Radegundis und Lioba

Der karitative und missionarische Auftrag

In unserer dritten Betrachtung wollen wir uns mit Radegund, der thüringischen Königstochter im 6. Jahrhundert, und mit Lioba, der angelsächsischen Äbtissin im 8. Jahrhundert, beschäftigen. Diese Frauen werden uns Gelegenheit geben, auch auf andere Frauengestalten einen Seitenblick zu werfen. Weniger als um die Biographie dieser Frauen geht es uns aber um ihre Form der Lebensgestaltung. Bei allen diesen Frauen ist die karitative Tätigkeit bestimmend, die von jeher im Christentum als besonders dringliches Gebot der Nachfolge Jesu gesehen worden ist. Der karitative Auftrag ist ein bestimmter Inhalt dessen, was Jesus mit seiner Botschaft von der Liebe gemeint hat.
Wenn wir die in den Evangelien erzählten Begebenheiten näher anschauen, wo Jesus selbst diese Liebe an seinen Mitmenschen kundtut, etwa bei der Speisung der Menschenmenge am See Genesareth oder bei den Heilungen und Erweckungen, dann wird jedoch offenbar, daß das Karitative bei ihm noch einen anderen und tieferen Sinn hat. Es soll nicht nur die Notlage der Mitmenschen gelindert werden, sondern das Reich Gottes soll verkündet werden. Was wir im Wirken Jesu als das Karitative benennen können, will jenen Zustand zeichenhaft vorwegnehmen, in welchem der Mensch mit allen seinen Kräften und Strebungen so endgültig von Gott erfüllt ist, daß er keine Bedürftigkeit mehr spürt, keine Not und keine Angst, daß er sich mit seinen Mitmenschen in der alle umfassenden und tragenden Liebe Gottes eins weiß.
Auch das Karitative, das uns in der Jüngerschaft aufgetragen ist, steht in dieser Zeichenhaftigkeit. Selbstverständlich soll zunächst einmal die konkrete Notlage des Nächsten behoben werden, aber in diesem Dienst wird zugleich etwas offenbar von der Erscheinungsform des Reiches Gottes.
Wenn heute vieles, was im Mittelalter auf die karitative Hilfe der Kirche angewiesen war, in der Entwicklung zum modernen Wohlfahrtsstaat der christlichen Nächstenliebe sozusagen abgenommen ist, dann bleibt darum doch der karitative Auftrag des Christentums bestehen. Nicht nur weil es immer kranke und hilfsbedürftige Menschen gibt, sondern vor allem deshalb, weil das Karitative sich über die leibliche und materielle Notlage hinaus auf die menschlichen und geistlichen Lebensprobleme richtet. Alles dies wird nicht verschwinden, solange die jetzige Weltform anhält, und ebenso wird es immer Menschen geben, die sich solcher Notlagen annehmen.
Dennoch gilt es festzuhalten, daß heutzutage nicht mehr wie im Mittelalter soziale Fragen auf karitativer Ebene bewältigt werden können. Das soziale Gefüge bedarf einer ständigen rechtlichen und gesetzlichen Überprüfung und Neuordnung, wogegen der karitative Einsatz jene Lücken auszufüllen hat, die offenbleiben, und darüber hinaus in Freiheit sich dem zuwendet, was nur in Liebe und Güte geschehen kann.
Wenn man eine besondere Beziehung der Frau zum Karitativen behauptet, muß man sich hüten, dieses dem Mann weniger ursprünglich zuzusprechen. Vielleicht ist es so, daß gewisse Erscheinungen oder Formen des menschlichen Lebens an der Frau besonders deutlich werden. Wir wollen aber keineswegs einer übertriebenen Symbolfunktion der Frau das Wort reden, mit der meistens ihre Zurückgezogenheit begründet wird. Denn diejenigen Frauen, die uns jetzt weiterhelfen sollen, waren alles andere als zurückgezogen, sie waren tatkräftig Handelnde und haben ihre Umwelt wirkungsvoll gestaltet.
Man darf keineswegs der Frau zuliebe dem Mann absprechen, daß er in seinem Wesen und seinem Tun das Menschliche und die Geschöpflichkeit repräsentieren kann. Aber vielleicht liegt es doch in der Art der Frau, daß sie verschiedenartige Lebensspannungen, unter denen sie steht, seien es menschliche Bindungen, sachliche Arbeitsbereiche, Schicksalsfügungen oder sonstige Belastungen und Erlebnisse, nicht als getrennte Bereiche behandelt, sondern mit der Einheitlichkeit ihrer Person integriert. Dies sind die Dinge, die hinter dem biographischen Ablauf hervorgeholt werden müssen und die uns berechtigen, von gewissen allgemeinen Formen des Menschseins zu sprechen, an denen man sich geistig orientieren kann, ohne daß dies ein bloß äußeres Nachahmen von Vorbildern wäre.

a) Radegundis und ihre asketische Spiritualität

An dem äußerlich so zerrissenen Leben der heiligen Radegund läßt sich eine innere Harmonie erkennen, die mit den drei Worten Bildung, Askese und Karitas umschrieben werden kann. Ida Friederike Görres hat den schicksalhaften Lebensgang der Radegund unter dem Gesichtspunkt der siebenfachen Flucht dargestellt.[1] Je öfter sie im Leben zu fliehen, ihre bisherige Lebensform abzubrechen hatte, desto mehr fand sie zu sich selbst und zu ihrer eigentlichen Bestimmung.
Im Jahre 518 wurde Radegund als Tochter des Königs im damals bedeutenden und weit ausgedehnten Thüringerreich geboren. Mit dreizehn Jahren verlor sie durch kriegerischen Einfall der Franken, der Söhne des Königs Chlodwig, ihre Heimat und ihre Familie und wurde mit ihrem jüngeren Bruder ins Frankenland verschleppt. Sie war die Gefangene des Merowinger-königs Chlothachar, der sie aber als Königstochter achtete. Sieben Jahre lang ließ er ihr auf einem Landsitz in der Nähe des Hofes von Soissons eine fürstliche Erziehung und Ausbildung zukommen. Wie es damals bei jeder adeligen und klösterlichen Bildung üblich war, beschäftigte sie sich mit der Heiligen Schrift, den griechischen und lateinischen Kirchenvätern und den antiken Schriftstellern. Radegund hat diese Möglichkeit der Geistesbildung gut genutzt. Daneben wird aber in den beiden lateinischen Lebensbeschreibungen, die wir von ihr haben,[2] aus diesen Jugendjahren schon von einer karitativen und erzieherischen Wirksamkeit Radegunds berichtet, die sich der Kinder der einfachen Leute ihres Landsitzes annahm.
Ihrer Heirat mit dem König suchte sich Radegund zunächst durch die Flucht zu entziehen, was aber mißlang. Sie fürchtete die Verbindung mit jenem Mann, der ihre Familie zerstört hatte und von dem sie auch sonst viel Grausames wußte. Er hatte zwar die Taufe empfangen und war Christ, aber auf die noch äußerst rauhe Art der Merowingerkönige.
Es hätte Radegund jedoch ferngelegen, die einmal geschlossene Ehe mit Chlothachar anzuzweifeln oder gar als nicht verbindlich für sich anzusehen. Sie versuchte, solange ein solcher Kompromiß sich durchhalten ließ, mit dem König auszukommen, den sie nicht lieben konnte, und war dabei doch streng bemüht, ihr eigenes geistliches Leben weiterzuführen. Im Gebet, im religiösen Gespräch und in karitativen Diensten suchte sie ihren Lebensauftrag zu erfüllen.
Daß sie in dieser niederdrückenden Ehe nicht unfrei wurde, hängt zusammen mit ihrer Stellung als Königin. So sehr sie ihre Ehe als Kompromiß empfand, so wenig ließ sie sich davon in ihrer eigenständigen Haltung beeinträchtigen. Ihre rechtlich genau geregelte Stellung ermöglichte ihr große Freizügigkeit. Bei der Hochzeit erhielt sie, wie weitgehend noch das ganze Mittelalter hindurch jede Fürstin, eigene Besitzungen von Burgen und Städten als Morgengabe, aus deren Einkünften sie Stiftungen und Schenkungen machen konnte und die ihr auch als Witwe oder im Fall der Ehetrennung erhalten blieben. Dies war für Radegund besonders wichtig.
Denn als der König auch vor der schweren Bluttat des Mordes an Radegunds Bruder nicht zurückschreckte, hielt sie das Zusammenleben mit ihm nicht mehr für tragbar und vollzog mit eigener Unerbittlichkeit die Trennung. Es wird als besonders christlich an Radegund herausgestellt, daß sie nicht auf den Gedanken der damals noch allgemein üblichen Blutrache kam. Was sie tat, war aber nicht weniger radikal. Sie ging nach Noyon zu jenem Bischof, der sie mit dem König getraut hatte, und forderte von ihm sofort die Diakonissenweihe.
Das Diakonissentum ist jene damals noch bestehende, altchristliche Einrichtung, welche den Frauen durch eine kirchliche Weihe eine feste geistliche Lebensform für karitative und seelsorgliche Aufgaben verlieh.
Radegund wandte sich von Noyon über Tours, wo sie das Grab des heiligen Martin besuchte, an den südlichsten Punkt ihrer Besitzungen, nach Saix. Dort sammelte sie Schülerinnen um sich und führte mit ihnen ein gemeinsames geistliches Leben. Die Armen jener Gegend wurden von Radegund, man kann fast sagen, planmäßig versorgt, denn sie führte schriftliche Verzeichnisse über die von ihr betreuten Personen.
König Chlothachar hatte mehrmals den Plan, Radegund mit Gewalt an den Hof zurückzuführen, was diese aber immer durch Gebet und strenge Askese abzuwenden suchte. Schließlich hat der König selbst dazu beigetragen, daß in der Stadt Poitiers für Radegund ein festes Kloster gebaut werden konnte, wohin sie mit ihrem Konvent für die letzte Epoche ihres Lebens übersiedelte. Vor seinem Tode ließ Radegund ihrem Mann durch den Bischof Germanus von Paris ihre Verzeihung überbringen.
Lange Zeit hat Radegund ihren Konvent allein aus ihrer schöpferischen religiösen Kraft geleitet, ohne eine feste Regel. Mit zunehmendem Alter übernahm sie jedoch eine Klosterregel, die Caesarius von Arles für die Nonnen seiner Schwester entworfen hatte. Denn es war ja noch vor der Zeit der allgemeinen Verbreitung der Benediktinerregel. Radegund war daran interessiert, daß die von ihr übernommene Regel das Element der Bildung im Leben des Konvents hoch veranschlagte.
So zeigt uns Radegund das Bild eines Menschen, der von vielerlei Schicksalsschlägen heimgesucht war, ohne jedoch der Resignation anheimzufallen. Jeder Abbruch und Neuanfang stellte sie vor die Notwendigkeit, sich in einer andersartigen Umwelt zurechtzufinden, einzufügen und doch wieder etwas Schöpferisches zu leisten. Radegund hat in jener von ihr gestifteten neuen Gemeinschaft Trost und sogar irdischen Lebenssinn gefunden. Haben wir heute noch ein Verständnis für die vielen Klostergründungen des Mittelalters, wie sie besonders häufig gerade von Frauen vollzogen wurden? Es ging dabei weniger um die Vermehrung der Zahl der Klöster, sondern oft genug um ein Erfordernis der Mitmenschlichkeit, die Schaffung einer Gemeinschaft, die nicht auf den Banden des Blutes - vielmehr auf der Gemeinsamkeit des geistlichen Lebens gegründet ist.
Wir sehen an Radegund aber auch die große Bedeutung, welche die Bildung für den Menschen hat. Dies gilt nicht nur für jene frühe Zeit, als die Bildung des Geistes durch Schrift und Sprachen in den Händen der Kleriker sowie der adeligen und klösterlichen Frauen lag, während die Ritter sich anders und mehr praktisch zu bilden wußten, das einfache Volk aber jeder Bildung fernstand — dies gilt immer. Bildung gibt geistige Freiheit und die Fähigkeit, alle Lebensphänomene zu überschauen.
Es ist nun bezeichnend für Radegund gerade als religiöse Persönlichkeit, daß in ihrem Kreise nicht nur anhand der Bibel und der Kirchenväter die theologische Bildung gepflegt wurde, sondern daß sie die antike Geisteswelt, also ein profanes Bildungselement, einbezog. Zur Bildungswelt jener Zeit muß man auch das Sammeln von Heiligenreliquien rechnen. So war es für Radegund eine große Freude, vom oströmischen Kaiser eine Kreuzespartikel für ihr Kloster zu erhalten. Als Prozessionsgesang für den feierlichen Einzug dieser Kreuzesreliquie in Poitiers dichtete der mit Radegund befreundete Venantius Fortunatus die bis heute berühmte Kreuzeshymne Vexilla Regis prodeunt.
Aber bei Radegund war dafür gesorgt, daß sich die Bildungswelt nicht absolut setzen konnte. Sie war eingeordnet in die Gesamtheit ihres spirituellen Lebens. Als Gegenpol zur Geistesbildung wirkte bei ihr die Askese. In der Askese wird von jeher die Form erblickt, sich geistig zu zügeln, die Bildungswelt nicht zu überschätzen und sich religiöse Strenge aufzuerlegen. Verzicht auf Genuß, damit ungeahnte geistige Kräfte frei-werden — das ist sicher die befreiende Wirkung der Askese, die immer erlebt werden kann. Daß bei Radegund noch harte Kasteiungen hinzukamen, für die uns heute das Verständnis fehlt, ist zeitbedingt. Wir dürfen uns dadurch das Bild dieser Frau nicht verwischen lassen.
Das dritte Element ihres geistigen Lebens, das Karitative, bestand in der demütigenden und ermüdenden, harten Arbeit für die Elenden dieser Welt, mit allem Vergeblichen, was damalige Armenpflege an sich, hatte. Denn dieselben Menschen, die von Radegund gesättigt, geheilt und sauber entlassen wurden, kehrten nach kurzer Zeit verwahrlost zu ihr zurück.
Radegund hat auf dem Gebiet der Armenpflege sicher nicht weniger geleistet als sechs Jahrhunderte nach ihr jene andere Thüringerin, die Landgräfin Elisabeth. Und doch kann man feststellen, daß in der Spiritualität der Radegund die Karitas eine andere Rolle spielt als bei Elisabeth. Nur in der Zeit unmittelbar nach ihrer Diakonissenweihe scheint sich Radegund ausschließlich um die Armenpflege gekümmert zu haben, während sonst in ihrem Leben die karitative Betätigung einen eingeordneten Bereich unter anderen bildete, der gleichsam selbstverständlich mitgetan wurde.
Bei Elisabeth von Thüringen aber, die im Eindruck der frühen franziskanischen Bewegung stand, war die Sorge für die Notleidenden gleichbedeutend mit der Radikalität der christlichen Botschaft überhaupt, vor der alles andere, auch die Bildungswelt, zu schweigen hatte. Damit hängt ihre eigene Entäußerung, Armut und Einsamkeit zusammen. Dem kurzen Leben der Elisabeth war eine zeichenhafte Intensität vorbehalten, während Radegund in den sieben Jahrzehnten ihres Lebens etwas gründen durfte, das ein beständiges geistliches Leben für viele ermöglichte.

b) Lioba als Erzieherin zu christlichem Frauentum

Bildung und missionarisches Christentum sind die beiden Worte, mit denen man die Gestalt der heiligen Lioba umreißen kann, die uns als Erzieherin und Vermittlerin christlicher Bildung in Germanien begegnet. Geradlinig ist ihr äußerer Lebensgang im Gegensatz zur Schicksalhaftigkeit der Radegund, und geradlinig ist auch die innere Entwicklung ihres heiteren Wesens.
Als Lioba durch ihren Verwandten Bonifatius aus ihrem angelsächsischen Kloster gerufen wurde, um ihm bei der Missionsarbeit in Germanien zu helfen, war sie bereits in ihrer Heimat lehrend tätig gewesen. Von der Äbtissin Eadburga, die mit Bonifatius befreundet war, hatte Lioba ihre Erziehung erhalten. Nach Abschluß ihrer Ausbildung ging sie in das Doppelkloster Wimborne mit der Äbtissin Tetta über.
Diese sogenannten Doppelklöster sind im angelsächsischen Gebiet jener Zeit eine feste Einrichtung. Ein Männerkloster und ein Frauenkloster, jedes mit strenger Klausur, wurden gemeinsam verwaltet und standen oft genug unter der Leitung einer Äbtissin. Den Männern oblag in dieser Koppelung klösterlichen Lebens stärker die landwirtschaftliche und handwerkliche Arbeit, sie hatten die gesamte Gegend kulturell zu erschließen und die Bevölkerung zu geregelter Arbeit anzuhalten. Das Frauenkloster dagegen pflegte mehr die Geistesbildung, den Unterricht, weibliche Handarbeiten, das Herstellen von Nahrung und Kleidung. Ein gewisser geistiger Kontakt, der Anregungen hinüber und herüber ermöglichte, lag jedoch im Sinne dieses im übrigen sehr streng gehandhabten Lebens in den angelsächsischen Doppelklöstern, deren Äbtissinnen übrigens selbstverständlich an lokalen Konzilien und Synoden teilnahmen.
Aus einem solchen Bildungszentrum stammte also Lioba. Sie war etwa dreißigjährig, als sie mit anderen angelsächsischen Frauen von Bonifatius auf deutschem Boden begrüßt wurde. Er vertraute ihrer Leitung das neugegründete Frauenkloster Tauberbischofsheim an. Hier hat Lioba jahrzehntelang Generationen von Schülerinnen herangebildet und in einem gesunden und lebenstüchtigen Christentum erzogen. Daß es weltoffen war, braucht in jener Zeit kulturschaffenden Benediktinertums gar nicht eigens erwähnt zu werden.
In solchen Klöstern wurden nicht nur spätere Angehörige des Ordensstandes ausgebildet, sondern auch Schülerinnen, die wieder in das Leben der Welt und der Familie zurückkehrten und durch die das Christentum, das ihnen in ihrer Erziehung tief eingewurzelt war, auf ihre Kinder und Kindeskinder überging.
Man kann bei diesen jungen Mädchen, meist adeligen Standes, die in den Jahrhunderten des Mittelalters eine solche Art der Bildung erhielten, von einem Klosterleben auf Zeit sprechen, das ihnen eine Vorbereitung gab, von der sie zeitlebens zehren konnten. Studium und klösterliche Lebensform bildeten dabei eine Einheit.
Die Bedeutung Liobas liegt also darin, daß sie eine lehrende und die Menschen formende Persönlichkeit war. Die asketischen Übungen in ihrem Kloster wußte sie mit den Erfordernissen der Gesundheit in Einklang zu bringen und verhinderte jede Kasteiung, welche die Arbeitskraft lähmte.
Mit Bonifatius stand Lioba dauernd in geistigem Kontakt, er wußte um ihre, sie um seine Arbeit. Ein Ausdruck für diese gegenseitige Wertschätzung und für ihre Partnerschaft im missionarischen Auftrag ist es sicher, daß Bonifatius vor seiner Todesfahrt zu den Friesen gewünscht hat, man möge später Lioba am gleichen Ort mit ihm bestatten. Etwas von einer gleichwertigen Kollegialität zwischen Mann und Frau, die unter der Gemeinsamkeit eines verpflichtenden Auftrags stehen, begegnet uns in dem gegenseitigen Verhältnis dieser beiden Angelsachsen, Winfreth-Bonifatius und Lioba, oder wie ihr angelsächsischer Name lautet, Leofgyth. Wie Bonifatius in den Urkunden apostolus Germaniae genannt wird, so sprechen sie auch Lioba den Titel apostola Germaniae zu.[3]
Nach dem Tode des Bonifatius übernahm Lioba die oberste Leitung aller neuentstandenen ostfränkischen Frauenklöster, und sie reiste von Ort zu Ort, um Bildung und geistliches Leben anzuregen. In dieser Zeit, als sie auch eine beratende Funktion bei den Karolingern ausübte, hat Lioba eine gewisse Ähnlichkeit mit der heiligen Mathilde, der Gemahlin Heinrichs I., die man als Witwe gern die ungesalbte Äbtissin ihrer Klostergründung in Quedlinburg nannte, wo sie um die Heranbildung christlichen Frauentums unter dem Adel nicht weniger besorgt tätig war, als zwei Jahrhunderte vor ihr Lioba.
Nachdem sie das siebzigste Jahr überschritten hatte, trennte sich Lioba von ihrer reichen Wirksamkeit. Sie übergab alles wohlgeordnet ihrer Nachfolgerin und erwartete den Tod auf einem Königsgut in der Nähe von Mainz, das ihr von Kaiser Karl dem Großen zur lebenslangen Nutznießung übergeben war. Die Unwiderruflichkeit einer solchen Entscheidung, mit der sie sich von ihrer Arbeit trennen konnte, um bewußt dem Tod entgegenzusehen, ist ebenso typisch für Lioba wie die zielbewußte und geplante Arbeit ihres Lebens.
Die Grundzüge der Gestalt Liobas haben sich an mancher anderen Frau in der Geschichte und Gegenwart der Kirche wiederholt. Besonders bei Ordensfrauen, die in Missionsländern Schulen gründeten und sich der Bildung der Frauen annehmen, fühlt man sich an Lioba erinnert: die gleiche Energie und Schaffensfreude, die gleiche Aufgeschlossenheit für alle praktischen Lebensfragen der Frau. Die christliche Botschaft wird zunächst einmal als eine gesunde Lebenslehre verstanden, die anderen Menschen mitteilbar ist, über die sich dann aber auch der Glaube mitteilen kann.