das einzig berechtigte soziale Gefühl des Menschen ab, Solidarität in der allgemeinen Situation des Menschseins und Geschöpfseins. Dazu gehört auch, was sie über die Bedeutung des Todes und über das Reich Gottes denkt. Reich Gottes besagt für sie »die völlige Erfüllung der ganzen Seele aller vernunftbegabten Geschöpfe durch den Heiligen Geist«.[19] Es wäre müßig, in diesen Worten eine Unterschlagung von Sünde, Schuld und Verdammung zu sehen, bei einer Denkerin, die dem Phänomen des Übels so viel Beachtung gezeigt hat und die selbst ein so ausgeprägtes Schuldbewußtsein besitzt. Es ist nur so, daß bei dieser allseitigen Erfüllt-heit mit dem Geiste Gottes das Böse nicht mehr in Betracht kommt und gleichsam vergessen werden kann. Auch Teilhard de Chardin sagt, daß es einen Punkt im geistlichen Schicksal des Menschen gibt, wo er das Böse getrost vergessen darf.
Eine Zurücksetzung des eigenen Selbst ist kennzeichnend für die religiöse Heilshoffnung bei Simone Weil. Ihr geistliches Erlebnis ist punktuell. Wie sie keine eigentliche Finalität kennt, kein Ausgespanntsein auf ein am Ende stehendes Ziel, sondern immer nur die Erfülltheit oder Unerfülltheit des jeweiligen Augenblicks, so ist für sie auch der Tod der punktuell verstandene Inbegriff der Heilserwartung. Für das innerweltliche Sein bedeutet er die Auslöschung des Ich, für das transzendente Sein des Menschen aber ist er die Erfüllung eines lebenslangen Hoffens auf die Wahrheit. So schreibt Simone Weil in ihrer geistlichen Selbstbiographie: »Ich habe mir stets untersagt, an ein künftiges Leben zu denken, aber ich habe immer geglaubt, daß der Augenblick des Todes das Richtmaß und das Ziel des Lebens ist. Ich dachte, daß für diejenigen, welche leben, wie es sich gehört, dies der Augenblick ist, in welchem für einen unendlich kleinen Bruchteil der Zeit die reine, nackte, gewisse und ewige Wahrheit in die Seele eintritt.«[20]
Was Simone Weil von allem bloß soziologischen Denken unterscheidet, ist ihre Spiritualität. Ihre Konzeption des sozialen Daseins, der Nächstenliebe und der Solidarität in der Arbeit, sind keine Säkularisierung von etwas ursprünglich Religiösem ins bloß Menschliche; die Gottesliebe bleibt immer diejenige Kraft, aus der alles andere erst für sie Wirklichkeit annimmt. Simone Weil ist nicht bloß eine etwas links gerichtete christliche Intellektuelle, sie existiert aus dem absoluten Bezugspunkt alles Seins und versucht diesen auch dort bewußt zu machen, wo er wirkt, ohne von den Menschen wahrgenommen zu werden.
c) Das Ja zu jedem Beruf
In den frühen dreißiger Jahren hat sich Edith Stein als Philosophin und Pädagogin den Problemen von Frauenbildung und Frauenberufen zugewandt. Fortschrittlicher als es bis dahin geschehen war, hat sie aus betont christlicher Sicht über die Frau in Familie, Kirche und Öffentlichkeit geschrieben und gesprochen. Ihr Menschenbild beruht auf dem geistigen Elan der zwanziger Jahre, dem Erlebnis der Konversion, einer neuen Entdeckung der menschlichen Werte und der Absolutheit des katholischen Dogmas. Gegen die Zersetzungen und Zerfallserscheinungen der Zeit wird die Kirche als das alleinige Bollwerk betrachtet, das in geistigen wie praktischen Nöten der menschlichen Person Bergung und Zuversicht geben kann. So spricht aus dem Menschenbild Edith Steins das gleiche Vertrauen wie aus dem religiös orientierten Philosophieren Peter Wusts und Max Schelers in seiner mittleren Epoche.
Aber die Unerschütterlichkeit der Kirche und ihr Auftrag, das »Ewige im Menschen« zu wahren, wurde dennoch nicht als Unwandelbarkeit der konkreten Verhältnisse mißverstanden, sondern geradezu als eine unvergleichliche Elastizität, sich den jeweiligen Zeitverhältnissen anzupassen.
Alles, was Edith Stein an Beobachtungen, soziologischem Material und philosophischen Überlegungen zum Wesen der Frau beibringt, ist exakt und methodisch sauber. Ihrer Theologie der Frau ist es jedoch anzumerken, daß sie noch kaum Zugang zur modernen Bibelwissenschaft hatte und daher vielleicht zu sehr von der Konzeption eines dogmatischen Lehrgebäudes ausging.
Edith Stein besitzt ein detailliertes Wissen über die politischen Kämpfe der Frauenbewegung, das schon aus ihrer frühen Studienzeit herrührt. Denn während sie dem jüdischen Glauben nicht mehr anhing und den Weg zum Christentum noch nicht gefunden hatte, bezeichnete sie sich zugleich als Atheistin und radikale Frauenrechtlerin.[21] Deshalb war sie später bemüht, die Unterschiede zwischen der sogenannten interkonfessionellen oder liberalen und der katholischen Frauenbewegung schärfer herauszustellen, als es vielleicht nötig war. Aber dennoch sagt sie ein klares Ja zur fachlichen Ausbildung und beruflichen Selb Stent faltung der Frau als einem personalen wie gesellschaftlichen Wert, und ebenso zur Verantwortung jeder Frau für die Belange der Öffentlichkeit. »Auch die an sich nicht politisch Interessierten müssen sich heute sagen, daß von dem Gebrauch, den sie von ihren politischen Rechten machen, die Gestaltung der gesamten politischen Lage abhängt, daß es von dieser Lage aber wiederum abhängt, ob sie, ihr Mann, ihre Kinder Arbeit und Brot haben werden, ob sie Gelegenheit finden, ihre Geistesgaben auszubilden und auszuwirken, ob sie in ihrem Glauben erzogen werden und leben dürfen.[22]
Edith Stein fordert nicht, sondern sie stellt einfach fest, daß sich der Wirkungskreis der Frau vom Heim zur Welt geweitet hat. Sie konstatiert ferner, daß sich der Ruf zur religiösen Hingabe der Frau nicht mehr nur im Ordensstand erfüllt, sondern »wir eine immer stärker
werdende militia Christi im weltlichen Kleide bekommen.«[23]
Die grundlegende anthropologische Frage besteht für Edith Stein darin, auf welche Weise Mann und Frau innerhalb der Gattung Mensch als verschieden beschrieben werden können.[24] Sie wehrt sich gegen eine Auffassung, welche nur eine typenmäßige Verschiedenheit
von Mann und Frau annimmt, wobei die körperlichen Unterschiede als fest gelten, die seelischen aber als unbegrenzt variabel angesehen werden. »Diese Prinzipienfrage der Frauenfrage aber weist zurück auf die Prinzipienfrage der Philosophie. Um sie ausreichend beantworten zu können, muß man Klarheit haben über das Verhältnis von Genus, Spezies, Typus, Individuum . . . Zur Lehre vom Menschen gehört die Klärung des Sinnes der geschlechtlichen Differenzierung, die Herausstellung des Inhalts der Spezies, ferner die Stellung der Spezies im Aufbau des menschlichen Individuums, das Verhältnis der Typen zu Spezies und Individuum.«[25]
In diesem Zusammenhang setzt sich Edith Stein auch mit dem damals viel beachteten Werk »Seinsrhythmik« von Angelica Walter auseinander, das die Differenzierung in männlich und weiblich durch die Seinsstufen hindurch zu verfolgen unternimmt. Angelica Walter unterscheidet bei allen Seinsbereichen zwischen Dasein und Sosein und bezeichnet die Daseinskomponente als die weibliche, die Soseinskomponente als die männliche am Gesamtrhythmus alles Seienden. Edith Stein hat jedoch gegenüber dieser Konzeption das Bedenken, daß damit das Gegensatzpaar von essentia und existentia bei Thomas von Aquin nicht sachgemäß wiedergegeben werde. Sie empfiehlt eine Hinzunahme der Begriffe Materie und Form sowie Potenz und Akt, wenn die Orientierung an der Ontologie des hl. Thomas v. Aquin vollständig sein solle. »Erst auf Grund einer sauberen Analyse der ganzen ontischen Struktur des geschaffenen Seienden halte ich das Problem für lösbar, ob ,männlich' und ,weiblich' wirklich nur als ,Seinsrhythmen' zu fassen sind oder ob nicht ein Unterschied der substantialen Form dem verschiedenen Seinsrhythmus zugrunde liegt.«[26]
Auf diese Verschiedenheit der substanzialen Form beim männlichen und weiblichen Mensch sein kommt es Edith Stein an. Denn daraus ergeben sich Konsequenzen und Richtlinien, wie weit die Geistesbildung der jungen Menschen übereinstimmend betrieben werden kann und wo eine Sonderung der Mädchenbildung einzutreten hat, die dennoch nicht Verkürzung ist.
Edith Stein rechnet damit, daß die Psychologie nur zum Vorhandensein einer weiblichen Spezies führen könne, daß ihr aber deren Inhalt nicht faßbar sei. »Die empirische Psychologie kann, wie jede positive Wissenschaft — und darunter verstehe ich eine Wissenschaft von natürlichen Tatsachen aus natürlicher Erfahrung — nur sagen, daß ein Ding unter den und den Umständen so oder so beschaffen ist und sich so oder so verhält, evtl. verhalten muß. An seine innere Form, an den Seinsaufbau des Kosmos überhaupt, in dem es begründet ist, daß das Weltgeschehen so verläuft, wie die positiven Wissenschaften es feststellen, reichen diese Wissenschaften nicht heran.[27]
Die von der Strukturpsychologie festgestellten weiblichen Typen, der vorwiegend mütterliche, der stärker erotische, der romantisch veranlagte, der nüchtern-sachliche und der intellektuelle, werden nun von Edith Stein in gleicher Weise als verschiedene Ausprägungen des weiblichen Seins ernst genommen. Dies hat jedoch für sie mehr praktisch-pädagogische als eigentlich metaphysische Konsequenzen. Ihr Ziel, die phänomenologische Beschreibung der weiblichen Spezies, wird zwar immer wieder vor Augen gestellt, aber eigentlich nicht erreicht. Vielleicht liegt es daran, daß Edith Stein bei ihren Arbeiten über die Frau im Gegensatz zu ihrem später verfaßten philosophischen Hauptwerk »Endliches und ewiges Sein« nur mit der Leib-Seele-Dualität im Menschen arbeitet und nicht genügend zwischen seelischem und geistigem Sein unterscheidet. So sucht sie vergeblich auch da noch nach einer inhaltlichen Un-terschiedenheit von männlichem und weiblichem Sein, wo diese Differenzierung nur noch formal zu fassen ist.
Eine anthropologische Auswertung der Ergebnisse der Strukturpsychologie liegt jedoch darin, daß bei Edith Stein nicht etwa der mütterliche Typ gegenüber dem nüchtern-sachlichen oder dem intellektuellen schlechthin als der stärker weibliche gilt, sondern daß sie alle diese Typen innerhalb der Weite der weiblichen Spezies anerkennt und zudem die individuelle Verschiedenheit jedes einzelnen Menschen, ob Mann oder Frau, anthropologisch hoch veranschlagt. »Wenn für das Geschlecht als ganzes Ehe und Mutterschaft erster Beruf sind, so sind sie es doch nicht für jedes Individuum. Es können Frauen zu besonderen Kulturleistungen berufen und ihre Anlagen dem angepaßt sein. . . Jedes Individuum hat seinen Platz und seine Aufgabe in der einen großen Menschheitsentwicklung. Die Menschheit ist als einziges großes Individuum aufzufassen. Nur unter dieser Voraussetzung ist die Heilsgeschichte zu verstehen.«[28]
Die geschichtliche Entwicklung jedes einzelnen Menschen gehört für Edith Stein ebenso in die anthropologische Betrachtung wie die gesamte Menschheitsgeschichte. Erst in ihr kommen die Spezies Mann und die Spezies Frau zur vollen Entfaltung. Darin darf man eine Warnung erblicken vor zu frühen Festlegungen auf das, was für Mann und Frau wesensgemäß bzw. nicht wesensgemäß ist. Wenn wir heute entdecken, daß die Schicht des gemeinsamen Lebens und Wirkens von Mann und Frau breiter ist, als frühere Zeiten es angenommen haben, und daß trotzdem die metaphysische Abgehobenheit männlichen und weiblichen Menschseins bestehenbleibt, so bieten die philosophischen Überlegungen Edith Steins einen erheblichen Beitrag zur theoretischen Fundierung dieses Menschenbildes. Für die Bildung der Frau ist die aus der Typenlehre hervorgehende Einsicht belangvoll, daß schöpferische Leistungen immer nur auf dem Gebiet zu erwarten sind, wohin die Entwicklung des Typs im menschlichen Individuum deutet. Hier muß also die fachliche Bildung ansetzen. Darüber hinaus aber hat die Bildung die Aufgabe, die Persönlichkeit zu entfalten, indem auch die anderen Anlagen und Grundkräfte des Menschseins wachgehalten werden. Zudem ist kein Mensch unrettbar auf seinen Typus festgelegt. Besondere Berufung kann ihn auch einen anderen Weg führen, als seine Naturanlage ihn weist. Das Entartete und Übertriebene der verschiedenen Typen ist nach Edith Stein durch eine gesunde Erziehung auf die naturhaft angelegte Norm hin zu beschneiden. Eine gegenseitige Korrektur und ein Ausgleich zwischen den einzelnen Typen untereinander erleichtern die Erziehungsarbeit.
Diese psychologischen und metaphysischen Voraussetzungen ermutigen Edith Stein zu dem Satz: »Im Notfall kann jede normale und gesunde Frau einen Beruf ausüben. Und: es gibt keinen Beruf, der nicht von einer Frau ausgeübt werden könnte.«[29] Die Festlegung der Frau auf die sozialpädagogischen als die für sie einzig möglichen Berufe fällt also bei Edith Stein fort. Allerdings hält sie den Namen Frauenberufe für diese Berufe fest. Bei anderen Berufen, die rein sachlich bedingt sind, spricht sie nicht von Frauenberufen, aber umso mehr von der Möglichkeit eines aus weiblicher Art erwachsenden Berufsethos auch in diesen Berufen.
Dadurch ist Edith Steins Frauenbild offen für die vielen Frauen, die in kaufmännischen oder technischen Berufen arbeiten und auf eine Sinngebung für ihr Leben aus dem Geist des christlichen Glaubens warten. »Die Arbeit in einer Fabrik, in einem kaufmännischen Büro, im staatlichen oder städtischen Verwaltungsdienst, in den gesetzgebenden Körperschaften, in einem chemischen Laboratorium oder mathematischen Institut — das alles erfordert Einstellung auf ein totes oder abstrakt-gedankliches Material. Aber in den allermeisten Fällen handelt es sich um Arbeit, die mit anderen Menschen zusammenführt, die zum mindesten mit anderen im selben Raum, oft in Arbeitsteilung mit ihnen zu verrichten ist. Und damit ist sofort die Gelegenheit zur Entfaltung aller weiblichen Tugenden gegeben. Ja man kann sagen, gerade hier, wo jeder in Gefahr ist, ein Stück Maschine zu werden und sein Menschentum zu verlieren, kann die Entfaltung der weiblichen Eigenart zum segensreichen Gegengewicht werden.«[30]
Aber nicht nur die Mitmenschlichkeit in der Arbeitsatmosphäre, sondern auch die Arbeitswelt selbst enthält nach Edith Stein für die Frau einen eigenen Auftrag. Es müsse nur im Blick gehalten werden, daß jedes Abstrakte letztlich einem lebendigen Ganzen dient. Zudem sei jede sachliche Arbeit das beste Heilmittel gegen typisch weibliche Fehler wie Schwatzhaftigkeit und dergleichen.
Bei ihrer theologischen Darstellung des Menschenbildes geht Edith Stein vom ersten Kapitel der Genesis aus und sieht hier für den Stand der Schöpfungsordnung das Verhältnis der reinen Gefährtenschaft zwischen Mann und Frau grundgelegt. »Beiden gemeinsam ist die dreifache Aufgabe gestellt: Gottes Ebenbild zu sein, Nachkommenschaft hervorzubringen und die Erde zu beherrschen. Daß dieser dreifache Beruf von jedem auf eine andere Weise zu leisten sei, ist hier nicht gesagt. Man kann es höchstens in der Anführung der geschlechtlichen Trennung in diesem Zusammenhang angedeutet finden.[31] Aber Edith Stein ist auch der Meinung, daß im zweiten Kapitel der Genesis, wo von der Frau als Gehilfin des Mannes die Rede ist, nur eine vollkommene Harmonie der Kräfte und ein beiderseitiges Zusammenwirken gemeint sein kann, nicht aber eine männliche Herrschaft. Im Gegensatz zur christlichen Tradition sieht sie also die Unterwerfung der Frau nicht als Schöpfungsgegebenheit, sondern als Strafe für den Abfall von der ursprünglichen Ordnung an.[32] Allerdings schleicht sich hier bei ihr die längst überholte, irrige Auffassung ein, daß in der Ursünde eine sexuelle Verfehlung zu sehen sei, »und zwar eine Art der Vereinigung, die der ursprünglichen Ordnung widersprach«.[33] Damit verbindet sich bei ihr noch die patri-stische Auffassung von der leichteren Versuchbarkeit des Weibes.
Zu den neutestamentlichen Stellen über das Verhältnis von Mann und Frau sagt Edith Stein, man habe den Eindruck, daß dies nicht die Interpretation der Schöp-fungs- und Erlösungsordnung sei, sondern daß mit der Betonung des Herrschaftsverhältnisses und der Annahme einer Mittlerstellung des Mannes zwischen Christus und der Frau die Strukturen der gefallenen Natur im Vordergrund ständen. Sie spürt, daß Paulus und die Verfasser der anderen neutestamentlichen Briefe eine spätjüdische Interpretation des Schöpfungsberichtes voraussetzen. Weder nach dem Schöpfungsbericht noch nach den Evangelien aber gibt es eine solche Mittelbarkeit im Verhältnis des weiblichen Menschen zu Gott. Auch für das richtige Verständnis der Abbildlichkeit der Ehe zum Christus-Kirche-Verhältnis nach dem Epheser-brief macht Edith Stein darauf aufmerksam, daß es sich hier um eine symbolische Beziehung handelt. »Die Glieder haben ihr eigenes Sein als freie und vernünftige Wesen.«[34]
Wenn jedoch auch für das Leben in der Christusgemeinschaft eine gottgewollte Unterordnung — nicht des weiblichen Geschlechtes allgemein unter das männliche, sondern der Frau in der Ehe unter den Mann — festzuhalten ist, so besteht nach Edith Stein diese fami-lienhafte Leitungsgewalt des Mannes darin, Sorge zu tragen, daß jedes Glied der Familie seine Gaben entfalten und zum Heil des Ganzen auswirken kann. »Der Mann ist nicht Christus und hat nicht die Kraft, Gaben zu verleihen. Aber er hat die Kraft, Gaben, die vorhanden sind, zur Entfaltung zu bringen (oder sie niederzuhalten), wie ein Mensch eben dem andern in der Entfaltung seiner Gaben behilflich sein kann.[35]
Im Grunde hat also die leitende Funktion des Mannes nach Edith Stein den Sinn, die aus der Schuld herrührende Über- und Unterordnung aus den Kräften der Gnade Christi wieder umzuwandeln in die reine Gefährtenschaft der ursprünglichen Ordnung. Die Unterordnung der Frau ist bei ihr nicht absolut gesehen, sondern in der neutestamentlichen Lebensform als ein dynamisches Prinzip der Bewegung auf die endzeitlich erst vollkommen erreichbare Gottbildlichkeit in der Christusexistenz. Damit führt ihr eigenes Denken und ihr philosophischer Spürsinn sie im Geiste der Heiligen Schrift in eine Offenheit des Menschenbildes, die das Unveräußerliche festhält und neu auftretende Züge echt anzueignen ermöglicht. Es ist also das Frauenbild bei Edith Stein noch nicht in allem zeitgemäß, aber doch so, daß man darauf weiterbauen kann.
d) Das Innerste der Seele
Simone Weil deutet den Menschen in seinem Wesen als arbeitenden, und Edith Stein begründet ein modernes Frausein. Es ist der zugleich geistige und praktische Einsatz, den diese beiden Frauen für das heutige Leben und die sinnvolle Weiterentwicklung der allgemein menschlichen Lebensformen geleistet haben. Sie sind vertraut mit den Verhältnissen, über die sie denken und schreiben, Simone Weil aus ihrer Arbeit bei den Renault-Werken, Edith Stein durch ihre pädagogischen Erfahrungen. Beide kennen sich in der Welt aus.
Aber mit dieser Weltzugewandtheit ist die Gestalt der beiden Frauen nur erst von einer Seite erfaßt. Obwohl sie sich in der äußeren Lebensweise voneinander entfernen, da Simone Weil die religiöse Vereinzelung des Klosterlebens verachtet, die Edith Stein als letzte Erfüllung ihres Lebens bewußt ergriffen hat, nähern sie sich doch einander in der inneren Form und geistigen Bestimmtheit ihrer Berufung. Beide beschäftigen sich nicht nur mit der Mystik, sind genaue Kennerinnen des hl. Johannes vom Kreuz, über den Edith Stein ihr letztes Buch verfaßt hat, sie verstehen auch beide den Weltverlauf und das einzelne menschliche Heilsschicksal aus dem Geheimnis des Kreuzes.
Der Gedanke des Opfers für die andern forderte schließlich von ihnen das Letzte. Simone Weil, die während des Krieges in London für das Komitee »Freies Frankreich« arbeitete, starb an Erschöpfung und Überanstrengung, weil sie sich weigerte, täglich mehr Nahrung zu sich zu nehmen, als im besetzten Frankreich die Tagesration war. Edith Stein hat ihren Leidensweg und Tod im KZ als Sühne für ihr jüdisches Volk aufgefaßt, obwohl sie sich nicht zum Martyrium gedrängt hat. Für beide war die Art ihres Sterbens nur der letzte Ausdruck ihres geistlichen Lebensweges.
»Für gleichviel welches menschliche Wesen, in seiner Besonderheit genommen, finde ich stets Gründe, um daraus zu schließen, daß ihm das Unglück nicht ansteht, sei es, daß es mir für etwas so Großes zu mittelmäßig erscheint, oder im Gegenteil zu kostbar, um zerstört zu werden. Man kann sich nicht schwerer gegen das zweite der beiden wesentlichen Gebote vergehen. Und was das erste betrifft, so vergehe ich mich dagegen auf noch schrecklichere Weise, denn jedesmal, wenn ich an die Kreuzigung Christi denke, begehe ich die Sünde des Neides.«[36]
Simone Weil liebt ihr Unglück, sie verlangt nach dem Kreuz. Sie traut sich selbst diesen Weg zu, aber sie sieht ihre Verfehlung darin, ihn den Mitmenschen nicht zuzutrauen. Trotz ihrer zahllosen Unsicherheiten und Zweifel in bezug auf das eigene Selbst ist sie gewiß, nicht in der Dunkelheit des Unglücks steckenzubleiben, sondern sich hindurchzulieben. »Das Kreuz ist unendlich viel mehr als das Martyrium: Das Leiden voll reinster Bitternis, das Strafleiden als Bürgschaft für die Echtheit.«[37]
Für Edith Stein hat der innere Weg des Menschen als Weg des Kreuzes eine ähnliche Bedeutung. »Nimmt die Kraft einer heiligen Seele in dieser Weise die Glaubenswahrheiten auf, so wird sie zur Wissenschaft der Heiligen. Wird das Geheimnis vom Kreuz ihre innere Form, dann wird sie zur Kreuzeswissenschaft.«[38] Wer in dieser Kreuzeswissenschaft lebt, für den gibt es nicht mehr das behagliche Zuhausesein in dieser Welt. Edith Stein beschreibt ähnlich wie die spanischen Mystiker die dunkle Nacht der Seele, den Zustand des Versinkens der äußeren Welt, der Einsamkeit, Öde und Ängstigung. Es ist jene Strecke des Weges, wo die Seele sich von der geistlichen Habsucht und Hoffart befreit, sich ihrer Tugenden und guten Werke entäußert, sich ihrer bisherigen geistlichen Erfahrungen und Erinnerungen begibt, um im Geheimnis des Kreuzes mit Gott vereinigt zu werden. »Wenn die Seele in tiefster Erniedrigung zur Auflösung ins Nichts gelangt, dann kommt die geistige Vereinigung der Seele mit Gott zustande, die höchste Stufe, welche die Seele hienieden erreichen kann. Diese besteht also nicht in geistigen Erquickungen und Wonnen und Empfindungen, sondern in einem Kreuzestod bei lebendigem Leibe,[39]
Es ist wichtig, daß uns an diesen beiden Frauen klar vor Augen gestellt wird: Die Weltzugewandtheit, der praktische Einsatz für die Gesellschaft und die Öffentlichkeit, für den Fortschritt der Lebensformen und auch des Lebensstandards ist nur eine Seite eines Ganzen. Sie wird schal und oberflächlich, wenn nicht jene geistliche Ruhe des Menschen hinzukommt, die Edith Stein die innere Beschauung nennt. Was man heute so hochgemut als den Weltauftrag des Christen bezeichnet, kann nur gelingen, wenn es von dieser inneren Strenge und Aufrichtigkeit gehalten ist. Ob aber die innerweltlichen Bemühungen sinnvoll oder in Vergeblichkeit verlaufen, ihre Grundstruktur ist immer das Kreuz.
Edith Stein unterscheidet im Anklang an das Bild der Seelenburg bei Teresa von Ävila zwischen einem Außen- und einem Innenbereich der menschlichen Seele. Beim tätigen Leben, aber auch bei der Erforschung der Natur und der irdischen Wirklichkeiten, geht die Seele aus sich heraus und holt die Welt in sich hinein. Was in die Seele hineingeholt wird, gelangt aber nur in die Außenbezirke, das Innerste der Seele wird davon nicht aufgestört. Aber der Mensch kann sich durch das Einströmen der Welt von seinem Innersten fernhalten lassen. Dieses Innerste im Menschen ist der Bereich Gottes. Es ist das ursprüngliche Leben der Seele, aus dem vor aller Spaltung in verschiedene Kräfte die Gedanken des Herzens aufsteigen.
Der geschwächte Zustand der menschlichen Natur macht sich nach Edith Stein vor allem darin bemerkbar, daß die meisten Menschen sich in den Außenräumen der Seele aufhalten und nur wenige ganz in und von ihrem Innersten leben. Aber gerade beim Aufnehmen der Welt ist es so wichtig, daß die Seele ihren »tiefer gelegenen Standpunkt« nicht aufgibt, sondern die Möglichkeit hat, alles mit einem letzten Maßstab zu messen. »Der Mensch ist dazu berufen, in seinem Innersten zu leben und sich selbst so in die Hand zu nehmen, wie es nur von hier aus möglich ist; nur von hier aus ist auch die rechte Auseinandersetzung mit der Welt möglich, nur von hier aus kann er den Platz in der Welt finden, der ihm zugedacht ist.«