Haarschnitt ist noch nicht Freiheit

  1. Wenn ich mich frage, wie ich mir die Frau von morgen wünsche, bewegt mich zunächst eine geheimnisvoll Furcht. Die Furcht mehr sichtbar zu machen als gut ist. Das Wort "Die Hälfte" taucht plötzlich auf; in seinem nicht mehr witzbIattflachen, sondern allerschwierigsten Sinn als Hälfte des Lebens, als Hälfte der Welt... Und um diesen Ernst zu verjagen, läßt noch einmal die Nichtigkeit, die zeitweise in uns allen lebt, das Karussel der Wünsche los: da fliegen Hetären und Amazonen, Strumpfwirkerinnen und Pallas-Athenen, weibliche Kauffahrer, Wirtschafterinnen, manikürte Bildnisse, gartenstille Einsiedlerinnen, und Zaghafte im Kreis... Dann Gongschlag und Stille. Fort damit!
     
  2. Eines ist sicher: Die Frau von morgen wird der Frau von heute ähneln. Sie wird kein Gegentypus sein. Zumindest kein Rückschlag ins Gestrige. Der Mann hörte auf, sie zu ernähren; zog in den Krieg; zerschlug die Kultur. Kein Mann kann heute den Rücktritt der Frau ins Gestern fordern. Käme heute Montesquieus märchenhafter Perser daher: das erste, was er an Frauen sähe, wäre ihre veränderte Haartracht. Und er würde aus diesem Faktum, das schon von weitem sichtbar ist und doch nichts Peripherisches hat, das Symbol lesen, das ihm gebührt. Das lange Haar der Frau, beim Raub oder bei der Liebkosung um die Faust des Mannes geschlungen, war zweitausend Jahre hindurch nicht nur das Sinnbild der Sklaverei, sondern sogar ein Wesensbestandleil. Es fiel; und es fiel nicht nur ein Bestandteil, sondern das Sinnbild der Fesselung. Aber es ist zu stark gefallen. Es ist fast bis zur Wurzel gefallen. Die Frauen tragen heute nicht nur Jünglingsköpfe auf ihren Schultern: sie bekamen sogar den Etonschnitt, die häßliche Millimeterfrisur. Und das zweite, was Montesquieus Perser bei seinem Daherkommen merken würde, wäre: die Frau, die eben die Insignien der weiblichen Sklaverei ablegte, nahm freiwillig mit dem geschorenen Haar das Zeichen der männlichen Sklaverei auf. Beim Mann galt einstmals das lange Haar als Zeichen des Freien. Die Edelinge der alten Zeit trugen das Haar lang und gelockt; nur Sklaven mußten sich scheren lassen. Auch die heutigen Unfreien: der Soldat, der Offizier, der Beamte, der Kaufmann, der reine Sachmensch scheren ihr Haar und tragen es kurz. Man schämt sich seines langen Haars als eines unsachlichen Überflusses. Diese Furcht vor der Unsachlichkeit ist die heutige Sklaverei des Mannes. Dieses Nichtzeithaben für Überfluß, diese armselige Verknappung sind die Halfter des heutigen Mannes. Montesquieus Perser, aufgefordert, aus dem ersten Anblick der Frau über ihr Wesen zu weissagen, würde befinden: Die Haartracht der heutigen Frau beweist, daß sie das Joch des Frauseins nur abgestreift hat, um das Joch des Mannseins zu tragen.
     
  3. Groß steht die heutige Frau auf dem Wall ihrer Freiheit Gemauert ist ihre Position. Es sind Forts, aus denen keine Umwälzung, keine Revolution, kein Angriff sie vertreiben kann und darf. Ein Leben in männlicher Weltordnung, undenkbar noch vor fünfzig Jahren, ist von ihr erobert worden; ein Leben in männlicher Rechtsordnung, Sittenordnung und Wirtschaftsordnung. Ihre vieltausendjährige Schmach: nur zur Lust aufgesucht zu werden; die Erniedrigung: daß ihr im männlichen Stundenkreis nicht der zehnte Teil des Tages gehörte, sie sind getilgt. Die Frau ist heute Mitbesitzer der Öffentlichkeit und der Gesellschaft: sie ist als Wählerin Subjekt geworden und nicht nur ein Objekt des Staates. Kaum ein Beruf blieb ihr verschlossen: und die Vielfalt der Berufe ist längst auf sie zurückgespiegelt. Ein Regenbogen von Tätigkeiten hat ihre Seele imprägniert. Nur ein Schwächling erträgt es nicht: daß heute die Seele jeder Frau eine deutliche Beimischung hat von Chemikerin oder Prokuristin, Sängerin oder Photographin, Juristin, Volkswirtin oder Ärztin. Und doch, wenn wir der Frau von morgen gedenken, so ist es an der Zeit zu erkennen: Mit der Frau von heute stimmt etwas nicht! Sie hat sich ein männliches Leben erobert. Sie ist stolz auf ihr Leben, wie Männer stolz sind. Aber - was ist eigentlich schon ein Mann? Was ist vor allem der heutige Mann mit seinem lächerlichen Spezialstolz: als Leiter einer Aktiengesellschaft, als Sieger bei einem Autorennen, als Tribun, als technischer Erfinder?
     
  4. So weit nach vorne, wie sie gelangt sind, konnte der Angriff der Frauen nur fahren, weil sie eine unfromme Lüge zur Radnabe ihres Streitwagens machten. Eine demagogische Lüge. Eine nützliche Unwahrheit - der Mann aber war nicht mehr Mannes genug (eigentlich: nicht mehr Geistes genug), um diese Lüge zu widerlegen. Es ist nämlich eigentlich nicht wahr, daß durch Tausende Jahre der Mann die Frau zwecks Lustgewinn aufgesucht hat. Wenn es aber doch wahr sein sollte, so war zu fragen: Was ist Lust? Dieser plötzlich! - verleumdeten Lust entsprangen ja Kinder oder Werke. Diesem zehnten Teil des Tages (als oh es hier auf Raum ankäme und nicht etwa auf Intensität!) entsprang entweder die Fortsetzung der Familie oder die Fortsetzung der Welt. war der wichtigste Teil des Tages! Es entspricht nicht nicht der vollen Wahrheit, daß unter dem früheren Sittensystem die Frau versklavt gewesen Sie lebte in einer andern Welt. Sie war dem Manne nicht gleichberechtigt; doch kann daraus nicht gefolgert werden, daß sie unterberechtigt war. Sie besaß nur darum nicht Männerrechte, weil sie nicht Männerbedürfnisse hatte. Zwischen Männern und Frauen bestand bis vor kurzem ein Unterschied, der tiefer war als Rechts- und soziale Unterschiede. Es war ein Wesensunterschied. Ein Unterschied etwa wie der zwischen Klerikern und Laien. Auch von diesen kann niemand sagen, wessen Leben bevorzugter, angenehmer und leichter war. Es ist kindisch (und sehr gefährlich!) das europäische Mittelalter, das bis zum Jahr 1800 reichte, als ein Zeitalter der Domination des Mannes über die Frau zu schmähen. Die Verschiedenheit der Geschlechtsmerkmale die scharfe Trennung in Kleidern und Sitten und die durch sie bedingte Spannung gab der fraulichen Frau Gewalten, die sich heute kaum träumen lassen. Die Frau besaß damals keine männlichen Rechte. Indem sie - in einer Zeit männlicher Ungeistigkeit vorstürmend - sich diese Rechte zu holen begann, gab sie ein großes Machtmittel auf: den Mann als Frau zu beherrschen.
     
  5. Aber vielleicht sind heute Rechte um einiges wichtiger als Mächte. Es geht nicht: in der Gesamtkultur das Wesen der Macht anzuzweifeln und der Frau den alten Gebrauch illegitimer Macht zu empfehlen. Nichts läßt sich ja zurückdrehen. Das Leben der Frau, wie sie heute lebt, ist wirtschaftliche Tatsache; unstürzbar, unabänderbar. Männliche Bedürfnisse spürend, erwarb die Frau die Rechte des Mannes. Die Frau von morgen wird sie nicht hergeben. Sie soll es auch nicht. Doch soll sie einsehen, daß ihre Schwester, die heutige Frau, mit ihrem Sturm in die männliche Sphäre, mit ihrem Teilsieg über den Mann, der nur eine Wegnahme männlicher Waffen war, die Kulturkatastrophe nirgends verhinderte. Es nimmt vielmehr die heutige Frau an diesem Untergang der Kultur unablässigen, gründlichen Anteil. Dem Grafen Hermann Keyserling verdanken wir das Nachkriegsbild der jetzt in Blüte stehenden Menschheit. Ein schaurig elegantes Bild: es ist der Chauffeur in der Lederjacke. Zusammengewachsen mit seinem Wagen; kein Handgriff, der nicht dem Steuerrad, dem Hebel, dem Tank, der Zündung gälte. Sportlich, zielklar, durchaus gesund; den alten Schwindel "in corpore sano" pflanzt er mit ausgezeichnet fort. (Ein alter Schwindel, in der Tat! Denn niemals haben die Alten geglaubt, daß in quocunque corpore sano eine "mens sana" weilen müsse - sie glaubten vielmehr umgekehrt, daß ein gesunder Geist es sei, der schließlich den Körper gesund erzwänge.) Dieser Chauffeur führt keinen Ballast, und das eben ist das Grauenhafte. Um Dome zu bauen und Lieder zu setzen, mußte man einstmals Mehrgewicht fahren. Kultur ist wenn aber Seele offiziell als Ballast erklärt wird , so weiß die Welt, woran sie ist. Nur eines - und wie beängstigend ist das! - weiß der scheinbar so zielklare Mensch vorne auf dem Führersitz nicht: daß die Natur ihn so "praktisch" machte, weil seine Vernichtung anstrebt, weil sie ihn, der geblendet ist vom Scheuleder seiner Tüchtigkeit, in den nächsten Krieg schicken will. Und neben diesen unfreien Menschen, diesen vom Dämon der Praxis gejagten, ungesund gesunden Chauffeur sehen wir die Chauffeuse steigen?
     
  6. Es ist noch Zeit. Es ist nicht zu spät. Noch immer kann die Frau die Kultur neu aussäen. Noch immer kann sie sich aus der männlichen Welt entfernen, dem Manne unendliche Sehnsucht erregen und seine heillose Klarheit trüben. Sich aus der männlichen Welt entfernen? Aber sie soll nichts aufgeben, was ihr nach der Wirtschaftsordnung und nach der Rechtsordnung gehört. Sie soll nur, wenn sie die Frau von morgen sein will, die wir als Retterin wünschen einen kleinen taktischen Schritt seitwärts des Errungenen machen: einsehen, daß sie das Technische ihrer Erfolge überschätzt. Sie soll durch diesen taktischen Schritt nur den sehr fruchtbaren Zweifel bekunden am Werk der Zivilisation, sie soll mit einem plötzlichen Lächeln einen von Spannung erfüllten Raum zwischen sich und den Mann legen. Denn der Mann muß aufs neue ahnen, daß die Frau, die im Betrieb neben ihm auf dem Schemel sitzt, Verwalterin von Geheimnissen ist, die kein Automobil erjagt: weil diese Geheimnisse so schnell, doch auch so schwer wie der Erdball sind.

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