3. Die große Königin

Seit Lamartine und seinem poetischen Fund des »Char vaporeux de la reine des ombres» (des >Nebelgefährts der Königin der Schatten<) wurde der Wahl von Benennungen der femme divine, der göttlichen Frau nie mehr besondere Sorgfalt gewidmet: es muß einmal in aller Deutlichkeit gesagt werden, daß die zu ihrer Benennung verwendeten Terminologien häufig zu derart abgegriffenen Klischees degenerierten, daß sie höchstens noch in der Raritätenkabinetten der Banalität unsere Aufmerksamkeit erregen können. Das ist ein ebenso großes Unrecht wie die Tatsache, daß man sich nie eingehender mit den »Mariengebeten» beschäftigt hat, die zwar jahrhundertelang unbekümmert in gewähltem Latein ausgestreut wurden, aber außerhalb der Tiefen des Unbewußten der Gläubigen kaum auf größere Resonanz gestoßen sind. Obwohl sie doch einen Teil des katholischen Ritus bilden, sind die »Mariengebete» oder zumindest das, was davon noch übrig ist, nichts anderes als die Transposition einer tiefen Grundwahrheit in poetische Symbole, einer Grundwahrheit, die tief in der Volksseele verwurzelt ist — und dies trotz allen Verboten und den im Falle ihrer Übertretung angedrohten Strafen. Wenn die paternalistische Gesellschaft auch die Mutter-Göttin abgeschafft und — bisweilen nicht ohne Gewalt - durch einen Vater-Gott ersetzt hat, der so militant wie eifersüchtig seine Vormachtstellung verteidigt, so wurde sie von der >Mentalität< des Volkes doch in Gestalt der Mutter Gottes und der Menschen wieder neu erschaffen; sie wird stets im Gebet um Hilfe gerufen, sie ist allgegenwärtig und stets siegreich. Die offizielle, >orthodoxe< Kirche mußte wohl oder übel diese Bewegung mitmachen, wobei sie aber ständig versuchte, die Idee dieser Figur nach Möglichkeit ihres Inhalts dadurch zu berauben, daß sie aus der Gottesmutter-Gestalt ein geschlechtsloses und eben »jungfräuliches» Wesen machte, sodaß das einzig Weibliche ihres Charakters schließlich nur noch der Aspekt der bewundernswerten Mutter und der hingebungsvollen Sklavin ihres Sohnes blieb. So hatte es die christliche Gesellschaft des Mittelalters, die Erbin des Römischen Reiches, gewollt. Die Rekuperation des uralten Mythos von der Muttergöttin geschah im Rahmen einer psychologischen Aktion, deren Absicht es war, die spirituellen und psychischen Kräfte von ihrem ursprünglichen Ziel abzulenken, um aus ihnen ein gefügiges Instrument zur Beherrschung der Gläubigen durch die Besitzenden zu machen, und diese waren die Kleriker und Adeligen, die in der Regel vollkommene Atheisten waren, aber dennoch großes Interesse daran hatten, Hienieden im Jammertal dieser Welt» zu ihrem eigenen Vorteil das Paradies zu >verwalten<,das sie den anderen in Aussicht stellten, vorausgesetzt, daß diese treu und gehorsam waren und nicht zuviele Fragen stellten.
Der Marien-Kult barg in sich nämlich sowohl auf spiritueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene durchaus revolutionäre Keime: zunächst war er ein natürlicher und instinktiver Kult, nämlich ein Mutter-Kult. Ferner beruhte er auf der Anerkennung der Tatsache, daß die Menschheit zwar durch eine Frau (Eva) vernichtet worden war, daß es aber ebenfalls eine Frau (Maria) war, die für ihre Rettung sorgte. Dadurch erhielt die Frau wieder eine Stellung, die — wenn auch nur theoretisch — anerkannt wurde und außerdem ein Beweis dafür war, daß das, was als schädlich, verworfen und gefährlich unterdrückt wurde, eines Tages plötzlich wieder zum Ziel der Erlösung und Objekt der Verehrung werden konnte. Und schließlich stellte eine solche Auffassung die traditionelle Moralvorstellung vom absoluten Bösen und Guten in Frage, ja sie bedrohte sogar jenes Denkgebäude insgesamt, unter dem sich die Scholastik als monströse Erbin des engstirnigsten Aristotelismus und Manicheismus krümmte.
Diese Feststellung ist entscheidend, denn dadurch zeigt sich, daß zur Untersuchung der Göttin und ihrer einzelnen Gestalten auch alle mündlich und schriftlich überlieferten Traditionen herangezogen werden müssen, die sich am Rande bzw. außerhalb der offiziellen Glaubensströmung bewegen: diese Traditionen spiegeln nämlich nicht nur das unbewußte Denken der mit Fegefeuer und Scheiterhaufen terrorisierten Massen wieder, sondern sie bilden auch die einzige Brükke zu den weit zurückliegenden archaischen Zeiten. Wie ist zu erklären, daß seit dem XIII. und besonders seit dem XIV. Jahrhundert derart viele spektakuläre Werke entstanden, die der Maria die verschiedensten »Wunder» zuschreiben? Weshalb zeigen uns diese berühmten »Wunder» eine Jungfrau Maria, die dem Satan den Pakt entreißt, durch welchen z.B. der Klerikus Theophilos an ihn gekettet ist, - oder die an den Platz einer Nonne, die aus ihrem Kloster geflohen war, um das Leben einer Prostituierten zu führen, so perfekt einnimmt, daß man deren Flucht noch garnicht bemerkt hatte, als sie sich wieder entschloß, in den Schoß der Kirche zurückzukehren? Offensichtlich gewährt die barmherzige Jungfrau auch solchen Menschen ihren Schutz, die ihn im Prinzip nicht verdient haben. Da stellt sich die Frage, ob darin nun eine Illustration der Barmherzigkeit und Gnade zu sehen ist oder eher eine Transposition der unbewußten Sehnsüchte einer Bevölkerung, die von der Inquisition mit der Idee der Allmächtigkeit des männlichen Gottes und Rächers sowie mit seinem politischen Abbild, dem König, ständig unter Druck gehalten wurde. Diese Fragen lassen sich im Grunde in einer einzigen zusammenfassen: gibt es vielleicht immer noch eine gütige und freundliche Mutter-Göttin, die Göttin, die ihren Sohn anfleht, sich tolerant zu zeigen, die Göttin, die gegen die Tyrannis ihres göttlichen Gemahls revoltiert, dessen Reinkarnation sein Sohn ist?
Wie wir schon vielfach feststellen konnten, reicht das Bild dieser Göttin bis in älteste Zeiten zurück. Im eigentlich keltischen Bereich beweist die nachgerade unüberschaubare Zahl von Plastiken aus gallo-römischer Zeit, die Mutter-Figuren, genauer gesagt, matres und matronae darstellen, daß die Verehrung der MutterGöttin bei den Galliern stets in hohen Ehren stand. Eine dieser Darstellungen, die angeblich von den Druiden verehrt wurde, befand sich in einem unterirdischen Heiligtum an der Stelle der späteren Kathedrale von Chartres, und aus dieser sogenannten virgo paritura wurde in der Folgezeit als >Notre-Dame SousTerre< (= >Unterirdische Notre-Dame<) ein Objekt der Anbetung für christliche Pilger. Und wenn in der Phantasie die Funktion dieser Statue von Chartres auch erheblich ausgeschmückt wurde, so bleibt es dennoch unbestreitbare Tatsache, daß die Gallier die göttliche Mutter unter den verschiedensten Namen in gleicher Weise verehrten, wie sie die Christen heute noch als >Madonna<, >Unsere Liebe Frau< bzw. >Notre-Dame< verehren.[1] Ein gallisches Dokument, das als eines der wenigen Texte in gallischer Sprache, die wir überhaupt besitzen, unschätzbaren Wert hat, besteht aus zwei Invokationen der Mutter-Göttin. Es dürfte von Interesse sein, diesen Text hier einmal vollständig zu zitieren, da er einerseits ein archäologisches Kuriosum darstellt, und weil man andererseits meinen könnte, ein katholisches Gebet vor sich zu haben, das den aufschlußreichen »Mariengebeten» nicht unähnlich ist:

»Um der Liebe des immerwährenden Geistes willen, sei, 0 Caticatona, Deinen Dienern eine Woge, eine mächtige Woge, denn Deine Diener loben und preisen Dich. Sei (ihnen) gnädig, 0 Dibonna, bezaubernde Göttin. Mit diesem (Gebet), mit diesem (Gebet), O Reine und Jauchzende, betet Dich, Ewige Tochter, Sucio an, ihre Dienerin Pontidunna, Tochter des Vousos.» »Zum Wohl! Heute neigen wir uns im Gebet Dir zu, neigen uns Dir zu mit dieser teuren Gabe. Du hast uns geliebt: darauf trinken wir aus Deinem eigenen Brunnen. Täglich neigen wir uns Dir zu, Dich zu ehren, in der Mitte des Tages. Zum Wohl! Wir bitten Dich mit dieser Gabe, Imona, zeige Deinen Dienern Deine Gnade bald.»[2]

Wenn das Volk die Göttin in Gebeten verehrte, dann muß es auch verschiedene Geschichten von der Mutter-Göttin gegeben haben. Denn noch nie wurde von einem Kult gehört, der sich nicht auf irgendeine mythische Erzählung gestützt hätte, selbst in den am meisten historisierenden Epochen der Zivilisation nicht. Diese Göttin, die Mutter und Jungfrau (virgo) zugleich ist, hat ihre eigene Geschichte, die im gallischen Boden, besonders im Poitou — der Gegend, aus der die beiden Gebete stammen - tief verwurzelt ist: Es handelt sich um die Sage von der Melusine.
Wiederholt wurde der Versuch unternommen, diese Melusine zu einer rein historischen Figur zu machen, indem man aus ihr eine »Skythin», d.h. eine Mittel- und Osteuropäerin machte, die Raymond de Lusignan, einen Grafen von Poitou geheiratet haben soll. Ein gewisser Jehan d'Arras soll dann gegen Ende des XIV. Jahrhunderts in einem seitdem vielzitierten literarischen Werk aus der historischen und nicht-christlichen Fiau eine Fee, eine sagenumwobene Gründerin von Klöstern und Kirchen, sowie eine regionale Wohltäterin des Poitou gemacht und damit dem Haus Lusignan den Adelsbrief erstellt haben, indem er seinen Ursprung auf ein göttliches oder feenhaftes Wesen zurückgehen ließ. Es versteht sich von selbst, daß eine solche historisierende Deutung einer eingehenden Prüfung nicht standhält. Jehan d'Arras hat zwar tatsächlich etwa um 1380 einen Roman de Melusine zur Glorifizierung der Familie seiner Gönner, der Comptes d'Auvergne und des Duc de Berry, verfaßt, nur war mit Sicherheit nicht er der Erfinder der Melusine-Figur und auch nicht ihres Namens, welcher nach Ansicht mancher Forscher das Anagramm des Namens Lusignan gewesen sein soll. Die Figur der Melusine ist viel zu komplex, als daß sie die Erfindung eines einzelnen Dichters hätte sein können: sie entspringt nämlich einem Legendenund Sagenfundus, der sich im Poitou besonders lange halten konnte. Melusine ist eine Fee, die sich mit keiner anderen lokalen Fee irgendeiner französischen Provinz vergleichen läßt: sie ist halb Frau, halb Schlange — und Rabelais, der über lokale Volksüberlieferungen stets gut unterrichtet ist, gibt in seinem Quart Livre (Kap. XXXIII) von ihr eine Beschreibung, die — wenn auch von seinem bizarren Humor durchsetzt — jedenfalls doch ihre ursprüngliche Gestalt hervorhebt:

»...Besucht Lousignan, Partenay, Vovant, Mervant und Pouzauges im Poitou. Dort findt Ihr Zeugen, gar alt an Renomme & aus bester Schmiede, welche Euch beim Ar..(m) von St. Rigome können schwörn, daß Mellusine, seine erste Gründerin, Weibeskörper hatte bis hinab zur Lieb-&-Lebensbörs<, und daß der Rest ab da schlangenhafte Kaidaunenwurst, — oder auch hanswurstige (Kaidaunen-) Schlange war. Nichtsdestotrotz hatt'sie einen ganz brav-gallanten Gang, den noch heut< die breton'schen Balladine in ihren trällerischen Treiertänzen imitieren.»[3]

Hier fällt der Vergleich des Gangs der Melusine mit dem Tanzschritt eines bretonischen Volkstanzes (trioriz im Original) auf, was ein Hinweis auf das zum Teil beachtliche Alter mancher dieser Tänze sein dürfte; das soll aber auf keinen Fall heißen, Rabelais hätte zu diesem Vergleich aus purem Zufall ein bretonisches Element herangezogen, denn die Melusine-Legende wimmelt geradezu von Bezügen zu Bretonischem. Rabelais setzt seine kuriose Dissertation über die Kaidaunenwurst (andouille im Orig.) mit einer Bemerkung fort, die in unserem Zusammenhang von großem Interesse ist:

»...Auch die scythische Nymphe Ora war ganz parallähnlich unterteilt in halb Frau und halb Kaidaunenwurst. Und doch schien sie dem Jupiter so lecker schön, daß er sogleich mit ihr ins Bett ging und von ihr einen schönen Knaben bekam mit Namen Colaxes.»

Hier finden wir von Rabelais, der ein begnadeter Bearbeiter von mündlich überlieferten Legenden ist, den Verweis auf das Land der Skythen. Tatsächlich ist Melusine in der Legendentradition bald eine Prinzessin aus dem Skythenland, bald eine Fee aus Schottland. Nun wird aber in der irischen Folklore aufgrund der fast gleichen Aussprache Scotia, d.h. Schottland, häufig mit Scythia verwechselt.[4] Das könnte die These stützen, daß diese Legende irischen Ursprungs ist, was auch deshalb naheliegt, weil einzelne Episoden des Roman de Melusine in Irland bzw. Schottland spielen, also in einem Land, das von aus Irland eingewanderten Galen besiedelt ist. Außerdem merkt Rabelais an, daß die Nymphe Ora, die eine Skythin ist, mit Jupiter ein Kind hat, was sie in den Rang einer Gemahlin des Gottes Jupiter, somit einer Mutter-Göttin hebt, wodurch sie mit Juno auf eine Stufe gestellt wird. Dies führt zu zwei Schlußfolgerungen: erstens ist Melusine-Ora demnach das folkloristische Bild der skythischen Diana, der SonnenGöttin Artemis, deren Kult sich bei der Ankunft der Indoeuropäer gleichzeitig mit dem Apollokult von Delphi und Delos über den gesamten Mittelmeerraum verbreitet hatte. Zweitens ist Melusine-Ora eines der Gesichter der Juno, genauer gesagt: derjenigen Juno, die man gelegentlich als >Böse Lucina<, die Mala Lucina bezeichnete, woraus sich dann der Name Melusine bildete. Man braucht also zur Deutung des Namens keineswegs weithergeholte bretonische Phantasie-Etymologien zu bemühen. Wenn Mala Lucina die >Böse Gebärerin< und die >Böse Mutter< ist, dann ist es in gewissem Sinn auch Melusine, wie die walisische Arianrod, die entsprechende Gottheit der insularen Kelten. Aber betrachten wir zunächst einmal die Legende selbst:

Die Geschichte der Melusine (Jean d'Arras):

Der Schottenkönig Elinas, der zum Witwer geworden ist, begegnet eines Tages an einer Quelle einer rätselhaften jungen Frau, der Pressine, die weder verraten will, wer sie ist, noch woher sie kommt. Schließlich heiratet sie Elinas, jedoch unter der Bedingung, daß er niemals versucht, weiteres über sie in Erfahrung zu bringen. Pressine bringt drei Kinder zur Welt: Melusine, Meliot und Palatine. Aber Elinas kann, von Neugier und Eifersucht getrieben, sein Versprechen nicht halten. Daraufhin verflucht ihn Pressine und schwört, daß ihre Nachkommen sie mit Hilfe ihrer Schwester, der Königin der >Verlorenen Insel<, rächen werden. Dann verschwindet sie zusammen mit ihren drei Töchtern und begibt sich auf die >Verlorene Insel'. Nach fünfzehn Jahren beschließt Melusine, ihre Mutter zu rächen, und nachdem sie ihre beiden Schwestern zur Teilnahme an der Rache überreden konnte, setzt sie unter Zuhilfenahme ihrer magischen Kräfte ihren Vater an einem unzugänglichen Ort des Gebirges von Brandebois gefangen. Pressine ist höchst erzürnt darüber, daß ihre Töchter sie gerächt haben, ohne sie selbst an der Rache teilnehmen zu lassen, und so spricht sie über ihre Töchter einen Fluch aus, ganz besonders aber über Melusine, die Anstifterin zu diesem Komplott. Meliot wird Gefangene in einem Schloß in Armenien, Palatine in besagtem Gebirge, wo sie nun mit ihrem Vater den Kerker teilt, — und Melusine soll jeden Samstag »von der Gürtellinie abwärts eine Schlange» werden. Wenn irgend jemand sie zur Frau nehmen will, darf er ihr Geheimnis natürlich nicht erfahren. Melusine verläßt die >Verlorene Insel< und gelangt in die Grafschaft Poitou. Dort trifft sie unweit einer Quelle auf Raimondin de Lusignan, rettet ihn aus einer verzweifelten Lage und heiratet ihn unter der Bedingung, daß er niemals versucht, herauszufinden, was sie an den Samstagen macht. Zehn Kinder entstehen aus dieser Verbindung, zehn kräftige Knaben, die jedoch mit seltsamen physischen Makeln behaftet sind: Urian z.B. hat ein Auge mitten auf der Wange, Geoffroy hat einen überlangen Eckzahn, daher sein Beiname Geoffroy >Riesenzahn<. Aber auch Melusines Gemahl läßt sich von Neugier und Eifersucht hinreißen, er wundert sich darüber, daß jede Abwesenheit der Melusine mit der ans Wunderbare grenzenden Entstehung eines Schlosses, eines Klosters oder einer Kirche zusammenfällt, und so macht sich Raimondin eines Tages auf und folgt seiner Frau in die Höhle, in die sie sich jeden Samstag zurückzieht. Dort entdeckt er Melusine, als sie gerade ihren Körper, dessen untere Hälfte einer Schlange gleicht, in einer Wanne aus grünem Marmor badet. Melusine bemerkt, daß sie überrascht worden ist, ergeht sich in Wut und Jammer, ihre Arme wachsen zu Flügeln aus, und schließlich erhebt sie sich unter einem letzten gräßlichen Schrei der Verzweiflung in die Lüfte. Ihr Sohn Geoffroy >Riesenzahn< wird später der Held außergewöhnlicher Abenteuer in der Bretagne und in Irland und bringt alle Ländereien seines Großvaters Elinas in seinen Besitz zurück.

Es sieht so aus, als wäre die Geschichte der Pressine ursprünglich die gleiche wie die der Melusine gewesen; es handelt sich hier um eine Doublette, durch die eine Legende nach Poitou verlagert werden konnte, die mit Sicherheit aus Irland stammte, die aber erst auf dem Boden des Poitou ihre ideale Wahlheimat fand. Die Herrscherin der >Verlorenen Insel<, Pressines Schwester, ähnelt in vieler Hinsicht der Fee Morgane, der Königin von Avalon, — auch dreht sich die ganze Legende um das Thema der Mutter-Göttin, die als einzige den Männern zu Wohlstand und Glück verhelfen kann, jedoch unter der ausdrücklichen Bedingung, daß die Männer sie nicht fragen, wer sie wirklich ist. Dieses Verbot unterscheidet sich kaum von dem Verbot Jahwes für die Hebräer, ihm jemals ins Gesicht zu sehen, da sie den direkten, totalen Anblick der Gottheit nicht ertragen würden. Demnach muß Melusine (oder Pressine) eine Primordial-Gottheit gewesen sein: sie hat noch die charakteristischen Merkmale der Gottheit, die ursprünglich weiblich war und erst später entschieden männlich wurde und die über die Entstehung und Organisation der Welt wachte. In genau diesem Verbot — das natürlich wie alle Verbote übertreten wird — ist der Nachweis für die Eigenschaft der Melusine als eine solche Göttin zu suchen. Ihr Name Mala Lucina ist ein weiterer Beweis, und der Umstand, daß sie zehn Söhne zur Welt bringt, die alle das Stigma eines übernatürlichen Wesens tragen, vervollständigt die Menge der Indizien, die uns veranlassen, in dieser heute der Folklore angehörenden Figur eines der ergreifendsten Bilder der Mutter-Göttin, der Primordialgöttin der gynäkokratischen Kulte zu sehen. Und so läßt sich die Gefangensetzung des Elinas durch seine Tochter Melusine als ein letztes Aufbegehren der Weiblichkeit gegen die neue, patriarchalisch gewordene Gesellschaft deuten.
Das Motiv des Verbots ist in zahlreichen Legenden und Sagen zu finden, in denen es um die Verbindung der Göttin mit einem Sterblichen geht. Ursprünglich war diese Beziehung zwischen der Göttin und dem Sterblichen für den Letzeren gefährlich, wie die alte Sage von Attis und Cybele zeigt: denn wurde Attis nicht deshalb mit Wahnsinn geschlagen, weil er die Göttin ohne Schleier gesehen hatte? Um das gleiche Thema geht es in der Geschichte von Venus und Adonis, Ischtar und Tammuz, Venus und Anchises, — und auch, wie wir noch im Zusammenhang eines anderen Aspekts der weiblichen Gottheit sehen werden, in dem sonderbaren Abenteuer des Fischer-Königs, des Gralshüters, der am >Schenkel< verwundet, d.h. mit Impotenz geschlagen wird. Aber in eben Fassungen der Legende, wo das eigentlich folkloristische Element gegenüber dem rein religiösen überwiegt, hat der Sterbliche keinerlei Verwundung zu befürchten, sondern lediglich das Verschwinden des Feen-Wesens im Falle der Übertretung des Verbots.

Die Sage von Llyn Fan (Wales):

Ein junger Mann, der gerade seine Herde am See von Fan weidet, entdeckt plötzlich auf dem Wasser eine wunderschöne Frau und ist sofort in sie verliebt. Nachdem er seine Hemmungen überwunden hat, kommt er schließlich mit ihr ins Gespräch. Die Prüfung, die ihm der Vater des Mädchens stellt, der wie sie unter dem Wasser des Sees wohnt, besteht er erfolgreich. Nun darf er die >Dame vom See< unter der Bedingung heiraten, daß er sie keine dreimal ohne Grund berührt; — und er wird unermeßlich reich, denn seine Frau bringt eine Herde von Wunderkühen mit in die Ehe. Jedoch nach einigen Jahren berührt er ohne besonderen Grund aus Versehen seine.Frau zum dritten Mal. Unter großem Wehklagen verschwindet sie auf nimmer Wiedersehn unter der Wasseroberfläche und nimmt auch ihre Herde mit. Nur einmal kehrt sie noch zurück, um ihre Söhne zu sehen und sie in die Geheimnisse der Medizin einzuweihen.[6]

Auch diese Sage ist das Resultat einer späteren Neulokalisierung eines wesentlich älteren Mythos. Die >Dame vorn See<, deren Namen man übrigens nicht erfährt, darf nie ohne Grund mehr als dreimal berührt werden: hier geht es wieder um das totale Sehen, denn zur Erkenntnis gelangt man nicht nur mit Hilfe der Augen und Ohren, sondern auch durch Berührung. Übrigens erinnert dieses Verbot im Zusammenhang mit der Melusine und der >Dame vom See< an die Sage von Orpheus, welcher Eurydice aus der Unterwelt zurückzuholen versucht: während ihres Aufenthalts in der Unterwelt hat Eurydice einen übernatürlichen und sogar göttlichen Charakter erhalten, sie kann also mit menschlichen Augen nicht mehr geschaut werden, zumindest nicht, solange sie die unheimliche Aura des Hades-Reiches ausstrahlt. So ist nämlich das dem Orpheus auferlegte Verbot zu verstehen, das ihm verbietet, sich nach ihr umzudrehen, solange sie beide noch nicht wieder die Grenzzone zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten überschritten haben, ein Verbot, das anders kaum einen Sinn ergeben würde.
Auf einer anderen Ebene, im Kontext des Amour Courtois, der höfischen Minne, ist die Dame (mhd. frouwe), die von den Troubadouren (und Minnesängern) meist als ewig unerreichbar besungen wird, so göttlich, so blendend und furchterregend schön, daß es ohne eine allmähliche Initiation, eine allmähliche Gewöhnung fast unmöglich ist, ihr direkt ins Gesicht zu sehen. Denn es ist in der Tat riskant, die Gottheit zu schauen, ohne darauf vorbereitet zu sein: dies ist ganz offensichtlich der Grund aller religiösen oder philosophischen Initiationen und hängt mit dem seit der Morgenröte der Zeit in der Menschheit wurzelnden Traum zusammen, das Unsichtbare zu sehen, das Unfaßbare zu fassen und das Unsagbare auszusprechen.
Die gleiche Idee liegt auch der Geschichte von Taliesin zugrunde, auf die wir weiter unten noch näher eingehen werden. Als Gwyon Bach, der von Keridwen beauftragte Hüter des magischen Kessels, aus Unachtsamkeit die drei verbotenen Tropfen trinkt, erhält er die totale Sicht auf die durch Keridwen personifizierte Gottheit. Durch diese Tat aber hat er ein fundamentales Tabu verletzt. Daher wird er von Keridwen bestraft: er wird von ihr verfolgt und schließlich verschlungen. Diese Bestrafung ist nichts anderes als die kulpabilisierende Übertragung der Nachwirkungen seiner Geburt in ein symbolisches Bild: Gwydon Bach kann den Anblick der unvollkommenen Welt nicht mehr ertragen und fühlt sich in gewissem Sinn in dieser Welt der Relativität im Exil, daher seine Verwandlungen in verschiedene Tiere und danach in ein Weizenkorn. Er muß eliminiert werden. Da er aber das vollkommene Bewußtsein hat, kann er nicht mehr wirklich sterben, sondern wird von Keridwen in Form eines Weizenkorns gefressen. Sie hat keine andere Wahl, als ihn zu absorbieren, was entfernt an die Verpflichtung des katholischen Priesters erinnert, der den Meßkelch sorgfältig zu reinigen hat und darauf achten muß, daß er auch nicht den kleinsten Rest der Hostie übersieht, der noch auf der Patene oder im Ciborium zurückgeblieben sein könnte. Denn wenn die Gottheit ihre Substanz verstreut, verliert sie ihre Kraft. Daher muß sie stets ihre totale Vollständigkeit bewahren und darf nie >in alle Winde verstreut< werden, was auch aus allen Legenden hervorgeht, die von zerteilten Göttern handeln, deren Glieder erst wieder zusammengesetzt werden müssen, damit die Welt wieder ihr einstiges Gesicht und ihr Gleichgewicht erhält, das sie vor der Katastrophe der Zergliederung hatte. Als sich Gwyon Bach versehentlich der Geheimnisse der Keridwen bemächtigt, die durch die drei Tropfen symbolisiert werden, erfolgt tatsächlich eine Katastrophe, welche der Geburt entspricht, die ebenfalls einen Riß bedeutet. Von diesem Augenblick an herrscht die Notwendigkeit, die verlorene Einheit wiederherzustellen, die Notwendigkeit der Rückkehr, und zwar zur Mutter - und auf diese Weise kommt es zu einer Wiedergeburt. Gwyon Bach, der der Gattung der Sterblichen nicht mehr richtiggehend angehört, stirbt nicht, sondern schwängert als Getreidekomseine eigene Mutter, — mit anderen Worten: er ist nun selbst Gott, Sohn und Vater zugleich — und kommt dann wieder als Sohn ein zweites Mal zur Welt, diesmal in der Gestalt des Barden Taliesin, der die Geheimnisse der Welt und der Gottheit kennt. Da wir später noch einmal darauf zurückkommen müssen, sei hier bereits auf das Verhalten der Keridwen hingewiesen, die nämlich ihr Kind im Stich läßt. Aber die Tatsache, daß sie es in einem Leder- bzw. Hautsack und auf dem Wasser aussetzt, bringt den eigentlichen Sinn des Mythos deutlich zum Ausdruck. Aufgrund dieser Merkmale gehört die Geschichte zum einen in die Reihe der zahlreichen Fälle von oraler Schwängerung, denen man in der keltischen Tradition begegnet, zum anderen ist sie dadurch all jenen Mythen der Kelten (und anderer Völker) zuzurechnen, in denen die Aussetzung eines Kindes im Meer, das Symbol der Geburt aus dem Fruchtwasser des Uterus, eine Rolle spielt: man denke an Moses, Romulus und Remus und viele andere[7] (besonders auch an Hartmann von Aues Gregorius; Anm. d. Hrsg.). Eine kuriose Heiligenlegende, die in die folkloristische Erzähltradition der Bretagne eingegangen ist, kombiniert auf höchst sonderbare Weise die Elemente des heidnischen Mythos mit christlichen Zielsetzungen. Sie handelt vom Leben eines jener zahllosen Heiligen, die ohne jemals offiziell heiliggesprochen worden zu sein, durch den bretonischen Kalender geistern:

Die Legende vom Hl. Connerin (Bretagne.)

Als Connerin (oder Conerin) noch ein Knabe ist, wird er eines Tages auf dem Weg zur Schule von bösen Leuten überfallen und verbrannt. Bald kommen zwei Landstreicher des Wegs und finden an der Stelle, wo er verbrannt wurde, in der Asche einen herrlichen Apfel, der nicht verkohlt ist. Sie nehmen den Apfel mit und schenken ihn einer Alten, die eine Tochter hat, und sagen: »Eure Tochter ist von einer schweren Krankheit bedroht (...) Sobald Ihr sie über Schmerzen klagen hört, gebt ihr diesen Apfel... Aber aufgepaßt! Gebt ihn ihr nur zu dieser vorgeschriebenen Zeit, wartet, bis Eure Tochter über Leibschmerzen klagt». Eines Tages kehrt die Tochter von der Arbeit heim und fühlt sich krank. Die Alte gibt ihr den Apfel zu essen, und bald schon zeigt sich, daß sie schwanger ist. Die Tochter wird mit Vorwürfen überschüttet, aber sie beteuert hartnäckig ihre Unschuld. Nur der Rektor (so heißt in der Bretagne der Geistliche; Anm.d.Ubers.) des Kirchspiels schenkt ihr Glauben, und am Tage der Niederkunft hebt er das neugeborene Kind zum Taufbecken und bittet die Ministranten, einen Paten und eine Patin zustellen. Da brüllt das Neugeborene mit Donnerstimme: »Ich brauch< weder Pat< noch Patin. Sankt Connerin war ich früher und Sankt Connerin bin ich auch jetzt.»[8]

Diese Geschichte ist hinsichtlich der verschiedenen in sie eingegangenen Einflüsse schwer zu entwirren, eines ist aber sicher: ihr Bezug zur Taliesin-Sage. Die Worte des Neugeborenen gemahnen nämlich seltsam an die ersten Worte, die der kleine Taliesin sagt, als er aus dem Hautsack genommen wird, in dem er auf den Wellen trieb, Worte, die mehrere walisische Dichtungen, die dem Barden dieses Namens zugeschrieben werden, leitmotivisch durchziehen: »Einst war ich Gwyon Bach, Taliesin bin ich jetzt.» Trotz seiner christlichen Ausgestaltung geht diese Erzählung bis in das Dunkel der Vorzeit zurück, zurück bis auf den archaischen Glauben, daß der Mann keinen Anteil hat an dem Phänomen der Schwangerschaft, die einzig und allein für eine spezifische Funktion der Frau gehalten wurde. Das sagt nichts über die geistige Höhe der Urzeit aus, denn dieser Glaube spiegelt sich auch noch in manchen Gewohnheiten moderner Gesellschaften, wie in denen, die Malinowsky in Ozeanien studieren konnte:

»Vor allem wird der Gatte nicht in dem Sinn, in dem wir das Wort gebrauchen, als der Vater der Kinder betrachtet. Physiologisch wird er nicht mit ihrer Geburt in Verbindung gebracht, entsprechend der Vorstellung der Eingeborenen, die von der physischen Vaterschaft nichts wissen. Nach dem Glauben der Eingeborenen werden die Kinder als winzige Geister in den Schoß der Mutter eingeführt, gewöhnlich unter Mitwirkung des Geistes einer verstorbenen Verwandten der Mutter. Ihr Mann muß dann die Kinder schützen und pflegen, er muß sie bei der Geburt in seinen Armen empfangen<, aber sie sind nicht >seine< in dem Sinne, daß er einen Anteil an ihrer Zeugung hätte.»[9]

Dieser archaische Glaube ist charakteristisch für eine Gesellschaft, die man meist als >primitiv< im pejorativen Sinn zu bezeichnen pflegt. In Wirklichkeit ist sie nur rein chronologisch betrachtet >primitiv<, das bedeutet aber >den Ursprüngen< näher. Sie stellt ein Entwicklungsstadium der Kultur bzw. Zivilisation dar, das keineswegs unbedingt weniger >gut< sein muß, als eine rein patriarchalische, wie etwa die römische Kultur, oder als jenes hybride Stadium, in dem sich unsere Zivilisation heute befindet. Immer noch im Zusammenhang mit den erwähnten ozeanischen Völkern, speziell den Bewohnern der Trobriand-Inseln, die er mit so viel Geduld wie Einsicht beobachtet hat, kommt Malinowsky (der keineswegs ein bedingungsloser Anhänger von Freud ist), zu dem Schluß, daß es in einer Gesellschaft des matrilinearen Typs wesentlich weniger gefühlsbedingte Konflikte gibt als in den Gesellschaften patrilinearen Typs:

»Wenn andererseits eine matrilineare Gesellschaft dem Vater keine Privilegien und kein Recht auf die Liebe seiner Kinder einräumt, dann muß er sie verdienen, und wenn es in der gleichen unzivilisierten Gesellschaft wiederum weniger Belastungen seiner Nerven, seiner Ambitionen und seiner wirtschaftlichen Verantwortlichkeiten gibt, so kann er sich freier seinen väterlichen Neigungen hingeben.«[10]

Also trägt die paternalistische Gesellschaft dadurch, daß sie sich auf die biologische Funktion des Vaters beruft, zur Vermehrung von Konfliktquellen ödipaler Natur bei und zerstört das Gleichgewicht der Grundtriebe, welches in der matemalistischen ausgewogen ist, da dort die Beziehung nur eine Beziehung ohne egoistische Interessen, ohne den Faktor der Autorität und ohne Autoritätsmißbrauch sein kann. Hierin liegt der Kern der Probleme aller Familienverhältnisse, da die Familie die Kernzelle der Gesellschaft ist. Es sieht nicht so aus, als hätte die Errichtung des paternalistischen Systems einen Fortschritt gegenüber dem vorhergehenden System erbracht, auch wenn dieses alte System mit gynäkokratischen Tendenzen keineswegs vollkommen war. Die überwiegende, ja ausschließliche Bedeutung der Mutter bei Geburt bzw. Abstammung geht auch aus den Mythentraditionen der einzelnen Völker und insbesondere aus den überlieferten Legenden über die Religionsstifter und großen Religionstheoretiker hervor. Den berühmtesten von ihnen wird nämlich meist eine Geburt unter rätselhaft-obskuren Umständen nachgesagt, und meist wird ihre Abstammung als matrilinear dargestellt. Moses z.B. wurde nach der Überlieferung in einem Weidenkorb schwimmend aus den Fluten des Nil geborgen. Wir erfahren, daß er Hebräer war. Aber er wird von der Tochter des Pharao aufgenommen und aufgezogen. Das Symbol läßt keinen Zweifel zu: die Pharao-Tochter ist die Mutter, da sie es ist, die ihn entdeckt und an das Tageslicht bringt. Der Vater ist offensichtlich ein Hebräer, was die Prinzessin jedoch nicht zugeben kann. Der Text des Exodus nennt explizit einen Mann aus dem Stamm Levi, der eine Frau aus demselben Stamm Levi geheiratet haben soll. Aber wie man weiß, wurde der Exodus wenn nicht von Moses selbst verfaßt, so doch zumindest von ihm inspiriert. Wie hätte er da zugeben können, daß seine Mutter eine Ägypterin war? Doch es steht außer Zweifel, daß die mosaische Lehre vom Geist der Juden und der Ägypter geprägt ist. Außerdem kann die Verstoßung der Mutter bei Moses ihre Erklärung in den paternalistischen Tendenzen seines Gesetzes haben. Was nun Jesus betrifft, so hatte dieser keinen leiblichen Vater, das versteht sich von selbst, und seine einzige Verbindung mit den Menschen hat er durch seine leibliche Mutter, über die er (mütterlicherseits!) von König David abstammt: Jesus ist das typischste Beispiel eines Repräsentanten der gynäkokratischen Gesellschaft, in der der Vater überhaupt keine Rolle spielt. Der Heilige Joseph entspricht genau dem Vatertyp, den man auch in den ozeanischen Gesellschaften findet, ein liebender, nährender Vater, mehr nicht. Und so war das Christentum, zumindest in seinen Anfängen — denn Paulus gab ihm zum ersten Mal eine bestimmte Ordnung — inmitten seiner paternalistischen Umgebung eine Revolution, es war der Versuch, die Mutter wieder in ihre ursprüngliche Rolle einzusetzen. Außerdem ist die Tat des Jesus, die darauf abzielte, die Religion des Vaters (die jüdische Religion) zu zerschlagen und durch die Religion des Sohnes (das Christentum) zu ersetzen, höchst bezeichnend: sie ist die ödipale Revolte. Am Fuße des Kreuzes kauert die Jungfrau Maria, und ihr gibt Jesus den Johannes zum Sohn, denn der Lieblingsjünger Johannes ist sein wahres Substitut und symbolisiert zugleich die gesamte Menschheit.
Mit diesen Überlegungen stoßen wir auf das Problem der gebärenden Jungfrau. Und wieviele Dummheiten, wieviele kindische Albernheiten, wieviele Fehlschlüsse wurden bereits über die virgo paritura verbreitet! In Wirklichkeit gelangt man gerade über dieses Thema zum richtigen Verständnis der Idee der Mutter-Göttin.
Doch zunächst müssen wir, um im Bereich des Keltischen zu bleiben, noch einmal auf die Legende des Hl. Connerin zurückkehren. Die Figur dieses Heiligen hat natürlich die seiner Mutter, besser gesagt, seiner zweiten Mutter, so sehr in den Hintergrund treten lassen, daß man nicht einmal ihren Namen kennt. Jedenfalls ist sie ein junges Mädchen, in jeder Hinsicht gut und rein». Da ist man natürlich höchst sprachlos, wenn sie eines Abends nach Hause kommt und über Unterleibsschmerzen klagt! Um ihre monatliche Indisposition kann es sich nicht handeln, da sie zu dieser Zeit den Apfel gegessen hat und schwanger wird. Also muß es etwas anderes sein, was die volkstümlichen Erzähler und Erzählerinnen vorsichtig beiseite gelassen haben. Das war die Unberührtheit, die Jungfräulichkeit des Mädchens. Nebenbei bemerkt sind es stets die Gesellschaften, die am stärksten patemalistisch geprägt sind und die folglich die Frau ganz besonders als reine »Lust- und Gebärmaschine« betrachten, welche am meisten auf der sakrosankten Jungfräulichkeit der Töchter bestanden haben. Dazu ist zu sagen, daß das >unberührte< Mädchen das eklatanteste Symbol einer ausschließlich für den Gebrauch des Besitzers (d.h. des künftigen Gatten, der Stütze dieser Gesellschaft) vorbehaltenen Beute ist. Zu diesem Thema gibt es in einer walisischen Erzählung eine auffallende Episode, die zwar auf den ersten Blick reichlich konfus anmutet, die sich aber bei näherer Betrachtung als eine Verquickung der beiden Gesellschaftsformen erweist:

Die Geschichte von Arianrod (Wales):

Der König Math ab Mathonwy leidet an einem Gebrechen, das mit der Königsherrschaft so gut wie nicht vereinbar ist: zu Friedenszeiten kann er nur überleben, wenn seine Füße im Schoß einer Jungfrau ruhen, in Kriegszeiten kann er nur auf einem Pferd reitend überleben. Nun ist aber sein Neffe Gilwaethwy, der Sohn der Schwester Don in die zarte Jungfrau >in des Königs Diensten< verliebt. Mit Hilfe seines Bruders Gwyddyon,der den König Math dadurch fortlockt, daß er einen Krieg entfesselt, gelingt es dem verliebten Gilwaethwy, dem jungen Mädchen »Gewalt anzutun». Als der Krieg beendet ist, kehrt Math zurück, aber das junge Mädchen kann ihm nun nicht mehr ihre Dienste erweisen und berichtet Math, was vorgefallen war. Höchst erzürnt rächt sich Math an seinen beiden Neffen, fragt sie aber dennoch um Rat, wer die für ihn so lebenswichtige Jungfrau ersetzen könnte. Gwyddyon schlägt seine Schwester Arianrod, die Tochter der Dön, vor. Math läßt umgehend diese Arianrod kommen und erkundigt sich bei ihr, ob sie noch Jungfrau sei. Sie sagt ja, aber Math will es genau wissen: er nimmt seinen Zauberstab, krümmt ihn und fordert Arianrod auf, darüberzusteigen. »Da tat sie einen Schritt über den magischen Stab und im selben Augenblick glitt hinter ihr ein blondes und kräftiges ICnäblein zu Boden. Auf das kräftige Krähen des Kindes hin wollte sie zur Tür hinausfliehen, aber dabei ließ sie noch ein Bündel zu Boden fallen, das wie ein kleines Kind aussah, und bevor noch jemand das Ereignis sehen konnte, hatte Gwyddyon das Kind ergriffen, in einen kostbar verzierten Mantel (pailej gewickelt und auf dem Boden einer Truhe versteckt.» König Math läßt das schöne blonde Knäblein auf den Namen Dylan taufen: »Kaum hatte es die Taufe hinter sich, da rannte es zum Meer hinab. Sobald es sich in die Fluten gestürzt hatte, paßte das Kind sich an die Natur des Wassers an, wurde sofort ein guter Schwimmer und konnte noch schneller schwimmen als die Fische. Daher nannte man ihn auch Dylan'Eil Ton< (= >Sohn der Woge<). Das andere Kind läßt Gwyddyon heimlich aufziehen und bringt es eines Tages auf die Burg der Arianrod. Diese empfängt ihren Bruder herzlich und fragt neugierig, wer der Knabe an seiner Seite ist. Gwyddyon antwortet: »Dein Sohn ist es!» Arianrod gerät in Wut, wirft ihrem Bruder vor, ihre Schande zu verfolgen und wachzuhalten, und fragt ihn schließlich: »Wie ist der Name von Deinem Sohn dort?» Gwyddyon antwortet, er habe noch keinen. Da spricht Arianrod folgenden Fluch aus: »Hiermit schwöre ich, daß es sein Schicksal sein soll, solange keinen Namen zu haben, bis ich selbst ihm einen geben werde.» Das bedeutet, Arianrod weigert sich, ihm einen Namen zu geben. Gwyddyon entfernt sich mit dem Kind, kehrt aber, mit Hilfe seiner magischen Kräfte in einen Schuster verwandelt, heimlich wieder zu Arianrods Burg zurück. Arianrod empfängt die beiden, bewundert die mitgebrachten Schuhe und probiert sie an. Inzwischen kommt ein kleiner Zaunkönig herangeflogen, und der Knabe erlegt ihn mit einem gezielten Wurf seines Jagdspeers. Da muß Arianrod herzlich lachen und ruft aus:»Der Kleine hat ihn aber mit sicherer Hand getroffen!» Auf der Stelle löst Gwyddon die Verzauberung, die sie beide verwandelt hatte, auf und verkündet seiner Schwester, daß sie ihrem Sohn gerade einen Namen gegeben hat: so sollte er fortan Lleu Llaw Gyffes, d.h. >Der Kleine mit der sicheren Hand< heißen.[11] In ihrem Zorn über die Täuschung spricht Arianrod einen neuen Fluch aus: das Kind solle keine andere Waffe tragen als die, die sie ihm persönlich geben werde. Wieder gelingt es Gwyddyon, das »Tabu» zu verletzen. Immer rasender geworden, spricht Arianrod noch einen dritten Fluch aus: »Hiermit schwöre ich, daß es das Schicksal dieses jungen Mannes sein soll, niemals eine Frau von jener Species zu haben, die in diesem Augenblick die Erde bevölkert.« Doch Gwyddyon wird mit Hilfe des Königs Math und seinen eigenen Zauberkräften eines Tages eine Frau aus den Blüten formen, die die Blodeuwedd sein wird.[12]

Diese Episode (wie übrigens die gesamte Erzählung von Math ab Mathonwy, aus der sie stammt) scheint stark verstümmelt zu sein, aber die darin noch erkennbaren ursprünglichen Elemente weisen so überraschende Züge auf, daß sie einiger Erläuterungen bedürfen. Der Zauberstab ist das Herrschaftsattribut des Königs Math, der zahlreichen anderen walisischen Texten zufolge als der Meister der Magie der Brit(ton)en gilt. Es heißt auch, er habe die Kunst seiner Magie an seinen Neffen Gwyddyon weitergegeben, was wieder auf eine matrilineare Erbfolge hinweist, da dieses Machtgeheimnis hier vom Onkel auf den Neffen vererbt wird. Wenn Math Arianrod über seinen Stab springen läßt, so wird dieser zu einem unmißverständlich phallischen Symbol. In Verbindung mit der Tatsache, daß Math an einem Gebrechen leidet, das dem des Fischer-Königs gleicht, wird diese zunächst rätselhafte Geste zu einem Ritual eines Sexualzaubers, der mit bestimmten archaischen Auffassungen über die Jungfräulichkeit zusammenhängt, von denen wir allerdings wenig wissen. Man beachte, daß Arianrod behauptet, noch Jungfrau zu sein, und daher offensichtlich selbst am meisten überrascht ist, so ganz aus heiterem Himmel plötzlich zwei Kinder zu bekommen. Außerdem weigert sie sich, diese Kinder und insbesondere den Lleu Llaw Gyffes anzuerkennen. Hier stehen wir allerdings vor einem Rätsel: nach dem Kontext zu urteilen besteht die Möglichkeit, daß Gwyddyon selbst der Vater ist. Somit kann es sich durchaus um einen Geschwisterinzest handeln, d.h. um eine Art sakrale Vereinigung zwischen dem Bruder und der Schwester, die beide die Kinder der Göttin Don sind; man kann darin sogar Apollo und Artemis, die Kinder von Leto und Zeus sehen; dies ist jedoch eine reine Hypothese. Gwyddyon scheint dagegen von der Jungfräulichkeit seiner Schwester felsenfest überzeugt zu sein, da er nicht einen Augenblick lang zögert, sie seinem Onkel als Ersatz für diejenige anzubieten, der von Gilvaethwy >Gewalt angetan wurde'. Wie sind diese verwirrenden und so widersprüchlichen Elemente zu interpretieren?
Nach einer genauen Analyse des Begriffs Jungfräulichkeit (Virginität) kann die Antwort auf diese Frage sich ganz von selbst ergeben, denn es sieht so aus, als hätte dieser Begriff keineswegs zu allen Zeiten den gleichen Sachverhalt bezeichnet, d.h. daß darunter nicht immer von allen Völkern — und auch nicht von allen Angehörigen ein und derselben Gesellschaft — dasselbe verstanden wurde. Die Geschichte von Arianrods Jungfräulichkeit, die Geschichte von der Jungfrau, die keine war und ohne Beihilfe eines Mannes (sofern ihr Bruder nicht der Vater war) zur Mutter wird, berührt den eigentlichen Kern des Problems der Deesse-Mere, der Muttergöttin: als die Gesellschaft noch gynäkokratisch strukturiert war, stand die Göttin allein da und war die Primordialgöttin, die Göttin eines Beginns. Als die Gesellschaft sich dann allmählich zu einer paternalistischen wandelte, wurde die Göttin einem Vater-Gott verbunden, mit dem sie die Verantwortung für die Welt und das Leten fortan teilte: das war die Geburtsstunde des Heiligen Paares, z.B. Isis und Osiris. Als dann die Erinnerung an die alte gynäkokratische Gesellschaftsordnung in der Mehrzahl der Fälle ganz unterdrückt wurde, verschwand auch die Göttin ganz und überließ ihren Thron dem fortan allmächtigen Vater-Gott. Dieser entsprach entweder dem Jupiter-Typ oder dem hebräischen Typ, denn Jahwe ist dei klassische Repräsentant der maskulin-kriegerischen Form der Religion, aus der die Frau mit der Zeit vollständig verdrängt wurde. Aber da es das Prinzip des Unbewußten ist, Erinnerungen an Vergangenes in sich noch länger weiterleben zu laisen und zu speichern in Form von symbolischen Bildern, die reaktualisiert und in einen neuen Rahmen projiziert werden können, erfährt die Göttin in anderer Gestalt auch in den paternalistischen Kulten eine Wiederauferstehung, wie der Marienkult innerhalb des Christentums deutlich zeigt. Es ist daher durchaus wahrscheinlich, daß wir in der Geschichte der Arianrod diese ganze Evolution vor uns haben; so gesehen werden die zunächst unklaren und sogar widersprüchlichen Elemente darin verständlich.
Nun zur Frage, was denn eigentlich eine Jungfrau ist. Das französische Wort vierge stammt wie das englische virgin aus dem Lateinischen virgo und wurde ursprünglich als theologischer Terminus zur Bezeichnung bestimmter weiblicher Heiliger des christlichen Kalenders in die Alltagsspräche eingeführt. In Wirklichkeit bedeutet das lateinische Wort nichts anderes als >Junges Mädchen< (vgl. das dt. Wort >Jungfrau<, in dem sich die Lehnübertragung der ursprünglichen Bedeutung noch deutlich widerspiegelt; Anm.d.Hrsg.), — d.h. das lateinische Wort bedeutete ohne jede weitere Konnotation lediglich >unverheiratete (junge) Frau<, wobei kein Element die sexuelle Unberührtheit, die >Keuschheit< definiert. Die Bedeutung >sexuell unberührtes Mädchen< konnte im Lateinischen nur durch den Ausdruck virgo intacta wiedergegeben werden. Das Wort virgo ergab im Bretonischen zunächst gwerc >h, >junges Mädchen<, und dann gwerc'hez, >(Heilige) Jungfrau< im christlichen Sinn; im walisischen wurde daraus meirch, >Mädchen'. Die keltische Wurzel, aus der auch das lateinische virgo wurde, ist wraki, wovon direkte Ableitungen in bretonisch gwerg, >Gattin<, und in walisischgwraig, >Frau< zu finden sind. Eine andere Ableitung von wraki war das keltische wrakka, das zu breton. grac'h (oder groac'h) wurde, was >alte Frau< und später >Hexe< bedeutete, und daneben auch im gallischen Wort virago steckt, das von den Römern übernommen wurde und von dort wieder in das Französische eingegangen ist. Aus allen diesen Worten ist eine alte indoeuropäische Wurzel >werg< zu erschließen, die >einschließen< bedeutet hat. Demnach muß die Jungfrau ursprünglich die >in sich eingeschlossene Frau< gewesen sein, was unschwer mit der Idee der Jungfräulichkeit in Einklang zu bringen ist. Diese Bedeutung ist jedoch vage und wenig gesichert.
Die Wurzel >werg< steht jedoch nicht isoliert da. Im Greiechischen ergab sie epyov(= >Werk<(!), >Tat<), sowie die Derivate evepyeia (= >Energie<), öpytov (= (= >sakrale Zeremonie<, >Orgie<) und öpycwov (= >Werkzeug<, >Instrument<, >Organ<). Dazu gehört auch das gallische ver, >groß und mächtig<, woraus wahrscheinlich das walisische Steigerungspräfix guor-, irisch for-, sowie die bretonische Präposition war, >auf (im Sinn von lat. super) entstanden ist. Auch für lat. vis = >Kraft<, >Gewalt'; plur. vires) und lat. vir (= >Mann<), irisch fer und breton. gour läßt sich schwerlich eine andere Wurzel als diese denken. Aus alledem ergibt sich, daß mit dem Begriff >Jungfrau< der Etymologie zufolge (aber jede Etymologie kann angezweifelt werden!) die Idee von Gewalt, Kraft, Tat, Abgeschlossenheit und in allen Fällen die Idee der Weiblichkeit assoziiert wurde. Auf jeden Fall paßt dies zu dem archaischen Begriff von der Frau als göttlichem und schöpferischem Wesen, das ohne fremde Hilfe Wohlstand, Überfluß und neues Leben schaffen kann. Durch die synchrone und diachrone Sprachbetrachtung (die auf dem Prinzip der Analogieherstellung beruht, welche oft wichtige Aufschlüsse über den >Geist< bestimmter Epochen liefert), bestätigt sich unsere These, daß die Jungfrau-Mutter die erste Gottheit war, die von den Menschen verehrt wurde. Außerdem stößt man bei der Definition der Jungfrau auf besonders aufschlußreiche Funde, wenn man in der Bibel und in den Schriften der rabbinischen Tradition nachschlägt. Die Bibel verwendet nämlich für den Begriff, für den wir nur ein Wort haben, drei verschiedene Ausdrücke: naara, betula und alma. Das Wort naara stammt aus einer Wurzel, die >Bewegung<, >Eile< und >Überstürzung< bedeutete, und hat die Bedeutung >junges (verheiratetes oder unverheiratetes) Mädchen<, also wie lat. virgo ~ egal ob intacta oder nicht. Die Bedeutung des Wortes ist also recht vage. Im Deuteronomium (XXII, 15 und 16) bezeichnet naara eine verheiratete Frau, die im Ruf steht, schon vor der Ehe >ihre Unschuld verloren zu haben'. Im Buch Ruth (11,16) bezeichnet das Wort eine unverheiratete Witwe; in der Genesis dagegen wird Rebecca, die eine virgo intacta ist, als naara bezeichnet; aber in demselben Text kann dieses Wort im Zusammenhang mit der Vergewaltigung der Dina durch Sichern (XXXIV,3) nur bedeuten, daß es um ein Mädchen geht, das — durch fremde Gestalt — ihre Unberührtheit verloren hat. Es sei daraufhingewiesen, daß das Maskulinum zu naara die Form naar hat, was >Junge<, >Jüngling< und daneben auch >Sklave< im Sinn von lat. puer bedeutet. Diese Bedeutung der männlichen Form enthält kein Element der >Unberührtheit< bzw. >Keuschheit<, und daneben sprechen auch noch andere Gründe dafür, daß naara ein Begriff ist, mit dem generell jede junge Frau bezeichnet werden kann.
Der zweite Ausdruck betula scheint dagegen eine virgo intacta jeden Alters zu bezeichnen (siehe Leviticus XXI, 1-3): Der Hohepriester darf sich einem Sterbenden oder Toten nicht nähern, es ist ihm aber gestattet, seiner Schwester den letzten Beistand zu leisten, wenn sie betula ist, das heißt dort, wenn sie nie verheiratet gewesen ist. Die Wurzel des Wortes betula bedeutet >Entfernung<, >Trennung< und eine der Ableitungen davon, der Plural betulim, hat die Bedeutung >Hymen< im anatomischen Sinn. Folglich kann davon ausgegangen werden, daß die betula eine Frau ist, die noch ihre betulim hat. Aber von hier an steht man vor einem Rätsel, — und es muß darauf hingewiesen werden, daß die jüdischen Bibelexegeten dieses Thema ohne Hemmungen und Komplexe weidlich ausdiskutiert haben: bekanntlich ist es medizinisch erwiesen-und auch die alten Hebräer wußten es —, daß das Hymen einer Frau, auch nachdem sie einen Mann >kennengelernt< hat, noch intakt sein kann, denn diese Hautmembran kann bekanntlich von unterschiedlicher Größe und Elastizität sein. Daher wurde in gewissem Sinn jenen gräßlichen Kupplerinnen geradezu Vorschub geleistet, die zu allen Zeiten und in allen Gegenden mit falschen virginibus intactis regen Handel treiben konnten, da man ausgerechnet das Hymen zum offiziellen Merkmal der physischen Jungfräulichkeit erhob. Übrigens ist im Talmud (Kutubot, 11) eigens die Möglichkeit erwähnt, daß eine Frau diesen kostbaren Teil ihres Körpers auch beim Fall auf einen spitzen Gegenstand oder — wie es die Sprache der Rabbiner so treffend wie aufschlußreich ausdrückt — durch Verletzung mit einem Stück Holz einbüßen kann.[13]
Der dritte Ausdruck, alma, stammt von einer Wurzel ab, die >verbergen< bzw. >den Blicken entziehen< bedeutet. Er bezeichnet also ein in jeder Hinsicht unberührtes und vor den Blicken der Männer verborgenes Mädchen.[14] Im Phönizischen findet sich das Wort alma im Sinn von virgo intacta (Hieronymos: Comment. VII), aber vieles deutet darauf hin, daß es sich dabei um eine eher moralische als materielle Jungfräulichkeit handelt: in dieser Sprache bedeutet die maskuline Form elem >junger unverheirateter Mann<. Nur konnte es bei den semitischen Völkern nie einen anatomischen Beweis für die physische Unberührtheit des Knaben geben, da bei ihnen die Beschneidung seit jeher obligatorisch war. Auf alle Fälle bleibt festzuhalten, daß die rabbinischen Kommentare zu diesem Thema höchst verwirrend sind und zum größten Teil von einer Kasuistik zeugen, die mit dem Spitzfindigsten, was in dieser Hinsicht bei den Molinisten zu finden ist, durchaus zu vergleichen ist. So wird im Talmud (Maghiga, 14) z.B. folgendes erörtert:

»Kann eine Jungfrau (betula), die schwanger wurde, noch einen Hohepriester heiraten? (...) Schemuel (Samuel) sagt dazu: Ich kann eine Frau mehrmals >kennenlernen<, ohne daß sie die Jungfräulichkeit verliert.»

Die Antwort bezieht sich auf Leviticus XXI, 113-14). In den Sprüchen (XXX, 18-20) findet sich folgende überraschende Passage:

»Drey sind mir zu wunderlich/ und das Vierde weis ich nicht/ des Adlers Weg im Himel/ der Schlangen Weg auff eim Felsen/ Des Schiffes Weg mitten im Meer/ Vnd eins Mans Weg in einer Magd (alma, Anm. J.M.) Also ist auch der Weg der Ehebrecherin/ Die verschlinget und wischet jr Maul/ und spricht Jich hab kein Vbels gethan» (Übers. Luther).

Im Talmud steht die apodiktische Feststellung:

»Die meisten Männer haben Übung darin, sich einem Weib zu nähern, ohne dabei die Zeichen seiner Jungfräulichkeit zu verletzen.» (Kutubot, 6).

Es gibt sogar eine Auslegung zu diesem Absatz, die ernsthafte Ratschläge zur Ausführung dieser Handlung liefert. Ein Kommentar zu Genesis XXIV, 16 mit dem Titel Aben-Ezra enthält folgenden Hinweis:

»Rebecca war eine betula, und niemals war ihr ein Mann nahegetreten.« Es ist wenig wahrscheinlich, daß der Text durch diese wiederholende Paraphrase auch den Verkehr wider die Natur ausgeschlossen haben will, sondern wahrscheinlicher, daß darunter zu verstehen ist, daß sie sich nie auf irgendeine Art und Weise habe beflecken lassen. Denn ein junges Mädchen könnte selbst wenn sie sich einem Mann hingibt und sogar wenn sie schwanger wird, durchaus noch betula bleiben.

Wie man sieht, gehen die Meinungen über die Jungfräulichkeit der Maria — bereits in der Bibel — stark auseinander, da darin über die eigentliche Bedeutung der Jungfräulichkeit keinerlei einheitliche Meinung herrscht, und da in ihr nebeneinander drei verschiedene Begriffe vorkommen, deren Bedeutungen nicht vollkommen identisch sind, sondern je nach Kontext variieren. Dies kann zu einem besseren Verständnis des Rätsels um die Geschichte der Arianrod verhelfen, jener ein wenig isoliert dastehenden Figur der großen Mutter-Göttin der insularen Kelten.
Die Unklarheit der Geschichte von Arianrod beruht nämlich auf der Vermengung zweier Begriffe: man hat den Eindruck, als würden Math und Gwyddyon auf der einen Seite und Arianrod auf der anderen Seite nicht dieselbe Sprache sprechen und mit ein und demselben Wort zwei verschiedene Sachverhalte meinen. Als Math Arianrod fragt, ob sie noch Jungfrau (unberührt) ist, und später Gwyddyon sich über seine Schwester lustig macht, als sie sich darüber aufregt, ihren Status einer Jungfrau verloren zu haben, wird im Text das Wort morwyn verwendet, d.h. die Entsprechung zum französischen Wort pucelle, das nichts anderes als >kleines Mädchen< bedeutet (aus lat. pucella, dem Diminuitiv zu puella). Außerdem ist das Wort morwyn im Zusammenhang zu betrachten mit bretonisch morgan, welches ein rätselhaftes, auf dem Meeresgrund lebendes Feenwesen bezeichnet, sowie mit dem Namen der Fee Morgane, der Schwester des Königs Artus. Das Rätsel ließe sich kaum lösen, wenn man nicht den fundamentalen Unterschied berücksichtigte zwischen dem, was das Wort morwyn für Arianrod auf der einen Seite bedeutet und dem, was es für Math und Gwyddyon auf der anderen Seite bedeutet: Arianrod meint damit ein junges Mädchen, das frei und keinerlei Druck von männlicher Seite ausgesetzt ist, mit anderen Worten, die Frau, wie sie nach den Kriterien einer gynäkokratisch orientierten Gesellschaft definiert wird. Arianrod verkörpert also noch die archaische Göttin der ehemaligen gynäkokratischen Gesellschaft. Für Math und Gwyddyon, die beide Vertreter der neuen patriarchalischen Gesellschaft sind, kann dieses Wort dagegen nur die Bedeutung >physische Unberührtheit< haben.
Eine solche Deutung mag gewagt erscheinen, aber durch sie wird verständlich, weshalb Arianrod >in voller Unschuld< bzw. >Unberührheit< den Zauberstab des Math passieren kann. Weshalb ergreift Arianrod aber dann die Flucht, wird man weiter einwenden, weshalb läßt sie ihre beiden neugeborenen Kinder im Stich und erkennt sie nicht an?
Eine erste Antwort liegt auf der Hand: als Jungfrau, d.h. nach ihrer persönlichen Definition als Frau, die nicht der Kontrolle eines Mannes unterworfen ist, will Arianrod mit ihren Kindern nichts zu tun haben; rechtlich gehören sie ja der Sippe, dem Tuath, wenn man so will, deren Oberhäupter ihr Onkel und ihr Bruder sind, also ist es deren Sache, sich im Namen der Gemeinschaft um die Kinder zu kümmern. Eine zweite mögliche Antwort ist, daß Arianrod als Repräsentantin des alten Gesetzes nichts mehr in der neuen Gesellschaft zu suchen hat, die von den Männern beherrscht wird und in der die Frau nur noch eine subalterne Rolle spielt, nämlich die Rolle einer der männlichen Autorität unterworfenen Mutter, denn ihre Eigenschaft als ihrer Pflicht nachkommende, verantwortungsbewußte Mutter versetzt sie automatisch in einen Zustand der Unterlegenheit.
Außerdem darf nicht vergessen weiden, welche Rolle man für Arianrod vorgesehen hatte: die Rolle einer Fuß-Ablage. Und hier kommt Licht in das Dunkel dieser reichlich nebulösen Geschichte. Tatsächlich erwähnen nämlich die Gesetze von Howell Dda, die die mittelalterliche Evolutionsstufe des archaischen keltischen Rechts widerspiegeln, unter den Hofbeamten des Königs eine Person, die den Titel des troediawk hat, was so viel wie >Fuß-Halter< bedeutet. Die Aufgabe dieses Beamten bestand darin, den Fuß des Königs, sobald er bei Tisch Platz genommen hatte, solange in seinem Schoß zu halten, bis der König die Tafel aufheben und sich zu Bett begeben würde. Während dieser Zeit hatte der troediawk die Aufgabe, den König bei Bedarf zu kratzen und ihn gegen alle Gefahren zu schützen. Dieses Privileg war mit großen persönlichen Vorteilen verbunden, nämlich mit abgabenfreiem Landbesitz und der Stellung eines Pferdes durch den König; ferner aß der troediawk mit aus dem Teller des Königs. Geschah ihm irgendein Unrecht, so kostete das den Täter eine Wiedergutmachung von 120 Kühen, denn der persönliche Wert des troediawc entsprach 120 Kühen — und schließlich hatte er das Recht, — und das ist von größter Wichtigkeit — einem Schuldigen Schutz zu gewähren und konnte ihn während der Zeit, wo des Königs Fuß in seinem Schoß ruhte, laufen lassen.[15]
Dieser Umstand muß besonders festgehalten werden: während der König seinen Fuß im Schoß des troediawk ruhen hat, ruhen auch seine königlichen Herrschaftsgeschäfte, somit ist er in dieser Zeit nicht vollwertig ausübender König, da ihm dann das Recht der Justizausübung zu Gunsten des in den Händen des troediawk liegenden »Rechts der Milde bzw. Gnade» entzogen ist. Berücksichtigt man diesen Rechtsbrauch, so wird auf einmal verständlich, weshalb Math in Friedenszeiten nur mit den Füßen im Schoß einer >Jungfrau< leben konnte, wie es in der Geschichte hieß: das bedeutet, er hatte ein Leiden, das ihn an der Ausübung der Herrschaft hinderte (er war sexuell impotent), und so mußte er, um öffentlich sein Gesicht zu wahren, darauf achten, daß er sich immer in einer Lage zwischen dem Beginn der Mahlzeit und dem königlichen Coucher, seinem Zubettgehen, befand, was in der Tat eine höchst ungewöhnliche und raffinierte Art war, die Gesetze zur eigenen Bequemlichkeit auszulegen und trotzdem weiterhin König zu bleiben, während seine königlichen Amtsgeschäfte ruhten.
Eine zweite Bemerkung geht noch weiter: diese Institution des troediwk ist mehr als sonderbar, und wie alle rätselhaft anmutenden Institutionen scheint ihre Entstehung auf archaische Zeiten zurückzugehen, deren Ursachen von den Verfassern der Gesetze des X. Jahrhunderts nicht mehr genau verstanden wurden. Wenn im X. Jahrhundert ein solches Amt einem Mann übertragen wird, so ist dies ganz normal: denn es handelt sich um eine patriarchalische Gesellschaft. Die Geschichte von Math ab Mathonwy reflektiert jedoch eine sehr alte Überlieferung, und dort wurde diese Funktion nicht von einem Mann, sondern von einer Frau ausgeübt. Dann sieht die Sache gleich ganz anders aus, denn dann ist das ein Hinweis nicht auf eine frühere Rechtslage, sondern auf die Erinnerung an eine frühere Rechtslage, die in Verbindung mit der matrilinearen Herrschaftsstruktur (die noch deutlich in der Mabinogion-Erzzhlung zum Vorschein kommt) Math zum Repräsentanten des Wendepunkts zwischen zwei Formen der Zivilisation macht.
Das Bild des herrschaftsunfähigen, das heißt impotenten Königs, dessen Füße im Schoß einer morwyn oder wenn man so will, im Schoß eines primordialen Feenwesens aus dem Meer, einer morgan, ruhen, ist ganz einfach das Bild des aus dem Schoß der Frau auftauchenden Königs. Folglich stammt die Macht des Königs — eine Macht, die Math übrigens äußerst schlecht repräsentiert — in direkter Linie aus dem Uterus, mit anderen Worten von der Frau, die die wahre Herrscherin mit der Allmacht über das Leben ist. In diesem Zusammenhang wird man an die Geschichte von Jakob auf der Leiter erinnert, in der die ursprünglich weibliche Figur von den paternalistischen Hebräern zu einer männlichen Figur umgewandelt wurde. Die höchste Souveränität, die in der keltischen Sagenwelt meist durch eine Frau verkörpert wird, ist diese >Jungfrau<, in deren Schoß Math seine Füße legen muß, um weiterhin an der Macht bleiben zu können. Als er erfährt, daß sein Neffe Gilwaethwy mit der Unterstützung von Gwyddyon diejenige verführt hat, die dieses privilegierte Amt innehatte, ist er gezwungen, einen Ersatz für sie zu finden, denn die Herrschaft darf nicht ungestraft sabotiert werden. Durch wen wurde aber der Herrschaft Gewalt angetan? Durch seinen eigenen Neffen, den Sohn seiner Schwester. Auch hier liegt wieder ein Fall von matrilinearer Beziehung und des Vorrangs der Familie der Mutter vor. Diese Grundidee taucht auch später in bekannteren Sagen wieder auf; so zum Beispiel in der Tristan-Sage, wo der Neffe die Herrin Yseult dem König Marke, seinem Onkel mütterlicherseits raubt, ferner in der Geschichte von Artus und Guenievre, wo Gauvain (der in der französischen und deutschen christianisierten Fassung durch Lancelot/Lanzelot ersetzt wird) und später Mordret die Entführer und Liebhaber der Königin sind, die die wahre Herrscherin über die Tafelrunde ist.
Aber Math kann keine Frau für sich gewinnen, denn er ist wie gesagt impotent. So muß er sich mit der Jungfrau zufrieden geben, die der Ersatz der Mutter ist, der letzten Repräsentantin weiblicher Macht. Diese Geste ist unbedingt nötig, damit die Autorität des Königs Math (der ein König des paternalistischen Typs ist, obwohl seine Figur aufgrund von Reminiszenzen der vorhergehenden Herrschaftsform zahlreiche Widersprüche enthält), rechtskräftig und von jedermann anerkannt bleibt. Diese >Jungfrau< ist somit die eigentliche Quelle seiner Macht oder auch seines Machtverlusts und seiner Machtlosigkeit, was paradoxerweise auf dasselbe hinausläuft. Diese >Jungfrau< entspricht genau dem Bild der Jungfrau Maria, die in den Mysterien und Legenden des Mittelalters die Mittlerin zwischen den Menschen (ihren Söhnen) und Jesus (ihrem Sohn und Bräutigam) ist. Die Jungfrau Maria ist es, die bei ihrem göttlichen Sohn ein gutes Wort einlegt zugunsten der Unglücklichen, aber auch der Diebe, der Meineidigen und Mörder. Genau genommen hat sie die Freiheit, die Schuldigen frei ausgehen zu lassen, sobald sie Jesus< Füße auf ihrem Schoß hält, sie handelt also genau wie die >Jungfrau<, die Math am Leben erhält. Wem fallen da nicht die unzähligen Darstellungen der Grablegung Christi ein, in denen Maria die Beine ihres Sohnes an ihr Herz beziehungsweise an ihren Schoß preßt. Ist in dieser Lage Christus, der ja auch nicht vollkommen tot ist, sondern sich in einer Art Schlafzustand befindet, nicht ein Ebenbild des keltischen Königs aus dem Mabinogion-Text?
Durch diese zweifellos seltsam anmutenden Beobachtungen, aus denen deutlich wird, wie wichtig die Rolle der >Jungfrau< als Symbol der Göttlichkeit bei den Kelten war, wird man unweigerlich an all die mysteriösen Figuren erinnert, die die irische oder walisische Sagenwelt und die Artusromane bevölkern: man denke an die verschiedenen Jungfrauen und Hüterinnen von Quellen und Brunnen, an die schönen Burgfräulein mit sehnsüchtig schmachtendem Blick, an die Gefangenen böser Burgherren, oder an die verwirrende >Kaiserin< im Peredur, dem Urbild der späteren Graljungfrau. Alle diese >Jungfrauen< sind zweifellos virgines im weitesten Sinn des Wortes, das bedeutet, sie stehen noch nicht unter der Macht eines Gatten, sie sind noch nicht der Autorität des Mannes unterworfen. Im Grunde wird die Jungfräulichkeit in der keltischen wie auch in allen anderen vorchristlichen Überlieferungen des Mttelmeeraums, nicht physisch sondern rein moralisch verstanden und bezeichnet lediglich die Unabhängigkeit der Frau gegenüber dem Mann. Die virgo ist also die freie, stets zur Verfügung stehende, stets neue, stets mögliche Frau, das strahlende Symbol der Erneuerung, der Jugend und beiläufig damit verbunden auch der sexuellen Freiheit. Die >Jungfrau< ist zugleich auch die Prostituierte, denn es darf nicht übersehen werden, daß mit lat. virgo etymologisch die Idee der Kraft verbunden ist. (Wahrscheinlich über einer auch dem Wort vis, plur. vires zugrundeliegenden gemeinsamen Wurzel; Anm. d. Übers.): die Kraft ist etwas, das die einen verläßt und auf die anderen übergeht, das dürfte eine kaum abzustreitende Tatsache sein. Nach der Definition aller nichtchristlichen Traditionen ist die >Jungfrau< die königliche Hure, die immer frei über sich selbst verfügt und um deren Gunst sich die Männer streiten, denn diese Gunst ist Pfand und Beweis der höchsten Autorität, die aufgrund ihrer biologischen Macht, Leben zu spenden, in ihren Händen liegt.
Wir haben bisher die Eigenschaft beleuchtet, daß die virgo nie Sklavin des Mannes ist. Sie ist eine Art Amazone. Sie verweigert die Heirat, nicht aber >Beziehungen< mit Liebhabern. Sie selbst läßt sich nicht versklaven, sie kann aber andererseits die Männer auch nicht zu ihren Sklaven machen. Vor alledem ist der Amour Courtois, die >höfische Minne< nicht weit entfernt, jene höfische Liebe, durch die in Chretiens Lancelot der Ritter zum Geliebten und gefügigen SpielObjekt der höchsten (weiblichen) Herrschaftsmacht wird. Deshalb haben die Dichter der höfischen Romane darin - wenn auch nicht in voller Schärfe - eine Gefahr gesehen, wie die französisch-höfische Umformung der Geschichte von Merlin und Viviane zeigt, welche warscheinlich bretonischen Ursprungs ist, während der eigentliche Merlinmythos aus dem Norden der britischen Insel stammen dürfte.

Viviane und Merlin (Höfische Epik):

Merlin der Zauberer und Ratgeber des Köigs Artus, ist in den Wald von Broceliande gekommen. Dort trifft er am Rande einer Quelle, der Quelle von Barenton, ein Mädchen namens Viviane. Der Vater dieser Viviane ist ein gewisser Dyonas, »Patenkind von Diana, der Göttin der Wälder». Diana hatte ihm prophezeit, seine erste Tochter würde von dem weisesten der Männer begehrt werden, und dieser würde ihr unterlegen sein, sobald er sie in alle seine Zauberkräfte eingeweiht habe. Merlin verliebt sich in Viviane; diese will seine Liebe nur unter der Bedingung erwidern, daß er sie in seine Geheimnisse einweiht, und verstrickt Merlin immer mehr in ihren Netzen. Dieser ist sich seines Schicksals vollkommen bewußt und setzt sich ihm dennoch voll aus. Nach verschiedenen Reisen nach Britannien kehrt Merlin wieder in den Wald von Broceliande zurück. Eines Tages spricht Viviane über den schlafenden Merlin einen Zauber aus, und Merlin findet sich in einem unsichtbaren Zauberschloß als Gefangener der Viviane wieder, ist aber in der Gesellschaft seiner Geliebten vollkommen glücklich.
(Estoire de Merlin)

In dieser Sage fällt auf, daß Merlinsich freiwillig in sein Schicksal fügt, welches darin besteht, für immer der Macht der Viviane ausgeliefert und unterworfen zu sein. Und Viviane ist eine virgo in dem Sinn, daß sie die Herrin nicht nur über ihr eigenes, sondern auch über Merlins Schicksal ist. Also ist nicht sie die Gefangene des Zauberers Merlin. Sie ist frei. Merlin ist der Ritter in ihrem Dienst, ihr >Liebesdiener<, somit ihr Verehrer. Viviane wird für ihn die ausschließlich zu verehrende Gottheit und wacht eifersüchtig darüber, daß der Mann seine Dienste allein ihr widmet. Damit ist auch Viviane eines der Gesichter der stets jungfräulichen Mutter-Göttin (De'esse-Mere).
Die Figur der Viviane ist alles andere als leicht zu enträtseln. Wie bereits erwähnt, ist die Viviane-Sage wahrscheinlich bretonischen Ursprungs. Jedoch hat sie nur in der höfischen Ausformung, die so bruchlos mit den Auffassungen über die Liebe im XII. und XIII. Jahrhundert übereinstimmt, ihren Ursprung in Frankreich. Daneben gibt es aber auch noch ein insulares Vorbild, das wir in der ursprünglichen Merlin-Sage finden, die ganz deutlich ihre Heimat in dem Gebiet der Nord-Brit(ton)en an der Grenze nach Schottland hat. Viviane selbst ist die höfische Stilisierung und Umformung von mehreren Elementen einer ursprünglich anderen Gestalt, die die Ramondichter des Festlandes jedoch aufgrund von Vivianes zweideutigen Beziehungen zu Merlin für moralisch zu anstößig gehalten hatten: sie war nämlich ganz einfach Merlins Schwester, die in den walisischen Texten Gwendydd und in der lateinischen Vita Merlini des Geoffrey of Monmouth Ganieda heißt.

Merlin und Gwendydd (Wales):

Merlin (Myrddyn) hat nach einer Schlacht den Verstand verloren und lebt nun als wilder und prophetischer Wahrsager auf der Flucht vor menschlichen Kontakten in der Einsamkeit der Wälder. Nur seiner Schwester Gwendydd, der Gemahlin des Königs Rydderch, gelingt es, sich ihm zu nähern, und sie bringt ihn auch noch mehrmals dazu, an den Hof zurückzukehren. Nachdem er seiner eigenen Gemahlin die Freiheit zurückgegeben hat, zieht sich Merlin schließlich endgültig in die Wälder zurück und lebt nur noch in Gesellschaft einiger >Weisen< und seiner Schwester Gwendydd, die er in seine Kunst der Weissagung einweiht.[16]

Sollte die Viviane der französisch-höfischen Fassung tatsächlich eine Transposition dieser Gwendydd sein — und es sieht ganz danach aus — dann scheinen im Laufe der Entwicklung aber auch noch andere Elemente in die Figur eingegangen zu sein. Aus der Schwester wurde die Herrin, aber wir wissen aus anderer Quelle, daß es sich dabei um Erinnerungen an eine Zeit handelt, in der der Geschwisterinzest zumindest für einzelne außergewöhnliche Individuen noch nicht mit einem Verbot belegt war. Aber ausgerechnet die Figur der Viviane ist mit dem Mythos der Diana verknüpft: ihr Vater Dyonas ist das Patenkind der Göttin; von ihr erhält sie die Gabe, auf ewig einen Mann an sich zu fesseln. Hat man darin nur die keusche Artemis der späteren >entschärften< Sagen zu erkennen, wo sie sich darauf beschränkt, die Tiere des Waldes zu jagen? Oder muß man nicht bis zum Urbild der grausamen, hemmungslosen skymischen Diana zurückgehen, die die archaische Sonnengöttin war, deren Kult in veränderter Form über die gesamte indoeuropäische Welt verbreitet war»? Im vorliegenden Fall wäre schon allein angesichts der Grausamkeit der Viviane, mit der sie das Objekt ihrer Liebe der Welt der Wirklichkeit beraubt und dessen Liebe sie eifersüchtig für sich reserviert hält, die Entscheidung für die skythische Diana vorzuziehen. Aber noch etwas anderes spricht dafür: im Wald von Broceliande gibt es nach der Estoire de Merlin (der Geschichte von Vivianes und Merlins Abenteuer) einen >Lac de Diane<, einen Dianen-See, und der höfische Dichter der Estoire weiß über den Ursprung dieses Namens eine kuriose Geschichte zu erzählen:

Der Dianen-See (Höfische Epik):

Merlin führt Viviane an das Ufer des >Lac de Diane'. Dort befindet sich ein Grab, auf dem ein Epitaph an Faunus steht. Merlin erzählt die Geschichte der Diane, die »zur Zeit Virgüs herrschte»: Sie habe sich in Broceliande niedergelassen und am Ufer dieses Sees einen Herrensitz errichten lassen. Sie habe einen Geliebten namens Faunus gehabt, den sie hätte schwören lassen, für sie der Welt zu entsagen. Eines Tages habe sie sich aber in einen anderen Ritter — Felix mit Namen — verliebt und nun überlegt, wie sie den Faunus loswerden könnte. Als er einmal verwundet wurde, soll sie ihn unter dem Vorwand, ihn zu heilen, in ein Grab gelegt und dieses mit einer Steinplatte endgültig verschlossen haben. So nahm Faunus sein Ende. Als Diana aber dem Felix erzählte, was sie getan hatte, soll er ihr den Kopf abgeschlagen haben. Und seit dieser Zeit heiße der See >Lac de Diane<.

Abgesehen von dem moralisierenden Ende dieser Geschichte, aus der eine deutlich männliche, nachgerade patriarchalische Geisteshaltung spricht (die armen Männer sind die Opfer der bösen Frauen, ergo müssen diese bestraft werden!), — wird man in der Sage von Faunus und Diana zunächst eine Doublette der Geschichte von Merlin und Viviane und ferner eine Reminiszenz des alten Kults der skythischen Diana sehen, das heißt des Kults der Ischtar, die ihren Geliebten tötet, oder der Cybele, die Attis mit der Keule der Umnachtung schlägt (so daß dieser sich gezwungen fühlt, sich zu entmannen), — oder schließlich der Aphrodite, die es dazu bringt, daß Adonis von einem Wildschwein getötet wird. Freilich liegen ganze Welten zwischen dieser grausamen und maßlosen Gottheit und dem streotypen Bild der keuschen Diana. Und doch ist dies ihr ursprüngliches, wahres Gesicht, und ihre Grausamkeit ist nichts anderes als die Bestätigung einer alten Tatsache: die Mutter-Göttin ist die Gottheit, die das Leben gibt und es auch wieder nimmt. Ebenfalls ist sie es, die jedem ihre Gunst gewährt, aber auch jedem entzieht, sobald sie es will. Hierin wird die doppelte Natur der Göttin deutlich: sie ist die Mutter und sie ist die virgo, das heißt die ewig verfügbare, vollkommen Freie.
Man sieht also, daß die Viviane zahlreiche Elemente mit dem Mythos der Diana gemeinsam hat, jedoch mit dem ursprünglichen Mythos der skythischen Göttin und nicht der lieblichen und besänftigenden Göttin, wie sie uns die Bildplastik der Römerzeit und der Renaissance überliefert hat. Übrigens wurde selbst von Racine der Wert des archaischen Mythos noch in seiner ganzen Tiefe richtig erkannt. Denn wie wäre zu verstehen, daß Hippolyth in der Tragödie Phedre geopfert wird, wo er doch der Inbegriff aller edlen Tugenden und sanften Qualitäten ist? Hippolyt ist ein Priester der Diana; er hat sich aber in die höchst irdische Aricie vergafft, und dies ist ein Verrat an Diana, den diese nicht verzeihen kann, denn sie hatte die Exklusivrechte auf den jungen Mann für sich reserviert. Daher ist die gesamte Phedre-Tragödie im Grunde ein einziges Sühneopfer und wird damit aufs Schönste der Aufgabe der Tragödie gerecht.
Die Viviane[17] läßt sich also folgendermaßen porträtieren:

Anmerkung 17: Der Name Viviane läßt sich kaum in befriedigender Form entschlüsseln. Der Dichter der Estoire behauptet ernsthaft, daß Viviane in der chaldäischen (sie!) Sprache >nichts werde ich tun< bedeutet. Im Keltischen gibt es kein Wort, womit dieser Name zusammenhängen könnte, es sei denn über den Umweg einer okzitanischen Form. Viviane kann nicht von der lateinisierten Form abstammen, mit der Geoffroy den Namen Merlins Schwester als Ganieda wiedergibt. Diese Form steht außerdem mit dem walisischen Namen Gwendydd, der >Weißer Tag< bedeutet, in keinerlei Verbindung. Dagegen gibt es zu Viviane die maskuline Form Vivien. Und Vivien ist ein berühmter Held vieler Chansons de Geste, in
denen er der Neffe von Guillaume d'Orange ist. Besonders bedeutend ist seine Rolle im Chanson de Guillaume (der Hauptvorlage von Wolframs Willehalm; Anm. d. Hrsg.), in der Bataille d'Aliscans und in den Enfances Vivien (>Viviens Kindheit<). Die okzitanische Form des Namens Vivien ist Vezian, und da sich alle Dichtungen des Guillaume-Zyklus um die Gegend von St. Gilles-du-Gard drehen, einem berühmten Pilgerziel des Mittelalters (also Treffpunkt von allen möglichen Völkern der Erde), muß man möglicherweise in St. Vezianus, einem dort verehrten Heiligen, ein Pendant zur walisischen Gwyddyon sehen, wodurch dann die Figur der Viviane in die Geschichte der Arianrod eingeordnet werden könnte. Denn wenn die Beziehung zwischen Arianrod und ihrem Bruder ziemlich zweideutig ist, so ist es die zwischen Merlin und seiner Schwester Gwendydd um kein Deut weniger. Die hier aufgestellte These ist jedoch zu gewagt, als daß sie als gültiges Argument verwendet werden könnte!

...sie ist die eifersüchtige Jungfrau, die in voller Ausschließlichkeit verehrt werden will. Hieraus dürften sich einige interessante Impulse für die Erforschung der höfischen Liebe beziehungsweise Minne ergeben, von der bisher schon soviel geschrieben wurde und die man mit Liebesdoktrinen aus dem fernsten Orient in Verbindung bringen wollte. In Wirklichkeit ist der Amour Courtois, die höfische Liebe und hohe Minne, unter anderem auch eine deutliche Erinnerung an den Kult der indoeuropäischen Mutter-Göttin mir all den archaischen Elementen, die im bis zum Extrem christianisierten XII. Jahrhundert nur nicht mehr richtig verstanden wurden: darunter besonders das Phänomen jener rätselhaften Unterwerfung des Mannes unter die Frau, und folglich der Göttin lagen, deren Priesterin sie letztenendes ist.

....Man wird jedoch sofort einwenden, daß Viviane, wenn sie entsprechend der von uns umrissenen Definition als Jungfrau angesehen werden muß, nicht zugleich Mutter sein kann, wie es Arianrod, Rhiannon und Keridwen sind. Und doch ist auch sie eine Mutter, wie aus einer anderen Episode der Artusromane hervorgeht, die aus der Bretagne stammt und von der Kindheit und Erziehung des Lancelot handelt:

La Dame du Lac/die Dame vom See (Höfische Artus-Epik):

Der König Ban de Benoic, der sich gerade mit seinem Nachbarn Claudas de la Lande im Krieg befindet, flieht heimlich von seiner Burg Treb, um König Artus um Hilfe zu bitten. Er nimmt auf diesen Weg seine Gemahlin und seinen kleinen Sohn mit, der noch ein Säugling ist. In Broceliande angekommen steigt Ban auf einen Hügel und sieht in der Ferne seine Burg in Flammen stehen. Sein Schmerz ist so groß, daß ihn der Schlag trifft. Die Königin ist über seinen Tod zutiefst erschüttert. Sie läßt ihr Söhnchen unter einem Baum zurück und als sie zurückkommt, um nach ihm zu sehen, sieht sie gerade noch, wie eine wunderschöne Frau den Säugling an sich nimmt und unter der Oberfläche des nahen Sees in der Tiefe verschwindet. Diese rätselhafte Frau ist keine andere als Viviane: »Der See war nur ein Zauber, den Merlin kürzlich ihr zu Ehren ersonnen hatte; an der Stelle, wo das Wasser am tiefsten zu sein schien, standen herrliche, prächtige Häuser.» Und in diesem Wunderland wird der Knabe aufgezogen, der einst den Namen Lancelot du Lac tragen wird. »Man braucht nicht erst zu fragen, ob die >Dame vom See< für Lancelot zärtlich sorgte; hätte sie ihn in ihrem eigenen Schoß getragen, so hätte sie ihn schwerlich liebevoller aufziehen können.»(Prosa-Lancelot, Lancelots Kindheit)

Viviane ist hier nicht nur wieder eine jener >Damen vom See<, die in großer Zahl die keltische Sagenwelt bevölkern, sondern sie spielt hier zusätzlich noch die Rolle von Lancelots Mutter. Man kmn darin zwar auch nur das wohlbekannte folkloristische Motiv der Fee sehen, die ein Kind raubt, aber wenn man bedenkt, wie brutal Viviane der wirklichen Mutter ihr Kind raubt, und daß diese an dem Kummer darüber ebenfalls stirbt, so ist man geneigt, auch darin eine Reminiszenz der skythischen Diana zu sehen. Ülrigens handelt Viviane, indem sie das Kind raubt, als Göttin; sie weiß, daß dem Kind ein außergewöhnliches Schicksal beschieden ist, sie weiß, daß es eines Tages die Gralsburg aufsuchen und der Vater von Galaad sein wird. Der Auftrag, der natürlichen Mutter das Kind wegzunehmen, ist ein göttlicher Auftrag. Sie selbst ist die göttliche Mutter, die dem Lancelot du Lac eine Art zweite Geburt ermöglicht, die Geburt zur Initiation in ein höheres Sehen und einen höheren Wert, ganz wie Keridwen, die durch die zweite Geburt dem Gwyon Bach/Taliesin die Möglichkeit gab, als Barde der Sänger des Universums zu werden.[18]

Anmerkg. zu 5.18: Die Person des Lancelot du Lac braucht nicht mehr eigens hervorgehoben werden. Während die Mehrzahl der in den Artus-Romanen enthaltenen Lancelot-Szenen problemlos sowohl auf der britischen Insel, als auch auf der bretonischen Halbinsel lokalisierbar ist, sind Lancelots Kindheitsabenteuer unverkennbar ausschließlich von der Geographie der Bretagne geprägt. Das Königreich des Benoic liegt auf der Grenze zwischen dem Gebiet der Bretonen und dem der Franken. Der Krieg zwischen Ban und Claudas ist ein literarisches Echo auf die Kämpfe, die sich während des IX. und X. Jfhs. zwischen den bretonischen Königen und den Karolingern abspielten, Kämpfe, die übrigens zu Gunsten der Bretonen ausgingen. Es ist die Epoche der weitesten Ausdehnung des bretonischen Gebietes nach Osten. Die Burg des Königs Ban heißt Treb, was der bretonische Name für ein in einer alten Gemeinde neu errichtetes Gebäude ist. Aus dem Zusammenhang läßt sich schließen, daß Treb in den Sümpfen von Redon liegen soll. Auf seiner Flucht folgt der König Ban der Oust bis an die alten Grenzen des Waldes von Broceliande, der ursprünglich das ganze Zentrum der Halbinsel bedeckte. Zum Namen Lancelot du Lac ist noch anzumerken, daß es sich um eine fehlerhafte Französisierung eines alten Namens handelt, der auch im Walisischen als Llwch Llaw-Mynyawc und im Irischen als Lug Lamfad (= >Lug mit der langen Lanze<) vorkommt, und daß bei seiner Umformung die Namen Lug, Llwch und Lac {Llwch bedeutet übrigens ebenfalls >See< wie Lac) miteinander vermengt wurden. In den ältesten walisischen Artus-Dichtungen kommt Lancelot noch nicht vor — außer in Kulhwch und Olwen, wo er eine wichtige Rolle spielt, die aber in keiner Hinsicht jener gleicht, die er in der Sagentradition des Festlandes annehmen sollte.

Es fällt auf, daß Broceliande stets der Ort ist, wo sich die Abenteuer von Merlin und Viviane, Diana und Faunus, Lancelot du Lac und wieder Viviane ereignen. Der Wald von Broceliande beherbergt jedoch noch eine andere berühmte Gestalt, die nach der insularen Überlieferung eher auf einer entlegenen Insel irgendwo in der Weite des Ozeans wohnt. Gemeint ist Morgane, die Fee Morgue der französischen Folklore, die Sclwester des Königs Artus, die allmächtige Herrscherin der Insel Avalon. Im Wald von Broceliande erhält diese Morgane einen deutlich anderen Aspekt, der sogar im Widerspruch zu dem Bild steht, das man nach landläufiger Meinung von ihr hat. Vieles deutet sogar darauf hin, daß sie mehr oder weniger stark mit Viriane verwechselt beziehungsweise gleichgesetzt wird, und daß sie auf alle Fälle im Kontext einer stark paternalistisch geprägten Tradition den Ausdruck einer gewissen Revolte gegen die männliche Autorität verkörpert, eine Revolte, die natürlich erstickt wurde, denn in einem christlich-patriarchalischen Mittelalter mußte natürlich alles unternommen werden, um die Keime der weiblichen Emanzipation nicht sprießen zu lassen. Ausgehend von dieser Feststellung läßt sich ferner nachweisen, in welch hohem Maße das Feudalsystem die keltischen Verhältnisse — und dies auf eine völlig widernatürliche Art und Weise — zu seinem eigenen Vorteil hat ausnutzen können. Hierin muß jedoch auch der entschiedene Einfluß der anglo-angevinischen Dynastie der Plantagenet gesehen werden: wenn Henri IL dazu beigetragen hat, die keltischen Mythen zu verbreiten, indem er die Poeten seiner Zeit aufforderte, die Artus-Themen dichterisch auszugestalten, erwies er sich auf der anderen Seite als der Totengräber der ursprünglichen keltischen Tradition, da er sie von ihren eigentlichen Zielsetzungen ablenkte und aus letzten Reminiszenzen einer antiken Philosophie eine Serie von Erzählungen zur Unterhaltung und Erbauung einer Feudalgesellschaft machen ließ, die vergessen sollte, daß sie der Spielball der maßlosen Ambitionen einer Familie von sorglosen Wohlhabenden war. Denn wenn es auch Henri Plantagenets Verdienst war, im kontinentalen Europa die keltischen Sagen populär gemacht zu haben, so war er doch gleichzeitig mit schuld daran, daß Irland als Nation aus der politischen Weltkarte verschwand.
Nun wieder zurück zu der Morgane, wie sie in den von den Plantagenets und ihren Verbündeten beeinflußten höfischen Romanen in Erscheinung tritt. Die Estoire de Merlin enthält ein ziemlich detailliertes Porträt von ihr, in dem nicht nur ihre wahre Natur, sondern auch noch ihr enger Bezug zur archaischen MutterGöttin zum Ausdruck kommen:

Porträt der Morgane:

»Sie war des Königs Artus Schwester, war heiter, höchst verspielt und hatte die allerlieblichste Stimme im Gesang; edel bronzefarben war ihr Gesicht, ansonsten stand sie gut ihm Fleisch, das meint: weder zu mager noch zu fett, sie hatte zierliche Hände, vollendete Schultern, eine Haut noch zarter als Seide, und allerfeinste Manieren; ihr Körper war schlank und rank und grad gewachsen — kurzum: sie war bis ans Wunderbare grenzend verführerisch, die heißeste und auschweifendste Frau von ganz Britannien. Merlin hatte sie in die Kunst der Astronomie und in viele andere Wissenschaften eingeweiht; sie hatte alles mit größtem Fleiß gelernt, so daß sie bald eine hochversierte Gelehrte war und man sie später ob der Wunder, die sie wirken konnte, Fee Morgane nannte. Ihre Rede war von köstlich sanfter Milde, und selbst dort, wo sie kaltblütig und ohne Feuer wirkte, war sie gütig und gewinnend, wie niemand sonst auf der ganzen Welt. Wenn sie aber jemandem ernsthaft grollte, war sie kaum zu besänftigen...«
(Estoire de Merlin)

Das kommt sicher dem Porträt der ursprünglichen sowohl gütigen als auch bösartigen Deesse-mere in ihrer ganzen Ambiguität recht nahe, dem Inbegriff der Gottheit, die gibt und nimmt, die »heiß und ausschweifend» wie die große orientalische Göttin ist und doch >jungfräulich< bleibt, da sie sich nicht der Autorität eines Mannes unterwerfen will. Bezeichnend ist auch, daß Merlin als derjenige gilt, der sie — wie Viviane — in die Kunst der Magie eingeweiht hat. In der Tat lassen auch andere Versionen der Merlin-Geschichte — sie sind nicht mehr erhalten, aber ihre Spuren finden sich noch in dem berühmten Romanwerk LaMorte d'Arthur, einer im XV. Jahrhundert von ThomasMz/ory verfaßten furiosen Kompilation von Artusromanen — die Vermutung aufkommen, daß Merlin zuerst der Geliebte der Morgane und dann erst der Viviane war. Und von da an ist es nicht mehr weit bis zu der Hypothese, daß Morgane ursprünglich mit Viviane identisch gewesen sein könnte. In Malorys Roman, welcher — das sei noch einmal betont — einer Überlieferung folgt, die in mancher Hinsicht von der des französischen Prosa-Landelot abweicht, stößt man darüber hinaus auf weitere interessante Einzelheiten über die Figur der Morgane: sie tritt dort als Gemahlin des bereits genannten Uryen und Mutter von Yvain auf, was nicht mehr überraschen dürfte, da wir bereits nachgewiesen haben, daß Morgane (die Göttin mit den Vögeln) mit der Modron, der Mutter von Mahon und Owein aus den walisischen Texten, identisch ist. Sie ist aber eine Gemahlin, die für allerhand Turbulenzen sorgt und das enge Band der Ehe nur schwer erträgt. Sie hat eine größere Zahl von Liebhabern, was sich mit den Aussagen des Prosa-Lancelot deckt (mit dem Unterschied, daß sie dort jedoch nicht verheiratet ist).

Morgane und Uryen (höfische Artusepik):

Eines Tages überrascht Morgane ihrenGemahl, König Uryen, schlafend auf seinem Bett, und so kommt ihr die Idee, dies sei ein günstiger Augenblick, sich seiner zu entledigen. »Da rief sie nach einer Dienerin, der sie vertrauen konnte und sprach zu ihr: >Bring mir das Schwert meines Herrn, denn nie fand ich eine bessere Gelegenheit, ihn umzubringen, als jetzt< »Entsetzt über solches Ansinnen der Morgane, begibt sie sich flugs zu Yvain, Morganes und Uryens Sohn, berichtet ihm alles und fleht ihn an, das Unheil abzuwenden. Yvain rät ihr, zunächst der Herrin zu gehorchen, und als Morgane gerade das Schwert über Uryens Haupt schwingt, stürzt Yvain, der im Hintergrund versteckt gelauert hatte, herbei, reißt der Mutter das Schwert aus den Händen und Mndigt ihren Zorn. Morgane fleht inständig um Gnade und behauptet, in einem Anfall von Wahnsinn gehandelt zu haben.«[19]

Aus diesem Mordanschlag spricht die Geisteshaltung, daß die Göttin sich von keinem Gatten oder Geliebten allzu ausschließlich vereinnahmen lassen will. Das ist auch die Geschichte von Diana und Faunus. Nicht weniger interessant und verschlagen entwickelt sich Morganes Zwist mit ihrem Bruder Artus, denn es sieht ganz so aus, als hätten wir es dort wieder mit dem Thema von Gwyddyon und Arianrod zu tun. Als Artus eines Tages waffenlos dasteht, entführt ihn Merlin zu einem See. Auf dem Wasser erwartet ihn ein Fräulein, die >Dame du Lac<, also Viviane, und gibt Artus sein berühmtes Schwert Excalibur (Kaledvoulch = >messerscharf<). Morgane scheint es fast nicht erwarten zu könne, Artus dieses Schwert, oder zumindest seine Scheide, zu stehlen und ihren Liebhabern zuzustecken. Während Morgane sich hier Artus gegenüber wie eine Feindin verhält, ist die >Dame vom See< — bei Malory heißt sie Nimue — im Gegenteil die Beschützerin des Königs. Symbolisiert diese Figurendoppelung nicht wieder die tiefgreifende Doppelnatur der Göttin, die zugleich gut und böse, gebend und nehmend ist?

Morgane und Artus (höfische Artusepik):

»Artus wurde gezwungen, die Scheide seines Schwertes der Fee Morgane, seiner Schwester auszuliefern, und diese liebte einen anderen Ritter ungleich mehr als den König Uryen, ihren Gemahl, oder König Artus. Ihrem Bruder Artus wünschte sie sogar den Tod. Daher ließ sie eine andere Schwertscheide zaubern, die der echten vollkommen glich und gab die echte Scheide des Schwertes Excalibur ihrem Geliebten Ritter Accolon.»[20] Morgane bewirkt, daß es zwischen Accolon und Artus zum Zweikampf kommt, aber Accolon wird von Artus tödlich verwundet. Sterbend gesteht er noch Morganes Verrat. Morgane ist über Accolons Tod untröstlich und sinnt auf Rache an Artus. Sie läßt ihrem Bruder einen kostbaren Mantel schenken, den sie so verzaubert hat, daß er den verbrennt, der das Pech hat, ihn anzuziehen. Aber als Artus gerade nach dem Mantel greifen will, erscheint die >Dame du Lac< und enthüllt ihm, in welcher Gefahr er schwebt.[21]

Wenn man sich vor Augen hält, daß Morgane, die Schwester des Königs, die gynäkokratische Macht der matrilinearen Familie verkörpert, so wird der Sinn dieses ständigen Kampfes zwischen Bruder und Schwester verständlich, der dem wesentlich hinterhältigeren zwischen Gwyddyon und Arianrod durchaus nicht unähnlich ist. Auf jeden Fall steht fest, daß Artus seine Macht als König von einer Frau erhalten hat, da seine Kraft und Autorität durch das Schwert Excalibur symbolisiert werden, welches er aus den Händen der >Dame du Lac< empfing. Nur durch dieses Detail aus Malorys Werk wird eine der letzten Szenen des französischen Prosa-Lancelot verständlich: dort fordert Artus nach der Schlacht von Camlann, als er tödlich verwundet ist, Girflet (Gilwaethwy, Sohn der Don) auf, das Schwert in einen See zu werfen, wo es von einer mysteriösen Hand ergriffen wird. Artus hat seine Macht von der >Dame du Lac< erhalten, der letzten Repräsentantin der alten Ordnung. Daher muß diese Macht wieder an die >Dame du Lac< zurückerstattet werden, damit sie wieder frei darüber verfügen und sie an einen von ihr Auserwählten weitergeben kann. Malorys furioser Roman enthält auch noch eine andere auffallende Episode, in der die >Dame du Lac<, die Femme mysterieuse und das Schwert eine Rolle spielen:

Baiin und die Dame du Lac:

Ein junges Mädchen, dessen Name unbekannt ist, kommt an den Hof von König Artus und hat ein Schwert, das sie nur dem tüchtigsten Artusritter aushändigen will. Schließlich gibt sie es dem Ritter Balin.[22] Darüber ist die >Dame du Lac< empört und fordert dafür den Kopf dieses Ritters oder den Kopf des Mädchens.[23] Baiin hat zahlreiche Aventiuren zu bestehen: er fügt unter anderem mit einem Schwerthieb dem König Pellam (Pellehan, dem Vater von Pelles, dem FischerKönig) eine unheilbare Wunde zu und schlägt ihm schließlich im Beisein der >Dame vom See< den Kopf ab. Doch das Schicksal ist ihm nicht hold: ohne ihn zu erkennen, tritt er gegen seinen eigenen Bruder Balan zum Zweikampf an, in dem die Brüder sich gegenseitig töten.[24]

Auf den ersten Blick wirken diese Episoden wie ein reichlich haarsträubendes Gemisch von verschiedenen mythischen Themen beziehungsweise Sagenmotiven. Da ist zunächst die Herkunft der Wunde des Roi Mehaigene (='Verwundeten Königs<), einer Verwundung, zu der es letztendlich auf Wunsch des jungen rätselhaften Mädchens kommt. Wer verbirgt sich hinter dieser Namenlosen? Die Antwort mußte lauten: wahrscheinlich Morgane, die auf diesem Weg dem Schwert des Königs Artus ein anderes von einem anderen Helden geführtes Schwert entgegensetzen will. Der dazu Ausersehene ist Baiin. Sofort erkennt man, daß die Verdoppelung Balin-Balan im Grunde nur eine Transposition des Selbstmords der ursprünglichen Figur ist. Davon abgesehen ist Baiin oder Balan bereits ein alter Bekannter: walisisch heißt er nämlich Beli. In der Historia Regum Britanniae erscheint er unter dem Namen Belinus in einer Episode, wo er sich gegen seinen Bruder Brennus (den Helden Brán) auflehnt. Auch in mehreren Chansons de geste spielt er eine wichtige Rolle, besonders im Chanson d'Apremont, im Chanson de Balan und im Fierabras. In Wirklichkeit verbirgt sich hinter dieser Figur der gallische Sonnengott Belenos, dessen Funktion in der zitierten Geschichte jedoch unklar ist, außer daß er eine Verbindung zur Modron-Mahon-Sage herstellt, die schon weiter oben analysiert wurde.
Die Situation könnte in folgendes Schema passen: zwei Feen liegen miteinander in Fehde, die eine gibt Artus, die andere gibt Baiin als Machtsymbol ein Schwert; die beiden Feen, das heißt die beiden Auffassungen von Gottheit und Macht, agieren jeweils durch vorgeschobene Mittelsmänner, denn in einer patriarchalisch aufgebauten Gesellschaft sind sie gezwungen, sich zu diesem Kampf männlicher Helden zu bedienen. Eine von ihnen geht am Ende zugrunde, bezeichnenderweise diejenige, die anfangs Balins Kopf beziehungsweise den der durch ihn agierenden Fee gefordert hatte. Aber auch der Erfolg der anderen ist nur von kurzer Dauer, denn ihr Held richtet sich selbst, und die Macht, die an Artus (den König des paternalistischen Typs, der aber trotzdem noch Erbe der weiblichen Souveränität ist), delegiert wurde, bleibt übrig. Die Fee, die Baiin das Schwert gibt, kann nur Morgane sein, da sie die erklärte Feindin ihres Bruders Artus ist. Morgane ist aber, wie gesagt, Modron, die Frau des Königs Uryen der walisischen Sagentradition, und dazu die Mutter von Mahon, dem jungen Sohn und jungen Sonnengott Maponos: und in diesem finden wir wieder den Sonnengott Belenos in der Gestalt des Baiin.
Überträgt man dieses Schema auf einen klassisch-griechischen Kontext, so wird man unweigerlich an Leto, die himmlische Muttergöttin (der Aspekt des Himmlischen dürfte der Hinweis auf einen Sternenkult sein) erinnert, die ihren Sohn Apoll (die himmlische Sonne) in den Kampf gegen die Python-Schlange von Delphi, deren keltische Verkörperung die >Dame vom See< ist. Obwohl Apoll die Schlange besiegt, wird er von seinen eigenen Widersprüchen besiegt und gefangen, daher das Motiv der gefangenen Sonne. Es ist zwar aus der griechischen Mythologie verschwunden, in der in die walisische Geschichte von Kulhwch und Olwen eingeflossenen keltischen Sage ist es aber noch zu erkennen: Mahon ist gefangen, doch Artus wird ihn befreien. Erstaunlicherweise wird Mahon ausgerechnet in Kaer Loyw (='Festung des Lichts<) in einem Kerker gefangen gehalten, der, wie bereits erwähnt, nur auf dem Wasserweg zu erreichen ist: demnach scheint sich die >Dame du Lac<, der Baiin das Haupt abgeschlagen hat, an ihrem Mörder — oder an dem, den sie dafür hält — dennoch gerächt zu haben. Wenn das rätselhaftnamenlose Mädchen, von dem Baiin das Schwert erhält, nur Morgane sein kann, dann kann die >Dame vom See<, von der König Artus das Schwert Excalibur erhält, entsprechend nur Viviane (oder Niniane/Nimue) sein. Das Wichtige an der uns hier beschäftigenden Episode ist jedoch, daß sie Balins Kopf oder anderenfalls den Kopf der Morgane fordert.
Abgesehen davon, daß wir hier dem weitverbreiteten Motiv der abgeschlagenen Köpfe begegnen (das nicht nur eines der charakteristischsten Motive der keltischen Mythologie sondern auch ein historisch und archäologisch nachgewiesener Brauch des Strafvollzugs ist), treffen wir hier wieder auf die Reminiszenz einer vergangenen Epoche: hier ist die Frau nicht nur Herrin über ihr Schicksal, sondern auch über das Schicksal des Mannes ihrer Wahl. Sie ist es, die dem Mann das Leben einhaucht, ihn seiner eigenen Kraft beraubt und ihn nach ihrem Willen agieren läßt. Diesen Sachverhalt illustriert Chretien hervorragend in seinem Roman vom Chevalier a la Charrette, dem >Karrenritter<, wo Lancelot nicht nur der Gefangene der Königin Gueniere ist, die er liebt, sondern auch aller anderen Frauen, denen er begegnet: diese Feststellung dürfte übrigens genügen, um alle Theorien über die höfische Liebe des XII. und XIII. Jahrhunderts zu widerlegen, die alle unter einem Mangel an Kenntnis über den keltischen Ursprung der ihr zugrundeliegenden Mythen und ihrer Bedeutung leiden.[25] Der Mann kann sich, sofern er will, daß seine Handlung zu irgendeinem Ziel führt, dem Sieg der virgo — im ursprünglichsten Sinn des Wortes, dessen Wurzel Kraft und Tat bedeutet — mit anderen Worten, der Allmacht des vergöttlichten weiblichen Wesens nicht entziehen. Auch Chretiens Karrenritter-Epos enthält eine Szene, in der die Jungfrau von dem Ritter einen Kopf fordert:

Baudemagus Tochter:

Lancelot muß auf dem Weg zur Schwertbrücke gegen einen hochmütigen, stolzen Ritter kämpfen, der ihn provoziert hat, indem er ihn vor die Wahl gestellt hatte, entweder den Fluß unbehelligt mit einem Boot (aber unter dem Risiko, die Überfahrt mit seinem Leben zu bezahlen) zu überqueren, oder sich sofort dem Zweikampf zu stellen. Lancelot sticht seinen Gegner aus dem Sattel, gewährt ihm aber die übliche >Sicherheit<, sobald er um Gnade angefleht wird. »Da kam ein Fräulein auf einem falben Maultier über die Heide angeritten. Ohne Haube und wehenden Haares trieb sie das Tier mit Peitschenhieben voran... Kein Pferd dürfte selbst im Galopp so schnell gewesen sein wie dieses Maultier im gemachen Gang.» Das Fräulein entsendet Lancelot ihren Gruß und bittet ihn um eine Gabe. Gemäß der keltischen Sitte kann Lancelot nicht ablehnen. Nachdem sie ihm versichert hat, ihn bei gegebener Zeit großzügig zu entlohnen, fordert sie von Lancelot den Kopf des von ihm soeben besiegten Ritters. Hin- und hergerissen zwischen seiner Verpflichtung der Dame gegenüber und seinem Mitleid mit dem Besiegten und Entwaffneten zögert Lancelot. Er gibt diesem eine zweite Chance und der Kampf entbrennt aufs Neue. Das rätselhafte Fräulein ruft Lancelot zu, seinen Feind auf keinen Fall zu schonen, egal was dieser sagen wird. Der Kampf endet damit, daß Lancelot schließlich dem besiegten Ritter doch den Kopf abschlägt und dem Fräulein wie gewünscht aushändigt, die sich sofort mit ihrer Trophäe entfernt. Als Lancelot später infolge der Heimtücke des Meleagant, der der Sohn des Baudemagu und König von Gorre ist, in Gefangenschaft geraten ist, befreit ihn das Fräulein und gibt sich als Tochter dieses Baudemagu und Beleagants Schwester zu erkennen.[26]

Ebenso wie sie Perceval zwingt, das Geheimnis des Grals zu ergründen, und ebenso, wie sie Peredur behandelt, zwingt dieses >Maultierfräulein< Lancelot etwas zu tun, was er nicht tun wollte. Sie ersetzt Lancelots Mitgefühl durch ihren eigenen Willen: sie ist also eine Art >dea ex machina< der Aventiure, wenn auch ihre Rolle im Vergleich zu der, die sie in der keltischen Urfassunggespielt haben muß, in den französischen (und mittelhochdeutschen) Texten relativ beschränkt ist. Übrigens enthält der gleiche Lancelot-Roman ein aufschlußreiches Geständnis sowohl über den keltischen Ursprung des Lancelot-Mythos, als auch über die Bedeutung der durch die Jungfrau verkörperten weiblichen Macht:

»Aber der Held meiner Maere trug einen Ring an seinem Finger: der Stein hatte eine magische Kraft, die ihn, sobald er ihn betrachtete, vor jedwedem Zauber schützte. Er hält den Stein sich vor die Augen, betrachtet ihn und sagt: >Dame, Dame, um der Liebe Gottes willen, dringend bedarf ich in diesem Augenblick eure Hilfe, o könntet ihr mir doch zu Hilfe kommen!< diese Dame war eine Fee. Von ihr war er auch in seiner Kindheit erzogen worden. Er konnte sich voll und ganz auf sie verlassen und hatte nicht den geringsten Zweifel, daß sie ihm Hilfe bringen würde, wo immer er sich gerade befand.«[27]

Demzufolge hat es, schon bevor sich die Lancelot-Sage in einer stärker französisch-christlichen Form von der keltischen wegentwickelte, für Chretien, also im XII. Jahrhundert, eine Überlieferung über die Kindheit des Lancelot und einer Fee gegeben, die ihn aufgezogen hatte und sein ganzes Leben lang beschützte. Diese Überlieferung wurde im Prosa-Lancelot wieder aufgegriffen, wobei dort die Viviane-Figur verdoppelt und zur >Dame du Lac< und der Jungfrau Saraide wurde. Das Einzelelement des Ringes, der gegen bösen Zauber immun macht und die Macht des Sieges gibt, kommt auch schon im walisischen Peredur vor. Dort ist die Kaiserin diejenige, die Peredur einen Ring gibt, mit deren Hilfe er ein Ungeheuer, das dort addanc genannt wird, besiegen kann; sie gibt ihm den Ring jedoch nur unter der Bedingung, daß er fortan nur sie lieben werde, woraus wieder die Abhängigkeit des Helden von der Frau spricht, durch die er all seine Macht hat.
Es gibt eine Morgane-Sage, die diese Macht der über bestimmte Kräfte verfügenden Jungfrau illustriert, der eine Figur gegenübertritt, die Marcuse unzutreffend als »Mann der Kultur» bezeichnet, die aber in Wirklichkeit der Protagonist der neuen, paternalistischen Gesellschaft ist, die gegen die Reste der alten gynäkokratischen Gesellschaft kämpft. Diese Sage taucht auch in den Artusromanen wieder auf und ist dort im Wald von Broceliande lokalisiert.

Das Tal ohne Wiederkehr (höfische Artusepik):

Als ihr Geliebter Guyomard sie verlassen hat, beschließt Morgane, sich an den Männern zu rächen. Sie verzaubert das Val Perilleux, das >Gefährliche Tal<, so, daß alle Ritter, die ihrer Dame untreu geworden sind, für den Rest ihrer Tage dort eingeschlossen bleiben, sobald sie es betreten. Sie finden sich dann in einer Art Paradies des Traums. Sie trinken, singen, feiern, tanzen, spielen Schach, aber sie können nicht über die das Tal umschließenden Hänge hinausgelangen, da diese von Riesen, gräßlichen Ungeheuern und Flammenwänden bewacht werden. Nur durch einen ganz außergewöhnlichen Helden, einen Mann, der seiner Dame immer treu bleibt, kann dieser Zauber gelöst werden. Obwohl Morgane mit allen Mitteln versucht hat, Lancelot zu verführen, bleibt er standhaft und kann auf diese Weise den Zauber brechen und die Ritter befreien, indem er ihnen beweist, daß die Feuerwände, Ungeheuer und Riesen in Wirklichkeit nur Ausgeburten ihrer Phantsie sind. Damit zieht sich Lancelot natürlich den tödlichen Haß der Morgane zu.

Freilich unterscheidet sich der Lancelot dieser späten Geschichte ebenso stark von Chretiens Chevalier a la Charrette, wie die ursprüngliche Morgane von der böswilligen und eifersüchtigen Fee. Und doch wird Morgane auch hier ihrer Rolle als Mutter-Göttin noch gerecht: sie hält die Männer so an der Kandare, wie sie es auch mit ihren eigenen Kindern tun würde. Denn ihre Geliebten sind zugleich auch ihre Söhne.[28] Lancelots Verhalten ist ein repressives Verhalten, somit erweist sich die Sage vom >Tal ohne Wiederkehr< als ein deutlicher Angriff auf alles, was die Idee des Weiblichen umfaßt: die Sage enthält das Thema des Gefängnisses, das vor allem im XVI. Jahrhundert von zahlreichen französischen Dichtern, von der Schule von Lyon ebenso wie von den Dichtern der Pleiade, aufgegriffen wurde. Wieder verbirgt sich dahinter auch der Mythos der Circe, die ihre Liebhaber in Ferkel verwandelt. Lancelot wäre also in etwa dem Odysseus gleichzusetzen: er lehnt die Unterwerfung ab und zerschlägt, was seiner Meinung nach Illusionen sind. Erinnern wir uns daran, daß Circe von griechisch Ki'pKoc (Kirkos), einer Raubvorgelart kommt. Circe ist also ein raubvogelartiges Wesen. Bereits der Gilgamesch der großen babylonischen Dichtung lehnt, nachdem er die Riesen des Zederngebirges besiegt hat, die Aufforderung der Ischtar ab, sich mit ihr zu vereinigen. Der keltisch-irische Held Cuchulainn verschmäht seinerseits die Göttin Morrigane, als sie mitten in der großen Schlacht der Geschichte vom Raub der Cualnge ihm ihre Reize anbietet. Circe, Ischtar, Morgane oder Morrigane sind nichts anderes als verschiedene Gesichter der furchteinflößenden, bedrohlichen Jungfrau, der in die Tiefe reißenden Virgo, der >Junggesellin<, der Unbezwingbaren, die zugleich Jungfrau und Prostituierte und daneben Mutter aller ihrer Liebhaber ist.
Wie ist der Umstand zu erklären, daß das Wort Tyrann, griechisch Tßpavvos (tyrannos), heute die Bedeutung >männlicher Despot< hat, während das Wort ursprünglich Herrin bedeutete, während zum Beispiel die Mutter-Göttin der Etrusker Turan hieß und das Wort selbst aus einer Wurzel Tur gebildet wurde, welche >Geben< bedeutet? Die >Herrin< (französisch übrigens Maüresse\ Anm. d. Übers.) ist somit trotz allem gegenteiligen Anschein im Grunde die Gebende. Odysseus, Gilgamesch, Lancelot, Cuchulainn und viele andere haben nichts begriffen von dem, was die Feen-Frau, die göttliche Frau in Wirklichkeit bedeutet. Aber alle diese Helden sind nur Symbolfiguren einer durch und durch von den Männern beherrschten Gesellschaft, die sich zu rechtfertigen und zu behaupten versucht, indem sie jede Spur der Weiblichkeit tilgt.
Und die paternalistische Gesellschaft versucht ganz besonders, mit allen Mitteln das Prinzip des iepoyaßos (hierogamos), der Vermählung mit der Gottheit, oder zumindest die Beziehung zwischen Liebhaber und Göttin zu leugnen. Das geschieht, weil die paternalistische Gesellschaft auf Gewalt und Aggressivität aufbaut, was wiederum zu Krieg und Mord führt. Daher ist es gut zu verstehen, wie asozial der Slogan der Hippies »Make love not war» wirkte, da er die Aggressivität dieser Gesellschaft denunzierte und kategorisch ablehnte. An dem Tag, an dem die Männer die Söhne ihrer >Herrinnen<, oder Mätressen (im doppelten Sinn des Wortes) werden wollen, werden sie vergessen, daß das offizielle Ziel des legalisierten Beischlafs (der Ehe) die Fortpflanzung ist. Von diesem Zeitpunkt an ist aber die Gesellschaft natürlich vom Untergang bedroht. Aber wird nicht genau dieser Gedanke in dem apokryphen Ägypter-Evangelium ausgesprochen, in einer wenig bekannten Passage, die zu heftigsten Kommentaren Anlaß geben dürfte? Dieser Text enthält ein vieldeutiges Gespräch zwischen Jesus und Salome. Salome fragt Jesus, wie lange der Tod noch herrschen werde. Jesus antwortet, »daß der Tod solange sein werde, als die Weiber gebären. Denn ich bin gekommen, die Werke des Weiblichen zu zerstören.« Natürlich versteht Salome den Sinn solcher Worte nicht und bittet um nähere Ausführungen. Da antwortet Jesus, daß die Herrschaft des Todes dann zu Ende ist, »wenn Ihr das Kleid der Schande mit Füßen tretet, wenn das, was entzwei ist, eins wird und wenn der Mann mit dem Weib nicht mehr in Mann und Weib geteilt leben wird.«[29] Die Verfechter der Repression der Sexualität werden das natürlich sofort so auslegen, daß es hier um die Verdammung des Fleisches geht. Darum geht es tatsächlich, aber wenn man den Dingen genauer auf den Grund geht, dann handelt es sich um die Verdammung nur desjenigen fleischlichen Lebens, dessen Ziel die Fortpflanzung ist, das heißt eines Lebens, das vollkommen ohne den Inhalt seiner usprünglichen Triebe abläuft.
Die Mythologien aller Länder zeigen nämlich deutlich, daß der Tod mit der Fortpflanzung verbunden ist: wenn das menschliche Individuum seine Existenz in seinen Kindern weitergibt, dann ist der Tod gewissermaßen notwendig, dann trifft er gewissermaßen eine >natürliche Auslese<, indem er das Alte zugunsten dessen, was jung ist, eliminiert. Wenn man aber — immer noch mythologisch betrachtet — davon ausgeht, daß der Mensch nicht in seinen Kindern fortleben kann, dann verliert der Tod seinen zwingenden Charakter, und der Mensch kann unsterblich werden. In Konsequenz kann man annehmen, daß es in den archaischen Überlieferungen und besonders in der Genesis eine Idee der Unsterblichkeit des Menschen vor dem Sündenfall, das heißt vor der ersten Schwangerschaft und Geburt gegeben hat: diese ist eine Sünde, da sie mit der bis dahin gültigen Ordnung brach, weil sie das Werk Gottes (als alleinigem Schöpfer) negierte, und weil sie manchen Rabbiner-Auslegungen zufolge der göttlichen Schöpfung ein Ende setzte. So könnte man verstehen, weshalb auf dem Mann (und der Frau) seit ältester Zeit ein Fluch lastet, nämlich seitdem der Mensch, der nach der Genesis von Gott geschaffen wurde, aufgrund von nicht mehr feststellbaren Umständen eines Tages begann, selbständig neue Wesen zu erschaffen, die natürlich unvollkommen geraten mußten. Die jüdische Tradition spricht von einer Befleckung der Eva durch die Schlange, die der Beginn allen Übels gewesen sein soll: und aus dieser Befleckung soll Kain, das Synonym des Todes entstanden sein, und durch diesen der Tod auf alle seine Nachkommen übertragen worden sein.[30]
Dies ist ein wichtiger Punkt, der sich übrigens mit der Auffassung der Katharer deckt, für die die Welt des Fleisches eine Welt des Teufels ist: daraus kann man schließen, daß Eva sich, bevor die Schlange (das heißt der Geist des Bösen oder der Rebellion) sie mit ihrer »Befleckung» (der Fähigkeit, Kinder zu gebären) infiziert hatte, sich sexuelle Kontakte erlauben konnte, die nicht zu einer Schwangerschaft und Geburt führten. Dieses Denken kennzeichnet die wichtigsten Geistesströmungen der jüdischen Tradition. Die Schlange verleiht Eva die Macht, Kinder zu gebären, eine Macht, die sie bis dahin nicht hatte. So würden die mehrdeutigen Worte Christi im Ägypter-Evangelium verständlich: er ist gekommen, um das Werk der Frau zu zerstören. Bekanntlich hatte diese Lehre — sofern sie ihm als authentisch zugeschrieben werden darf — keine Wirkung, sie wurde nicht befolgt, obwohl Jesus sich als der Verteidiger der neuen Frau (Maria) versteht. Man müßte dem Kampf zwischen Maria und Eva viel größere Aufmerksamkeit schenken, und zudem auch bedenken, daß Eva keineswegs die erste mythische Frau ist, sondern an die Stelle einer uneingestandenen Lilith[31] getreten ist.
Es muß überraschen, daß Eva — wie aus verschiedenen hebräischen Texten hervorgeht — nicht gerade das Gefühl hat, in der beschriebenen Art >befleckt< zu sein. Sie scheint im Gegenteil das Gefühl zu haben, daß das, was ihr widerfuhr, eher einen Segen für sie bedeutet. »Als Eva sah, daß Kain von einer höheren Natur war als alle übrigen Menschen, da rief sie: Ich habe einen Menschen mit einem Gott bekommen!» Somit handelt es sich unzweifelhaft um eine Hierogamie. Evas Ansicht stimmt mit dem Glauben überein, der vielleicht der der Urvölker war, nämlich daß der Mann mit dem Vorgang der Schwangerschaft in keinerlei funktionaler Beziehung steht, sondern daß dieser Vorgang durch Einwirkung eines Gottes ausgelöst wird. Die Geburt Kains ist somit in gewisser Hinsicht eine Präfiguration der Geburt Christi, aber wenn Kain das böse Kind ist, dann muß Jesus sein Antipode, das Kind der Barmherzigkeit und Güte werden. Von diesem Punkt aus betrachtet, besteht, wie die Psychoanalyse nachgewiesen hat, der Zusammenhang einer mythischen Equivalenz zwischen Sohn und Gatte: der Sohn repräsentiert den jungen Mann, der Gatte und Vater den alten Mann. Und das Ziel der Frau ist es immer, sei es auch nur in Form von Übertragung, den alten Mann durch einen jüngeren zu ersetzen. So ist auch das Verhalten der Morgane zu verstehen, die Uryen töten will, der Modron, die Babon retten will, und sogar der Rhiannon, der Witwe des Pwyll, die durch ihren Sohn Pryderi an dessen Freund Manawyddan verheiratet wird.
Daraus folgt, daß der junge Mann, der junge Sohn (wie zum Beispiel Mabori) — unbewußt oder nicht — den Versuch machen will, zur Mutter zurückzukehren, indem er sie entweder vom Vater ablenkt und sich ihr nähert (wie im Fall Ödipus) oder indem er sich geistig oder körperlich mit ihr identifiziert. Diese zweite, weniger bekannte Möglichkeit ist einer näheren Betrachtung wert.
Tatsächlich erscheint der Mythos der keltischen Frau in einem ganz neuen Licht, wenn man dieser durch die Erkenntnisse der Psychoanalyse entdeckten Identifikation mit der Mutter auf der einen Seite und gleichzeitig den Reminiszenzen weiblicher Erbfolge und Abstammung in allen bretonischen, brit(ton)ischen und irischen Texten auf der anderen Seite Rechnung trägt. Nach den alten Gesetzen ist die keltische Familie beziehungsweise Sippe juristisch eine agnatische Familie (das heißt die Abstammung wurde nur nach dem männlichen Stammvater beziehungsweise Vater definiert, Anm. d. Hrsg.), was jedoch de facto nicht uneingeschränkt galt: der Beweis dafür sind die ausdrücklich der Frau eingeräumten Privilegien. Daraus spricht ein gewisses Zögern zwischen der agnatischen und der sogenannten kognatischen Familie, das heißt jener Form der Familie, deren unumstrittenes Zentrum die Frau ist und in der jede Art der Abstammung und Erbfolge nach der Frau und ihren weiblichen Vorfahren definiert wird.
Diese nostalgische Erinnerung — hier ist der Begriff Nostalgie nämlich durchaus angebracht — an die Epoche der kognatischen Familie kommt im irischen und brit(ton)ischen Recht ebenso stark zum Ausdruck wie in der Mythologie dieser Länder. Diese nostalgische Komponente ist ein Indiz für die Verdrängung einer heimlichen Sehnsucht nach Rückkehr zum alten System, wenn nicht in der Wirklichkeit, so doch zumindest in einer Art Metaphysik, die von einer höchst subtilen Erotik durchdrungen ist, die nur mit Hilfe der Psychoanalyse in befriedigender Art und Weise gedeutet werden kann.
Da die Kelten aber trotz alledem Indoeuropäer sind, wollen wir nun einmal den Begriff der Weiblichkeit bei den alten Indern betrachten. Das weibliche Prinzip wird in der Terminologie der Veden als shatki bezeichnet. Es ist ein Kerngedanke der gesamten brahmanischen Mythologie, daß die männliche Gottheit allein keinerlei Macht und Kraft hat, und daß sie deshalb, um aktiv werden zu können, unbedingt durch eine weibliche Gottheit vervollständigt werden muß. Die Idee eines einzigen allmächtigen männlichen Gottes, der eifersüchtig seine Privilegien verteidigt, ist den Indem fremd. Auch bei den anderen indoeuropäischen Völkern gab es, zumindest in der Frühzeit, solche Götter nicht. Stark schematisch kann man die Theogonie, wie sie in den Veden dargestellt wird, so zusammenfassen: am Anfang war Brahma, die undifferenzierte Ganzheit, das Absolute. Da aber das Absolute absolut ist, ist es zu keiner Handlung fähig. Zu der absoluten und undifferenzierten Gottheit tritt eine relative Nebenform: diese wurde dann Shiva. In Shiva konkretisiert sich eine Einzelphase Brahmas. Shiva ist das relative Wesen, da sich aber nichts ohne sein Gegenteil — oder seine komplementäre Ergänzung — begreifenläßt, kann Shiva,die nun männliche Gottheit, die der charakteristische Gesetzgeber einer paternalistischen Gesellschaft ist, nur dann wirklich seine Funktionen erfüllen, wenn man ihm ein weibliches Prinzip gegenüberstellt, denn sonst würde er wieder zum absoluten und undifferenzierten Brahma werden. Das weibliche Prinzip, die Shatki, erhält die Gestalt der archaischen, vor-arischen Göttin Kali, oder das Gesicht jeder anderen weiblichen Gottheit: sie ist die Gemahlin des Shiva und hat (nach der Etymologie ihres Namens zu schließen) die Funktion der »Energie in Aktion» und der »Dynamik der Zeit». Shiva dagegen ruht stets in innerer Meditation versunken jenseits von Zeit und Raum. Er repräsentiert somit den passiven Aspekt der Ewigkeit. Shatki ist der Energieimpuls, der ihn in Bewegung setzt: somit ist diese Göttin der aktive Aspekt der Ewigkeit.
Versteht man diese Zusammenhänge richtig, so stellt man fest, daß die Rollen hier vertauscht sind: den Männern, die sich für die Bändiger und Herren der Welt, sowie für die Regulatoren der etablierten Ordnung halten, kommt auch nicht einen Augenblick lang zu Bewußtsein, daß ihre Macht im Grunde nur passiv ist, und daß gerade die Macht der Frau, die sie verachten (jedoch auch fürchten und beneiden), die aktive Macht ist. Jetzt wird einleuchtend, weshalb in manchen Sprachen, in denen die Erinnerung an die archaischen Epochen noch bewahrt wurde, etwa in den germanischen, keltischen und semitischen, grammatikalisch die Sonne feminin und der Mond maskulin ist. Tatsächlich hat die Sonne die Valenz der aktiven Wärme, die aktivierend die Welt bestrahlt und auch dem Mond Licht und Leben gibt, einem Gestirn, das an sich steril ist und mythologischsymbolisch betrachtet erst durch die Sonne belebt wird. In der Folklore der ganzen Welt erzählt man sich, daß der Mond die Frauen schwängert, man warnt die Frauen davor, im Mondschein ihre Blase zu erleichtem (da sie sonst schwanger würden), ja man spricht bekanntlich sogar von einer Beziehung zwischen dem Zyklus des Mondes und dem der Menstruation. Besonders der letzte Punkt ist von Bedeutung, da er die Phasen der Empfängnisbereitschaft der Frau betrifft: das bedeutet, daß auch die weibliche, solare Fruchtbarkeit ihrerseits von ihrem lunaren Gegenteil, dem passiven und kalten Prinzip abhängig ist. Das klingt zwar wie ein lediglich dialektisches Raisonnement, aber die Geschichte von Tristan und Yseult/Isolde, die den Anstoß zu jenen herrlichen Festen der abendländischen Leibes-Exegese gab, beruht auf genau dieser Opposition, und wir werden im übernächsten, dem Yseult-Mythos gewidmeten Kapitel, noch eingehend auf die Schlußfolgerungen zu sprechen kommen, die sich aus dieser Tatsache ergeben.
Es versteht sich von selbst, daß> die Konzeption der Shatki, dem aktiven Prinzip der Gottheit, den Anlaß gab zu den zahlreichen oft realistischen Darstellungen sexueller Vereinigung in der brahmanischen Tempel-Architektur. Diese Darstellungen zeigen die verschiedenen Phasen der Vereinigung zwischen Shiva und Shatki. Genau das ist die Hierogamie, die symbolische Vermählung mit der Gottheit, nach der alle Geschöpfe unbewußt streben, da sie fühlen, daß die Frucht dieser Vereinigung die Maya, die Welt der Illusion ist, was im europäischen Kontext soviel bedeutet wie die Welt der scheinbaren, >sichtbaren< Realität — oder auch die Welt der Relativität. Soweit zur Konzeption der Weiblichkeit innerhalb der indischen Theogonie.
Nach einer Vermählung mit der Gottheit streben auch die Helden der keltischen Epen: Maelduin entdeckt während seiner Meerfahrt eines Tages die >wunderliche Insel<, die Zauberinsel, auf der die Königin wohnt. Lancelot du Lac strebt nach der mystisch-sakralen Vereinigung mit der Königin Guenievre. Tristan wagt die >Aventiure< der Liebe mit der Königin Yseult. Peredur irrt unter der Führung der Kaiserin, die gelegentlich auftaucht, zielstrebig auf die Gralsburg zu. Um die Festung von Cüroi (dem >Hund-König< der Autre Monde) zu bezwingen, muß Cuchulainn zuvor Blathnait, die Gemahlin dieses Cüroi, die Königin der Schattenwelt, verführen. Und wenn derselbe Cuchulainn die Autre Monde betritt, so geschieht es auf den Ruf der Königin Fand und in der Absicht, ihre Liebe zu gewinnen. Unzählige weitere Beispiele lassen sich hier noch anführen, so etwa jene geheimnisumwitterten Jungfrauen, denen der Wanderer in einer Burg oder auf den finsteren und unwegsamen Pfaden begegnet, auf denen sich der Held jeder Aventiure bewegt, d.h. jeder Held, der auf der Suche nach der unio mystica ist, durch die er selbst zum König wird. Jeder Held nämlich, selbst wenn es ein Held unserer Kultur, besser gesagt unserer Zivilisation ist, also ein Held der maskulinen Ordnung, entspricht dem Shiva-Prinzip: allein, d.h. ohne seinen komplementären Gegenpart, ist er machtlos.
Aus diesem Grund finden wir in allen keltischen Sagen und Legenden immer wieder Fälle einer Identifikation des Sohnes mit der Mutter, denn diese Identifikation ist in gleicher Weise wie die des Liebenden mit der Geliebten eine Art psychischer Ersatz einer Hierogamie. Das Ergebnis dieses Phänomens sind jene ungewöhnlichen Konfigurationen der Mythologie des keltischen Altertums: Mahon und seine Mutter Modron, Owein/Yvain und seine Mutter Modron, Rhiannon und sein Sohn Pryderi und so fort. Oft erinnert nur noch die Art der Namensgebung an diese Form der Paarbeziehung: Gwyddyon, Sohn der Göttin Don, oder Conchobar, Sohn der Amazone Ness. Das Paar Mutter-Sohn wurde, weil zu schockierend und zu provozierend, in einer patriarchalischen Gesellschaft durch das Paar Liebender-Geliebte ersetzt, in welchem jedoch die gleiche Identifikation stattfindet. Der Liebesakt, der zwei Wesen wie Tristan und Yseult, Diarmaid und Grainne oder Etaine und Mider miteinander vereint, ist die symbolische Peripetie, über die die Liebenden zur Göttlichkeit gelangen: das ist das bereits auf älteste Zeiten zurückgehende Motiv des Sterblichen, der die Gunst der Göttin erhält und dadurch in den Rang eines göttlichen Wesens aufsteigt, wobei die Göttin symbolisiert wird durch die geliebte Frau, durch die vollkommene bzw. idealisierte Geliebte, die dämonische >Herrin<, die Fee mit den tausend Gesichtern, oder durch die allmächtige Dame und Herrscherin, das Objekt der Troubadour-Dichtung (ihr entspricht im mittelhochdeutschen Kontext die Frouwe in der Lyrik der Hohen Minne; Anm. d. Hrsg.).
Dieser Geist führt auch zu jener Art der Feminisierung des Priesters, die in vielen Kulten zu beobachten ist. Der Priester trägt, besonders während der Meßrituale, Gewänder, denen der weibliche Ursprung deutlich anzusehen ist, und kultischen Schmuck, der nicht weniger feminin wirkt. Was für den katholischen Priester gilt, trifft in noch stärkerem Maß auf die Priester der antiken Religionen und Kulte zu, die stets in langen, wallenden Gewändern auftraten, um sich deutlich von der Masse der übrigen Sterblichen zu unterscheiden. In manchen Fällen bleibt es nicht nur bei dieser rein äußerlichen Imitation, sondern es kommt zu einer Identifikation reinster Form, was auch vollkommen logisch ist, wenn man bedenkt, daß die Priester sämtlicher Religionen sich mit der Gottheit zu identifizieren haben. Herodot, der über die rätselhaften Kulte des Orients gut informiert ist, berichtet, daß die Ennareer, eine besondere Art skythischer Priester, Hermaphroditen waren. (Von dem ursprünglichen Zusammenhang zwischen den Skythen und den Kelten war bereits in anderem Zusammenhang die Rede!). Diese Priester weissagten wie die Druiden die Zukunft, sie bedienten sich dabei einer Weidenrute als Zauberstab (während die Druiden das Holz von Eibe oder Eberesche bevorzugten) und leiteten ihre Gabe der Weissagung von der Göttin Aphrodite ab. Tatsächlich hatten die Skythen auf einem ihrer Raubzüge durch Syrien auch den Tempel der Aphrodite Urania in Ascalon geplündert, woraufhin die Göttin ihnen zur Strafe die »Krankheit der Frau» auferlegte, die bei ihnen dann erblich werden sollte.
Dabei wird man unwillkürlich an das berühmte »Leiden der Ulates» erinnert, mit dem die Göttin Machadie Bewohner von Ulster für die ihr zugefügte Schmach bestrafte. Die skythischen Ennareer haben jedoch noch weitere Merkmale mit den Kelten gemein, denn ihr Name scheint von einer indischen und hethitischen, also indoeuropäischen Gottheit namens Inara abzustammen, die eine Art Calypso ist, welche einen Sterblichen verführt und ihn in ihrer Behausung gefangenhält.
Das ist das bei den Dichtern des höfischen Mittelalters und der Renaissance so beliebte Motiv des gefangenen Geliebten. Abgesehen davon, daß es bereits zweimal in herrlicher Art und Weise in der Odyssee dargestellt ist, nämlich im Zusammenhang mit Calypso und Circe, ist es eines der häufigsten Motive nicht nur der walisischen und irischen Literatur, sondern auch der mündlich tradierten keltischen Folklore ganz allgemein. Zahlreiche iriische Lieder sind Klagen einer Fee darüber, daß sie den Sterblichen, den sie unsterblich liebte, nicht länger gefangen halten konnte. Das ist die Geschichte von Fand und Cuchulainn, von Brán und Maelduin mit der Königin der geheimnisvollen Insel, von Condle dem Schönen, dem Sohn des Conn — und auch die Geschichte vom Hl. Guengalc'h von Treguier oder von Morgane und Lancelot.
Tacitus zitiert in einer Reihe von Namen halbgermanischer und nur oberflächlich keltisierter Völker ein Volk namens Naharvali, die einen einer antiken Religion geweihten heiligen Hain als Kultstätte pflegen. Dort wurde ein göttliches Paar angebetet, in dem Tacitus Castor und Pollux wiederzuerkennen glaubte, und der Priester, dem die Pflege dieses Waldes oblag, trug angeblich >Frauengewänder< (vgl. Tacitus: Germania XLIII). Die Identifikation mit Castor und Pollux wird von Tacitus allerdings unter großen Vorbehalten angeführt, und es ist nicht auszuschließen, daß es sich dabei eher um ein Mann-Frau-Paar handelte, als um ein Brüder-Paar, was das Kennzeichen einer bereits stark patriarchalisch ausgerichteten Gesellschaft wäre. Überdies liefert die Detailangabe, daß der Priester dieses Volkes Frauenkleider trägt, einen aufschlußreichen Hinweis: diese Priester dürften sich demzufolge auf ähnliche Weise mit der Göttin identifizieren, wie die bereits erwähnten Galloi, die Priester der Cybele, die ebenfalls Frauenkleider trugen und noch dazu Kastraten waren, wie jene Eunuchen-Priester, denen man in Uruk, bei den Hethitern, in Ephesus, Zypern und in Lydien begegnet; in diesem Zusammenhang sind natürlich auch die im Altertum über ganz Europa und heute noch über Asien verbreiteten Schamanen zu erwähnen, wobei es als gesichert gilt, daß ihr Wissen vieles mit dem der alten Druiden gemeinsam hat.
Häufig wurde dieses Transvestitentum< verachtet und diffamiert, da man ihm eine homosexuelle Tendenz andichtete. So wurde behauptet, die Liturgie dieser Religionen hätte bestimmte Handlungen mehr oder weniger direkt homosexueller Natur beinhaltet, wobei die Homosexuellen als Zwischenwesen und insgesamt als Verrückte oder Betrunkene, somit als Individuen im Besitz von übernatürlichen Kräften eingestuft wurden. Vieles spricht jedoch dafür, daß eine solche Deutung den Kern der Sache weit verfehlt. Daß die Homosexualität seit dem frühesten Altertum weltweit verbreitet war, und daß sie in vielen Kulten und Ritualen eine Rolle spielt, soll keineswegs bestritten werden, nur darf nicht außer acht gelassen werden, daß es sich bei diesen Religionen vor allem um Religionen handelt, die der großen Göttin gewidmet waren. Und genau darin findet der Prozeß der Identifikation des Mannes, d.h. des Sohnes und Geliebten als Geschöpf, mit der Gottheit, der Schöpferin, Mutter und Herrin durchaus statt: die Psychoanalyse hat es bereits durch ihre elementarsten Beobachtungen nachgewiesen.
Während der Mann in der Urzeit tatsächlich die Frau um das Mysterium ihrer fundamentalen Ambiguität, ihrer Macht, neues Leben zu schöpfen, beneidete, büßte er in den folgenden Epochen durch seine bis ins letzte maskuline Erziehung diese metaphysische Sehnsucht nach der göttlichen Frau allmählich ein. Unbewußt wirkt diese Sehnsucht in jedem Individuum jedoch noch weiter. Künstler und Dichter bringen in ihren Werken, andere in ihren auf den ersten Blick unerklärlichen oder ganz einfach abnormen Verhaltensweisen (wie etwa durch psychische Imitation oder durch Kleiderfetischismus) diese unbewußte Sehnsucht in übertragener Form weiterhin zum Ausdruck.
»Eine extreme Annäherung an das weibliche Erscheinungsbild verleiht», — nach Braunschweig/Fain —

»dem Mann karnevaleske Züge. Es handelt sich dann um Transvestiten, die sich der >großen Operation< — wie sie es nennen — unterzogen haben (Entfernung der männlichen Genitalien und Öffnung einer künstlichen Vagina). Damit gelangen wir zu einer weiteren Ursache der von Freud entdeckten >Kastrationsangst': die Sehnsüchte nach Umwandlung in eine Frau würden beim Mann den Wunsch nach Kastration erzeugen (...) Lüften die Eindrücke, die ein solches Verhalten im Mann auslöst, nicht ein wenig den Schleier jenes unergründlichen Mysteriums, das die Weiblichkeit in den Augen der Männer ist? Entspricht der Wunsch eines Mannes, sich in eine Frau umzuwandeln, nicht jener fälschlichen Schlußfolgerung, die ein kleiner Junge zieht, wenn er bei seiner kleinen Schwester das Fehlen eines Penis feststellt?»[32]

Hierin liegt das Problem: man braucht keineswegs zu Freuds Auffassung zurückzukehren, wonach die Frau sich frustriert fühlt, weil sie keinen Penis hat, und daher durch die verschiedensten Verhaltensweisen einen »Penisneid» äußert, sondern es handelt sich im Gegenteil um Versuche der Annäherung an die Welt der Weiblichkeit, die übrigens entgegen allem anderen Anschein für das Mädchen ebenso rätselhaft wie für den Jungen ist. Der Priester, der sein Amt in Meßgewändern ausübt, deren Form sich aus der ursprünglichen Frauenmode entwickelt hat, ist wie der Transvestit mit oder ohne Geschlechtsumwandlung von ein und derselben Sehnsucht geleitet: einen Teil des Schleiers, des berühmten Schleiers der Isis, zu lüften. Wenn man daher allzu leicht — und geistlos — von Unanständigkeit oder gar Perversion redet, wenn ein kleiner Junge den Frauen unter die Röcke sehen will, dann muß man die ganze Menschheit für pervers halten, denn die Geste des Verliebten, der den Körper der geliebten Frau entkleidet, ist im Grunde eine sakrale Handlung, deren Ursprung bis in das Dunkel der Vorzeit zurückgeht. In unserer durch und durch rationalisierten Welt, die nicht mehr an das Ritual glaubt, und es dennoch — ohne es zu wissen — ständig wieder belebt, ist daraus das »Entblättern», der »Striptease» geworden, eine degenerierte Form eines einst sakralen Kultes, der zu einem Niveau niederster kommerzieller Ware verkommen ist.
Wenn man nämlich die Entwicklung bis zu den mythischen Anfängen der Menschheit zurückverfolgt — denn der Mythos resümiert durch die Sprache der Symbole die psychische Evolution der Menschheit —, dann findet man das Phänomen des Transvestitentums bereits in der Geschichte von Adam und Eva:

»Eva hat als Erste», so stellen Braunschweig und Fain fest, »die Welt der Sexualität entdeckt und zwingt Adam, so zu tun, als würde er sie ihr enthüllen (...) Diese Tatsache, die in die gleiche Richtung geht, wie die Stimulation des Penis des Säuglings durch seine Mutter, versetzt Eva in den Status der Mutter von Adam (...) In der biblischen Geschichte heißt es ausdrücklich, daß Eva der Rippe eines Mannes entsprossen ist (...). Diese Behauptung ist historisch unrichtig, sie ist die Folge einer Verkleidung (...) Daraus ist folgender Schluß zu ziehen: Eva ist die bildliche Darstellung einer ganz vom Mann geschaffenen Frau. In gewissem Sinne ist sie der Adam Travesti, der >verkleidete Adam<.»[33]

Diese Feststellung zeigt, daß Eva von Adam nackt gesehen wird, aber gesehen als sein vollkommenes Ebenbild, als sein Double, jedoch in kastrierter Form: so gesehen könnte Eva, wenn man die Genesis ganz wörtlich nimmt, wiederum tatsächlich ex Adamo entstanden sein, — dann wäre jene vielzitierte Rippe nur das Symbol für jenen Körperteil Adams, der zu dieser Schöpfung verhalf. Deutlicher ausgedrückt heißt das: Eva wurde, nackt und penislos, aus der Imagination des Adam geboren; das entspräche dann in anderen mythischen Texten der Geburt der göttlichen Frau aus dem Hoden des Vaters (z.B. der Aphrodite, die aus dem Schaum des Meeres sowie den Hoden des von Kronos kastrierten Uranos geboren wurde). Eva, mit anderen Worten: die göttliche Frau, die Mutter der Menschheit, ist somit der >entmannte< Aspekt Adams. Diese Schlußfolgerung gilt nach Braunschweig und Fain auch im Alltagsleben:

»In welch maßloses Erstaunen würde man den kleinen Jungen versetzen, der in ein Kostüm seiner Mutter gekleidet, das er ihr heimlich entwendet hat, vor dem Spiegel steht und masturbiert (eine Praxis, die so häufig ist, daß sie an eine Banalität grenzt), wenn man ihm sagen würde, daß er durch diese Geste Eva, ohne ihren Zustand der Kastriertheit zu berücksichtigen, neu erschaffen hat.»[34]

Durch das ständige Verdrängen all dessen, was die Weiblichkeit zur Lösung der Männerängste stets beigetragen hat, erzeugt man jedenfalls eine vollkommen neurotische Menschheit, denn

»wenn dieser kleine Junge sich zu einem solchen Verhalten gezwungen fühlt, dann deshalb, weil er in seiner frühesten Jugend nicht wie in archaischer Zeit in Mädchenkleider gekleidet war. Eine geistlose und beschränkt-formelle Auffassung von der Männlichkeit hat die Fortdauer dieser Gewohnheit verhindert, die mit Sicherheit von größerem Wert war als die Destruktion des Gefühls für die Liebe, die die Erzieher, denen selbst jede Erziehung fehlt, in die Tat umzusetzen versuchen, indem sie ein Fach wie die sogenannte >Sexualerziehung< kreieren.«[35]

Anm. 5.35 Ibid. S. 105. Ich muß hinzufügen, daß die aktuelle Sexualerziehung, ob in oder außerhalb der Schule, der Gipfel dessen sein dürfte, was unser bis in die Wurzeln verrottetes und zur Heranbildung der Jugend zu ihren künftigen Verantwortlichkeiten völlig unfähiges Erziehungssystem an Schwachsinn erfinden konnte. Denn erstens beraubt die sogenannte >Sexual-Kunde< den Bereich der Liebe jeglicher Poesie und reduziert ihre Funktion auf die Tatsache der Ausscheidung von Körpersekreten. Man >macht< die Liebe so prosaisch wie eine auf der Toilette zu erledigende Verrichtung. Zweitens ist sie nichts anderes als die Anwendung der geliebten »Direction d'intention» der guten alten Jesuiten-Patres: da man die Menschen nun einmal nicht von der Ausübung des Geschlechtsaktes abhalten kann, so versucht man doch wenigstens, diesen Akt durch ein edles und altruistisches Ziel zu rechtfertigen, nämlich durch das der Fortpflanzung. Drittens — und das ist der gravierendste Punkt — beraubt man die Sexualität ihrer biologischen Bedeutung und ihres psychologischen Wertes, indem man ihr eine reine Zeugungsfunktion unterstellt, obwohl bisher nie der eindeutige Nachweis erbracht wurde, daß der Zweck der Sexualität ausschließlich die Fortpflanzung ist: denn >fortpflanzen< kann man sich auch, ohne die sinnlichen Mechanismen der Sexualität zum Schwingen zu bringen. Die Sexualität dürfte vielmehr vom Fortpflanzungstrieb unabhängig sein und braucht auch nicht erst aus Büchern und unter Anleitung von Erziehern gelernt zu werden, die ohnehin nicht vermitteln können, was einzig durch den Liebesakt selbst erfahren werden kann.

Noch einmal sei es betont: es steht die Zukunft der gesamten Gesellschaft auf dem Spiel. Wenn hier gewisse Tatsachen angesprochen werden, dann geschieht dies gewiß nicht mit dekadenten Absichten. Die Vermännlichung hat die Gesellschaft dazu geführt, all das zu vergessen bzw. zu ignorieren, was die Grundlage einer jeden psychosozialen Bindung ausmacht, nämlich die affektiven Bindungen, die die einzelnen Mitglieder einer Familie oder ein und desselben Clans zusammenhalten. Und diese beruhen in erster Linie auf der Beziehung zwischen Eltern und Kindern, insbesondere zwischen Mutter und Kind, egal ob Tochter oder Sohn. Wenn man daher das Konzept der göttlichen Mutter abgeschafft hat oder sie der Autorität eines Vater-Gottes unterstellte, so hat man den Mechanismus der Triebe, der das ursprüngliche Gleichgewicht garantiert, funktionsunfähig gemacht: dies mußte dann zwangsläufig zu Neurosen und anderen Dramen führen, die die paternalistischen Gesellschaften erschüttern, wozu auch diejenigen zu rechnen sind, die sich für besonders hoch entwickelt halten und — mit den hübschesten Formulierungen — behaupten, der Frau wieder zu ihrer wahren Würde und zu ihrer wahren Rolle zu verhelfen, zu einer Rolle, die in Wirklichkeit der Mann für sie ausgesucht hat. In Wirklichkeit ist nämlich der Mann ebenso unfähig, die Rolle der Frau zu finden, wie er unfähig ist, seine eigene Rolle gegenüber der Frau zu finden. Er kann nichts anderes tun, als einem unumstößlichen Gesetz folgen, das — um einmal Montesquieus Definition zu verwenden — ein NaturGesetz ist, gegen welches ein Vernunftgesetz völlig machtlos ist. Dieses Naturgesetz manifestiert sich in den Instinkten, den Trieben. Und die Existenz der Triebe kann nicht geleugnet werden. Sie zu leugnen — was vor Freud zahlreiche Moralisten und Psychologen immer wieder getan haben — hieße psychischen Entgleisungen Tür und Tor öffnen, denn alles abnorme Verhalten ist ganz einfach dadurch gekennzeichnet, daß es nicht mehr den Gesetzen der Natur folgt.

Dieser Widerstreit zwischen Natur und Vernunft, der überdies stets ein unechter Kampf war, ist schuld an der Verblendung dieser Gesellschaft, die bei dem Versuch, die Triebe zu korrigieren, den Menschen von dem entfernt, was ursprünglich einmal seine Natur war.
Außerdem läßt sich der Trieb nicht korrigieren. Er läßt sich sublimieren, transzendieren, und zwar mit Hilfe einer Vernunft, die ihn kanalisiert, die ihn aber auf keinen Fall in zu enge Rahmen pressen, geschweige denn negieren darf. Der Instinkt erregt Furcht, da er stark ist, und weil ihm nicht zu entkommen ist. Eine systematische Untersuchung des weiblichen Prinzips bei der keltischen Frau hat zumindest das Verdienst, die Tatsache hervorzuheben, daß es die Triebe von Anfang an gegeben hat, daß sie im etymologischen Sinn des Wortes — als >Instinkt< ein primordiales Phänomen sind, daß sie notwendig sind und daß sie die Impulse zu Fortschritt und Evolution geben.
Den Trieben haftet jedoch auch etwas Ungebändigt-Wildes, ja sogar Barbarisches an. Aber gerade das ist es, was sie so »faszinierend» macht. Sie allein steuern unsere Gefühle, unsere Aktivität. Und aufgrund unserer Gewohnheiten auf dem Gebiet der Moral ist es gelegentlich peinlich, über sie zu reden, Urnen offen ins Gesicht zu sehen: denn die Wahrheit ist bekanntlich schockierend. Wagt man die Behauptung, daß alle Beziehungen zwischen Mann und Frau - egal ob ehelich, genealogisch oder sonst wie — automatisch inzestuöse Mutter-Sohn-Beziehungen sind,[36] so löst man eine Flut heftigster Kritiken aus, die bis zum Vorwurf der manischen Besessenheit gehen. Und doch ist der Mensch ein unvollkommenes Wesen, und er ist sich dessen auch bewußt. Seine Angst und seine Hingezogenheit zum finsteren Abgrund (dem Nichts, aus dem er kommt), seine Angst und sein Schwindelgefühl angesichts des Todes (des Nichts, in das er wieder zurückkehren wird), machen ihn zu einem zerbrechlichen Wesen, das um jeden Preis irgendeinen Schutz sucht. Und diesen Schutz, diese Sicherheit, bietet für den Mann ebenso wie für die Frau die Mutter. Der Mann hat jedoch physisch und gefühlsmäßig die Möglichkeit, zumindest zeitweise in den Leib der Mutter zurückzukehren. Dies braucht nicht mehr eigens erläutert zu werden, da sämtliche Schulen der Psychoanalyse das Phänomen hinreichend untersucht haben, daß der Penis, ein vergleichsweise kleiner aber äußerlich sichtbarer Teil des Mannes, der sich vergrößern kann, zum vollständigen Substitut des Mannes werden kann. Dadurch kann der Mann in seiner Phantasie die Rückkehr in das durcn die Mutter repräsentierte Paradies für die Dauer einiger Augenblicke verwirklichen.
Aber jede Frau ist eine wirkliche oder zumindest potentielle Mutter. Somit ist der Mann — ob er es wahrhaben will oder nicht — biologisch der Frau unterlegen. Er ist der Inhalt, während die Frau die Beinhaltende ist: dies bedeutet einen klaren Zustand der Unterlegenheit für den Mann, und er muß daher sein ganzes Leben lang diese Tatsache negieren, um sich zu beweisen, daß er dennoch der Überlegene ist. Dies ist die Ursache der Aktivität des Mannes und seiner Neigung zu Gewalt und Kampf. Diese Aktivität ist sein einziges Mittel, mit dem er versuchen kann, seine Stellung zu behaupten.
Obwohl der Mann der Inhalt ist, und damit das unterlegene, zweitrangige Wesen, maßt er sich trotzdem das Recht eines überlegenen Wesens an und demonstriert ständig, daß allein seine aktive Energie die Menschheit zu schützen vermag. Es ist ihm sogar gelungen, die Frau von dieser Überlegenheit zu überzeugen, was sich darin äußert, daß bei der Geburt eines Jungen von der Mutter oder von jeder dabei anwesenden Frau der Penis des Kleinen sofort besonderer Aufmerksamkeit gewürdigt wird. Der berühmte Ruf: »Es ist ein Junge!», der von Generation zu Generation weitergerufen wird, besagt besonders deutlich, was damit gemeint ist. Kommt in einer Familie ein Mädchen zur Welt, so wird dies eben hingenommen; ist es aber ein Junge, dann ist die Freude groß.[37]
Dagegen ist die Beinhaltende, die Mutter, mit anderen Worten die Frau im allgemeinen, selbst die Verwirklichung des Paradieses. Dieses Paradies verkörpert sie auf zweifache Weise: sie >enthält< ihr Kind und ihren Geliebten. Die Vagina des kleinen Mädchens wird weder von der Mutter noch vom Vater bei der Geburt anerkannt. Diese Anerkennung findet aber eines Tages schließlich doch noch statt, und zwar durch den Mann. Somit braucht die Frau den Mann, um sich selbst zu bestätigen, um sich dessen bewußt zu werden, was sie ist, und vor allem dessen, was sie zu leisten vermag. Auf diese Weise sind beide Geschlechter, die die Menschheit ausmachen, unausweichlich aufeinander angewiesen. Der Mann braucht die Frau, die Frau braucht den Mann. In die Sprache der Mythologie übersetzt bedeutet das: der Mensch braucht eine Göttin, aber die Göttin braucht auch einen Menschen. Aus diesem Grunde haben die archaischen Kulte, die die weibliche Gottheit verehren, durch all die Jahrhunderte in den vielfältigsten Gestalten überlebt.
Wir sind ihr bei den Kelten mit verschiedensten Gesichtern oder besser gesagt hinter den verschiedenen Masken begegnet, die ihr die Männer aufgesetzt haben. Wieviele Namen man ihr auch immer gegeben haben mag, nie darf diese verwirrende Vielfalt den Blick davon ablenken, daß es sich immer um ein und dasselbe Wesen handelt, um die Urmutter, die Primordialgöttin, die große Königin des Urbeginns.
Diese große Königin des Urbeginns sahen wir zusammen mit König Pwyll auf dem Hügel von Arberth auftauchen. Sie ritt einen feurigen Renner und konnte nur von demjenigen eingeholt werden, den sie sich in ihrem Herzen auserwählt hatte. Vor der Ankunft der Rhiannon bedeutete der König nichts: er wartete in der Unendlichkeit des Universums, wartete wie Shiva auf das Kommen der aktiven Kraft, der Macht. Aber auch Rhiannon — so heißt sie in der walisischen Dichtung — irrte ziellos umher: sie mußte erst denjenigen finden, mit dessen Hilfe sie die Welt erschaffen würde.[38]
Ganz ähnlich wird nach dem Abtreten des alten Königs Pwyll der junge wiedergefundene Sohn Pryderi (in anderem Kontext Mahon) der unersetzliche Partner der Rhiannon. Und dieser ist es dann, der in der dritten Mabinogion-Eizählung Rhiannon dem Manawyddan zur Frau gibt, einer Figur, deren Rolle innerhalb dieser Sage recht unklar ist.[39] Als er in der verzauberten Burg verschwindet, folgt ihm Rhiannon nach. Zu diesem Zeitpunkt ist die Welt »wüst und leer». Manawyddan bleibt allein übrig, nur noch Pryderis Gemahlin (— aber diese ist eine rein literarische Erfindung —) ist bei ihm, und nichts kann sich an dieser Lage ändern, bevor es ihm nicht gelingt, die Mutter und den Sohn zu befreien. Von diesem Augenblick an löst sich der Zauber, und die Welt beginnt sich wieder zu beleben. Dieses Sagenfragment, das im dritten Mabinogi verarbeitet ist, scheint wesentlich älter zu sein als das stark abgewandelte des ersten MabinogionTextes (der Begegnung zwischen Rhiannon und Pwyll, der Geburt und Jugenderziehung von Pryderi): dieses archaische Sagenfragment liefert den Schlüssel zur Deutung der Gestalt der Rhiannon, die vor allem die Herrscherin über das Universum ist. Sie ist jenes Prinzip, durch das die Energie erst in Bewegung gebracht wird. Und in dieser Entwicklungsstufe des Mythos kann eine exakte Entsprechung gesehen werden zur Sage von Modron und Mahon (der Sage von der Mutter, die ihren verschwundenen Sohn sucht), einer anderen, stärker keltischen Form, die sich wesentlich enger an die Überlieferung hält als etwa die rationalisierte griechische Sage von Demeter, die auf der Suche nach ihrer Tochter Köre ist. Daraus ist zu schließen, daß der Name der Rhiannon eine ganz spezielle Bedeutung haben muß, da sie unter diesem Namen eine so außerordentlich wichtige Rolle spielt.
Was bedeutet also der Name Rhiannon?
Die meisten Kenner des Keltischen[40] nehmen an, daß Rhiannon von einem alten Rigantona abgeleitet ist, was soviel wie >die große Königin< bedeutet haben dürfte. Das große Problem dabei ist, daß die Etymologie eine Wissenschaft ist, die sich häufig nur auf hypothetisch erschlossene Elemente stützen kann. Die Bedeutung >große Königin< paßt zwar bestens zu dieser Figur, aber ist sie auch wirklich die einzig mögliche? Es sieht so aus, als wäre dem nicht so.
Die Form Rhiannon setzt nämlich mit großer Wahrscheinlichkeit ein Suffix -ona voraus, das in anderen Namen gallischer Göttinnen (etwa Dibonna, Matrona etc.) gut belegt ist; daneben enthält der Name die Lautgruppe -ande-, ein gallisches Intensivum,[41] welches dem gälischen -ind- und dem bretonischen -an- entspricht. Demnach hätte die ursprüngliche Form Rigant-ona gelautet, deren phonetische Entwicklung dann völlig gesetzmäßig verlaufen zu sein scheint. Nebenbei sei darauf hingewiesen, daß diese Form ein Wort voraussetzt, das schon vor der Herausbildung der walisischen Sprache fest existierte, da man in ihm keinen Term findet, der wirklich in das Walisische eingegangen ist, besonders was rhi (aus rig) betrifft, das zu rhwyf (oder ruev) geworden wäre. Dieses Wort wird aber schon im XI. Jahrhundert entweder durch teyrn (bretonisch tiern, entstanden aus < tigernos) ersetzt oder durch brenhin, das die Wurzel bren (= >Höhe<) enthält. Aber leider bedeutet rig (oder reg) (dem Wort entspricht lateinisch rex und im Sanskrit raj) im Gallischen >König< und nicht >Königin<. >Königin< heißt im Gallischen regena — analog zu regina im Lateinischen — und wurde im Bretonischen zu rouan und später zu rouannez. Wenn Rhiannon tatsächlich >große Königin< bedeutet, dann hat man dabei nicht von einem hypothetischen Rigantona auszugehen, sondern eher von einem Regenant-ona.[42] Aufgrund dieses Sachverhalts ist es nicht weniger wahrscheinlich und phonetisch nicht weniger schlüssig, daß Rhiannon sich genau so gut auch aus einem hypothetischen Regenannon oder Regen-Ana-Ona entwickelt haben kann. Dies bedarf einer Erläuterung.
Gerade der zweite Teil des Namens >Rhiannon< macht hellhörig, wenn man ihn einer näheren Betrachtung unterzieht und versucht, darin einen noch engeren Sinn-Bezug zur Rolle der walisischen Göttin zu sehen. Dabei stößt man nämlich auf die Lautgruppe -ana-, die in der Mythologie keineswegs unbekannt ist und noch dazu den Vorzug hat, daß sie im Keltischen durchaus eine Bedeutung hat.
Der Stamm ana- ist in den Namen zahlreicher, meist weiblicher Gottheiten in diversen indoeuropäischen und semitischen Traditionen anzutreffen. So finden wir z.B. in der alten indo-iranischen Mythologie die Göttin Anahit oder Anahita, deren Name >die Unbefleckte< bedeutet haben soll, und aus der in Griechenland und Kleinasien die Göttin Anaitis wurde. In der semitischen Mythologie entspricht ihr Nanal oder Naná, die schon früh mit der Ischtar/Astarte verschmolz und in Carthago unter dem Namen Tanit verehrt wurde, worin man ebenfalls noch deutlich den Ana -Stamm erkennt. In Babylon entsprach eine Göttin namens Anat der Cybele Kleinasiens; in diesen Zusammenhang gehört auch Anou, ein hethitischer und babylonischer Gott, bei dem es sich um eine maskulinisierte Form dieser Göttin handeln dürfte.[43] In der indoeuropäischen Welt muß der Name der skythischen Göttin Tanais besonders erwähnt werden: er verbirgt sich nämlich hinter dem Namen des Flusses Don und der Donau (aus Danubius) und hängt auch eng mit der archaischen griechischen Sage vom Faß der Danaiden, den Töchtern der Dana zusammen. Der indischen Anna Pourna (= >die Nährende<), deren Name auch einer der höchsten Berge Indiens trägt, entspricht die lateinische Anna Parenna, die ebenfalls die >Nährende< ist. In aufschlußreichster Form finden wir den /Imz-Stamm in der wohlbekannten Figur der Diana. Diana scheint nämlich die lateinische Transkription {Di + Ana) des Namens der Skythengöttin Tanais zu sein, jener Göttin, von deren Gestalt und Kult die Griechen, besonders Herodot, die grausamsten Geschichten erzählen und deren Spuren noch deutlich in dem von Euripides erstmals entscheidend ausgestalteten Mythos der Iphigenie[44] enthalten sind, sowie in der Geschichte von Phaedra und Hippolyt, denen Racine ein beeindruckendes dramatisches Denkmal setzte. Diese Diana scheint die ursprüngliche Göttin der Latiner gewesen zu sein, sie dürfte dort den Namen Dianus (aus di + anus: also >das göttliche alte Weib< bzw. die >Altweiber-Göttin<) gehabt haben, der dann zu Janus (wiederum aus di + anus bzw. dji- + anus) maskulinisiert und anschließend über die Griechen in Gestalt von Artemis, der Schwester Apolls, neu nach Italien importiert wurde.[45]
Man erinnere sich bei dieser Gelegenheit daran, daß alle Abenteuer zwischen Merlin und Viviane am Gestade des berühmten >Lac de Diane< spielen und damit gewissermaßen unter der Schutzherrschaft einer Diana, die ziemlich wenig mit der braven Jungfrau und Jägerin der höchst verharmlosenden Vorstellung der Klassik gemein hat.[46] Und damit kommen wir in den Bereich des rein Keltischen. Hier werden wir besonders fündig: da gibt es zunächst einmal die große Mutter-Göttin der gälischen Mythologie, Dana (auch Danu oder Ana), die Ahnin der Thuata De Danann, die bei den Walisern Dón heißt und dort die Mutter von Gwyddyon, Arainrod, Amaethon und Gilvaethwy ist. In der Artusepik heißt sie Do, wie etwa in Malorys Roman aus Girflets Beinamen >Sohn der Do< hervorgeht. Zwei Hügel von Kerry in Irland heißen >die Brüste der Anna'< In der Folklore von Leinster gibt es die Black Annis (= >Schwarze Anna<), eine Totengöttin, die als weibliches, menschenfressendes Monster in einer Höhle haust. In den keltischen Kontext gehört auch ganz besonders jene rätselhafte Gestalt, aus der — übrigens vor noch nicht allzulanger Zeit — in der Bretagne die Hl. Anne wurde und dort als Mutter der Jungfrau Maria verehrt wird.
Es ist tatsächlich ein recht sonderbarer Zufall, daß der Kult der St. Anne de Bretagne — besonders in Ländern, in denen der Anteil des Keltischen überwog — mit dem Kult dieser Göttin in Verbindung gebracht wurde. Wenn die Verehrung der Hl. Anna, der Mutter der Maria und Großmutter Christi, im XVII. Jahrhundert ihren Stammort ausgerechnet in der Bretagne erhielt, so mußte das einen bestimmten Grund haben. Man könnte dies historisch begründen durch die Tatsache, daß die Legende der Hl. Anne de Bretagne, in der Form wie sie in der Gegend von Cournouaille erzählt wird, zwar auf älteste Zeiten zurückgeht, daß aber der eigentliche Kult erst im XVII. Jahrhundert einsetzte, als ein gewisser Nicolazic die berühmte Statue in Keianna fand, einem Dorf, das seitdem SainteAnne-d'Auray heißt.[47] Diese Statue von Keranna dürfte die Darstellung irgendeiner Göttin gewesen sein, möglicherweise sogar der Ana, denn die Orte, wo Statuen dieser Art gefunden wurden, hießen seit Menschengedenken die Commana (= >Trog< bzw. >Mulde der Anna<) und Keranna (= >Stadt der Anna<). Außerdem liegt Keranna genau an der Römerstraße zwischen Nantes und Quimper und auch nicht weit entfernt von jenen elysischen Ruhestätten, die die Steinreihen von Camac waren, d.h. nicht weit entfernt von einem Ort, der seit dem Dunkel der Vorzeit ein Heiligtum war. Wenn nun im XVII. Jahrhundert die lokale Legende aufkommen konnte, daß es in Keranna eine der HJ.. Anna geweihte Kapelle gegeben habe, so deshalb, weil in der Legendenüberlieferung, die niemals lügt, sondern lediglich alte Überlieferungen umformuliert oder auch christianisiert, hier noch die Erinnerung an eine uralte Wirklichkeit bewahrt wurde. Da aber der christliche Anna-Kult noch nicht sehr alt ist, muß man davon ausgehen, daß hier die Überlagerung zweier verschiedener Figuren stattgefunden haben muß, sodaß die Hl. Anna (Santez Anna im Bretonischen) die angestammte Stelle der Ana übernahm. An Beispielen einer Christianisierung dieser Art herrscht kein Mangel, man denke nur an den Kult des Hl. Kornely, der an die Stelle des Kerunnos trat, an den Hl. Cesaire, der Caesar, den >Eroberer Galliens< ersetzte, oder gar an den Hl. Mars, der - unter partieller Assimilation mit dem Hl. Martin, den es wirklich gegeben hat — an die Stelle des antiken Kriegsgottes trat.
In der walisischen Tradition tritt solche Art des Aberglaubens ganz besonders unverblümt auf. So nennt etwa ein in einer Handschrift aus dem X. Jahrhundert (Haleian Nr. 3859) enthaltener Stammbaum als Vorfahren von Owen<, dem Sohn des Howell Dda, einen gewissen Aballac, der bezeichnet wird als »Sohn des Amalech, der der Sohn des großen Beli war, und dessen Mutter Anne die Cousine ersten Grades (sie!) der Jungfrau Maria, unseres Herrn Jesu Christi Mutter, war».[48] Eine andere Genealogie aus der gleichen Zeit enthält ebenfalls einen ganzen Stammbaum, der aus einem »Aballach, Sohn von Beli und Anna» entspringt.[49] Was dabei überrascht, ist die Tatsache, daß Anna hier als Gemahlin von Beli dem Großen angesehen wird, einer mythischen Gestalt, hinter der sich der gallische Belenos verbirgt, und daß ihr als Sohn ein Aballach oder Evallach zugeordnet ist, dessen Name auch der des >Rois Mehaigne<, des >Verwundeten Königs<, der Queste du Saint-Graal ist und der in der walisischen Tradition außerdem der Vater von Modron-Morgane ist (und sogar der Insel Avalon den Namen gab!). Nicht weniger erstaunlich ist es, daß Anna in der insularen Tradition die Gemahlin eines armorikanisch-bretonischen Königs ist und daß sie auch in einer Lokallegende aus der Umgebung des Heiligtums Saint-Anne-la-Palud ebenfalls die Gemahlin eines grausamen und bösen bretonischen Königs ist. Und von hier aus trifft die Anna-Legende mit der Sage von der Stadt Ys zusammen, da es in dieser Sage der Überlieferung zufolge heißt, daß der König Gradion, nachdem er aus den Fluten, in denen die Stadt Ys versank, entronnen war, beschloß, an der Stelle, wo er wieder festen Boden unter den Füßen fand, nämlich angeblich auf dem Steilufer von Sainte-Anne-La-Palud, eine Kapelle zu Ehren der Hl. Anna errichten zu lassen.[50]
Nun müssen wir uns noch der Frage zuwenden, weshalb die Gestalt der Anna, eine Figur aus der jüdisch-christlichen Tradition, gerade das keltische Territorium erobern und sich dort niederlassen konnte. Dazu muß man sich wieder daran erinnern, daß die ana-Wurzel indoeuropäischen Ursprungs ist und die Bedeutung >Atmung<, >Atem<, >Hauch< und damit auch >Geist< hat.[51] Aber diese Lautgruppe brachte bei den Kelten noch eine weitere Bedeutung zum Klingen: man braucht sich nur die starke Ähnlichkeit zwischen Anna oder Ana und dem bretonischen Wort anaon (bzw. anaouri) vor Augen halten, welches >die Verstorbene< bedeutet. Diese Laut-Korrespondenz war nicht nur eine Äußerlichkeit. Denn für das französische Wort haieine (= >Atem<) hat das Bretonische das Wort anal oder alan, was aus einer Metathese des mittel-bretonischen Anazl zw Alazn entstanden ist. Das Wort anazl gibt es mit der gleichen Bedeutung auch im Kornischen als anal, im Walisischen als anadl und im Irischen als anail oder anal. Alle diese Worte stammen von einem keltischen anatla ab. Und zu dieser gemeinsamen Urform muß auch das Bretonische ene (= >Seele<) — eneff im Mittel-bretonischen und enyd im Walisischen — hinzugerechnet werden, dessen irische Entsprechung anam (anim im Alt-irischen) ist. Somit könnte anaon[52] ebenso auch >die Seelen der Toten< und >das Volk der Ana< bedeuten: dann wären die anaon nichts anderes als die irischen Tuatha de Danann, die Mannen der Göttin Anna, die in den Seelenhügeln, in Friedhöfen sowie auf entlegenen Inseln im Ozean leben. Sie sind Bewohner der Autre Monde; Abyssus, Unterwelt, Hölle kann übersetzt werden mit dem Wort annwfn oder annwyn, wo man wieder der Wurzel ana- bzw. an(n)- begegnet. Bekanntlich wird Pwyll, der Gemahl der Rhiannon, nach seiner Rückkehr aus der Autre Monde >Pwyll Penn Annwfn< getauft (= >Pwyll, der Herr der Unterwelt<). Das mag auch wieder reiner Zufall sein, was auch nicht geleugnet werden soll, aber ein Zufall, der die bisherige Reihe verblüffender >Zufälle< erweitert. Weshalb soll man da nicht in der Rhiannon eine Regena-Ana-Ona sehen dürfen, d.h. eine >Königin der Vestorbenen<, eine >Königin der Unterwelt< und zugleich die >Königin Anna<, die über die Toten wacht und die Lebenden beschützt, diejenige, die das Leben gibt und auch wieder nimmt? Oder ist es ebenfalls nur Zufall, daß das gallische Wort ana >Morast<, >Moor<, >Sumpf bedeutet?[53] Man denke an das von Franqois Villon geprägte Wort »Kaiserin der infernalischen Sümpfe» zur Bezeichnung der Jungfrau Maria; man denke ferner an jene Statuette in der Kirche von Brennilis (Finistere), die die Notre-Dame von Breac-Ellis, d.h. >Notre-Dame der HöllenSümpfe< darstellt.[54] Die kühne Amazone Rhiannon ist somit eindeutig auch die Notre-Dame der Nacht, die Königin der Sümpfe, die Königin der Toten. Hier steht die große Königin in ihrer ganzen Majestät vor uns, die von der Umwandlung der Gesellschaft und der Kulte der Vorfahren kaum erfaßt und okkultiert wurde.
Die Rhiannon lebt übrigens nicht nur in Gestalt der Notre-Dame oder der Hl. Anne fort, sondern sie taucht auch im Volksglauben wieder auf, und dort ist sie die segensreiche Hauptfigur einer erstaunlichen Geschichte geworden, in der sie sogar ihren ursprünglichen Namen beibehielt, wenn auch in einer stärker walisischen Form:[55]

Die Legende vom Hl. Herve (Bretagne):

Hoarvian war von der britischen Insel ausgewandert und hatte sich bei dem Grafen Conomor niedergelassen, wo ihm eines Nachts ein Traum verkündete, daß es Gottes Ratschluß wäre, daß er heiraten solle, obwohl er das Gelübde des Zölibats abtelegt hatte. Ein Engel erklärt ihm folgendes: »Hoarvian, unter der Einflüsterung des Heiligen Geistes hattest Du den Beschluß gefaßt, Dich jeglicher Liebe zu einem Weibe fernzuhalten. Aber unweit Deines Weges hat sich ein junges Mädchen niedergelassen und dem Studium der Psalmen geweiht; auch diese Jungfrau hat, ganz dem Heiligen Geist ergeben, aus freien Stücken den festen Entschluß gefaßt, sich ihre Jungfräulichkeit zu bewahren bis in den Tod. Fürchte Dich nicht, es ist Gottes Wille, daß Du ihre Bekanntschaft machen sollst. Morgen schon sollst Du Rivanone unweit einer Quelle sehen, die an dem >Königsweg< liegt, dem Du folgen wirst. Sprich sie unverzagt an. Aus Eurer keuschen Vereinigung wird ein Muster der Keuschheit geboren werden. Euer Sohn soll dereinst von Gott auserwählt werden zum Werkzeug seiner Vorsehung.» Ales geschieht, wie der Engel verkündet hatte, und Hoarvian bittet schon bald, nachdem er Rivanone getroffen hat, ihren Bruder, einen gewissen Rigour,[56] um ihre Hand. Am Morgen nach der Hochzeitsnacht sagt Hoarvian zu Rivanone: »Du bist die erste Frau, die ich je umarmte, die einzige, die ich unter allen möglichen liebte, denn Gott, der dich mir ausersehen hat, gab mir den Befehl, mich mit dir zu vereinigen, und gelobte, mich durch dich zum Vater eines Sohnes zu machen, der auf ewig zum Helfer Gottes werden soll.» Da antwortete ihm sein Weib: »Wenn Du mich mit einem Sohne geschwängert hast, dann möge dieser niemals das Licht der Welt erblicken! Darum bitte ich den Allmächtigen!» Hoarvian trennt sich in seiner Verzweiflung von seinem Weib und lebt von Stund an zurückgezogen als Einsiedler. Rivanone bringt bald einen blinden Knaben zur Welt, der den Namen Herve erhält, und unternimmt alles, damit er möglichst weit von ihr entfernt erzogen werde. Herve wird in die Obhut des Mönchs Harthian gegeben und wächst gehorsam und gottesfürchtig heran. Eines Tages erscheint ihm Gott und verkündet ihm, daß seine Mutter in Bälde diese Welt verlassen werde. Da macht sich sein Vetter Urphoed auf die Suche nach der Mutter Rivanone. Er findet sie schließlich in einem Walde, wo sie nur in der Gesellschaft ihrer Nichte Kristina ein abgeschiedenes Leben führt, und bringt Herve zu ihr. Rivanone haucht in den Armen ihres Sohnes und im Geruch der Heiligkeit ihr Leben aus.[57]

Diese fromme Heiligenlegende ist voller Rätsel, und bereits das Gerüst der Geschichte läßt daraufschließen, daß ihr Entstehen weit in die keltische Mythologie zurückreichen muß. Rivanone verflucht ihren Sohn, wie es auch Arianrod getan hatte. Rivanone wird von ihrem Sohn getrennt (daß sie es hier selbst so gewollt hat, spielt dabei keine Rolle) wie Rhiannon von ihrem Sohn Pryderi. Rivanone wird dem Hoarvian ausersehen, wie Rhiannon dem Pwyll. Die Begegnung zwischen Rivanone und Hoarvian findet an einer Quelle statt, die an der Voie royale, dem >Königsweg< liegt, womit die Römerstraße von Carhaix nach Aber Wrac'h gemeint ist (also der »Chemin d'Ahes», von dem bereits die Rede war); mit anderen Worten: es handelt sich ähnlich wie bei dem Hügel von Arberth, wo Pwyll der Rhiannon zum ersten Mal begegnet, um einen sakralen Ort. Aus der Reaktion des Hoarvian, der die Rivanone mit ihrem Sohn herzlos im Stich läßt, spricht nicht gerade ein Muster christlicher Nächstenliebe. Es liegt auf der Hand, daß die ganze Geschichte in Wirklichkeit lediglich die Transposition eines uralten Mythos ist, wobei der Hl. Herve einfach die Rolle von Pryderi, und Rivanone die von Rhiannon, der Mutter-Göttin, übernommen hat. Die Figur des Herve, der physisch zwar blind ist, aber dafür die Fähigkeit hat, die Ewigkeit zu schauen,[58] läßt über ihre Zugehörigkeit zur Autre Monde keinen Zweifel offen. Es handelt sich dabei übrigens um den Druiden-Gott, den inspirierten Schamanen, der im Besitz jenes Wissens aus dem Jenseits ist. Dieses Wissen wird in dem vierten Mabinogion-Text, in Math, Sohn des Mathonwy, durch die berühmten Schweine aus Annwfn symbolisiert, die Pryderi erwirbt, bevor sie von Gwyddyon, dem Mann aus dem Norden, d.h. von einer anderen Kultur und Religin geraubt werden, selbst wenn der Täter auch der Sohn der Don und damit der Sohn der gleichen Mutter-Göttin Anna ist.
Zum Abschluß dieses Kapitels bleibt uns nun noch die Aufgabe, den Mythos der großen Königin mit einer Liste von Kennzeichen zu verdeutlichen, die allen Unterschieden zwischen den diversen uns überlieferten keltischen Versionen Rechnung trägt.
Die große Königin ist virgo (>Jungfrau<) in dem Sinn, daß sie nicht an einen einzelnen Gatten gebunden, sondern immer wieder zu neuen Liebschaften bereit ist (Morgane). Wenn sie in einen Mann verliebt ist, so ist sie es, die entweder den ersten Schritt unternimmt (Rhiannon, Macha, Grainne, Deirdre, Yseult etc.) oder den Mann verzaubert (Viviane). Sie bleibt immer die rätselhafte Unbekannte, und der Mann darf nie ihre wahre Identität restlos enthüllen, anderenfalls würde er sie verlieren (Melusine, Sadv, Oisins Mutter). Ihrem Sohn steht stets ein außerordentliches Schicksal bevor (den Söhnen von Arianrod, Rhiannon, Sadv, Ness, Keridwen, Rivanone, Dechtire, sowie dem Conchobar...); er wird jedoch von der Mutter getrennt (Modron, Rhiannon, Melusine), oder die Mutter gibt ihn in fremde Hände (Arianrod, Rivanone, Keridwen). Aufgrund ihrer Situation als virgo — besonders in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes — geht von ihr die wirkliche Macht aus, die Energie, die die Welt in Bewegung bringt (Melusine, Keridwen, Rhiannon, Yseult, Guenievre, Grainne, Macha etc.). Diese Energie, über die sie verfügt, kann sie nur zugunsten derjenigen einsetzen, die sich ihres Besitzes würdig erweisen — im allgemeinen ist das ihr Sohn (Melusine, Keridwen, Morgane/Modron, Ness, Viviane als Adoptivmutter von Lancelot, Dechtire etc.), in den seltensten Fällen ist es dagegen ihr rechtmäßiger Ehemann (Rhiannon und Pwyll, Melusine und Raimondin de Lusignan). Sie schließt sich freiwillig ein, wenn es darum geht, ihr Geheimnis zu bewahren (Arianrod in ihrer Burg, Viviane und Keridwen auf dem Grunde des Sees, Melusine in ihrer Höhle): sie ist, wie die ,.Mariengebete» es verdeutlichen, die arca foederis, die >Arche des Bündnisses<, was nicht nur als eine einfache biblische Metapher angesehen werden darf, sondern als Hinweis dafür angesehen werden muß, daß sie die Hüterin des Geheimnisses ist, das in dieser Arche verborgen ist, welche durch ihre Person symbolisiert wird.59 Schließlich lebt sie fern von der Welt der Männer und fürchtet sich vor den Versuchen der Männer, ihr die Macht zu rauben. Das führt sie dazu, die Männer mit einem Fluch zu belegen (Arianrod, Melusine) oder sich für ihre Geringschätzung durch einen Zauberbann zu rächen, wie es etwa Macha tut.
Die große Königin ist nämlich nicht nur die Zielscheibe der männlichen Sarkasmen, sondern auch des männlichen egoistischen Machthungers, des instinktiven Strebens, sie besitzen zu wollen. Die Idee von der Frau als Objekt, das zwar mit tausenderlei Geschmeide behängt, aber dennoch Gefangene ist, ist eine Erfindung der Männer. Manchmal aber kommt es vor, daß die Objekt-Frau, d.h. die Göttin, die große Königin, die in ihrem Tabernakel sicher verwahrte Gefangene an ihren Ketten rüttelt. Ihre Revolte, ihr Aufstand wird dann furchtbar sein, denn er bedeutet eine direkte Bedrohung für die Gesellschaft, die sich die Männer aufgebaut haben, ohne dabei die Rechte und Bedürfnisse der Frau zu berücksichtigen.