Maria von Magdala

Die Frau im Zeugnis des Christusglaubens

Neben Maria, der Mutter des Herrn, ist Maria von Magdala die wichtigste Frauengestalt des Neuen Testamentes. Während die erstere vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, mit den Ereignissen um Empfängnis, Geburt und Kindheit Jesu verknüpft ist, ihm also durch die Mutterschaft im Mysterium der Menschwerdung nahesteht, ist die letztere ihm vertraut als Jüngerin und Zeugin von Tod und Auferstehung. Beide Gestalten drängen über ihre geschichtliche Beziehung zu Jesus von Nazareth hinaus in eine Zeichenhaftigkeit für das Christusmysterium.
Aber nicht nur für das persönliche Leben Marias, sondern auch für ihre Mutterschaft ist der Glaube die grundlegende Haltung. Dies kommt in der biblischen Szene der Verkündigung an Maria zum Ausdruck, von der sich das Geheimnis ihrer Erwählung insgesamt verstehen läßt.[1]
Durch sie, welche die blutsmäßigen Bande Jesu zum Alten Testament gewährleistet, wird seine ganze Menschheit und Menschlichkeit offenbar. Darum hat die christliche Tradition in Theologie und Dichtung von jeher an der Mutter des Herrn die Wesens verhalte des Geschöpfseins aufgedeckt. Im Wachstum ihres Glaubens und in der geistigen Annahme ihrer gnadenhaft geschenkten Mutterschaft besteht ein fortdauerndes Wechselverhältnis, bis wir sie schließlich beim Pfingstereignis zugegen finden, das die junge Kirche in die Freiheit des Geistes versetzte.
In diesem Zusammenhang wollen wir nicht auf die Mutter des Herrn eingehen, wir wollen vielmehr jene andere Frauengestalt betrachten, deren Bedeutung in den letzten Jahrhunderten gegenüber der Väterzeit und dem Mittelalter weniger beachtet wurde, die uns aber wichtige Aufschlüsse über das Frausein im Neuen Testament zu geben vermag. Maria von Magdala, die weder blutsmäßig dem Fortgang der Heilsgeschichte dient, noch verwandtschaftlich mit Jesus verbunden ist, hatte den Weg des Glaubens zu ihrem Meister und Lehrer zu gehen, als er schon in zunehmendem Maße zum Stein des Anstoßes wurde. An ihr kann man wahrnehmen, wie der ersten christlichen Generation die neue, durch Tod und Auferweckung Jesu ermöglichte Existenzform allmählich inne wurde.
Die alttestamentliche Lebensweise der Frau und die in Christus begründete neutestamentliche bilden eine Spannungseinheit. Es wäre aber verfehlt, wenn man die alttestamentliche als die eheliche und die neutestamentliche als die jungfräuliche festlegen wollte. Aus den neutestamentlichen Berichten kann man Maria von Magdala keinem bestimmten Stand mit Sicherheit zuordnen. Dennoch wird an ihr sichtbar, was über die verschiedenen Stände hinweg die von der Frau zu verwirklichende Jüngerschaft besagt.

a) Maria von Magdala und die zum Typ mit ihr verschmolzenen Frauengestalten

In das christliche Bewußtsein um die Magdalenengestalt mischen sich von Legende, Tradition und sogar Liturgie herangetragene Züge, die nicht zu ihrer historischen Person gehören und diese, kritisch gesehen, wesentlich verzeichnen, in anderer Hinsicht aber auch, wenn man so sagen darf, bereichern. Es ist der ganze Komplex von Salbungserzählungen im Leben Jesu, die wegen des analogen Tuns oder wenigstens Vorhabens der Maria von Magdala nach seinem Kreuzestode direkt auf sie bezogen worden sind, tatsächlich aber andere Frauen des Neuen Testamentes meinen. Diese Verschmelzung verschiedener Frauengestalten, die im Gegensatz zum christlichen Osten in der Westkirche seit Leo dem Großen fortschreitend zu beobachten ist,[2]mag von dem Bestreben getragen sein, an einem einzigen Typ diejenigen Merkmale und Kennzeichen neutestamentlichen Frauseins zu sammeln, die an der Mutter des Herrn selbst nicht zum Ausdruck kommen können. Die Verhaltenheit, mit der Maria von Magdala in den einzelnen Evangelien gezeichnet ist, bis zu der einzigartigen Heraushebung ihrer Gestalt in der Ostergeschichte bei Johannes, kommt diesem Verschmelzungsbestreben in gewisser Weise geradezu entgegen.
Wie sieht nun der neutestamentliche Frauentyp aus, dem Maria von Magdala den Namen leiht, und wie weit läßt er sich überhaupt von ihrer historischen Gestalt säuberlich trennen? Im Markusevangelium, dem ältesten der synoptischen Evangelien, und dem ihm hier genau folgenden Matthäusevangelium steht die Salbungserzählung nach dem Beschluß der Ältesten des jüdischen Volkes, Jesus hinzurichten, und ist noch überschattet von der Parusierede (Mk 14, 3—9; Mt 26, 6—13). Durch diese Stellung im Rahmen des Evangeliums wie durch ihre inhaltliche Bedeutsamkeit erhält die Salbungserzählung eine verknüpfende Funktion zwischen dem Leben Jesu und seiner nun anhebenden Passion und Erhöhung. Die Salbung, die von beiden Evangelisten mit großer Übereinstimmung des Wortlauts berichtet wird, geschieht in Bethanien im Hause Simons des Aussätzigen. Als man beim Mahle liegt, erscheint eine nicht weiter eingeführte, ungenannt bleibende Frau mit einem Alabastergefäß voll kostbaren Salböls, zerbricht es und gießt die Salbe über dem Haupte Jesu aus. Dies ist ein nicht allzu seltener Brauch im orientalischen Leben jener Zeit, der sowohl bei festlichen Anlässen als Ehrenerweis diente wie auch zu den notwendigen Pietätshandlungen um Tod und Bestattung gehörte.
Die Reaktion der Anwesenden auf diesen Akt der Verehrung Jesu durch eine Frau ist in beiden Evangelien die gleiche: bei Markus sind es »einige«, die Anstoß nehmen und die Handlung als eine angesichts der vielen Armen im Lande unverzeihliche Verschwendung empfinden, bei Matthäus werden diese »einigen« näher bezeichnet als die Jünger selbst, die nicht die Großzügigkeit einer solchen Huldigung für ihren Meister annehmen können. Jesus aber nimmt sie für sich in Anspruch, wie seine Worte zeigen. Er weist auf die Kostbarkeit seiner Gegenwart unter den Seinen hin, die sie allzu leicht als eine Selbstverständlichkeit ansehen, lenkt aber das Tun der Frau auf das bevorstehende Geschehen um seine Bestattung weiter, ja er gibt ihm in seiner Seligpreisung der Frau sogar eine symbolische Beziehung zur Ausbreitung des Wortes Gottes: »Wahrlich sage ich euch, wo immer diese Frohbotschaft in der ganzen Welt verkündet wird, wird man auch erzählen, was sie getan hat, ihr zum Gedächtnis/' Eine diesen beiden Berichten ähnlich gelagerte Salbungserzählung bringt das Johannesevangelium an entsprechender Stelle, soweit man dies bei seinem andersartigen Aufbau sagen kann. Aber auch hier bildet die Salbung das vermittelnde Glied zwischen dem öffentlichen Wirken Jesu einerseits und den Reden und Ereignissen um seine Passion und Verherrlichung anderseits (Jo 12,1—8). Wieder ist Bethanien der Ort der Salbung, der Name Simons des Aussätzigen als des Gastgebers ist jedoch verschwunden, statt dessen erscheint eine den Synoptikern unbekannte, bei Johannes aber zum Kernbestand des Evangeliums gehörende Gestalt, die des Lazarus, den Jesus vom Tode erweckt hat. Der Text legt nicht mit Sicherheit nahe, deutet aber an, daß das Gastmahl in seinem Hause stattfindet. Jedenfalls ist Lazarus dabei zugegen, seine Schwester Martha bedient bei Tische, und seine Schwester Maria ist die Salbende. Die beiden Frauen sind ebenso charakterisiert wie bei der von Lukas (10, 39—42) berichteten Einkehr Jesu im Hause des Schwesternpaares: Martha als die den praktischen Lebensbedürfnissen sich Widmende, Maria als die dem Wort des Herrn sich Hingebende. Aber während Lukas nur das Schwesternpaar allein kennt, steht es bei Johannes in fester Zuordnung zu dem Bruder Lazarus, an dem die Herrlichkeit Gottes offenbar geworden ist.
Die bei Markus und Matthäus ungenannt gebliebene Frau tritt hier aus der Anonymität: sie ist Maria von Bethanien. Es wird sich nicht letztlich entscheiden lassen, ob das bei Johannes berichtete Salbungsgeschehen mit dem bei den beiden Synoptikern sachlich identisch ist oder ob verschiedene Salbungen Jesu zugrunde liegen. In ihrem wesentlichen Ablauf wird aber die Begebenheit mit Matthäus und Markus übereinstimmend wiedergegeben, was auf Identität schließen läßt. Ein abweichender Zug ist, daß Maria von Bethanien bei Johannes nicht das Haupt, sondern die Füße Jesu salbt und sie mit ihren Haaren trocknet. Das Anstoßnehmen über die Verschwendung wird hier auf Judas Iskarioth eingegrenzt, dessen Sorge für die Armen aber als unehrliches Motiv und Deckmantel seiner Verworfenheit entlarvt wird. Das Jesuswort ist kürzer als bei den Synoptikern, es enthält nur die Hinordnung der Salbung auf sein Begräbnis und den Hinweis auf die Kostbarkeit seiner Gegenwart.
Ein in jeder Beziehung anderes Gepräge hat die Salbungserzählung bei Lukas (7, 36—50). Mit den bisher behandelten verbindet sie nur eine äußere Ähnlichkeit. Ihr eignet nicht die verknüpfende Funktion zwischen Lebensweg und Todesmysterium Christi wie in den drei anderen Evangelien, sondern sie steht im ersten Drittel des Lukasevangeliums, der Wirksamkeit Jesu in Galiläa. Diese Salbungserzählung gehört zu jenen Ereignissen, die zeigen sollen, wer Jesus ist. Anlaß und Gelegenheit zur Salbung bietet auch hier ein Gastmahl, und der Hausherr ist ein Pharisäer namens Simon. Die salbende Frau wird nicht mit Namen genannt, aber doch in aller Eindeutigkeit beschrieben. Sie ist ein sündiges Weib, das an diesem Orte lebte, also wahrscheinlich eine öffentliche Sünderin. Aus ihrem ganzen Benehmen, wie der Evangelist es schildert, geht aber hervor, daß sie die innere Umkehr schon vollzogen hat und bereits ein vorgängiges Wissen um Jesus besitzt.
Die Kunde von seiner Anwesenheit im Hause des Pharisäers weckt in ihr den Entschluß, ihn durch eine Salbung zu ehren. Wegen des halböffentlichen Charakters der altorientalischen Gastmähler, die Zuschauer zuließen, war dies möglich. Die salbende Frau tritt aber dennoch aus der Passivität der Zuschauer heraus, sofern sie mit den Anzeichen von Reue und größter innerer Beteiligung die Füße Jesu salbt. Seine Reaktion ist zunächst ein reines Geschehenlassen, an dem der Pharisäer Anstoß nimmt. Auch hier ist also das Anstoßnehmen für die Salbungserzählung entscheidend, aber es hat einen ganz anderen Gegenstand und gehört wie der Name des Gastgebers nur auf die Ebene der äußeren Ähnlichkeit.
Für den Pharisäer, der nicht in das Herz der Salbenden zu schauen vermag, ist sie noch, was sie war, die Sünderin. Daß Jesus die Salbung geschehen läßt, enttäuscht ihn unermeßlich: Er ist doch nicht der Prophet, der seit langem von Gott wieder in Israel erweckte. Denn sonst würde er wissen, daß diese Frau eine Sünderin ist, der es nicht zusteht, ihn zu salben.
Jesus begegnet diesen verborgenen Gedanken des Pharisäers mit dem Gleichnis der beiden Schuldner, das er dann selbst in seinen einzelnen Zügen auf die Person des Pharisäers und die der salbenden Frau auslegt. Der Pharisäer wird dabei nicht ins Unrecht gesetzt, sondern sein im Rahmen des Billigen verbleibendes Tun wird gegen das der Frau abgehoben. Sie fragt nicht, was billig und wohlanständig ist, vielmehr legt sie ohne Rücksicht auf alles Gesellschaftliche eines solchen Mahles ihr ganzes Sein in ihrem Tun offen dar, in einer, wie wir es nennen können, zur echten Hingabe gewendeten Preisgabe. Jesus richtet an sie nur ein einziges Wort, die sie entlassende Zusicherung, sie habe kraft ihres Glaubens bereits Vergebung ihrer Sünden erhalten. Den Tischgenossen aber, wobei Simon nicht mehr eigens herausgehoben ist, gereicht diese Aussage Jesu zu der Staunen erregenden Einsicht, daß sie ihr Denken über ihn immer neu zu prüfen haben. An der ehemals sündigen Frau hat sich also für die Zeugen des Geschehens gezeigt, daß Jesus doch der Prophet ist, ja daß die hergebrachten jüdischen Vorstellungen vom Propheten-tum nicht einmal ausreichen, um ihn zu begreifen. So steht die Frau in dieser Salbungserzählung bei Lukas in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Geheimnis der Messianität Jesu.
Die früheste Stelle in den Evangelien, wo die historische Gestalt Marias von Magdala erwähnt wird, findet sich in dem auf die Salbungserzählung folgenden Kapitel bei Lukas (8,1—3). Die Knappheit und Prägnanz dieser drei Einleitungsverse enthält nichts weiter als eine Situationsschilderung: Jesus zieht in den Städten und Dörfern Galiläas umher und verkündet das Reich Gottes. Begleitet ist er auf diesem unruhigen Wanderleben nicht nur von den Zwölfen, sondern auch von einigen Frauen, als deren wichtigste Maria von Magdala an erster Stelle mit Namen genannt ist. Sie steht aber gleichsam für die ganze Gruppe von Frauen.
Diese Frauen haben zu Jesus gefunden durch ein besonderes Ereignis in ihrem Leben. Er hat sie geheilt von Besessenheit oder Krankheit. Sie danken es ihm nun durch ständige Nachfolge, die bis zur materiellen Unterstützung der kleinen Messiasgemeinde geht. Die Frauen sind also nicht ausgeschlossen von der Jüngerschaft zu Jesus und seiner Verkündigung des Reiches Gottes; geht es doch um das eine, das alle Not und Bedrängnis wendet, um die Einsicht, daß durch ihn der alte Herrschaftsanspruch Gottes mit neuer Kraft erhoben wird. Von dieser Botschaft sind Mann und Frau, jeder für sich, mit gleicher Dringlichkeit aufgerufen.
War die Frau im Judentum noch weitgehend von der Lehre, der schulischen Unterweisung in Gesetz und Propheten, ferngehalten, so wird ihr hier eine neue Möglichkeit religiös-geistiger Erfüllung geschenkt. Die Lehre Jesu wird ihr ebenso unmittelbar zugewandt wie dem Mann. Wenn man bei Jesus auch nicht in dem Sinne von einer Lehre sprechen kann wie etwa bei den Stiftern der großen Weltreligionen, so darf man doch anderseits sein Werk keineswegs nur vom Ereignishaften verstehen. Seine Botschaft vom Reiche Gottes setzt die alttestamentliche Gotteserfahrung voraus, steigert sie zum höchsten personalen Anspruch, sieht ihre Erfüllung in der eigenen Person gekommen und weist jeden einzelnen auf die Gnade und das Gericht Gottes hin. So ist das, was man als die Lehre Jesu bezeichnen kann, vielfältig aufgegliedert. Es ist Deutung, Korrektur, Weisung, Gleichnis, Hinführung zu etwas total Neuem; also in jedem Fall geistiger Aufschluß, der vom Hörenden innerlich verstanden und verwirklicht werden muß.
Gerade bei den Frauen im Neuen Testament drückt sich das Autoritätsverhältnis Jesu als Lehrer besonders stark aus. Sie sind bereit, ihn in einem unumschränkten Sinne als solchen anzuerkennen, da sie sich nicht wie die Rabbiner dazu gedrängt fühlen, immer den Maßstab des in sich abgeschlossenen jüdischen Systems auf ihn anzuwenden. Wenn man von einer Lehre Jesu spricht, mit aller Vorsicht, die dabei geboten ist, so sind als die Aufnehmenden und Befolgenden dieser Lehre die Frauen in der unmittelbaren Umgebung Jesu nicht wegzudenken.
Maria von Magdala wird also von Lukas als die erste jener Frauen genannt, die Jesus, dem Meister und Lehrer, folgen und sich nicht scheuen, an die Kraft seiner Lehre bis über den Tod hinaus zu glauben. Diese einzige vor der Passion über sie sprechende Stelle erweist Maria von Magdala als Jüngerin Jesu, die ihm im täglichen Hören seines Wortes verbunden ist.
Bei den von der westlichen Tradition zu einer einzigen Gestalt verwobenen neutestamentlichen Frauen handelt es sich also um mindestens drei, wenn nicht vier: die Salbendevon Bethanien, nach Johannes Maria, die Schwester des Lazarus, die galiläische Sünderin und Maria von Magdala selbst. Wir müssen uns fragen, welche Züge und Eigentümlichkeiten es sind, die diese Zusammenschau ermöglichten, und wie die Magdalenengestalt dadurch positiv oder negativ umgeprägt wurde.
Zunächst gilt es festzuhalten: Die in Lk 8 als Jüngerin des Herrn eingeführte und namentlich genannte Maria von Magdala ist nicht die Sünderin von Lk 7, deren Name unbekannt bleibt und deren Geschichte mit dem sie entlassenden Friedenswort Jesu abgeschlossen ist. Was zur Identifizierung von beiden bei Lukas unmittelbar nacheinander auftretenden Frauen geführt hat, ist die Bemerkung des Evangelisten, Jesus habe der Maria von Magdala sieben Dämonen ausgetrieben. Dies verstand man jahrhundertelang als Aussage über ihr vorheriges Sündigsein und ihre Bekehrung.
Nun ist es aber, wie man heute weiß, nach dem Befund im Neuen Testament so, daß das Besessensein von Dämonen allerdings letztlich die Sünde zum Ursprung hat, jedoch kaum jemals eine persönliche Sündigkeit des Betroffenen. Zur Verdeutlichung darf man vielleicht auch hier das Wort Jesu über den Blindgeborenen heranziehen: Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern, sondern es soll an ihm die Herrlichkeit Gottes offenbar werden (Jo 9, 3). Der Besessene ist seiner personalen Verantwortung beraubt, und sein Zustand ist der Krankheit vergleichbar.
Zugrunde liegt dem entmachtenden Zustand der Besessenheit die Rebellion des Dämonenreiches, das beim Auftreten Jesu seinen schon verwirkten Herrschaftsanspruch über die Welt festzuhalten sucht. Maria von Magdala als die der dunklen Gegenmacht Entrissene wird nach ihrer Heilung durch Jesus zu seiner Jüngerin. Dies ist der Gehalt dessen, was Lk 8 über ihre Vorgeschichte aussagt.
Durch die Identifizierung der Jüngerin Maria von Magdala mit der galiläischen Sünderin kommt in ihr Wesen ein anderes Element. Gerade das Tun der letzteren, wie sie Jesus die Füße küßt, sie mit Tränen benetzt und mit ihren langen Haaren trocknet,[3] hat ja am meisten auf das aus der christlichen Kunst geläufige Magdalenenbild eingewirkt. So erhält die Jüngerin Maria von Magdala den ihr an sich biblisch fremden Zug einer ehemals Verworfenen, die eine offensichtliche Bekehrung hinter sich hat, und wird zum Typ der für schwerste Sünde Büßenden.
Mit dieser Vereinigung der beiden an sich völlig verschiedenen Merkmale einer Jüngerin und einer Büßerin kommt in die Magdalenengestalt das Extreme, das Außergewöhnliche, das Heftige und Leidenschaftliche, das sie in eine poetische Atmosphäre versetzt und in den Mittelpunkt des Frömmigkeitslebens gerückt hat.
Die traditionelle Auffassung der westlichen Kirchenväter ist im allgemeinen die, daß Maria von Magdala zuerst beim Gastmahl des Pharisäers (Lk 7) durch das Salben der Füße Jesu ihre Reue und ihr Abstandnehmen vom früheren Sündenleben ausdrückt, worauf ihr von Jesus Verzeihung zuteil wird; daß sie nach einer kurzen Zeit der Bewährung die Berufung zur Nachfolge Jesu erhält (Lk 8) und dann in einem höheren Stand der Vollendung gewürdigt wird, Jesus in Bethanien als Vorbedeutung für die Passion zu salben (Mt 26; Mk 14). Auf dieser Stufe gewinnt der Magdalenentyp durch die Identifizierung mit Maria von Bethanien, wie sie bei Jo 12 und insbesondere bei Lk 10 erscheint, noch einen neuen Aspekt: Sie versinnbildet die vita contemplativa, einen Wesenszug, der besonders im frühen Mittelalter Anklang gefunden hat. In ihrer dreifachen Bestimmung als Büßerin, Jüngerin und Beschauende ist sie nach dem Verständnis der Tradition reif geworden zur Anteilnahme bei Jesu Passion und Bestattung wie zur Entgegennahme der Osterbotschaft.
Wenn in der Ausweitung zum Typ auch die historische Maria von Magdala das Nüchterne und Klare ihrer Gestalt aufgeben muß, so darf man doch nicht die symbolische Tiefe dieses Magdalenenbildes übersehen, an dem Jahrhunderte christlicher Tradition geformt und ihre Frömmigkeit ausgesprochen haben. Entscheidend für ein modernes Verständnis der Maria von Magdala muß aber sein, ohne den Typ zu mißachten, den echten historischen Kern als wesentlich zu erkennen; nicht die Sünderin, nicht die Salbende, vielmehr die Jüngerin, die Glaubende und Zeugnisgebende. Allein in dieser Funktion ist ihre Anteilnahme bei Tod und Auferstehung Jesu von Bedeutung, wie sie in den Berichten des Neuen Testamentes hervortritt.

b) Maria von Magdala und das Geheimnis der Auferstehung

Als Jüngerin Jesu gehörte Maria von Magdala zu der Gruppe von Frauen, die ihm durch seinen Tod hindurch die Treue hielten. Man darf dies aber auf keinen Fall so überspitzen, als seien die Apostel geflohen, während die Frauen bei ihm in seiner Verlassenheit ausharrten. Vor dem jüdischen Gesetz hatten die Frauen nicht die rechtskräftige Geltung wie die erwachsenen Männer und waren infolgedessen freier im Umgang mit Jesus, da sie in öffentlichen Dingen weniger belangt werden konnten. So übernahmen insbesondere sie die religiöse Zeugenschaft seines Todes. »Es waren aber auch Frauen dort, die von weitem zuschauten. Unter ihnen waren Maria Magdalena und Maria, die Mutter des jüngeren Jakobus und des Joses, und Salome. Sie waren ihm schon in Galiläa gefolgt und hatten ihm gedient. Es waren noch viele andere Frauen da, die mit ihm nach Jerusalem gekommen waren« (Mk 15, 40f.). Matthäus bringt wie Markus an der gleichen Stelle diese Jüngerinnenbemerkung (Mt 27,55 f.), die bei den ersten beiden Synoptikern im Gegensatz zu Lukas hier nachgeholt wird. Lukas hat bei der Kreuzigung Jesu zwei Frauenstellen, zunächst sein Wort an die weinenden Töchter Jerusalems (Lk 23, 27 f.) und dann die Erwähnung der Jüngerinnengruppe aus Galiläa, wobei er aber Maria  von Magdala nicht mehr eigens zu nennen braucht (Lk 23, 49).
Von andersartiger Struktur ist im Johannesevangelium die Szene unter dem Kreuze Jesu, in der Frauen genannt sind: »Beim Kreuze Jesu standen seine Mutter sowie die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Kleophas, und Maria Magdalena« (Jo 19, 25). Die Distanz des Zuschauens der Frauen aus der Ferne fällt hier weg, und Maria von Magdala ist ohne Rücksicht auf die galiläischen Jüngerinnen in einen persönlichen Zusammenhang mit Jesus gestellt, was ihre alleinige Heraushebung bei der Auferstehung nach Johannes schon vorbereitet. Es zeigt sich also mit Sicherheit in allen vier Evangelien, welch wichtige Rolle der historischen Gestalt Marias von Magdala beim Tode Jesu zukommt. Sie, die im Gegensatz zu verschiedenen anderen namentlich genannten Frauen weder durch einen Gatten noch durch Söhne definiert wird, sondern nur nach der Stadt ihrer Herkunft, erscheint gleichsam alleinstehend und ganz in ihrer Jüngerschaft aufgehend. Ihre Haltung beim Kreuze Christi bleibt eine passive. Es ist das Wissen darum, dieses furchtbare Geschehen nicht hindern zu können, und der Entschluß, ohne ein handlungsmäßiges Eingreifen bei dem Sterbenden auszuharren.
Passivität ist auch die Haltung, die den Frauen auferlegt ist, als bei der Bestattung Jesu der Sabbat hereinbricht. Was aber in dieser Passivität bewahrt wird und vor dem Unabwendbaren Bestand hat, ist eine kontinuierliche Liebe, Anteilnahme und Verehrung. Hier liegt der Unterschied der Frauen zu den Aposteln. Bei diesen ist es die Krise über das vermeintliche Scheitern des Reiches Gottes, die jeden von Jesus weg in die Vereinzelung treibt, bei den Frauen dagegen die Erschütterung über das Todesereignis, die sie in der Nähe Jesu hält und nach seinem Tod auf seinen Leichnam und das Grab konzentriert. Das Grab wird das Lebensfleckchen, an dem sie haften und ausharren. »Maria Magdalena und die andere Maria blieben noch dem Grabe gegenüber sitzen« (Mt 27, 61). — »Maria Magdalena und Maria, die Mutter des Joses, sahen, -wohin man ihn gelegt hatte« (Mk 15, 47). — »Die Frauen, die mit Jesus aus Galiläa gekommen waren, gingen mit und sahen sich das Grab an und wie sein Leichnam bestattet wurde. Dann kehrten sie zurück und richteten sich Spezereien und Salben her. Den Sabbat brachten sie nach dem Gesetz in Stille zu« (Lk 23, 55f.). Die Jüngerschaft der Frauen ist also in keiner Weise extravagant, sondern eine religiöse Selbstverständlichkeit, die vor der so harten Problematik der Männer bewahrt bleibt, bei der aber das menschliche Fundament besser trägt.
Wie bei der Passion, so steht auch in den synoptischen Auferstehungsberichten Maria von Magdala an der Spitze jener Frauengruppe, die am Ostermorgen vom Geheimnis der Auferstehung Kunde erhält (Mk 16, 7; Mt 28, 7 10; Lk 24, 6).
Betrachten wir zunächst die ersten acht Verse des letzten Markuskapitels, jene abrupte und von unmittelbarer Betroffenheit zeugende Schilderung des Ostergeschehens, auf welche der aus verschiedenen Traditionen herrührende, von späterer Hand angefügte, glättende und mildernde Schluß folgt. Die Sorge der Frauen um das Entfernen des schweren Steines, das Vorbedingung ist für die Salbung Jesu, ist schon überflüssig geworden. Der das Grab verschließende Stein ist fort. Gerade in diesem Osterbericht tritt alles Tatsachenmäßige mit einer krassen Unmittelbarkeit hervor, noch diesseits jeglicher Verklärung, was sich an den Frauen in ihrer Reaktion des Entsetzens spiegelt.
Die Osterbotschaft, die sie vom Engel erhalten, nachdem sie in das leere Grab getreten sind, versetzt sie nicht in das Lösende und Erlösende der Osterfreude, sondern steigert nur die Ekstase, Furcht und Angst, die sie zunächst unfähig macht, den Jüngern die Auferstehung zu künden. Vor der Tatsache der Auferstehung geraten die Frauen in eine unvergleichlich größere Erschütterung als beim Tode Jesu. Ihr Verhalten hat mit Unglauben nichts zu tun, es ist nur das Ergriffensein von dieser übermächtigen Wirklichkeit, die jetzt in ihr Leben tritt und alle bisherige Erfahrung übersteigt.
So finden wir im ältesten der neutestamentlichen Osterberichte noch nicht die alles durchstrahlende Osterfreude, sondern die Ostererschütterung, durch welche die Frauen in ihrem Sein zutiefst betroffen sind. Das menschliche Fundament, von dem sie beim Tode Jesu noch getragen wurden, zeigt sich jetzt in Frage gestellt vor dem Einbruch der bisher unvorstellbaren, todesjenseitigen und das Leben verwandelnden Christusexistenz.
Im Auferstehungsbericht des Matthäus liegt aller Nachdruck auf dem Glanz, der Herrlichkeit und Machtfülle des Ostergeschehens. Die Furcht vor dem Ungeheueren, die, ins Unheilvolle gewendet, auf den Grabeswächtern bleibt, wird bei den Frauen durch die Botschaft des Engels ins Heilvolle der Freude gekehrt. Es ist aber auch hier eine von Furcht durchzitterte Freude, die des Neuen nur langsam innewird: »Schnell gingen sie vom Grabe weg mit Furcht und doch zugleich großer Freude und eilten, diese Botschaft seinen Jüngern zu verkünden« (Mt 28,8).
Die Weitergabe der Osterbotschaft von den Frauen auf die Apostel bildet bei Lukas den Hauptakzent seiner Ostererzählung. Hier stoßen wir mit aller Klarheit auf das Faktum der religiösen Zeugenschaft der Frauen. Sie, die vor dem jüdischen Gesetz nicht zeugnisfähig waren und keinen Glauben beanspruchen konnten, werden jetzt in den Auftrag des Zeugnisses gestellt. Waren sie schon beim Tode Jesu in die religiöse Zeugenschaft eingespannt, so sind sie bei seiner Auferstehung die eigens berufenen Zeugen vom Anbruch des Reiches Gottes, wie es sich erstmalig an Jesus Christus dem Gekreuzigten verwirklicht hat, der durch Gott von den Toten erweckt wurde: »Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden. Erinnert euch doch, wie er zu euch gesagt hat, als er in Galiläa war: Der Menschensohn, sagte er, muß in die Hände sündiger Menschen ausgeliefert und gekreuzigt werden, am dritten Tage aber auferstehen/ Da erinnerten sie sich an seine Worte, kehrten vom Grabe zurück und sagten all das den Elfen und allen andern. Es waren Maria Magdalena und Johanna, Maria, die Mutter des Jakobus, und noch andere, die den Aposteln diese Kunde brachten« (Lk 24, 5-10).
Wenn auch das Zeugnis der Frauen die Apostel zunächst noch nicht zum Osterglauben befähigte, obschon es sie mit dem Ereignis der Auferstehung eindrucksvoll konfrontierte, so deshalb, weil sie ebenso wie zuerst die Frauen von der neuen Wirklichkeit noch unerfaßt waren.
Diese wird in einzigartiger Heraushebung der Gestalt Marias von Magdala am Auferstehungsbericht des Johannesevangeliums offenbar. Das Ostererlebnis der Jüngerin ist bei Johannes auf eine allgemeine Ebene des geistlichen Lebens versetzt. An Maria von Magdala entfaltet der Evangelist das nicht sogleich vorhandene, sondern langsame Innewerden der österlichen Seinsweise. Die Erzählung, daß sie am Ostermorgen zum Grabe geht, wird unterbrochen von der nur lose damit verknüpften, andersgelagerten Tradition des sogenannten Apostellaufs, aus dem für Petrus und Johannes ohne eigentliche Osterbotschaft schon die Ahnung der Auferstehung resultiert. Daran gewinnt Maria von Magdala jedoch keinerlei Anteil, die beiden verschiedenen Traditionen laufen einander parallel. Nach dem Weggang der Apostel bleibt sie weinend am Grabe zurück. Ihre Überzeugung, der Leichnam des Herrn sei weggenommen, raubt ihr den letzten Ort des Friedens. Auch durch die Erscheinung der Engel läßt sie sich ihre Besorgnis nicht nehmen.
Die der Engelserscheinung plötzlich entgegenstehende und sie ablösende Christusszene führt nun in das eigentliche Geschehen hinein. »Und Jesus sprach zu ihr: ,Weib, was weinst du, wen suchst du?' Im Glauben, es sei der Gärtner, gab sie ihm zur Antwort: ,Herr, wenn du ihn fortgetragen hast, sag mir, wohin du ihn gelegt hast; alsdann will ich ihn holen/ Und Jesus sprach zu ihr: ,Maria!' Da wandte sie sich um und sprach zu ihm hebräisch: ,Rabbuni', das heißt Lehrer. Doch Jesus sprach zu ihr: ,Fasse mich nicht an; noch bin ich nicht zu meinem Vater aufgefahren. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott/ Da ging Maria Magdalena hin und verkündigte den Jüngern, sie habe den Herrn gesehen und das habe er zu ihr gesagt« (Jo 20,15—18). Dieses Gespräch zwischen dem Auferstandenen und Maria von Magdala kann man von ihrer Seite als ein stufenhaft erfolgendes Erkennen begreifen, wie es von seiner Seite ein anfangs korrigierendes und dann immer tieferes Einführen in die neue Wirklichkeit ist, in der er sich selbst schon befindet und an welcher die Seinen teilhaben sollen.
Auf das erste Ansprechen Jesu bleibt Maria noch in dem von ihrer Trauer gesteigerten Wahn, er sei der Gärtner. Dies ist also die Stufe des völligen Nicht-erkennens. Sobald sie sich aber von Jesus bei ihrem Namen gerufen hört, sich von ihm erkannt weiß, hat sie die Gewißheit, daß er es ist. Diese Erkenntnis, die sich in ihrer Gegenanrede Rabbuni ausdrückt, ist jedoch vorerst nur eine Halberkenntnis. Sie erkennt ihn als den, der er für sie war, als Lehrer, dem sie Jüngerin ist. Sie erkennt ihn aber noch nicht in seiner umgewandelten, neuen, den Formen welthaften Umgangs enthobenen Gestalt. Deshalb muß der Auferstandene ihr mit einer Korrektur begegnen. Es gibt nicht das Zurück in die vergangene, dem Mysterium von Tod und Auferstehung vorausliegende Daseinsweise, in der einzig das Verhältnis von Meister und Jüngerin sie verband. Es heißt jetzt für Maria von Magdala, weiterzuschreiten zur Anteilnahme an der neuen Christusexistenz, die in den Worten des Herrn als das Sein beim Vater beschrieben wird. So geht es bei der Vollerkenntnis, zu der Maria von Magdala vom Auferstandenen gebracht wird, nicht  mehr um die objektive Tatsächlichkeit seines neuen Lebens, die aber vorgegeben ist, sondern um das innermenschliche Verstehen, Aneignen und Innewerden dieser Wirklichkeit, also, mit anderen Worten, um alles das, was der volle Osterglaube in sich begreift.
Auf dieser letzten Stufe der Erkenntnis ist Maria von Magdala fähig, den Auftrag zur Osterbotschaft an die Jünger entgegenzunehmen und auszuführen. Aber es geht hier nicht allein um die Kunde vom äußeren Faktum der Auferstehung, sondern vor allem um die Mitteilung dessen, was sie vom Auferstandenen über die jedem an ihn Glaubenden zuteil werdende Christusexistenz erfahren hat. So ist Maria von Magdala, wie sie im Gesamtzeugnis der neutestamentlichen Osterberichte vorkommt, der ersten christlichen Generation und auch allen folgenden die Gewährsperson für den Osterglauben, sowohl in seiner geschichtlichen wie in seiner geistlichen Bedeutung.
Während bei den Synoptikern das Vertrautwerden mit dem Mysterium der Auferstehung den Frauen gemeinsam ist, hat das Johannesevangelium Maria von Magdala allein berücksichtigt und dadurch zum Zeichen einer christlichen Gnosis werden lassen, eines Tiefgangs im Glauben, der imstande ist, den bleibenden Sinn dessen zu erfassen, was eben erst durch Christus möglich wurde: die heilvolle Umwandlung zu einem todesjenseitigen, leibhaftigen Sein in der Nähe Gottes des Vaters. Man sieht also, mit welcher Dignität das Zeugnisgeben der Jüngerin Maria von Magdala im Neuen Testament beschwert ist.

c) Die Magdalenengestalt als Zeichen für die Kirche

Die christliche Tradition hat die große Bedeutung Maria Magdalenas, ob als biblische Gestalt oder als Typ verstanden, von Anfang an zu würdigen gewußt. Sie wurde als Vorbild für die Kirche hingestellt. Damit übernimmt sie aber auch eine Zeichenfunktion für das christliche Glaubensleben überhaupt. Was unter dieser doppelten Typik zu verstehen ist, wollen wir uns an den Darlegungen des heiligen Augustinus in seinen Traktaten zum Johannesevangelium klarmachen. Er geht aus von dem Geheimnis, das in den Worten »Noli me tangere« beschlossen liegen muß, und kommt von da sowohl zur ekklesiologischen wie zur individuellmystischen Deutung:

  • »Es bleibt also bestehen, daß in diesen Worten irgendein Geheimnis verborgen ist. Ob wir es nun finden oder ob wir es ganz und gar nicht finden können, daß es darin liegt, dürfen wir keineswegs bezweifeln. Es ist also wohl gesagt worden: ßerühre mich nicht, denn ich bin noch nicht zu meinem Vater aufgefahren, damit in jener Frau die Heidenkirche verbildlicht werde, die nicht an Christus glaubte, bevor er zum Vater aufgefahren war. Oder aber Jesus wollte, daß so an ihn geglaubt werde, das heißt, daß er so auf geistliche Weise berührt werde, wie er und der Vater eins sind. Denn in den inneren Sinnen desjenigen Menschen steigt er gleichsam zum Vater auf, der so in ihm fortgeschritten ist, daß er ihn als dem Vater wesensgleich erkennt. Auf andere Weise kann er nicht rechtmäßig berührt werden, das heißt kann nicht rechtmäßig an ihn geglaubt werden. Wahrscheinlich aber glaubte Maria noch so, daß sie ihn für dem Vater wesensungleich hielt... Wie sollte denn nicht bis dahin ihr Glaube an ihn fleischlich sein, den sie wie einen Menschen beweinte?«[4]

Diese beiden Deutungen, die Augustinus dem Wort des Auferstandenen an Maria von Magdala unterlegt, schließen einander nicht aus. Sie zeigen, daß die Gestalt der Maria von Magdala als Typ für die Kirche wie für die gläubige Verinnerlichung der Heilsbotschaft sinnvoll ist. Sofern Augustinus das Wort Christi vom Aufstieg zum Vater in seiner wörtlichen Bedeutung versteht, kommt er zur ekklesiologischen Erklärung. Wegen ihres inneren Wandels vom Nicht verstehen zum Verstehen, den Maria von Magdala bei der Auferstehung durchmacht, ist sie geeignet zur Versinnbildlichung der bei Augustinus wie bei Paulus so ernst genommenen Kirche aus der Heidenwelt, die aus dem Nichtglauben an Christus zum Glauben kommt.
Die andere Deutung des heiligen Augustinus kann man als eine dogmatische Weiterführung der johan-neischen Theologie begreifen. Sie gehört auf die Ebene seiner christlichen Gnosis, sofern sie am Wort der Heiligen Schrift in die Tiefenschicht des Glaubens eindringt. Der Aufstieg zum Vater ist hierbei nicht auf das äußere Ereignis der Himmelfahrt Christi bezogen, sondern auf das innermenschliche Geschehen im Glaubenden, der wie Maria Magdalena schon vorher ein Glaubender ist, aber noch nicht den Kern des Glaubens erreicht hat. Sobald diese Tiefenschicht sich erschließt, also eine immer wesentlichere Berührung mit Christus zustande kommt, steigt er im Innern des Menschen zum Vater auf. Auch hier geht es also um eine Umwandlung, aber nicht um die vom Nichtglauben zum Glauben, vielmehr um die vom »carnaliter credere« zum »spiritualiter credere«, vom fleischlichen zum pneumatischen Glauben.
Der Glaube selbst wandelt sich zu einer immer innerlicher werdenden Erkenntnis Christi, was Augustinus mit dem Aufstieg zum Vater im Innern des Menschen ausdrücken will. Aus dem Wesensungleichen wird Christus im Menschen der dem Vater Wesensgleiche, wie er es, metaphysisch gesehen, schon immer war. Die Magdalenengestalt, an der dies erstmalig deutlich geworden ist, wird so zum Inbegriff des christlichen Glaubenslebens.
Aus der großen Gruppe von Zeugen für die ekklesiologische Typik der Maria Magdalena sei im Frühmittelalter noch auf Rupert von Deutz hingewiesen, der ihre Zeichenfunktion aber nicht auf die Heidenkirche einschränkt, sondern für die Kirche allgemein gelten läßt. Bei ihm ist infolge der Identifizierung Maria Magdalenas mit den anderen neutestamentlichen Frauengestalten ihr früheres Sündigsein der Anlaß für die Versinnbildlichung der Heidenkirche. So wie sie zuerst der Sünde lebte, befand sich die Kirche aus der Heidenwelt vor ihrer Berufung in einer als Sündigkeit begriffenen Gottesferne.
Aber auch für Rupert von Deutz ist das Auferstehungsgeschehen bei der ekklesiologischen Typik Maria Magdalenas ausschlaggebend. Es macht sie zur Künderin des neuen Lebens, als welche sie erstmalig zu den Aposteln ging, die Kirche aber bis zum Ende der Zeiten missionarisch durch die Jahrhunderte geht:

  • »Maria Magdalena aber ging und verkündete den Aposteln, daß sie den Herrn gesehen und was er ihr gesagt habe. Und bis heute, ja bis zum Ende der Zeiten, hat die Kirche, die in Magdalena vorausging, nicht aufgehört, gleichnisweise zu kommen in der ersten Auferstehung, der des Geistes, und die zweite Auferstehung, die des Leibes, den Nichtwissenden zu verkünden. Aber die meisten glauben nicht, sondern spotten, wie auch damals die Worte der verkündigenden Maria... den Aposteln als Wahnwitz erschienen.«[5]

Die Zeugnisse der christlichen Tradition über die Magdalenengestalt finden ihren Höhepunkt und ihre weiteste Verbreitung in den mittelalterlichen Osterfeiern und Osterspielen. Hier erscheint Maria Magdalena sowohl als Zeugin des Auferstehungsgeheimnisses wie auch als Vorbild des christlichen Osterglaubens. Vor allem in den frühen Osterspielen hat sie, allmählich aus den zum Grabe eilenden Frauen als Einzelperson hervortretend, die entscheidende Rolle übernommen, das Ostergespräch mit Christus und die Botschaft an die Apostel.
Die Texte sind noch ganz geformt von der Knappheit und Objektivität des biblischen Wortlautes, aber auch von der gehobenen Sprache der Liturgie. In diesen Osterspielen ist der biblische Bericht unter Einwirkung der Ostersequenz zum Dialog aufgegliedert, die Gestalten treten im Chor der Kirche auf, so daß das Oster-geschehen durch die Darstellung im heiligen Raum den Menschen in seiner ganzen Plastizität vor Augen geführt wird. Ein solcher früher Text aus dem Prager Osterspiel sei mit deutscher Übersetzung hier eingefügt. Er verdeutlicht, daß Maria Magdalena in der Tat die österliche Maria ist: Weinend am Grab, ist sie ihrer letzten Ruhe beraubt, weil der Leichnam ihres Meisters fort ist; die Begegnung mit ihm lenkt aus der Auferstehungsdistanz zum Innewerden des Osterglaubens, von dem sie Zeugnis ablegen soll. So weit folgt das Spiel dem Text des Johannesevangeliums, während dann die Handlung mit den Worten der Ostersequenz weitergetragen wird, indem Maria Magdalena als das glaubensstarke Zeichen für alle Christen erscheint. Von ihr ist die Wahrheit über die Auferstehung zu erfahren, ihr ist zu glauben.

Chor
Maria stabat ad monumentum foris plorans,
dum ergo fleret, inclinavit se
et prospexit in monumentum.
Maria stand greinend draußen am Grab,
da sie so weinte, beugte sie sich vor
und blickte ins Grab hinein.

Maria
Tulerunt dominum meum
et nescio, ubi posuerunt eum.
Man hat fortgetragen meinen Herrn,
und ich weiß nicht, wo er nun liegt.

Jesus
Mulier, quid ploras?
quem quaeris?
Frau, was greinest du?
Suchst du wen?

Maria
Domine, si tu sustulisti eum,
die mihi, ubi posuisti eum,
et ego eum tollam.
Herr, wenn du ihn fortgenommen hast,
sage mir, wohin du ihn gelegt,
daß ich ihn hole.

Jesus
Maria!

Maria
Rabboni!

Jesus
Noli me tangere, Maria!
Vade autem ad fratres meos et die eis,
ascendo ad patrem meum et patrem vestrum,
deum meum et deum vestrum.
Greife nicht nach mir, Maria!
Gehe aber zu meinen Brüdern und sage ihnen,
ich schreite zu meinem Vater und eurem Vater,
zu meinem Gott und eurem Gott.

Sängerin
Venit Maria annuntians diseipulis,
quia vidi dominum.
Maria ist zu den Jüngern gegangen, verkündet,
daß sie den Herrn gesehen hat.
Die nobis, Maria!
quid vidisti in via?
Sage uns, Maria,
was hast du auf dem Wege gesehen?

Maria

Sepulcrum Christi viventis
et gloriam vidi resurgentis.
Das Grab des lebenden Christus
und die Glorie des Auferstandenen habe ich gesehen.
Angelicos testes,
sudarium et v est es.
Engelstarke Zeugen,
Schweißtuch und Linnen.
Surrexit Christus, spes mea,
praecedet suos in Galilaeam.
Auferstanden ist Christus, meine Hoffnung,
er geht den Seinen voraus nach Galiläa.

Chor

Credendum est magis soll
Mariae veraci
quam ludaeorum turbae fallaci.
Mehr zu glauben ist
der wahrhaftigen Maria allein
als der trügerischen Masse der Juden.
Seimus Christum surrexisse
a mortuis vere,
tu nobis, victor rex, misererel
Wir wissen, daß Christus in Wahrheit
von den Toten auferstanden ist.
Hab Erbarmen, Königssieger, mit uns![6]

Diese besondere Stellung Maria Magdalenas in den liturgisch geprägten frühen Osterspielen, aber auch noch in den späteren, stärker volkshaften, kann ihr nur zukommen, weil an ihr die österlich glaubende Kirche aufleuchtet. Ihre Einzelperson ist so sinnträchtig, daß sich daran eine Vorbildhaftigkeit für das christliche Leben ausspricht.
Wie bei allen wegweisenden Menschen, deren Wesen sich aus einer einmaligen Erfahrung geklärt hat, allgemein menschliche Lebensformen sichtbar werden, die wieder je individuell mit neuen Möglichkeitskreisen gelebt werden können, so gilt dies besonders für Maria von Magdala. An ihr wird deutlich, wie die Frau im Glauben ihre Jüngerschaft verwirklichen und aus dem Christusgeheimnis leben kann. Wenn man in der Tradition Maria von Magdala aufgrund der Identifizierung mit der Sünderin bei Lukas 7 die großen Möglichkeiten eines von der Sünde bekehrten Menschen erblickt hat, so braucht dieser Sinn nicht verlorenzugehen, weil es dafür genügend andere Zeugnisse im Neuen Testament gibt. Auch die Salbungserzählungen in ihrer Bedeutung für Dienst und religiöse Hingabe der Frau sprechen für sich. Durch die Rückgewinnung der historischen Gestalt Marias von Magdala bekommt aber das sein volles Gewicht, was heute so not tut: den Sinn der eigenen Jüngerschaft in der gesamten Jüngerschaft der Kirche zu erkennen.
Der Auftrag der Frau, wie ihn die Bibel zeigt, gründet sich nirgends auf eine rein natürliche Ordnung. Ihr Leben spielt sich bei ihrem ganzen naturgegebenen und naturverhafteten Wesen immer schon unter einem höheren Anspruch ab. Im Alten Testament enthüllt er sich in der heilsgeschichtlichen Kraft Gottes, im Neuen Testament in der Verinnerlichung der Christusexistenz. Diese besagt, daß das eigene Leben auf den Weg kommt zum lehrenden Meister, daß es sich von seinem Wort her korrigiert und vertieft, daß der gläubige Mensch durch das Innewerden des Todes Christi, der das Todesgesetz der ganzen Welt bloßlegt, ein Überdauern im Mysterium Gottes erreicht und daß die Auferstehungsverwandlung sein nicht mehr zerstörbarer geistiger Ort wird.
Die personalen Strukturen, die dabei frei werden, kann man beschreiben als ein Vorweggenommensein alles Kommenden, ein Aufgefangenwerden aus absoluter Tiefe, eine Geborgenheit in jeglicher Heilsunruhe und ein Zurückgegebensein an diese Welt. So gibt es in der Fülle der Christusexistenz Raum für die speziellen Ausprägungen und Eigenarten des weiblichen Wesens, wenngleich es letztlich unerheblich ist, ob Mann, Frau oder Kind sie lebt. Ein weniges davon erlangt zu haben, bedeutet eine über alle irdischen Erwartungen hinausgehende Erfüllung.