4. Der Aufstand des Blüten-Mädchens

Bekanntlich ist die Industriegesellschaft, deren System wir heute unterworfen sind und der wir nicht entrinnen können, was immer wir unternehmen mögen, um sie zu ignorieren oder abzulehnen, die konsequente Folgeerscheinung der paternalistischen Gesellschaft, die zu Beginn der Ackerbaukultur geschaffen wurde und die die Arbeitsteilung sowie die Aufteilung von Macht und Besitz definitiv festsetzte. Diese Gesellschaft basiert auf dem Prinzip der Arbeit, somit der Anstrengung, ja sogar des Leidens.[1] Diese Anstrengung, dieses Leiden sind die nötigen Opfer, die erbracht werden müssen, um eine Leistung zu erreichen, die Überfluß an materiellen Gütern und Nahrung verschafft. Um das Ziel möglichst hoch anzusetzen, d.h. um eine möglichst hohe Leistung zu erreichen, muß jedoch notgedrungen das naheliegende Interesse an einem sofortigen Konsum zugunsten eines langfristigen Interesses an einer noch größeren und variationsreicheren Produktion (d.h. zugunsten des Interesses an einer größeren Konsummöglichkeit) hintangestellt werden. Daher herrscht ein gestörtes Gleichgewicht zwischen dem unmittelbaren, naheliegenden Interesse, welches instinktiv bzw. triebhaft ist, auf der einen Seite und dem mittelbaren, langfristigen Interesse, welches vemunftgesteuert ist, auf der anderen Seite, — und damit stoßen wir auf den ewigen Konflikt zwischen Instinkt bzw. Trieb und Vernunft. Entgegen den Ansichten der klassischen Philosophen sieht es ganz so aus, als seien Vernunft und Trieb keineswegs unvereinbare Gegersätze: aus dem Trieb wird dank der überlegenen Kräfte des Geistes Vernunft. Die Opposition Trieb versus Vernunft entstellt das wahre Problem, und doch trägt sie ständig zur Vergiftung unserer Gesellschaft bei, da wir die Beziehung zwischen diesen beiden Bereichen aus den Augen verloren haben und da wir stets nur der Vernunft Recht geben, weil wir vergessen, daß gerade der Trieb zu seiner eigenen Befriedigung die Vernunft erfunden hat: daher ist ständig zu beobachten, daß die Industriegesellschaft, die direkte Nachfolgerin der paternalistischen Agrargesellschaft, auf der Unterdrükkung der Triebe und gleichzeitig auf der überspannten Begeisterung für die Vernunft basiert, welche als autonom angesehen wird. Diese Vernunftargumentation muß schließlich in die Leere gehen bei der enormen Beschleunigung, mit der sich die Zivilisation entwickelt, die ihr eigentliches Ziel, nämlich die Befriedigung der Triebe, aus den Augen verloren hat und deshalb das wahnwitzige Wettrennen ihres Wachstums nicht mehr drosseln kann, aus Angst — so wird geglaubt — sie würde dann für immer untergehen und die gesamte Menschheit mit sich in den Abgrund reißen.
Und doch ist der Trieb, egal ob wir ihn Sexualtrieb, Eros oder Trieb der Sinnlichkeit nennen — oder ob wir gar von >niedersten Trieben< sprechen — in Wirklichkeit nur die instinktive Suche nach innerer Zufriedenheit, Ausgeglichenheit und Seligkeit, nach einem Zustand, den manche einfach Glück nennen. Dieses Glück ist das Ziel, das sich die Menschheit gesteckt hat. Auch wenn man es nicht erreicht, führt das Handeln dennoch zu einem Ergebnis, und zwar zur Lust; das ist kein Zweck und kein Mittel, sondern das Resultat eines unvollkommenen Aktes, oder eines Aktes, in dem nicht alle Voraussetzungen, die für seinen Erfolg notwendig wären, erfüllt worden sind. Die Lust ist gewissermaßen die unvollkommene Form des Glücks, oder dessen, was als Glück angesehen wird. (Kann man aber in unserer Welt der Relativität das wahre »Glück« überhaupt finden?) Dabei muß auch noch etwas anderes festgehalten werden: die Lust ist das höchste Ziel, wonach der Mensch sich bei der Befriedigung seiner Triebe noch sehnen kann.
Der Bereich der Triebe, den die >Kultur< uns vergessen machen will, und den die verschiedenen Erziehungssysteme unter Verachtung der Natur des Menschen bewußt verheimlichen,[2] diesen Bereich symbolisiert in den patriarchalischen Gesellschaften eindeutig die Frau. Wenn der Trieb in Opposition zur Leistung gesetzt wird, dann wird automatisch die Frau (die mit Trieb, Sensibilität, Sinnlichkeit und Intuition gleichgesetzt wird) in fataler Weise zum Mann in Opposition gesetzt (mit dem automatisch Vernunft, Logik, Konstruktivität, Produktivität, Organisationswille assoziiert wird). Dann tauchen die alten Irrtümer über das Wesen der Frau auf einmal in schönster Weise wieder auf: Frau bedeutet dann Liebe, und Liebe ist mit Schuld verbunden. Die Liebe kann nur deshalb toleriert werden, weil sie zu Nachkommenschaft führt, — zumindest behauptet man das, um die Sexualität zu rechtfertigen, deren Existenz nun einmal schlecht geleugnet werden kann. So verstanden ist die Liebe jedoch eine rem praktische, funktionale Angelegenheit. Sie ist ein Produktionsmittel, das die Gesellschaft mit Arbeitern versorgt, derer sie dringend bedarf, um den Höllenkreis ihrer Entwicklung, ihres Wachstums fortzusetzen.[3]
Aber daneben existiert auch noch eine andere Form von Liebe, die vollkommen >zweckfrei<, >tendenzlos< ist, jene Liebe, die >einfach< zwei Wesen vereint und nicht unbedingt das Ziel der Fortpflanzung hat. Wenn diese Liebe auch nicht direkt verboten ist, so wird sie doch zumindest diffamiert, weil sie den Fortbestand der Gesellschaft gefährdet. Freud sagt dazu sehr zutreffend:

»... .daß die sexuelle Liebe ein Verhältnis zwischen zwei Personen ist, bei dem ein dritter nur überflüssig oder störend sein kann, während die Kultur auf Beziehungen unter einer größeren Menschenanzahl ruht. Auf der Höhe eines Liebesverhältnisses bleibt kein Interesse für die Umwelt übrig; das Liebespaar genügt sich selbst, braucht auch nicht ein gemeinsames Kind, um glücklich zu sein.«[5]

Wenn es nach landläufiger Meinung heißt, daß das Liebespaar sich allein auf der Welt fühlt, so ist es ganz klar, daß die organisierte und kollektive Welt diesen bewußten Rückzug in ein anderes Universum nicht dulden kann. Daher die Bekämpfung von Phantasie und Sexualität. Herbert Marcuse stellt — wie bereits in einem anderen Zusammenhang weiter oben erwähnt — fest:

»...daß die freien libidinösen Beziehungen ihrem Wesen nach Arbeitsleistungen widerstreben, daß den ersteren Energie entzogen werden muß, um die letzteren zu begründen, daß nur das Fehlen von der vollen Befriedigung die gesellschaftsgründende Organisation der Arbeit aufrecht erhält. Selbst unter optimalen Bedingungen einer rationellen Gesellschaftsorganisation müßte die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse Mühe erfordern und schon diese Tatsache allein müßte quantitative und qualitative Triebeinschränkung erzwingen und damit zahlreiche soziale Tabus. Ganz unabhängig von ihrem Reichtum hängt die Kultur von stetiger und methodischer Arbeit ab und damit von lustvoller Verzögerung der Befriedigung. Da die primären Triebe >von Natur aus< gegen diese Verzögerung sich auflehnen, bleibt ihre repressive Modifizierung eine Notwendigkeit für jede Kultur.«[6]

Dieser Beweisführung von Marcuse ist nichts hinzuzufügen, außer daß die Mythologie durch die Mechanismen ihrer Symbole und Strukturen zu etwa gleichen Ergebnissen gelangt.

»Durch die Macht ihrer Sexualität«, so Otto Rank, »wird die Frau der Gemeinschaft gefährlich, deren soziale Struktur auf der Angst gründet, welche früher durch die Mutter eingeflößt wurde und heute ihre Quelle in der Person des Vaters hat.«[7]

Wenn die Frau eine Gefahr bedeutet, dann drängt man sie ins Abseits, verbannt sie in die tiefsten Höhlen, unter eine Maske, oder sie wird gelegentlich einfach vermännlicht. Und so ist aus der Muttergöttin Gott-Vater geworden. Wenn der Mann dann immer noch Sehnsucht nach einer Frau hat, so ist dies kaum noch störend. Schließlich hat Gott den Mann nach seinem Bilde erschaffen, weshalb sollte da der Mann nicht seinerseits die Frau nach seinem Bilde erschaffen? Von hier aus wird der Pygmalion-Mythos verständlich: denn die Frau, die er geschaffen hat, entzieht sich ihm, die Frau probt den Aufstand; jäh bricht sie wieder in das Bewußtsein ein, während man sie doch vergessen und im Unterbewußtsein hat versinken lassen; nun verwirklicht sie die Tat, die ihr aufgegeben ist. Aktiv zu werden ist ihre Rolle, denn die Frau ist, wie wir gesehen haben, diejenige, durch die die Energie erst wirksam werden kann. Das kann jedoch unvorhersehbare Folgen haben. Aber in der derzeitigen Lage, d.h. seit Bestehen der paternalistischen Gesellschaft, ist der Mann auf der Hut: diesem Kampf begegnen wir in einem der sonderbarsten Mythen, die uns die keltische Tradition überliefert hat, in einer auf den ersten Blick sogar recht banalen Geschichte, die jedoch auf großes Echo stieß, u.a. im vierten walisischen Mabinogi (Math, Sohn des Mathonwy), ja sogar teilweise in dem berühmten Cad Goddeu, einem Gedicht, das dem Barden Taliesin zugeschrieben wird.

Die Geschichte der Blodeuwedd (Wales):

Arianrod, die Tochter der Dön, hat zwei Söhne geboren, Dylan und Lleu, die sie jedoch nicht anerkennen will. Dylan flieht zum Meer und stürzt sich in die Fluten. Lleu wird von seinem Onkel Gwyddyon, dem Sohn der Dön und Bruder der Arianrod (möglicherweise ist er auch ihr Liebhaber) aufgezogen. Arianrod hat über ihren Sohn folgenden Fluch ausgesprochen: er werde keine Frau von der Rasse der Menschen haben. Da versucht Gwyddyon mit Hilfe seines Onkels Math dennoch eine Lösung zu finden und das von Arianrod aufgestellte Tabu zu brechen. »Sie vereinigten die Blüten von Eiche, Ginster und Wiesenkönigin und formten mit Hilfe ihrer Magie die schönste und vollkommenste Jungfrau der Welt.« Anschließend geben sie sie dem Lleu Llaw Gyffes zur Frau. Die beiden leben in sorgloser Eintracht, bis eines Tages, während Lleu abwesend ist, Blodeuwedd — so heißt die >Blütengeborene< — eine Gruppe von Jägern, die angeführt wird von Gronw Pebyr, dem Fürsten von Penlynn in Merioneth,[9] in ihrem Haus gastlich aufnimmt. Die Begegnung zwischen Blodeuwedd und Gronw ist wahrhaftig Liebe auf den ersten Blick. »Blodeuwedd blickte ihn an, und von diesem Augenblick an gab es keinen Winkel in ihrem Wesen mehr, der nicht von ihrer Liebe zu ihm durchdrungen gewesen wäre; auch er wandte seinen Blick nach ihr und sofort wurde er von den gleichen Gefühlen übermannt.« Sie verbringen die Nacht miteinander, und am nächsten Morgen will Blodeuwedd den Geliebten nicht mehr fortlassen. Ihre Leidenschaft füreinander ist so heftig, daß sie planen, sich bei nächster Gelegenheit des rechtmäßigen Gemahls zu entledigen, der nun ihrem Glück im Wege steht. Gronw rät der jungen Frau, aus Lleu selbst herauszubekommen, wie er umzubringen sei. Nach Lleus Rückkehr fragt sie nun den Gemahl danach und bringt ihn auch wirklich dazu, daß er verrät, unter welchen Bedingungen man ihn töten kann. Diese erweisen sich nicht gerade als leicht: Lleu muß sich am Ufer eines Flusses befinden, muß mit einem Fuß auf dem Rücken eines Bocks und mit dem anderen auf dem Rand eines Zubers stehen, worin man ihm ein Bad bereitet hat. Was die Waffe angeht, die ihn tödlich verwunden kann, so bedarf es zu ihrer Fertigstellung ein ganzes Jahr, wobei an ihr nur sonntags während der Messe gearbeitet werden darf. Sobald Blodeuwedd im Besitz dieses Geheimnisses ist, verrät sie es Gronw, der auf der Stelle die angegebenen Vorbereitungen trifft. Nach Ablauf eines Jahres fragt Blodeuwedd ihren Gemahl wie aus reiner Neugier, ob er ihr nicht einmal zeigen könne, wie er mit einem Fuß auf dem Rücken eines Bocks und mit dem anderen auf dem Rand eines Badezubers stehen könne. Während er nun sein Kunststück vorführt, schleudert Gronw seinen Jagdspeer nach ihm. »Da schwang sich Lleu, in einen Vogel verwandelt, in die Lüfte, stieß einen markerschütternden, gräßlichen Schrei aus und ward nie mehr gesehn.« Nun sind Blodeuwedd an Gronws Seite herrliche Tage ungetrübten Glücks beschieden. Aber Gwyddyon durchstreift das ganze Land auf der Suche nach Lleu. Eines Tages, als er eine Sau verfolgt, deren sonderbares Gebaren ihn neugierig macht, gelangt er unter das Dach eines Baumes, auf dem ein Adler thront. Der Adler schüttelt sich und läßt dabei Gewürm und andere Nahrung herabfallen, die von der Sau sofort gefressen wird. Gwyddyon erkennt, daß es sich um Lleu handelt. Durch seine Zaubergesänge verwandelt er seinen Neffen wieder in Menschengestalt zurück und läßt ihn gesund pflegen. Als er wieder genesen ist, macht er sich mit ihm auf, um sich an Gronw und Blodeuwedd zu rächen. Gwyddyon geht voran. Als Blodeuwedd dies erfährt, bekommt sie Angst. »In Begleitung ihrer Dienerinnen überquert sie den Fluß Kynvael und flüchtet sich zu einem auf einer Bergeshöhe gelegenen Hof.« Der Schrecken der Dienerinnen war so groß, daß sie sich beim Gehen ständig umdrehen mußten; so fielen sie in ein Wasserloch und ertranken alle bis auf Blodeuwedd. So konnte Gwyddyon sie einholen und sprach zu ihr: Ich werde dich nicht töten, sondern habe noch Schlimmeres mit dir im Sinn. Ich lasse dich am Leben, werde dich aber in einen Vogel verzaubern. Als Strafe für die Schmach, die du Lleu Llaw Gyffes angetan hast, sollst du es nie mehr wagen, dein Gesicht dem Licht des Tages zu zeigen, denn du hast die Rache aller anderen Vögel zu fürchten. Ihr Instinkt (Trieb) wird ihnen befehlen, dich zu hacken und dir mit Verachtung zu begegnen, wo immer sie dich treffen. Du wirst deinen Namen beibehalten, immer wird man dich Blodeuwedd nennen. Und so heißt auch heute noch die Eule Blodeuwedd. Auf diese Weise geschah es, daß die Eule zum Ziel des Hasses aller Vögel wurde.«[10]

Das erste markante Element dieser Sage von Blodeuwedd ist die Verfluchung des Lleu, ein Fluch, den seine Mutter in Form eines Tabus ausspricht, ein richtiger irischer Geis, so wie er von den alten Druiden praktiziert wurde: Lleu soll keine Frau erhalten, die der Rasse der Menschen angehört. Was ist der Sinn dieses kuriosen Verbots, besonders aus dem Mund einer Mutter? Dazu muß man sich daran erinnern, daß Arianrod eine Art Muttergöttin ist. Ihr Sohn ist somit das erste menschliche Geschöpf. Er befindet sich in der gleichen Lage wie Adam, der erste, von Gott erschaffene Mensch. Er kann auch keine Menschenfrau haben, da er noch der einzige Vertreter des Menschengeschlechts ist. Außerdem kann die Gottheit, die nur in Opposition zur Nicht-Gottheit, nämlich der Schöpfung, Gottheit sein kann, kein Interesse daran haben, daß ein anderes Geschöpf das Einvernehmen — oder die Opposition, was das Gleiche ist — zwischen ihr und dem ersten (und einzigen) Geschöpf stört. Die Muttergöttin Arianrod behält Lleu, ihren Sohn, der auch ihr Liebhaber wird, eifersüchtig für sich. Hierin gleicht dieser Mythos dem von Ischtar und Tammuz, von Attis und Cybele, oder dem von Aphrodite und Adonis. In idealer Entsprechung wird es später zu der gleichen Situation in dem Paar Jesus-Maria kommen, deren häufigste symbolische Darstellung die Madonna mit dem Kind ist, eine Figurenkonstellation, die es bereits lange vor dem Christentum gab. Das zweite wichtige Element ist die Schöpfung der Blodeuwedd. Blodeuwedd wird mit Hilfe der Magie aus Blüten, d.h. aus dem voll entwickelten Zustand der Natur von Math und Gwyddyon künstlich hergestellt. Math ist Meister der Magie, somit der Beweger der Naturkräfte. Da er selbst aber >am Schenkel verletzt< (= impotent) ist, übernimmt Gwyddyon seine Rolle als Demiurg und auch die Rolle des Vaters. Damit reißt er praktisch die Macht seines Onkels an sich und befindet sich damit genau in der gleichen Situation wie Prometheus, der dem Zeus das Feuer des Himmels geraubt und Pandora, die erste Frau, erschaffen hat. Es fällt auf, daß bei der Schöpfung der Pandora wie bei der Schöpfung der Blodeuwedd oder bei der Schöpfung der rätselhaften Lilith, auf die wir noch zu sprechen kommen werden, die Muttergöttin keine Rolle mehr spielt: es handelt sich um eine Schöpfung des Mannes, was ein Hinweis darauf ist, daß es sich um einen in einer Männergesellschaft entstandenen Mythos handelt. Tatsächlich will ja damit der Mann der Frau ihre Schöpferkraft rauben, denn die Frau ist aufgrund ihrer Unabhängigkeit und ihrer privilegierten Fähigkeit, Kinder zu gebären, eine mächtige Feindin, die man mit allen Mitteln dem väterlichen Gesetz unterwerfen muß. In der Schöpfung der Blodeuwedd, der Pandora und auch der Lilith ist daher das Symbol der großen Umwälzung zu sehen, die in einer weit zurückliegenden, kaum noch zu ortenden Epoche des Altertums oder gar der Vorzeit stattgefunden hat. Aus einem noch philosophischeren Blickwinkel betrachtet heißt das: die Kultur der Vernunft, (welche konstruiert, organisiert, klassifiziert, Gesetze aufstellt und geometrisiert) ist an die Stelle der Kultur der Triebe getreten, (welche vor allem weiblich ist und durch Sensibilität, Affektivität und Sexualität gekennzeichnet ist). Dadurch, daß Math und Gwyddyon die Blodeuwedd außerhalb des mütterlichen Uterus erschaffen, negieren sie die Sexualität, negieren damit die Urfrau und erschaffen, mit allem, was dazugehört, eine Frau nach dem Bilde ihrer männlichen Vorstellungen. Von diesem Zeitpunkt an hat der Vater über die Mutter gesiegt: er hat sich seine Tochter nach seinen eigenen Wünschen geschaffen. Von nun an wird die Frau ein Kunstprodukt sein, welches der Mann für sich herstellen und seinen eigenen Wünschen entsprechend verwenden kann.
Das dritte in unserem Zusammenhang wichtige Element der beschriebenen Geschichte ist die Heirat und Ehe zwischen Lleu und Blodeuwedd. Blodeuwedd war zu einem einzigen Zweck erschaffen worden: dem Lleu als Gefährtin zu dienen, ganz wie auch Lilith und später Eva zu dem alleinigen Zweck, Adam Gesellschaft zu leisten, erschaffen wurden. Sie ist eine Wunschprojektion des Lleu, sein narzistisches Double, so wie Eva das >entmannte< Bild Adams ist. Gwyddyon, mit anderen Worten: der Vater, der Vertreter der paternalistischen Ordnung, hat sie einfach dem Lleu, seinem Sohn, gegeben. Blodeuwedd selbst wurde dabei nicht gefragt. Daher befinden sich Lleu und Blodeuwedd genau in der gleichen Situation wie Adam und Eva. Gwyddyon und Math geben dem jungen Paar ein Stück Land, eine Art irdisches Paradies fern von allen Sorgen und Nöten. Blodeuwedd und Lleu könnten im Prinzip vollkommen glücklich sein, jedoch nach der patriarchalischen Auffassung des Glücks, d.h. als familiäres Ehepaar: die Familie ist die Basis dieser Gesellschaft, während es in früheren Zeiten der Clan war. Die Familie ist definitionsgemäß klein und eingeengt, da sie auf der Monogamie basiert und sich auf zwei Wesen, den Gatten und die Gattin, beschränken muß. Daher ist die Ehe von Lleu und Blodeuwedd wesentlich mehr als eine simple Anekdote, eine einfache >Panne'. Dieser Mythos, diese Sage enthält nämlich in Wirklichkeit eine ganze Reihe von Überlieferungen über die Entstehung der Gesellschaft des paternalistischen Typs. Bis dahin war die Frau allein da: Arianrod, das Mutter gewordene Mädchen, dessen Kinder von den Onkeln mütterlicherseits aufgezogen werden, ist ein markantes Beispiel. Von nun an gibt es das Ehepaar.
Das vierte wichtige Element der Geschichte ist die Art, wie Blodeuwedd auf diese vorgegebene, aber nicht akzeptierte Lage reagiert. Ihr Verhalten ist der Aufstand des Blütenmädchens. Blodeuwedd weigert sich, ihre Entfremdung hinzunehmen und fordert ihr Recht auf freie Entscheidung: sie entscheidet sich für einen Liebhaber, den sie wirklich liebt. Der Konflikt zwischen Trieb und Vernunft spitzt sich zu, und Blodeuwedd entscheidet sich, da sie in Gronw Pebyr verliebt ist, für den Trieb und gegen die Vernunft. Gronw Pebyr — sein Name bedeutet >der junge starke Mann< — symbolisiert auf wunderbare Weise diesen Aufstand der jungen Frau, die in ihrer Auflehnung gegen die väterliche Autorität (Gwyddyon) und gegen die von diesem eingesetzte Autorität des Gatten (Lleu) bei dem jungen Sohn Unterstützung sucht.
Das fünfte wichtige Element: der Mord an Lleu durch die beiden Liebenden. Es könnte sich dabei natürlich lediglich um eine banale Skandalgeschichte handeln, wie sie in der Geschichte der Menschheit in solcher Häufigkeit vorkommt, daß man darüber kaum noch ein Wort verlieren kann. Und doch trifft das hier nicht zu. Der Aufstand des Blütenmädchens ist nicht vollständig, solange er nicht bis zum Mord am Gatten geht. Hätten sich Blodeuwedd und Gronw mit ihrer heimlichen Liebe zufrieden gegeben (wie Tristan und Yseult, wie Lancelot und Guenievre), dann hätten sie damit die paternalistische Gesellschaft, die sie entfremdete, in gewissem Sinne anerkannt, indem sie ihre Struktur wie das Musterbeispiel einer Boulevardkomödie respektiert hätten, in der man gerne über den gehörnten Ehemann lacht, ihn darüber hinaus jedoch nicht weiter als störend empfindet. Blodeuwedd und Gronw Pebyr schaffen Lleu aus der Welt, weil dieser Unglückliche mit seiner Person alle gesellschaftlichen Tabus der paternalistischen Gesellschaft repräsentiert. In Wirklichkeit ist aber nicht Lleu das Ziel ihrer Tat, sondern die durch ihn vertretene und in Gwyddyon verkörperte Macht des Vaters. Wer dabei getötet wird (oder besser gesagt okkultiert wird, denn er stirbt ja nicht wirklich) ist Lleu, wer dadurch aber wirklich getroffen und verspottet wird, ist Gwyddyon. Dies ist der Grund dafür, daß Gwyddyon so verbissen nach Lleu sucht und sich auf die beschriebene Art und Weise rächt.
Ein sechstes wichtiges Element: das Scheitern von Blodeuwedds Befreiungsversuch. Der Aufstand des Blütenmädchens ist nur von kurzer Dauer. Gwyddyon macht zur Wiederherstellung der einen Augenblick lang gefährdeten Ordnung, die er repräsentiert, sowohl von der Kraft der Magie als auch von Recht und Gesetz Gebrauch. Gwyddyon ist Vater und Schamane, Sieger über den Tod, Priester, Demiurg und Herr über das Gesetz. Er bestraft den ungezogenen jungen Mann dafür, daß er sich mit der Frau verbündet hat. Entscheidend dabei ist aber: er kann Blodeuwedd nicht ganz vernichten, da er sie selbst geschaffen hat, er muß sich also darauf beschränken, sie in eine Eule zu verwandeln.
Es mag zunächst überraschen, daß die magischen Kräfte des Gwyddyon nicht über eine einfache Verwandlung hinausgehen. Die Erklärung dafür ist jedoch einfach: wenn Blodeuwedd sein eigenes Geschöpf ist, d.h. wenn sie seiner Vorstellung entsprungen ist, dann stellt sie eine wesentlich höhere Wirklichkeit dar, als wenn sie aus seinem Körper hervorgegangen wäre. Die Materie läßt sich vernichten, der Geist aber nicht. Denn wenn man diesen negiert, bestätigt man ihn gleichzeitig immer noch. Für Gwyddyon ist es daher unmöglich, Blodeuwedd zu vernichten: sie gehört seinem Geiste an, seiner Vorstellung, seiner Erinnerung, und so wird sie auch unauslöschlich in der Erinnerung der Männer haften bleiben. Daher gibt es nur eine Lösung, und diesen Weg wählt Gwyddyon: indem er sie in einen Eule, also einen Vogel der Nacht, verwandelt, verbannt er Blodeuwedd in die Finsternis. In der Sprache der Psychoanalyse heißt das ganz einfach: der Vater verdrängt die Tochter, die den Aufstand probt, in das Dunkel des Unbewußten.
Aber jede Vorstellung entgleitet ihrem Autor, sobald sie einmal formuliert ist. Man erinnere sich an die erstaunlichen Theorien, die Balzac in Louis Lambert über das Eigenleben darstellt, welches die Gedanken außerhalb unseres Geistes entwickeln. Diese Theorien, die übrigens dem erleuchteten Philosophen Swedenborg entliehen sind, stießen generationenlang bei den Rationalisten unter den Gelehrten lediglich auf Gelächter. Das ist jedoch höchst bedauerlich, denn gerade diese Wissenschaftler hätten erkennen müssen, daß darin — wenn auch in eine Symbolsprache gekleidet — in Wirklichkeit die Idee zum Ausdruck kommt, daß ein Gedanke, sobald er in der Vorstellung eines Wesens einmal formuliert ist, von da an ewig existiert und auch jeden weiteren in demselben Wesen entstehenden Gedanken überlebt, da ja der Gedanke, der Geist nicht vernichtet werden kann. Die Gültigkeit dieser von Swedenborg und Balzac entwickelten Theorie wurde übrigens von der Psychoanalyse bewiesen. Die frühesten in unserer Kindheit formulierten — und in die Tiefen des Unterbewußten verdrängten - Gedanken können irgendwann plötzlich wieder an der Oberfläche des Bewußtseins auftauchen und erhebliche Turbulenzen verursachen, wenn sie mit anderen Gedanken und Ideen in Konflikt geraten.
Also kann die in das Unbewußte verdrängte Blodeuwedd im Bewußtsein des Gwyddyon, der der paternalistische Mensch ist, jederzeit wieder auftauchen. Das bedeutet, daß der Aufstand des Blütenmädchens eine ständige Bedrohung für die Basis der paternalistischen Gesellschaft ist, selbst dann, wenn nicht von ihr gesprochen wird und selbst dann, wenn die Moral sie verdammt. Hier stoßen wir wieder auf eine Ursache jener Furcht, die die Frau dem Mann einflößt, auf eine der Ursachen dafür, daß er die Frau am liebsten bewußt in einem Zustand der Unterlegenheit und des Unwissens lassen will. Es ist nicht gut, daß sie erfährt, daß sie sich auflehnen kann, daß sie erfährt, daß der Blodeuwedd-Mythos der Mythos jeder Frau ist, und daß es auch einen Komplex gibt, von dem Freud in seiner frauenfeindlichen Einstellung natürlich nie gesprochen hat: nämlich den Blodeuwedd-Komplex!
Darüber hinaus erinnert die Blodeuwedd-Geschichte an eine mehr als obskure Überlieferung — sie ist deswegen obskur, weil sie stets bewußt verunklärt wurde — die aus den biblischen Schriften, oder vielmehr aus den >apokryphen< Texten, die aus der offiziellen Fassung sorgfältig ausgeklammert wurden. Tatsächlich deckt sich der Mythos der Blodeuwedd in vielen Punkten mit dem Mythos der rätselhaften Lilith, der ersten Frau.

Die Geschichte der Lilith (Jüdische Überlieferung):

Als Jahwe Adam schuf, schuf er zugleich auch eine Frau, Lilith, die er wie ihn aus Erde formte. Anschließend gab er sie dem Adam zur Gemahlin. Aber Lilith war mit diesem nicht zufrieden, denn sie erwartete mehr von Adam. Sie brach mit ihm, brachte den unaussprechlichen Namen Jahwes über die Lippen, erhob sich in die Lüfte und flog davon. Da forderte Adam von Jahwe sein Weib zurück, und so schickte dieser die drei Engel Senoi, Sansenoi und Samangloph aus, um Lilith zu verfolgen; diese holten sie ein und ergriffen sie am Ufer des Roten Meeres an der Stelle, wo später das Heer der Ägypter nach dem Willen des Moses in den Fluten untergehen sollte. Lilith weigerte sich, wieder ihren Platz an Adams Seite einzunehmen. Da ließen die drei Engel sie auf Jahwes Befehl wissen, daß sie jeden Tag hundert ihrer eigenen Kinder verlieren würde, falls sie nicht zurückkehren werde. Lilith ging dieses Risiko ein. Da wollten die drei Engel sie im Roten Meer ertränken, aber Lilith verteidigte ihren Standpunkt und so wurde ihr das Leben geschenkt, jedoch unter der Bedingung, daß sie dort, wo sie seinen Namen geschrieben findet, niemals einem neugeborenen Kind irgendein Leid zufügen dürfe. Schließlich gab Jahwe sie dem Sammael (Satan), und so wurde sie die erste der vier Frauen des Teufels und zugleich die bedrohliche Verfolgerin der Neugeborenen.[12]

Allem Anschein nach stimmt diese eigenartige Überlieferung in allen Punkten mit der keltischen Überlieferung des Blodeuwedd-Mythos überein. Wie Blodeuwedd ist Lilith ein Geschöpf des Demiurgos. Sie wird Adam als ein weibliches Objekt gegeben. Sie lehnt sich auf urd verweigert Jahwe und damit dem Vater den Gehorsam. Und ähnlich wie Gwyddyon sein Geschöpf Blodeuwedd nicht mehr aus der Welt schaffen kann, ist Jahwe außerstande, diejenige wieder loszuwerden, die er gleichzeitig mit Adam geschaffen hat: er kann sie lediglich jenseits des Horizonts verbannen.[13]
Was Lilith aber besonders deutlich mit dem Blodeuwedd-Mythos verbindet, ist ihr aufschlußreicher Name, den wir nun näher untersuchen müssen.
Überraschenderweise taucht der Name Lilith in der Bibel nur an einer einzigen Stelle auf: er fällt im Zusammenhang mit der Strafe über Idomea, einer Gegend des Landes Edom (südwestlich von Palästina), welches zur Wüste verdorren soll, so daß u.a. nur noch »Lilit dort ihre Bleibe habe und daselbst ihre Ruhe finde.« (Jesaia XXXIV, 14) Das Wort Lilit, das mit dem assyrischen Wort Lilitu (aus Lilaatuv, >Abend') zusammenhängt, bedeutet wörtlich >die Nächtliche<. Es scheint einen übel beleumundeten Nachtvogel, in der Art des Waldkauzes bzw. des Steinkauzes (lat. Athena noctua = >die nächtliche Athene<!) zu bezeichnen, was uns direkt zu der in eine Eule verwandelte und zu nächtlich umherirrenden Streifzügen verurteilten Blodeuwedd führt. Man könnte auch an die Litu der assyrischen Mythologie denken, die bösen Geister, die plötzlich aus dem Dunkel auftauchen.
Die Lilit des hebräischen Textes wird in der griechischen Septuaginta-Übersetzung als öfoKevravpö'; (= Onokentauros) und in der lateinischen Vulgata des Hieronymos durch lamia wiedergegeben. Der griechische Onokentauros ist ein Fabelwesen, das halb Mensch, halb Esel ist. Ein Wesen dieser Art dürfte kaum in irgendeiner erkennbaren Beziehung mit dem Mythos von Lilith und Blodeuwedd stehen. Die lamiae dagegen sind wesentlich interessanter. Sie sind in der Überlieferung der Griechen und Römer wohlbekannt. Sie waren gefräßige nächtliche Ungeheuer, die oft die Gestalt von Vögeln hatten und im Volksglauben als Vogelscheuchen und Schreckgespenster galten.[14] Bei Aristoteles ist lamia eine Art Hai. In den Metamorphosen (1,17), dem Roman vom Goldenen Esel des Apuleius, werden nächtliche Hexen einmal mit lamiae verglichen. In diesem Roman überrascht Lucius, der Held der Geschichte, seine Gastgeberin Pamphilia, die eine Hexe ist, als sie gerade dabei ist, sich in Gestalt einer Eule in die Lüfte zu schwingen (III, 21). Bei den meisten Autoren sind die lamiae in der Regel weibliche Ungeheuer, die Männer und Kinder fressen. Sie entsprechen in etwa den berühmten strides, die halb Frauen und halb Vögel sind und von Ovid in den Fasti (VI, 135 ff) beschrieben werden als »durch die Nacht fliegend auf der Jagd nach, kleinen Kindern und Ammen ohne Milch; die Körper der Kinder werden mit den Eingeweiden der Ammen besudelt«. Die lamiae können auch mit den Harpyien identifiziert werden, jenen alten Zauberweibern, die sich in wilde Tiere verwandeln und die Leichen verstümmeln (Apuleius, Metamorphosen II, 23). Schließlich gilt es als sicher, daß die lamia oder Lilit auf irgendeine Art mit der Ghula der arabischen Überlieferung[15] verwandt ist, aus der dann die Goule oder sogar die Goulue (= >die Gefräßige') wurde, womit in französischen Volksmärchen böse Feen bezeichnet werden, die kleine Kinder rauben und in ihre unterirdischen Höhlen verschleppen.[16]
Aber das Spiel der Lilith scheint zu dem Zeitpunkt, wo sie an Satan gerät, noch längst nicht zu Ende zu sein. Im Gegenteil. Nach dem Zohar (Hhadasch; Abt. Yitro, S. 29) wirkt sie anschließend am Untergang Adams mit, dem Jahwe als zweite Frau Eva gibt, welche aus Adams Rippe geboren, mit anderen Worten nach dem Bilde des Mannes, gewissermaßen als kastriertes Bild Adams, geschaffen wurde. Auch in der Kabbala wird diese Überlieferung im Buch Emelek-Ammeleh, XI erwähnt, wobei unter Berufung auf Jesaia XXVII, 1 hinzugefügt wird, daß Sammael einst bestraft werden wird:

»Zu jener Zeit wird Jahwe mit seinem schrecklichen Schwert heimsuchen Leviathan, die Böses einflüsternde Schlange, welche Sammael ist, und Leviathan, die gewundene Schlange, welche Lilith ist.«

Aus diesem Text geht hervor, daß einerseits Lilith in die höchste Strafe, die Sammael trifft, miteinbezogen wird (während die drei anderen Frauen des Satans verschont bleiben), und daß andererseits Lilith ebenfalls die Gestalt einer Schlange hat. Die >Schlange< Melusine, deren zwiespältiger Charakter nicht mehr erst bewiesen werden muß, ist diesem Wesen nicht unähnlich. Aber die Rache, die Jahwe über Sammael und Lilith verhängt, entspricht genau Gwyddyons Rache an Blodeuwedd und Gronw Pebyr. Wenn man den tiefen Sinn des Mythos und seine Auswirkungen im Gedächtnis der paternalistischen Gesellschaft recht verstehen will, muß man wieder auf die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie zurückgreifen.
Tatsächlich verschwindet Lilith, wie wir gesehen haben, nicht völlig von der Bildfläche, sie wird nur in das Unbewußte verdrängt, und bei dem geringsten Anlaß taucht sie wieder an die Oberfläche des Bewußtseins. In den >psychoanalytischen Betrachtungen zur Sexualität< von Braunschweig und Fain wird dies folgendermaßen kommentiert:

»Wenn Lilith sich von Neuem zeigt und aus dem Dunkel der Verdrängung heraustritt, dann wird das Gesetz des Vaters außer Kraft gesetzt. Wenn also Eva versucht, Adam vom rechten Weg abzubringen, dann heißt das, daß Lilith wieder aufgetaucht ist. Lilith ist die Mutter Adams, sie ernährt ihn, und spielt, wenn sie gerührt ist und ein erotisches Verlangen spürt, mit dem Penis des kleinen Adam.«[17]

 Die Behauptung, daß Lilith Adams Mutter ist, mag als zu hoch gegriffen erscheinen; und doch muß Adam irgendeine Mutter gehabt haben, denn sonst wäre er kein menschliches Wesen. Wenn Adam seine leibliche Mutter nie kennengelernt hat, muß er sich selbst ein Bild von ihr machen. Ist es daher nicht bezeichnend, wenn die Figur der Lilith gänzlich aus dem offiziellen Text der Bibel getilgt wurde? Daß Adam eine Mutter hatte und daß diese zugleich seine Gemahlin war, mußte natürlich als störend empfunden worden sein. Kann aber die Tatsache, daß sich Lilith von Adam zurückgezogen hat, andererseits nicht auch als eine Art Entwöhnung von der Mutterbrust interpretiert werden? Auf alle Fälle herrscht eine Entsprechung zwischen der Mutter und der Gemahlin.

»Die Idee des Verbotenen«, so heißt es bei Braunschweig und Fain weiter, »wurde von diesem Spiel mit den Genitalien auf die Ebene des Saugens an der Mutterbrust (des Naschens am Apfel) verlagert (...) Der wahre Sinn dieser Verlagerung muß lauten: >von einem Apfel darf man essen, aber ein Sohn darf keine Sexualspiele mit der Mutter treiben< (...) Wer ist also Lilith? Sie ist für Adam das erste Liebesobjekt, an das er sich aber nicht mehr erinnern darf, da er durch sie in seine Sexualität eingeweiht wurde (...).«[18]

Wir sehen also, daß im Zohar und der Überlieferung der Kabbala Lilith und die Schlange miteinander assimiliert werden und daß wir darin wieder dem Bild der Fee mit dem Schlangenunterleib (oder wie im Falle der Sirenen mit dem Fischleib) begegnen. Aus psychoanalytischer Sicht würde die Lilith mit einem Schlangenschwanz die Urszene symbolisieren, als der Kopf der Schlange in sie eindrang.

»Mit wem vereinigt sich Lilith im Liebesakt? Das kann nur mit Gott geschehen, und damit wäre Lilith vor Adam dagewesen. Vielleicht kann man sogar noch weiter gehen (...): Gott schuf den Mann nach seinem Bilde, das bedeutet, unter anderem mit einem Penis, mit dem auch dieser den Zeugungsakt ausführen würde. Entsteht also das Bild Gottes, das menschliche Bild, nicht aufgrund seiner Trennung von seinem weiblichen Teil, wobei es entsprechend dem platonischen Mythos sein Geschlecht entdeckt?[19] Lilith mit dem Schlangenschwanz, (...) das androgyne Bild des Urgottes, der einst herrschte, zwar allmächtig, aber gerade deshalb inexistent, da er Begehren und Lust nicht kannte.«[20]

Das Bild der fisch- oder schlangenschwänzigen Lilith ( — Schlange und Fisch können den gleichen Phallussymbol-Charakter haben — ) ist demnach das Bild der androgynen Gottheit aus der Zeit vor der Schöpfung, d.h. vor der Geburt der Lust, vor der Teilung des absoluten Urwesens, welches das Nichts war, wie wir seit Heraklit und den Vorsokratikern wissen, die bereits vor langer Zeit Hegels Thesen formuliert hatten. Dieses Götterbild ist also eine Reminiszenz der archaischen Lilith. Diese wurde jedoch in einen Nachtvogel verwandelt: sie ist fortgeflogen und in der Finsternis verschwunden. Ihre zweite Gestalt, die besser zu einem aller menschlichen Züge beraubten Bild paßt, ist die Gestalt, die sie in der Erinnerung noch hat. Dieser Mythos ist übrigens nicht so sehr ein theologischer, sondern vor allem ein gesellschaftlicher Mythos. In der paternalistischen Gesellschaft wurde Lilith verdrängt und mußte ihre Stelle der Eva überlassen. Somit stellt Eva die Frau dar, wie sie der Mann gesehen, erzogen und geformt hat. Eva ist jedoch ein unvollkommenes Wesen, ihr fehlt etwas, nämlich der Lilith-Aspekt, den sie nur gelegentlich annimmt, nämlich dann, wenn sie sich auflehnt. Es ist jener Aspekt, den auch Eva annahm, als sie von dem berühmten Apfel aß, jener Aspekt, den auch die Jungfrau Maria annehmen wird, wenn sie ihren Sohn gebärt, welcher sich später gegen das Gesetz des Vaters auflehnen und ein neues Gesetz geben wird, das Evangelium (die frohe Botschaft) des Sohnes (und der Mutter) Damit liegt der Übergang vom Judentum (dem Paternalismus) zum UrChristentum (dem Maternalismus) in seiner ganzen Dimension vor uns ausgebreitet, wobei das Christentum aber sofort von den Repräsentanten des Patriarchats vereinnahmt und von seinen wahren Zielsetzungen abgelenkt wurde.
Tatsächlich ist Eva, die Frau im allgemeinen, entfremdet. Sie verfügt nicht über ihre ganze Persönlichkeit.

»(Sie) wird nur das Bild der >entmannten< Form (von Jahwe und Adam) sein und nicht das Bild des weiblichen Teils Gottes. Auf diese Art und Weise wird die Verkörperung einer Form der Lust einer Hälfte der ehemaligen göttlichen Allmacht beraubt und wird so still und unbelebt sein wie die Vagina eines kleinen Mädchens.«[21]

Eva ist die stumme Frau, der Schatten einer Frau, ja fast ein Gebilde der Phantasie. Die wirkliche Frau dagegen ist Lilith. Und in der keltischen Mythologie ist Blodeuwedd die Blütengeborene (denn dies ist die Bedeutung ihres Namens), ebenfalls nur der Schatten einer Frau: sie ist das künstliche Produkt des männlichen Denkens von Gwyddyon, auch sie ist nur das >entmannte< Abbild des Mannes. Durch ihr Aufbegehren verliert sie jedoch ihren Eva-Aspekt, nimmt sie die Züge der Lilith an und ist nicht mehr entfremdet. Während sie einst aus Blüten geboren und an die Erde gebunden war, wird sie jetzt zum Vogel der Nacht: von nun an kann sie jedem Mann in der Nacht erscheinen, d.h. während der Schlafes dem Unbewußten gestattet, im Traum wieder aufzutauchen.
Jeder Mann, der im Grunde seiner Seele unbefriedigt ist, was er sich aber nicht eingestehen darf, träumt von Lilith-Blodeuwedd, dem einzigen Wesen, welches seine Sehnsucht nach Unendlichkeit erfüllen kann, denn die Eva, die er an seiner Seite hat, ist nur noch eine Karikatur der Weiblichkeit, auch wenn er es selbst so gewollt hat. Zur Veranschaulichung dieses Themas wollen wir zwei Beispiele aus der Literatur der jüngsten Zeit anführen, die von diesem Denkvorgang zu zeugen scheinen, auf alle Fälle aber deutlich diesen Mythos nachvollziehen.
Das erste Beispiel ist die Geschichte des Auges von Georges Bataille. Es ist zwar ein durch und durch pornographisches Werk, aber von solcher Schönheit, von so poetischer Kraft und solcher Tiefe, daß allein diese Erzählung jene literarische Gattung rehabilitieren könnte, die seit langem durch ziemlich kommerzielle und geschmacklose Machwerke in Verruf geraten ist.

Die Geschichte des Auges (Georges Bataille):

Zwei junge Leute, die eine Figur ist der Erzähler, die andere heißt Simone, treiben Sexspiele miteinander, deren Niveau von den familiär und gesellschaftlich bedingten Obsessionen des Autors zeugen. Als eines Tages die beiden Protagonisten am Strand wieder einmal ihren amourösen Ausgelassenheiten nachgehen, bricht plötzlich ein Unwetter aus und sie werden noch dazu bei ihren Spielen von einem anderen Mädchen namens Marcelle überrascht (»die keuscheste und erregendste unserer Freundinnen«). In einer Atmosphäre frenetischer Ekstase lassen sie sie an ihren Liebeleien teilnehmen. Bald daraufladen sie andere Jugendliche zu einer Surprise-Party ein, die in einer Orgie endet. Auch Marcelle ist wieder dabei. (»Der Anblick der errötenden Marcelle hatte uns erregt und verwirrt... Wir, Simone und ich, waren uns darüber klargeworden und sicher, daß uns von jetzt an nichts mehr zurückhalten könne.«) Als die Orgie im vollen Gang ist, schließt sich Marcelle in einem Schrank ein und erlebt dort allein einen Orgasmus ohne Zuschauer. Aber dabei verliert sie den Verstand und wird wahnsinnig. Marcelle wird in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert. Nun lebt der Erzähler heimlich im Zimmer von Simone, und die beiden treiben weiterhin ihre kindlichen Sexspiele, bei denen es nie zum Koitus kommt, denn sie leiden unter der Abwesenheit von Marcelle. Also stellen sie sich in ihrer Phantasie vor, daß Marcelle anwesend ist und zusieht. (»Die Sumpfgebiete ihres Pos — mit denen nur die Zeit der Brunft und des Gewitters oder die Atemnot bereitenden Vulkanausbrüche vergleichbar sind und die, ganz wie Gewitter und Vulkane, nie ohne irgendeine begleitende Katastrophe aktiv werden — diese jede Hoffnung raubenden Regionen, die Simone mich mit einer Selbstvergessenheit und Hingabe, die den Ausbruch von Gewalt ankündete, wie hypnotisiert betrachten ließ, waren von da an für mich nur noch das unterirdische Imperium einer Marcelle, die in ihrem Gefängnis gemartert und zur Beute ihrer Alpträume wurde.«) Eines Nachts begeben sie sich zu ersten Nachforschungen in die Anstalt, in der sich Marcelle befindet. Dann kehren sie wieder dorthin zurück, entführen das Mädchen und nehmen es zu sich in ihr Zimmer. Marcelle aber schließt sich wieder in ihrem Schrank ein und erhängt sich. Über dem Körper der toten Marcelle gelangen Simone und der Erzähler dann wirklich zum Geschlechtsakt, aber von da an sind sie durch eine rätselhafte Kraft aneinander gefesselt. Da ihnen Marcelle nun endgültig entrissen ist, irren sie ziellos durch die Welt auf der Suche nach immer verrückteren und sadistischeren Sexkapriolen, ohne daß es ihnen jemals gelingt, ihre Lust damit zu befriedigen.[22]

Wenn man einmal von der abstrusen Welt von Batailles neurotischen Zwangsvorstellungen absieht, läßt diese Erzählung doch die schrittweise Entfremdung erkennen, unter deren Eindruck die Liebenden nicht mehr zum Ziel ihrer Wünsche gelangen können, da die Frau nicht im Vollbesitz ihrer Möglichkeiten ist und keine Verfügungsgewalt über ihre ganze Persönlichkeit hat. Marcelle und Simone sind nur zwei Gesichter ein und derselben Frau, die der Mann trotz seiner Imagination und trotz der Palette seiner Perversionen (die eine Revolte gegen die Situation der Wirklichkeit sind) nicht wiederherstellen kann. Marcelle wird niemals Simone und Simone niemals Marcelle werden, obwohl alle Anstrengungen des Protagonisten dieses Dramas darauf abzielen, die beiden Frauen zu einer einzigen und ganzen Figur zu vereinen. Simone fühlt vage, daß sie nur eine Eva und nichts als die kastrierte Ausgabe von Adam ist. Sie wird von dem Bild der Lilith verfolgt und wünscht sie sich sehnlichst herbei. Aber in der Welt der ewigen Schuldgefühle, die unsere Gesellschaft ist, ist Lilith verboten: sie muß sich in einem Schrank verstecken, sie wird in eine Anstalt eingeliefert, sie erhängt sich in einem Schrank. Dies alles sind Symbole, die — wenn auch dem Autor unbewußt — die Verdrängung der Lilith in die Dunkelheit kennzeichnen. Trotz des versuchten Aufstandes wird Blodeuwedd immer ein Vogel der Nacht bleiben. Marcelle ist nur noch ein Schatten, der nach ihrem Tod die beiden Liebenden in ihrer Erinnerung verfolgen wird, denen von da an klar wird, daß ihr Kampf aussichtslos ist: sie wissen, wohin er hätte führen können und daher können sie nie mehr irgendeine Befriedigung finden, denn Simone ist die >entmannte< Eva, der man ihren verbotenen Aspekt genommen hat.
Diese Erzählung von Bataille ist bei weitem mehr als lediglich eine haarsträubende Anekdote oder eine einfache Transkription der >Obsessionen< des Autors: sie ist in Wirklichkeit eine novellistische Darstellung all jener Phantasmen, die den Menschen auf seiner Suche nach Ausgewogenheit begleiten, nach einem Gleichgewicht, das ihm auf keinen Fall die gegenwärtige Gesellschaft bieten kann, da darin ausschließlich die Männer herrschen. Und solange Blodeuwedd nach dem Willen des Gwyddyon eine Eule ist, wird dies auch so bleiben.
Das zweite Beispiel, welches zur Illustration unseres Themas dienen soll, stammt aus der Feder von Remy de Gourmont, ein Autor, den man vergeblich zu den Naturalisten oder zu den Decadents des ausgehenden XIX. Jahrhunderts zu rechnen versucht hat. Sein in vieler Hinsicht bemerkenswertes Oeuvre ist stark vom Symbolismus und deutlich vom typischen Geist des »fin de siecle« durchdrungen. Remy de Gourmont verfaßte unter anderem ein — völlig unspielbares — Drama mit dem Titel Lilith, dessen Thema der hebräischen Überlieferung vom Weib Satans entnommen ist. Dieses Stück, das sei sofort angemerkt, ist der Gipfel der Geschmacklosigkeit, aber es gelangt, so paradox es klingt, gerade dadurch in die Nähe der Genialität. Außerdem gewährt die Erotik, mit der der Dichter seinen Text würzt, einen besonders authentischen Einblick in den Lilith-Mythos, der durch den Rahmen der Männergesellschaft, der auch der Autor angehörte und von der auch er sich nicht frei machen konnte, völlig entstellt wurde. Remy de Gourmont ist zweifellos stark angezogen von der Figur der Lilith, die er wieder an das Tageslicht zu holen versucht. Jedoch wird er dabei gleichzeitig dermaßen schockiert, daß er sie sofort wieder hinter Attributen wie »pervers«, »verworfen«, »lasterhaft« o.a. verbirgt, die zur Befriedigung seines Schuldkomplexes dienen.

Lilith (Remy de Gourmont):

Jahwe erschafft Lilith, die erste Frau. Sofort fordert diese einen Mann von ihm. Da gibt er sie dem Satan zum Weib.
Satan. — Sei gegrüßt, Gefährtin, die Jahwes Ahnungslosigkeit mir in die Hände spielt! Sei gegrüßt, du Schönheit, die der Zufall seinen altgeword'nen Händen noch entriß! Dieses Laster hat mir noch gefehlt. Ha! Wieviel köstlicher noch als Stolz ist diese Speise. Die Hybris ist leer und hohl...
(Er karressiert mit vollen Händen Liliths Brüste, die ihn gewähren läßt und genüßlich die Augen schließt.)
.. .doch dies ist prall, ist heiß, ist sanft!
(Durch die handgreifliche Begrüßung gerät Lilith in Verzückung, sie beugt sich nach hinten, windet sich und legt sich auf den Boden. Die Gegenwart des unbekannten weiblichen Wesens hat dem Satan plötzlich die Sinne verwirrt, und er beginnt die Daliegende jäh zu kneten und zu walken, als wäre sie eine zähe Masse Teig; Geifer rinnt ihm aus dem Maul, in seine Augäpfel schießt Blut; er rast wie ein Besessener im Veitstanz; er grunzt, er bellt, er beißt...Lilith streichelt ihn an wohlüberlegter Stelle, und sofort ist er wieder zahm: gravitätisch kniet sie nieder und liebkost und küßt ihm das Geschlecht; dann breitet sie sich hin, reißt den gebändigten Dämon zu sich nieder, der mittlerweile begriffen hat, nach welchem Tun und nach welcher Art Befleckung Lilith lechzt.)
Satan: — ja, genau so mußten uns're ersten Küsse sein, die zwischen dir und mir! Auf ewig haben wir die Liebe aus dem Lot gebracht! Wir haben sie von den Füßen auf den Kopf gestellt! Weib, ich bet< dich an!
Lilith: — Mann,[23] ich bet< dich an.
Satan: — Weib, all mein Erguß bei Nacht sei dein.
Lilith: — Mann, an dich gerichtet sei mein erstes Frühgebet. Satan. — Wie an einem Fliederstrauß lab' ich mich in vollen Zügen an den Düften deines Geschlechts.
Lilith: — Wie ein kleines Vögelchen will ich schnäbeln an dem deinen.
Satan: — In seinem Schatten liegt mein Universum. Lilith: —
Deine Ekstasen füllen meine ganze Hand.
Satan. — Wir haben kommuniziert in beiderlei Gestalt...Begreifst du nicht? In vier oder fünftausend Jahren erhält dieser Scherz eine schmucke Prise Salz. Du wirst es sehn, diese Blasphemie ist außerordentlich.[24]
Lilith — O du mein täglich Brot
Satan: — O du mein Kelch jungen Weins!
Lilith: — Mich gelüstet nach deinem Fleisch, O du mein Bock!
Satan: — Mich dürstet nach deinem Blut. O du meine Wölfin!
(Sie fallen übereinander her und verrenken sich in wilden Konvulsionen; dann sinken sie kraftlos und offenen Mundes zu Boden, die Finger wie Raffzähne und Fleischerhaken gekrümmt.)
Lilith (findet als erste wieder Worte und spricht in wollüstig trägem Timbre; nach jedem Ausruf erstirbt sie unter einer Umarmung Satans): lod, O Mann, Gott und Phallus, du Achse der Welt und Achse des Geistes, ich vergötter< dich, lod,
O Mann!
Satan: — He, O Weib, Mutterschoß und Schönheit, durchgeistigte Indolenz, Laszivität, ich vergötter< dich, He, O Weib!
Lilith: — O Kopulation, Weib und Mann, Wolkenbruch und Kelch, Dunkel der Zukunft, ich vergötter< dich, Va, O Kopulation!
Satan: -He, O Weib!
Lilith: — Nenn mich nicht He, nenn mich Sterilität. Bin ich denn nicht die Unfruchtbare?
Satan: — Mitnichten, dein Sohn soll Sodom sein, Gomorrha deine Tochter.
Lilith. — Sie sei'n gesegnet, doch sie sei'n die einzigen — ich werd' die glücklichste von allen Müttern sein. Amen. O Vater künftiger Laster, reich mir die Freude deiner Lippen.[25]

Aus den Zeilen dieser Litaneien von Satan und Lilith spricht die tiefgreifende und ständige Ambiguität der Sehnsüchte des Mannes, der von der Frau zugleich verlockt und verschreckt wird, sowie die drastische Art, in der die Träume des männlichen Unbewußten diese nicht-entfremdete und durch die Strukturen der Männergesellschaft nicht retuschierte Frau porträtieren. Was Remy de Gourmont in seinem Stück anprangert, ist die Tabuisierung der Liebe und der totalen besitzergreifenden Besessenheit zwischen zwei Wesen, denen jede biologische Zielorientiertheit fehlt. Während dieses Tabu angeprangert wird, wird es jedoch gleichzeitig wieder offiziell anerkannt und legitimiert: eine solche Liebe, die der Frau ihre vollständige Macht gibt, ist so beunruhigend, daß sie unbedingt erneut und noch stärker kulpabilisiert werden muß. Der in diesem Stück aufgezeigte innere Widerspruch ist der im Laufe der Jahrhunderte gewachsene Widerspruch in der Psyche des Mannes. Lilith kann wie Blodeuwedd nur eine fluchbeladene Liebe bieten. Das Gleiche gilt auch für Pandora, der nach der griechischen Mythologie ersten Frau, die Prometheus gebar und über die Erde Unglück, Krankheit und Laster ausschüttete, was zuvor in ihrer berühmten Büchse sicher verwahrt war.
Ebenfalls der Geist der Lilith ist es, der die Töchter des Loth beseelt, wovon die Genesis (I. Mose, 30-32) spricht, als sie beschließen, ihren Vater unter Alkohol zu setzen, damit die Linie ihrer Abstammung, die sonst unterbrochen würde, erhalten bleibt. Dieses Verhalten zeugt von einem Überlebenstrieb, der offensichtlich im Widerspruch steht zum Thema der »unfruchtbaren« Lilith. Aber der Umstand, daß Loths Töchter das väterliche Gesetz brechen, um den Fortbestand ihrer Familie zu sichern, ist nicht weniger ein Symbol der Macht der Frau, die als einzige fähig ist, die Zukunft zu sichern. Die jüdische Tradition hat diese Seite des Problems durchaus beachtet. Manche Texte akzentuieren die Vormachtstellung der Frau und ihre Fähigkeit, selbst die Wünsche des Mannes freizulegen. Zuerst übernimmt Lilith, und nach ihr Eva die sexuelle Erziehung Adams. Der Zohar (Abt. Bereshit) geht sogar so weit zu sagen: »Und siehe, Jahwe wird eine Sache schöpfen, die auf Erden unerhört sein wird: eine Frau wird einen Mann umgarnen.« Und die modernen Rabbiner interpretieren diesen Satz folgendermaßen: Zur Zeit der Ankunft des Messias werde die Frau den Mann suchen im Gegensatz zu der jetzigen Gewohnheit, daß der Mann die Frau sucht. Das will zeigen, daß die Frau eines Tages wieder voll über ihre Person verfügen wird, daß sie in gleichem Maße wie der Mann die Auswahl trifft, nimmt und entscheidet. Worin das Problem liegt, ist damit klar: solange die Frau nicht vollständig über ihre eigene Person verfügt, solange sie entfremdet ist, bleiben wir Zeuge des permanenten Kampfes zwischen den Töchtern der Eva und den Töchtern der Lilith, eines Kampfes, der sich viel mehr in den Köpfen der Männer als auf irgendeinem Schlachtfeld abspielt. Was dabei aber auf dem Spiel steht, ist entscheidend, nämlich das Gleichgewicht innerhalb der Gesellschaft, die unfähig ist, ihre eigenen Widersprüche zu lösen.
Aus dem jüdisch-christlichen Bereich wäre auch noch die erregende Geschichte der Salome zu erwähnen, die so viele Dichter, Maler und Komponisten inspirierte, die als einzige erkannten, daß sie die tiefsitzenden Keime der Revolte der Blodeuwedd-Lilith enthält. Aber auch dort hat die Zensur ihre Spuren hinterlassen, und so erscheint Salome als ein Musterbeispiel der pervertierten Frau. Allein dem homosexuellen Dichter Oscar Wilde[26] ist es gelungen, den fundamental revolutionären Charakter der Erotik der Salome eindrucksvoll und richtig zur Geltung zu bringen: die Herodias-Tochter bricht in der Tat sämtliche Tabus, um ihre Lust, mit anderen Worten, ihre Triebe zu befriedigen: sie will Jochanaan, den Propheten Gottes und damit Verkünder des göttlichen Wortes, besitzen; da dieser sich ihr entzieht, macht sie sich die besinnungslose Leidenschaft des alternden Herodes, d.h. des Vaters, zunutze und fordert den Kopf des Jochanaan. Herodes ist gezwungen, ihren Wunsch zu erfüllen, und durch den Befehl, den Propheten köpfen zu lassen, verzichtet er auf seine eigene Macht und läßt sie sich von Salome entreißen. Dies ist der Sieg von Salome über Herodias, der Sieg der Frau über den Mann. Aber Salome geht den Weg ihrer Wünsche und Lust konsequent zuende: sie küßt die Lippen des toten Jochanaan, und dies ist ein noch bedeutenderer Sieg für sie, da er die vollständige Wiederherstellung ihrer Persönlichkeit bedeutet, die bis dahin eingeschränkt, kastriert war aufgrund des väterlichen Gesetzes, welches sowohl durch Jochanaan, als er noch lebte, als auch durch den schwachsinnigen Herodes repräsentiert wurde. Am Ende erkennt Herodes, daß er betrogen worden ist, und so läßt er in einer letzten Aufwallung von Energie Salome unter den Schilden der Wachen erdrücken. Der Aufstand der Lilith ist auch hier wieder nur von kurzer Dauer und ihr vermeintlicher Sieg ist in Wirklichkeit nur ein Todesschrei. Aber dieser Todesschrei wird in der Tiefe der Seele von Herodes und den Vätern ganz allgemein noch lange weiterklingen.
Die Pseudo-Geschichte der Römer über ihre Ursprünge, d.h. die Sammlung der verschiedenen Ursagen aus dem Latium enthält einen anderen Fall des Aufstandes einer Frau, der ebenfalls durch die Schilde der Soldaten erstickt wird. (Diese Geste hat starke Symbolkraft, denn sie zeigt, daß die paternalistische Ordnung durch die Armee aufrecht erhalten wird.) Es ist die Geschichte der Tarpeia, die manchen Quellen zufolge aus Liebe zu dem Sabinerkönig Tatius Rom den Sabinern auslieferte; hier führt Tatius selbst den Tod der jungen Frau herbei, die nach Florus (I,1) »weniger als Verrat, sondern eher aus einer Laune der Eitelkeit ihres Alters heraus« handelt. Dieser überraschende Kommentar läßt vermuten, daß Tarpeia wesentlich wichtigere Gründe für diese Tat hatte, und die Tatsache, daß der Sieger, d.h. derjenige, der von dem »Verrat« profitiert, ihre Hinrichtung befiehlt, berechtigt zu der Vermutung, daß damit in Wirklichkeit eine echte Revolte gegen die etablierte paternalistische Ordnung bestraft werden sollte. Übrigens scheint Tatius, der Name des Sabiners, das alte indoeuropäische Wort tat oder tad zu enthalten, welches >Vater< bedeutet. Es sei noch daraufhingewiesen, daß Tarpeia nach Plutarch (Romulus, 21) Rom nicht an die Sabiner, sondern an die Gallier auslieferte.
Der angebliche Verrat stellt sich als ein Akt des Aufbegehrens heraus. Unzählige keltische Sagen und Legenden handeln von einer Frau, die die Tore einer Burg öffnet oder sich über die Autorität eines Königs als Herr der etablierten Ordnung lustig macht.

Blathnait und Curoi (Irland):

Während des Überfalls auf eine rätselhafte Burg haben die Galen Conchobar und Cuchulainn, sowie Curoi mac Daere vom Stamm der Tuatha De Danann reiche Beute gemacht: einen magischen Kessel, Zauberkühe und Zaubervögel, sowie ein junges Mädchen namens Blathnait. Da Conchobar und Cuchulainn es unterlassen haben, mit Curoi die Teilung der Beute zu vereinbaren, nimmt dieser den gesamten Raub an sich und stößt gegen Cuchulainn schwere Beleidigungen aus. Eines Tages kommt dieser auf die Burg des Curoi und begegnet Blathnait, die inzwischen Curois Gemahlin geworden ist: »Er liebte sie bereits, bevor sie noch von den Ländern des Meeres gekommen war (...) Er vereinbart mit ihr ein Stelldichein um die Zeit der Samain-Nacht.« Cuchulainn erscheint zum festgesetzten Termin mit einem Heer der Ulates. Da rät Blathnait dem Curoi, seine Soldaten auszuschicken und in Eile eine neue Burg errichten zu lassen. Auf diese Weise bleibt Curoi allein auf der Burg. Blathnait badet ihn in einer Wanne, bindet ihn anschließend an den Haaren am Bettgestell fest, nimmt ihm das Schwert aus der Scheide und öffnet die Tore der Burg. Nun können die Ulates sie betreten. Curoi gelingt es zwar, sich zu befreien — aber zu spät: die Burg steht bereits in Flammen. Und so stürzt er sich ins Meer. Als die Ulates gerade die Schätze des Curoi an sich reißen und Cuchulainn gerade Blathnait fortführen will, »da stürzte sich Curois Barde auf Blathnait und preßte sie mit solcher Kraft an sich, daß ihr die Rippen im Rücken krachten. Dann schleppte er sie zur Klippe, die vor ihnen aufragte, stürzte sich mit ihr in die Leere, und beide wurden auf einem Felsen zerschmettert...«[27]

Das Märchen von >Leib ohne Seele< (Bretagne):

Eines Tages wird ein junger Mann von einer Wäscherin eingeladen, mit zu ihr zu kommen. Die Wäscherin ist die Frau von >Leib ohne Seele<, einer Art Waldgeist, der rund um die Uhr schläft. Der junge Mann möchte wissen, weshalb sie ihren Gemahl >Leib ohne Seele< nennt. Da antwortet sie ihm: »Weil er einen gräßlichen Löwen hat, in dessen Leib ein Wolf sitzt; dieser Wolf hat in seinem Magen wiederum einen Hasen, in dem ein Rebhuhn steckt. Das Rebhuhn hat ein Gelege von dreizehn Eiern in sich, und in dem letzten, dreizehnten Ei, wohnt die Seele meines Gemahls. Ich wünsche mir sehnlichst, einmal einem Mann zu begegnen, der soviel Mut hat, die Eier aus dem Leib des Rebhuhns zu holen; denn der böse Riese hat mich gewaltsam zu sich entführt, aber ich liebe ihn nicht.« Der junge Mann nimmt die Prüfung auf sich und mit Hilfe der Wäscherin gelingt es ihm, den Löwen, den Wolf, den Hasen und das Rebhuhn zu töten. Da schlägt die Frau das Ei auf, welches die Seele von >Leib ohne Seele< enthält, dieser stirbt sofort, und so kann sie nun unbesorgt den jungen Mann heiraten.[28]

Die Geschichte von >Leib ohne Seele< beschreibt deutlich die Lage einer Frau, die von einem Mann — und von was für einem Mann! — entführt wurde. Dieser ist eine brutale Bestie, der seiner Seele beraubt ist, ein Ungeheuer, das keine Gewalt über sich selbst hat: welch treffendes Bild des Mannes, der ebenfalls durch die Gesellschaft und ihre Strukturen entfremdet ist! In Wirklichkeit ist der Unterschied zwischen diesem Volksmärchen und der Sage von Curoi nicht einmal besonders groß, obwohl letztere das Zeugnis einer uralten und höchst komplexen Mythologie ist. Die Rolle des Curoi ist nämlich ziemlich undurchsichtig. Er gehört den Tuatha De Danann an, er ist also ein Wesen der Autre Monde, während Cuchulainn ein Menschenwesen ist. Aber Curoi, dessen Name, wie bereits weiter oben angedeutet, das Wort für >Hund< enthält, was ihn in verwandtschaftliche Nähe zum Kerberos-Mythos rückt, unterscheidet sich fundamental von Cuchulainn (= >Hund des Culann<); Culann ist der Name des Schmiedes — auch dieser ist ein Wesen der Autre Monde — dem der Held versprochen hatte, ihm als Wachhund zur Seite zu stehen. Blathnait[29] wurde während des Raubzugs von König Conchobar, Cuchulainn und Curoi von der >Burg der Schatten< geraubt, auf der sich außer ihr noch ein rätselhaft-magischer Kessel befand, der stark an den Gral erinnert. Wie die Frau des Riesen >Leib ohne Seele< empört sich die junge Blathnait gegen die durch Curoi personifizierte Autorität, um sich ihre freie Entscheidung für Cuchulainn, den sie wirklich liebt, zu sichern. Sie ist eine andere Blodeuwedd, aber wie diese endet sie schließlich als das Opfer der Gesetze der Männer: der Hofdichter des Curoi maßt sich die Rolle des Richters an, verurteilt sie und tötet sie. Dem Gesetz muß seine Kraft und Gültigkeit bewahrt werden, was auch in einer anderen, im Roman de Merlin enthaltenen Legende über Caesars Gemahlin gut zum Ausdruck kommt.

Grisandolus und der Wilde Mann (Artus-Epik):

Der Imperator Julius Caesar hatte eine Gemahlin »von höchstem Geblüt und bezaubernder Schönheit, doch war sie wollüstiger als jede andere Frau im Römischen Reich.« Was dem Skandal noch die Krone aufsetzte, war, »daß sie zwölf Jünglinge in ihren Gemächern hielt, die sie als Dämchen herausputzte, damit niemand Verdacht schöpfen konnte, was sie mit ihnen trieb.« Caesars Seneschall wiederum war ein junges Mädchen, welches unter dem Namen Grisandolus sich als Mann tarnte. Als eines Tages ein »Wilder Mann« diesem Treiben auf die Schliche kommt, muß er über die falsche Grisandolus und die angeblichen Dämchen herzlich lachen. Als er aufgefordert wird, den Grund seiner Heiterkeit zu nennen, verrät er dem Imperator die Wahrheit. Daraufhin läßt dieser zuerst die Gemahlin verbrennen, dann die falschen Dämchen aufhängen und heiratet schließlich den falschen Seneschall.[30]

Diese Erzählung, die eines Boccaccio nicht unwürdig wäre, ist wieder ein typisches Beispiel für die sexuelle Revolte einer Frau und für die Unterdrückung, die ihr auf dem Fuße folgt. Mit Sicherheit liegt der Legende die Erinnerung an das legendäre Lotterleben der Messalina zugrunde, und die Figur des Caesar wird hier für eine recht kuriose Geschichte entliehen;[31] was uns aber besonders interessiert, ist, daß der Wilde Mann — hinter ihm verbirgt sich natürlich Merlin — uns zu einer uralten Überlieferung aus Schottland führt, nämlich zur Sage von Lailoken. Die Heldin dieser Sage schüttelt ebenfalls eines Tages das Joch der Ehe durch Ehebruch ab und wird danach ebenfalls von einem >Irren vom Walde<[32] denunziert. Der Ehebruch ist zwar ein Mittel, zu dem Frauen häufig greifen, wenn sie sich vom Gesetz des Gatten befreien wollen, aber im Rahmen des generellen Aufstandes gegen die Männergesellschaft ist er nicht unbedingt erforderlich. In anderen Sagen und Legenden ist von einem >Verrat< der Tochter oder Schwester die Rede, wobei dieser Verrat je nach Blickwinkel entweder als Wohltat oder als Verbrechen dargestellt wird. Dies trifft etwa auf die Tochter von Baudemagu zu, die Schwester von Meleagant, die ihren Bruder verrät, um Lancelot du Lac zu befreien, wie Chretien de Troyes in seinem Chevalier a la Charette erzählt. An dieser Tochter (die zugleich auch die >Hideuse Demoiselle à la Mule<, das monströse >Maultier-Fräulein< des Perceval, die >Kundne la Surziere< aus dem Parzival, sowie die Kaiserin aus dem Peredur ist) weist alles auf ihre Abstammung aus einer übernatürlichen Welt hin. Sie ist eine wilde bis sanguinische Art >Jungfrau< (im Sinne von virgo), ja fast so etwas wie eine Walküre. Sie fällt wie die Lilith der jüdischen Überlieferung über ihre Opfer her; ihr Reich ist die Nacht; sie ist zu zahllosen Verwandlungen fähig; ihre Gestalt ist zugleich angsteinflößend und anziehend. Ihr Hauptkennzeichen ist jedoch die offene Revolte gegen die Autorität des Bruders, wobei Meleagant das Symbol der unerbittlichen Notwendigkeit, nämlich des Todes ist, jedoch eines Todes, der gewissermaßen duch die Gesetze legitimiert wird. Wenn sie von Lancelot den Kopf des Chevalier du Gue, des >Ritters der Furt< ( — die Furt bildet die Grenze zwischen den beiden Welten) fordert, dann bezweckt sie damit sicher, daß er die Hindernisse aus dem Weg räumt, die den freien Übergang zwischen Leben und Tod, also zwischen jenen beiden Reichen blockieren, die benachbart, aber gelegentlich von der jeweils anderen Seite nicht zugänglich sind. Zumindest darf man das vermuten, denn in Chretiens Dichtung wird mit keinem Wort diese so außergewöhnliche Forderung der jungen Frau näher erklärt. Daher ist es nicht auszuschließen, daß Chretien eine Quelle verwendete, die er nicht verstand, oder die ihn als Episode zur Rechtfertigung der künftigen Befreiung Lancelots nicht interessierte. Und doch spielt Lancelot hier die Rolle des heldenhaften Kämpfers für die Sache der Frau, eine Rolle, die er in den Artusromanen keineswegs immer spielt. Trotz seiner Erziehung durch Viviane ist Lancelat nämlich immer noch das Muster des >Kulturheroen<, des Verteidigers der patriarchalischen Gesellschaft, deren Repräsentant König Artus ist, selbst wenn er dem König einen Teil seiner Souveränität raubt, nämlich denjenigen, welchen Guenievre symbolisiert. In der Welt des Artushofes kommt der Aufstand aber nicht von der Seite des Lancelot, sondern von Guenievre selbst.
Das uns überlieferte Bild von der Königin Guenievre ist nämlich stark entstellt. Die französischen Autoren — außer Chretien, falls man ihn richtig zu lesen versteht — haben es bis zur Langweiligkeit entschärft, und so wurde aus der Königin das Musterbild einer nachgerade romantisch leidenschaftlichen Liebenden. Nichts ist jedoch weiter von dem ursprünglichen Charakter der Guenievre entfernt, wie er noch in den ältesten walisischen Texten und, wie gesagt, im Lancelot-Roman des Chretien de Troyes in Erscheinung tritt.
Der Name Guenievre (Guennuera oder Guanhumara bei Geoffrey of Monmouth bzw. den verschiedenen Handschriften seiner Dichtung) stammt von einem Wort ab, welches — wenn auch nicht selbst walisischen Ursprungs — zur Bildung der walisischen Form Gwenhwyfar[33] mit der Bedeutung >Weißes Phantom< oder >Weiße Fee< führte. Dieses Wort ist die exakte Entsprechung zum irischen Finnabair, dem Namen der Tochter von Ailill und Mebdh aus den gälischen Epen. Geoffrey macht aus ihr eine am Hofe des Grafen von Cornwall erzogene Römerin, jedoch bezeichnet der Begriff >Römer< häufig nur die Adelszugehörigkeit einer Person. In der walisischen Überlieferung wird daraus die Tochter eines gewissen Gogvran Gawr, dessen Name typisch walisisch ist. Ein auffälliges Gedicht aus der Myrvyrian Archeology of Wales, ein Gespräch zwischen Gwenhwyfar und Artus, den sie nicht erkennt, enthält einen unerwarteten Aspekt der Figur, die einst die Geliebte Lancelots werden sollte. Ihre Sprache ist barsch, ja geradezu brutal. Außerdem ergeht sie sich in Lobeshymnen über Kai, den Seneschall und Halbbruder von Artus, woraus möglicherweise auf eine nicht ganz neutrale Beziehung zwischen ihr und Kai zu schließen ist.[34]

Anmerkg. zu 6.34 Ein bemerkenswertes walisisches Gedicht, das allem Anschein nach das Fragment eines alten magisch sakral-ritterlichen Rituals ist (Siehe: Bulletin of the Board of Celtic Studies, VIII, S. 203 - 208), enthält einen interessanten Dialog zwischen Guenievre (Gwenhwyfar) und Meleagant (Maelwas). Dieser stellt sich vor als »Maelwas von der >Ile de Verre< (der >Gläsernen Insel<. Er bittet die Königin: »Gwenhwyfar mit dem Blick der Hindin, verstoß mich nicht, auch wenn ich noch jung bin.« Das ist als eine Liebeserklärung zu verstehen, an die sich eine Einladung anschließt, ihm in das >Land des Sommers< zu folgen. Aber die Königin scheint sich hinter Kai zu verschanzen, denn sie führt ständig nur dessen Namen im Munde und nicht den von König Artus (sie redet wohlgemerkt auch nicht von Lancelot!). Entrüstet sagt Maelwas ihr ins Gesicht: »Ich hasse das Lächeln eines Mannes mit grauem Haar, dessen Schwert nur noch wie eine Ordensspange auf der Brust wirkt und der zwar noch begehren, aber nicht mehr vollbringen kann.« Daraus geht klar hervor, daß Kai, der ehemalige Liebhaber, bereits zu alt ist und nichts mehr taugt im Vergleich zu Maelwas, der sich daher als Ersatz und Nachfolger für ihn vorschlägt. Aber die Königin erwidert: »Noch hassenswerter ist für mich ein Heißsporn, der sich als tapfrer Recke gibt, in Wirklichkeit jedoch - außer in Worten - ein Hasenfuß ist, der zwar ständig redet, aber nie sein Schwert zieht.« Das läßt sofort an die Geschichte von Mider und Etaine denken. (Siehe J.M.: LEpopeeceltique d'lrlande. S. 51 - 52). Etaine erwachte als Gattin des Königs Eochaid wieder zu neuem Leben. Ihr ehemaliger Gemahl, der Gott Mider, mit dem man die Figur Maelwas/Meleagant gleichsetzen kann, versucht, sie in sein Feenreich zu entführen, indem er ihr in einem Lied die Vorzüge und Meriten dieses Landes der Jugend und der Schönheit preist. Etaine ist jedoch nur unter der Bedingung bereit, mit ihm zu gehen, wenn dieses Land ihr von König Eochaid auf die eine oder andere Art als Besitz übertragen wird. Etaine symbolisiert wie Gwenhwyfar die höchste Macht, um die sich zwei Männer, ein alter und ein junger, streiten.

Der Lancelot-Roman von Chretien enthält wiederum eine Fülle von Anspielungen auf eine mögliche sinnliche Beziehung zwischen Gauvain und ihr. Daß Gauvain in seine Tante verliebt ist, steht außer Zweifel, und gerade aus diesem Grunde bricht er auch zur Suche nach dem Königreich auf. Sehr wahrscheinlich waren die französischen Autoren von der Möglichkeit einer Liebschaft zwischen Gauvain und Guenievre äußerst schockiert, ( — obwohl es auch die Geschichte von Tristan und Yseult gab, aber in ihr gab es zum Glück den Liebestrank, der alles entschuldigte! — ) so daß sie die Rolle des Gauvain möglichst herunterspielten zugunsten von Lancelot, der eine literarische Schöpfung jüngerer Zeit ist, auch wenn sie von alten keltischen Quellen ausgeht.
Diese These stützt sich auf plastische Darstellungen im Dom von Modena (Italien) sowie auf mehrere Texte aus der Tradition der Artusromane. Aus diesen Texten und Plastiken geht hervor, daß Guenievre >sündige< Beziehungen nicht nur zu Gauvain und Kai, sondern auch zu Yder (in der Bretagne Edern), dem Sohn von Nudd, ferner zu einem gewissen Mardoc, der möglicherweise mit dem Meleagant identisch ist, und vielleicht auch mit Galvarium hatte, sofern dieser nicht nur eine Doublette von Gauvain ist.
Wenn man bedenkt, daß in La Mort li Rois Arthur die Beziehungen zwischen Guenievre und Mordret/Medrawt, dem Neffen und Sohn von Artus, dem Usurpator der Macht und Verräter an den Bretonen, alles andere als durchsichtig sind, dann hat man allen Grund, den romantischen oder eher romanesken Charakter der Königin Guenievre in Zweifel zu ziehen. Aber betrachten wir diese Zeugnisse einmal näher. Da nämlich Kai, Gauvain und Yder nach der walisischen Überlieferung die ältesten Gefährten von Artus sind, also aus einer Zeit stammen, die wesentlich vor der Verbreitung des Artus-Zyklus auf dem Kontinent liegt, müssen diese Zeugnisse möglicherweise Reste der archaisch-ursprünglichen Überlieferung der Artus-Figur sein, also muß dort auch das ursprüngliche Gesicht der Guenievre zu finden sein.
Zunächst zu den bildlichen Darstellungen von Modena: Die Archivolte des Nordportals des Doms von Modena ist mit einer Reihe von Skulpturen verziert, die von unschätzbarem Wert sind, da unter den betreffenden dargestellten Figuren jeweils ihr Name in den Stein gemeißelt ist.[35] Die Entstehung dieser Bildplastiken läßt sich etwa auf die erste Hälfte des XII. Jahrhunderts datieren. Da sie eine Szene darstellen, die nicht bei Geoffrey of Monmouth erwähnt wird, muß es sich um eine andere, davon unabhängige Überlieferung handeln, die mit Sicherheit von den Bretonen weitergegeben wurde, da die Namen eine Form haben, die sich an das Mittelbretonische anschließt. Diese Namen sind: Artus de Bretania, Isdernus, Che, Galvagnus, Galvariun, Burmaltus, Mardoc und Winlogee; also Artus von Britannien, Edern (oder Ydern), Kai (oder Keu), Gauvain (oder Gwalchmai), Galvariun (oder Gauvarien), Burmald, Mardoc und Guenievre (sofern Winlogee nicht ein eigenständiger anderer Name der Königin ist). Aus der Abbildung geht hervor, daß die Königin entführt worden ist und in einer Burg gefangen gehalten wird. Diese Burg wird von dem Ritter Mardoc verteidigt. Aus der Bretesche der Burg sieht man im Galopp den Ritter Carados hervorstürmen und gegen Gauvain, Kai und Galvariun kämpfen. Bei Artus befindet sich ein Bediensteter, der einen Hornstab in der Hand hält; es ist Edern. Mit Sicherheit handelt es sich hier um eine andere Episode als die der Entführung der Königin durch Meleagent (Maheloas oder Maelwas), wie sie in Chretiens Karrenritter-Roman beschrieben wird.[36] Die in Modena dargestellten Figuren treten jedoch auch in einem französischen höfischen Roman des XIII. Jahrhunderts auf.

Le Roman de Durmart (Höfische Epik):

Die Königin ist von dem Riesenritter Carados (wahrscheinlich >Caradoc Brief-Bras' = >der Kurzarmige<) entführt und gewaltsam in die >Burg der Schmerzen< (>La Tour Douloureuse<) verschleppt worden, deren Herr Mardoc ist. Dieser Mardoc ist seit langer Zeit in die Königin verliebt. Jedoch machen sich Artus, Kai, Yder, Gauvain und Galvariun auf, um die Königin zu befreien. >La Tour Douloureuse< wird von dem Riesen Burmald verteidigt, es gelingt aber einer Frau, die von Carados einige Zeit davor selbst entführt worden war, Gauvain ein magisches Schwert zuzustecken, welches die einzige Waffe ist, mit der der Riese getötet werden kann. Gauvain tötet den Riesen und befreit die Königin, die den Anschein erweckt, als sei sie in gleicher Weise in Mardoc wie in Gauvain verliebt.[37]

Die am Dom von Modena dargestellte Szene steht also nicht isoliert da, sondern gehört zu einer eigenständigen Überlieferung, die durch die Bretonen vermittelt wurde, und schon ziemlich alt sein muß. Ja, man könnte sogar behaupten, daß es sich um ein Stadium der Sage handelt, das aus einer Zeit noch vor dem Beginn der Abspaltung der bretonischen und walisischen Sprache stammt, d.h. noch vor dem X. Jahrhundert entstanden sein muß.
Dieser Caradoc Brief-Bras, der auch der Caradawc Brychvras ist, (>Caradawc mit dem starken Arm<, was fehlerhaft als >mit dem kurzen Arm<, >Brief-Bras< übersetzt wurde), ist in den walisischen Erzählungen wohlbekannt, aber dabei eng an die Bretagne und insbesondere an die Gegend von Vannes gebunden. Der Name der Königin, der auf den Bildplastiken Winlogee lautet, tritt auch in einem anderen Artusroman des XIV. Jahrhunderts auf. Dort ist er mit noch älteren Elementen aus einem archaischen Fundus verbunden und steht in einer Reihe mit Yder, Kai, Gauvain, Yvain und Beduier, die in den ältesten Texten die einzigen Gefährten Artus sind.

Le Roman d'Yder (Höfische Epik):

Yder, der Sohn des Nut, macht sich auf die Suche nach seinem Vater, den er nicht kennt. Er gelangt an den Hof der Königin Guenloie (Winlogee) und erweckt ihre Liebe. Yder liebt sie ebenfalls, aber dennoch setzt er seine Suche weiter fort und besteht verschiedene Abenteuer. Als er gegen Gauvain kämpft, trifft ihn ein hinterhältiger Schlag des Kai. Artus und Gauvain sind untröstlich und glauben, Yder sei tot. Aber Yder wird von Guenloie gesundgepflegt. In Begleitung von Guenievre und Gauvain kommt Artus eines Tages den Yder besuchen. Da steht plötzlich ein Bär in seinem Gemach. Yder springt beherzt auf, kämpft gegen den Bären und tötet ihn. Danach begegnet er seinem Vater Nut. Während eines beschaulichen Gesprächs mit Guenievre fragt Artus eines Tages die Königin, was sie tun würde, wenn er sterben würde. Sie antwortet: >Ich werde so tieftraurig sein, daß mich nichts trösten könnte, außer wenn Yder mich besäße: denn dieser mißfällt mir am wenigsten.< Der König hat einen Eifersuchtsanfall. Er schlägt Yvain, Gauvain, Kai und Yder vor, ihn zum Kampf gegen einige Riesen zu begleiten und richtet es so ein, daß Yder allein die Höhle der Monster betritt. Aber Yder gelingt es, die Riesen zu töten. Als Yder in der folgenden Nacht Durst verspürt, gibt ihm Kai vergiftetes Wasser zu trinken. Wieder glaubt man Yder tot, aber er kann durch Kräuter, die ihm einige Iren bringen, gerettet werden. Er klagt Kai beim König an. Kai wird zum Tode verurteilt. Jedoch bittet Yder den König um Gnade für ihn. Schließlich wird die Königin Yders Frau.[38]

Offensichtlich liegt hier eine Deplazierung oder vielmehr eine Verdoppelung der Figur vor. Der Autor des Roman d'Yder dürfte eine Überlieferung von einem amourösen Abenteuer zwischen Guenievre — die vielleicht ursprünglich Guenloie hieß — und Yder vor sich gehabt haben. Da er die Königin wohl nicht belasten wollte, zog er es vor, die Figur der Königin zu verdoppeln. Dabei ließ er nur noch in einer kleinen Anspielung die Liebe von Guenievre für Yder anklingen und gab der Guenloie die Rolle der offiziellen und — über jeden Verdacht erhabenen — Geliebten Yders. Jedoch wird nun im Roman nicht mehr recht verständlich, weshalb Artus so leidenschaftlich den Tod des Yder herbeiwünscht: ein solches Verhalten ist eines höfischen Königs nicht würdig. Ebenso wenig verträgt sich der zweimalige Verrat seitens Kai mit der Ehre der Artusritterschaft. Das Thema scheint in Wirklichkeit einer uralten Überlieferung entnommen, die aus der Zeit stammt, als Artus nur ein von skrupellosen Abenteurern umgebener Stammesfürst war, der noch in nichts jener höfisch stilisierten Figur glich, die über einen der okzitanischen Mode des ausgehenden XII. Jahrhunderts entsprechenden, zivilisierten Hof herrschte. Der Roman d'Yder gibt wie die walisische Erzählung Kulhwch und Olwen die echte, ursprüngliche Überlieferung des Artus wieder. Die Königin Guenievre vertritt hier die Souveränität, und als deren Repräsentantin kann sie nicht das ausschließliche Eigentum von Artus sein, denn das würde dem keltischen Geist widersprechen: daher wird zwischen den Kampfgefährten des Königs um ihren Besitz gerungen. Daher hat sie auch bereits Gauvain, Kai und Yder und viele andere, z.B. Maidoc-Meleagant oder Caradoc als Liebhaber gehabt. Die keltische Königin ist nämlich nicht die Sklavin des Königs: sie gibt ihre Macht dem Mann ihrer persönlichen Wahl, sie verkörpert hier sogar voll und ganz im Rahmen der Legalität den Aufstand des Blütenmädchens, das vom Mann für den Mann geschaffen wurde und in einer von den Männern getragenen Gesellschaft den Versuch macht, seine Unabhängigkeit wiederzuerlangen.
Eine bemerkenswerte Passage in Chretiens Perceval, die bisher von den Mythologen kaum beachtet worden ist, gibt in knapper Form ein ergreifendes Porträt der wahren Guenievre. Durch diese Passage wird der Aspekt der absoluten Herrin, der sie im Chevalier à la Charette gegenüber Lancelot kennzeichnet, sowie die Anforderungen, die sie stellt, auf einmal verständlich, die man sonst für Kapriolen halten müßte, zu denen Frauen, die wenig zu tun haben, bei Hofe traditionsgemäß neigen. Die Passage steht im Perceval an der Stelle, wo Gauvain gerade einen Fluß überquert hat und sich nun im >Chateau de la Merveille< befindet, wo er der verzauberten Mutter des König Artus begegnet. Diese bittet ihn, ihr Nachrichten von der Königin Guenievre zu erzählen. Gauvain antwortet:

»Seit der ersten Frau, die aus der Rippe Adams geformt wurde, gab es nie eine Frau, die so berühmt gewesen wäre wie sie. Diesen Ruf hat sie wohl verdient, denn wie der gebildete Lehrer die kleinen Kinder unterrichtet, so unterrichtet und unterweist meine Herrin alle Lebenden. Von ihr kommt alles Heil der Welt, sie ist seine Quelle und sein Ursprung. Niemand, der sie verläßt, geht ohne Trost. Sie weiß, was jeder sich wünscht (muß heißen »wert ist«; Anm. d. Übers.) und kennt die Mittel, einem jeden ganz nach seinem Wunsch zu gefallen. Kein rechtschaffener Mann kann zu Ehre gelangen, es sei denn, er hätte es von meiner Herrin gelernt. Keiner kann unglücklicher sein, als zur Stunde, wo er von ihr geht und nimmt seinen Schmerz mit.[39]

Ein solcher Text macht einen Kommentar fast überflüssig. Zunächst fällt hier bei Guenievre der Aspekt der Initiatrice auf, wobei bei den Kelten die Initiation stets auch eine sexuelle Beziehung beinhaltet: im übernächsten, der Yseult gewidmeten Kapitel werden wir auf dieses Thema noch einmal zurückkommen.[40] Unbedingt wichtig ist in der zitierten Perceval-Passage ferner der Aspekt der Deesse-Mere, der Mutter-Göttin, der der Guenievre von Gauvain verliehen wird. Dem ist hinzuzufügen, daß Gauvain, betonen wir es noch einmal, bei der einen oder anderen Gelegenheit selbst auch der Liebhaber der Königin war. Von der Königin komme alles Heil der Welt, sagt er, die Königin ist die Herrin über Freude und Leid, sie ist Ursprung und Quelle. Man bemerkt immer wieder, daß die von Chretien de Troyes verwendete Vorlage eine Erzählung war, die noch zahlreiche archaische Elemente enthielt. Dies ist ein weiterer Beweis dafür, daß man im Gralkult und besonders im Ritual der Gralsuche (Quete) die Reminiszenz des Kults der alten Göttin zu sehen hat. Und die Königin Guenievre ist das Bild dieser archaischen Göttin: als Frau ist sie Herrin über das Leben, sie verfügt über die lebenswichtige Nahrung und über die Macht der Schöpfung. Mit anderen Worten: in ihren Händen liegt die oberste autonome Herrschaft über alle Dinge, eine Souveränität, die vom König, ihrem Gemahl — oder aber von den Rittern, die mit ihr in Kontakt kommen, d.h. von ihren Liebhabern — verwaltet wird. Nach dieser Feststellung kann der >amour courtois<, die höfische hohe Minne, mit ihren Doktrinen und Gesetzen kaum noch als eine simple Form der Unterhaltung einer aristokratischen Gesellschaft betrachtet werden. Der >amour courtois< ist nur das poetische Gewand, in das im XII. und XIII. Jahrhundert der Kult der magna mater omnipotent gekleidet wurde.
Sofort drängt sich ein Vergleich auf: nämlich die verblüffende Ähnlichkeit zwischen Guenievre (Gwenhwyfar, Winlogee oder Guenloie) und einer wohlbekannten irischen Epenheldin, der Königin Mebdh von Connaught. Freilich wirken die einzelnen Typen und Charaktere im heidnischen Kontext der gälischen Ependichtung wesentlich brutaler und urwüchsiger als in den französischen Adaptationen der brit(ton)ischen Sagen und Legenden. Die Königin Mebdh hat zwar wenig sympathische Züge, aber dies ist ganz im Sinne der Autoren, die ihren Charakter der virago betonen. Sie ist nach der ursprünglichen Bedeutung des keltischen Wortes tatsächlich eine virago. Mebdh beugt vor den Männern nicht das Knie und schon gar nicht vor ihrem Gemahl, dem König Ailill, der in dieser Sage eine eher unschmeichelhafte Rolle spielt. Mebdh ist »die kriegerische, die kämpferische Frau«. Sie ist die Tochter des obersten Königs von Irland. Während ihres Streites mit Ailill über die Frage, wer den größeren Besitz habe, brüstet sie sich damit, mehr als Ailill zu besitzen: nach keltischem Recht hat sie somit zu bestimmen, was getan wird. Als sie aber bemerkt, daß ihr noch ein Stier fehlt, ist ihr jedes Mittel recht, um eines ganz außergewöhnlichen Tieres habhaft zu werden, mit dessen Besitz das Zünglein an der Waage nach ihrer Seite ausschlagen würde. So fordert sie den Dare, Fiachnas Sohn, auf, ihr seinen Stier zu überlassen, den berühmten Brun von Cuanlge. Als Gegenleistung will sie ihm Grundbesitz und einen Wagen geben, vor allem aber gewährt sie ihm die Gunst, mit ihr ins Bett zu gehen.
Dieser Vorschlag ist wesentlich mehr als nur ein pikantes Detail. Als Tochter des höchsten Königs von Irland und Königin von Connaught ist Mebdh die Inhaberin der Souveränität, oder vielmehr ist sie selbst die Souveränität, die höchste Macht. Ähnlich wie einzelne Sterbliche nach der griechischen Mythologie zu göttlichen Fähigkeiten gelangten, als sie die Geliebten einer Göttin wurden, so gelangt auch der Mann, der mit Mebdh schläft, automatisch zu einem Teil der Macht, über die sie verfügt, oder die sie selbst verkörpert. Außerdem drückt Ailill jedesmal ein Auge zu, wenn seine Gemahlin einen anderen Mann mit der »Freundschaft ihrer Lenden« verwöhnt, wie die Ependichter diesen Sachverhalt delikat und euphemistisch umschreiben. Wenn Mebdh einen Teil ihrer Souveränität an einen Mann abtritt, so geschieht dies mit der Absicht, daß dieser dadurch den Interessen der Königin und damit des Königreichs nützt. In der Erzählung Tain Bo Cualnge kommt dies deutlich zum Ausdruck: nachdem ihre Verhandlungen mit Dare gescheitert waren, beschließt Mebdh, gewaltsam den Stier in ihren Besitz zu bringen, indem sie einen Krieg gegen Ulster vom Zaun bricht. Dazu braucht sie natürlich Krieger und besonders den gefürchteten Fergus, der aus Ulster verbannt ist. Daher läßt sie diesem Fergus ganz besonders ihre außergewöhnliche Fürsorge angedeihen. Als sie eines Tages von einem Bediensteten des Königs überrascht wird und dieser seine Entdeckung dem König meldet, beschränkt sich dieser auf den Kommentar, sie habe so handeln müssen, um den Erfolg des Unternehmens zu garantieren. Dessen ungeachtet reagiert Ailill in vielen Situationen höchst eifersüchtig: so überrascht er eines Tages Mebdh dabei, wie sie gerade auf reichlich indezente Art und Weise mit Fergus badet, und gibt daraufhin einem seiner Männer den Befehl, einen Jagdspeer auf Fergus zu schleudern, was das unrühmliche Ende dieses Helden bedeutet.[41]
Im Fest des Bricriu ist Mebdh besonders deutlich als Inhaberin der höchsten Macht gekennzeichnet. Als es darum geht, den »Heldenanteil« zu vergeben, und man nicht weiß, wer von den drei sich gleichzeitig bewerbenden Ulates-Helden Cuchulainn, Conall und Loegaire der größte ist, läßt man Mebdh das entscheidende Urteil fällen. Diese erklärt Cuchulainn für den besten aller Ritter, was sie jedoch nicht daran hindert, mit viel Zeit und Geduld auf dessen Untergang hinzuarbeiten. Als nämlich Mebdh von Cuchulainn im Kampf um den Stier Brun von Cualnge besiegt wird, erzieht d.h. initiiert sie die Kinder von Caltin zu den zukünftigen Mördern des Ulates-Helden. Mebdh kann keine Niederlage ungesühnt hinnehmen. Der Rausch der Ulates beschreibt, auf welch sonderbare Art sie die verirrten und von dem berauschenden Getränk stark mitgenommenen Ulates-Krieger empfängt. Sie ist dabei nicht nur in Begleitung von Ailill, sondern auch Curoi mac Daere, der zu dieser Zeit gerade einer ihrer Liebhaber zu sein scheint, ist bei ihr. Und wie sehr auch Ailill versucht, die Ulates im Namen der geheiligten Gesetze der Gastfreundschaft und der Ehre zu schützen, zieht die Königin es dennoch vor, auf den Rat des Curoi zu hören und die Ulates zu vernichten. Nur mit Cuchulainns Hilfe gelingt es diesen, sich aus ihrer ausweglosen Lage zu retten; auf ihrer Flucht nehmen sie sogar noch den König Ailill mit, der dem Schattendasein neben seiner schrecklichen Gemahlin das Exil entschieden vorzieht. Natürlich ist das Porträt, das die irischen Erzähler von ihr geben, stark übertrieben, ja fast bis zur Karrikatur verzerrt, aber man darf nicht vergessen, daß es in einem eindeutig patriarchalischen Kontext steht. Man bemitleidet den Mangel an Autorität bei Ailill und empört sich, über den Charakter der Mebdh. Was von ihrer alten Rolle als Königin und Repräsentantin der Souveränität und Macht noch geblieben ist, ist kaum mehr als ihr Aspekt einer Prostituierten und Hexe.
Und doch führt der Vergleich zwischen Guenievre/Gwenhwyfar auf der einen Seite und Mebdh (deren Tochter übrigens den Namen Finnabair hat, welcher, wie schon angedeutet, die exakte gälische Entsprechung zu dem walisischen Gwenhwyfar ist) auf der anderen Seite zu einem besseren Verständnis der ursprünglichen Guenievre, deren Rolle die Grundlage der späteren höfischen Romane von der Tafelrunde bildet. Diese weibliche Souveränität riß ein Mann (König Artus) an sich, und damit wurde sie verfälscht und entfremdet, obwohl sie im Grunde als unentstellbar gilt.[42]
Wenn die Königin sich den ein oder anderen Liebhaber nimmt, dann tut sie dies nicht mit der Absicht, die Macht mit ihm zu teilen, besser gesagt, nicht um ihre Souveränität einzuschränken, sondern um ihre Macht auf den Mann auszudehnen und ihm die Möglichkeit und Kraft zu geben, sich ausschließlich für das Wohl der Souveränität einzusetzen. Denn wie wäre es sonst zu erklären, daß Lancelot du Lac all den Mut, dessen er zum Bestehen seiner waghalsigen Aventiuren bedarf, aus seinen Gedanken an Guenievre schöpft, was so weit geht, daß ihr ihn ständig verfolgendes Bild schließlich zum alleinigen Motor all seiner Taten wird? Durch ihr Verhalten übertritt die Königin aber die von der paternalistischen Gesellschaft definierten Tabus und verläßt absichtlich und freiwillig den Bereich der Legalität. Daher das Mysterium, das ihre Liaisons umgibt, daher jenes komplizenhafte Halbdunkel, daher die geheimen Rendezvous und all das Verlockende, das ein so köstliches Mahl für die Dichter bedeutet, die dem Zuhörer oder Leser das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen wollen, indem sie zeigen, daß das Verbotene zuweilen einen besonders großen Reiz besitzt und daß der Ehebruch, besonders auf königlicher Ebene, eine Attraktivität besitzt, der nichts Gleichwertiges an die Seite zu stellen ist.
Guenievre lehnt sich wie Mebdh und Blodeuwedd gegen die etablierte gesellschaftliche Ordnung auf, die in ihrer Routine und ihren zahllosen Widersprüchen erstarrt ist. Ihr Aufstand ist dabei nicht einmal ungefährlich. Dem Scheiterhaufen entgeht sie nur knapp. Blathnait hatte dagegen weniger Glück: sie konnte Curois Rächer nicht entkommen. Ebensowenig entrann Blodeuwedd dem Fluch des Gwyddyon, Lilith dem Fluch Jahwes. Auch in der antiken Überlieferung des Mittelmeerraums gibt es ähnliche Figuren, die wie sie das Schandmal auf der Stirn tragen. Man redet von ihnen, jedoch stets um sie zu verurteilen, selbst wenn man sie unbewußt bemitleidet.
Nehmen wir den Fall der Phaedra, denn er ist besonders bezeichnend. Nach einer Definition von Chateaubriand (— der an dem Tage, als er sie niederschrieb, statt dessen besser eine Wanderung durch seine geliebte Heide hätte tun sollen —) ist sie »une chretienne, à qui la gràce a manque« (>eine Christin, die nicht in den Genuß der Gnade kam<)- Diese Definition, die einem Exzeß an jansenistischem Furor entsprungen ist, verkennt den Gehalt des Mythos völlig. Racine, der Dichter der Tragödie Phedre, war zwar selbst überzeugter Jansenist, aber zugleich auch ein großer Hellenist, der tief durchdrungen war vom Geist des antiken griechischen Theaters und der griechischen Mythologie. Wenn man Racines Text richtig zu lesen versteht, sieht man darin den Mythos in blendender Reinheit hervortreten. Zunächst wird Phaedra keineswegs als eine alternde Frau dargestellt, die sich in einen >Welpen< vergafft, wie uns zahlreiche dramatisierte Darstellungen glauben machen wollen (falls diese nicht nur dazu dienen, alternden Schauspielerinnen, die sich ihr Alter noch nicht eingestehen wollen, Arbeitsplätze zu schaffen). Phaedra ist eine junge Frau, die dem Gesetz des Vaters geopfert wird, der sie zur Gemahlin des Helden Theseus machte, eines Helden, der nicht mehr der Jüngste war und fast nie zu Hause ist. Phaedra, die kaum älter als ihr Schwiegersohn Hippolyt ist, langweilt sich zutiefst. Da wirft sie ein Auge auf Hippolyt, der noch dazu seinem Vater sehr ähnlich sieht, jedoch nicht dessen Fehler hat.
Daran ist an sich noch nichts Ungewöhnliches, zumindest nichts, was den Inzest rechtfertigen würde, außer natürlich in einem gesellschaftlich exogamen Rahmen (der bei den Griechen wie bei den Kelten gegeben war). Phaedra wird jedoch im Namen der Gesetze der patriarchalischen Gesellschaft verurteilt, da sie Ehen zwischen Mitgliedern ein und desselben Clans ausschließen. Durch ihre Heirat mit Theseus wird Phaedra rechtlich ein vollwertiges Mitglied des Clans von Theseus. Daher liegt ein Fall von >Clan-Inzest< vor, wenn sie sich in den Sohn des Theseus verliebt. Die biederen Bürger, die sie deshalb verurteilen, täten besser, sich daran zu erinnern, daß etwa in der jüdischen Gesellschaft, die endogam ist, gewöhnlich der Schwager die Witwe seines verstorbenen Bruders heiratet: nie ist dabei von Inzest die Rede, außerdem ist dieser Brauch dort, wo er möglich ist, sogar obligatorisch. Der Inzest, den Phaedra begeht, ist also nicht religiöser, nicht einmal moralischer Natur, sondern ein Inzest gesellschaftlicher Natur.
Dieser Inzest würde nämlich, sobald sein Sachverhalt effektiv vorliegt, sämtliche Strukturen der Gesellschaft, der Phaedra angehört, wohl oder übel in Frage stellen. Indem sie sich gegen die Autorität des Gatten auflehnt, die zugleich die Autorität des Vaters ist, der das Fundament der Gesellschaft bildet, lehnt Phaedra sich somit gegen diese Gesellschaft insgesamt auf. Also muß sie wie Blodeuwedd und Guenievre bestraft werden. Und wenn sie in der griechischen Sage Hippolyt plötzlich anklagt, er habe versucht, sie zu vergewaltigen, dann tut sie dies nur, um sich zu rächen: obwohl Hippolyt durchaus ihr Komplize hätte werden können, obwohl er ihr durchaus bei der >Umwertung der Werte< hätte beistehen können, hat er sich doch geweigert, es zu tun, wahrscheinlich deshalb, weil er begriffen hatte, worauf Phaedra damit hinauswollte. So wurde er zu ihrem Feind, und damit gleichzeitig zu einem störenden, gefährlichen Zeugen. Es sei darauf hingewiesen, daß der Hippolyt des Euripides intelligent ist, während er bei Racine vor allem durch seine Unfähigkeit und Naivität glänzt; Racine machte ihn nämlich zum Symbol des schwachen und zur Ausübung seiner Verantwortung unfähigen Menschen (was sich mit der jansenistischen Auffassung deckt).
Ein anderes, diesmal aus der Welt der Römer stammendes Beispiel kann in der heroischen Tragödie Horace von Corneille erblickt werden. Bekanntlich gehört die in dem Drama dargestellte Episode der Horatier und Curiatier eher der Sage als der belegbaren Historie an, und ihre einzig fundierte Grundlage ist die einstige Rivalität zwischen Rom und Alba Longa, den beiden alten Städten Latiums im Ringen um die Vorherrschaft. Corneille hat jedoch ihren Geist wunderbar erfaßt und in seiner Tragödie mit beachtlichem Zynismus verarbeitet. Dieses Werk, das generationenlang den Schülern vorgesetzt wurde — und auch heute noch auf dem Stoffplan steht — ist vielleicht das niederträchtigste und unmoralischste Werk, das man sich vorstellen kann, oder das jemals verfaßt wurde. Daß bereits der Name Corneille die Lehrer uneingeschränkt vor seligster Bewunderung erzittern läßt, zeugt von ihrer Gewissenlosigkeit und Verblendung. Das Stück strotzt geradezu vom Geist der Selbstaufopferung und des Patriotismus bzw. Nationalismus, was in entsprechend hohle Phrasen gekleidet wird, hinter deren Maske sich der Wille zur schonungslosen Mißachtung und Vernichtung der Natur des Menschen verbirgt, obwohl dieser doch ein vernunftbegabtes und sensibles Wesen ist; all dies macht das Stück zu einem Triumph der Brutalität, ohne die freilich keine patriarchalische Gesellschaft überleben kann.
Worum geht es in dieser Tragödie? Vornehmlich um zwei Frauen, die unterschiedlich auf eine vorgefundene Lage reagieren, die allerdings derart ausweglos tragisch ist, daß man eine solche Form geradezu sprichwörtlich als >Corneillesche Tragödie< bzw. >Corneillesche Tragik< bezeichnet. Die beiden Protagonistinnen Sabine und Camille haben zunächst die gleiche Haltung: beide versuchen leidenschaftlich, ihre Brüder, Verlobten und Gatten umzustimmen, die sich zur größeren Ehre des Vaterlandes gegenseitig umbringen wollen (nur handelt es sich unglücklicherweise nicht um ein und dasselbe Vaterland, so daß jedes dieser Vaterländer davon überzeugt ist, daß das Recht auf seiner Seite liege, was ein typisches Zeichen für die Hirnlosigkeit jenes Tieres ist, das bisweilen Mensch genannt wird). Die Frauen stoßen mit ihrem Flehen auf taube Ohren, obwohl sie sämtliche Register der Dialektik und Sensibilität ziehen. Der junge Horatier (Horace) ist sich dessen voll bewußt, daß die beiden Frauen durch ihre Komplizenschaft mit seinen Feinden — die zwar seine Schwäger sind — für die Ordnung der Gesellschaft, die er verteidigt, eine Gefahr darstellen. Der Kampf ist eben reine Männersache. Als Horace aufbricht, sagt er zu seinem Vater:

»Mein Vater, halte sie zurück! Sie rasen!
Ich bitt' dich, hind're sie, hinauszugehn:
Denn ihre lästge Liebe würde lärmend
Durch Weinen und Geschrei im Kampf nur stören.«[43]
(Horace II, 8)

Man erinnere sich aber daran, daß Coriolan sich auf seinem Marsch gegen Rom durch das Weinen und Flehen seiner Mutter und seiner Gemahlin dagegen sehr wohl von seinem Vorhaben abbringen ließ. (Wahrscheinlich wurde er deshalb auch anschließend von seinen eigenen Soldaten umgebracht, sodaß Corneille es nicht für angebracht hielt, aus ihm einen Helden zu machen.)
Von diesem Zeitpunkt an reagieren Camille und Sabine verschieden: Sabine resigniert. Sie hört zwar nicht auf, zu denken, aber sie akzeptiert, d.h. sie fügt sich definitiv in das System ein. Man wird ihr zu Ehren eine Statue errichten und sie mit folgenden Worten trösten:

»O gib, Sabina, weniger dem Schmerz,
Der dich bedrückt, Gehör! Verscheuche drum
Aus diesem großen Herzen jede Schwäche:
Ja! Trockne deine Thränen, dann zeigst du
Als wahre Schwester der Beweinten dich!«[44]
(Horace V, 3)

Sie wird also eines Tages als >Heilige< Sabine, ein Vorbild der heroischen Aufopferung aller Frauen künftiger Zeiten, zu Bewunderung und Nachahmung angeboten. Klar und deutlich ausgedrückt heißt das: bringt eure Gefühle zum Schweigen, gehorcht unseren Befehlen, verhaltet euch so, wie man es von euch erwartet, nämlich als Spiegelbild, als zu unserem Vergnügen geschaffenes Blüten-Mädchen. Oder um ein geflügeltes Wort der französischen Umgangssprache zu benutzen: >sois belle et tais-toi<, sei schön und schweig. Was man aus Sabine gemacht hat, ist eine resignierte Eva, eine bewundernswerte Gemahlin, aber vor allem eine entfremdete Frau.
Anders reagiert Camille. Alle Kommentare zu Corneilles Werk finden sie übereinstimmend schrecklich abstoßend, ja sie gehen fast so weit, den jungen Horace darum zu bedauern, daß er eine solche Schwester hat. Es stimmt allerdings, daß Camille die Inkarnation der Revolte gegen die paternalistische Gesellschaft ist, in der sie zu ersticken droht, die ihr sämtliche affektiven Bindungen zerstört, und die ihre ganze Gefühlswelt vernichtet. Aus ihrem Aufbegehren weht nicht nur der Geist einer egoistischen Leidenschaft, sondern ihre vielzitierten Stoßseufzer sind auch die Schreie von Millionen und Abermillionen von Frauen aus allen Zeiten und Ländern. Camille findet zur Qualifizierung der Gesellschaft, in der sie leben muß, die richtigen Worte. Aus ihnen spricht der Aufstand gegen den Vater:

»Ja! Klar und deutlich will ich es ihm zeigen,
Die wahre Liebe trotzt der Hand der Parzen;
Sie achtet das Gesetz nicht von Tyrannen,
Die uns ein böser Stern zu Eltern gibt.«[45]

Und nachdem sie die einzelnen Stationen ihres Leidensweges beschrieben hat, entdeckt sie den Höhepunkt der Widerwärtigkeit:

»Wie, freuen soll ich mich am Todestag?
Des Siegers Taten soll ich heut bejauchzen?«[46]

Damit ist deutlich ausgesprochen, daß die Gesellschaft von ihr nicht nur passives Stillhalten verlangt, sondern sie soll sich auch noch nach dem Bilde der Männer verhalten, sie soll allen ihren Wünschen entsprechen. Jedes andere Verhalten wird als Verbrechen ausgelegt:

»Heißt Tränen Schande, Seufzen ein Verbrechen?
So soll ich mich, Tyrann, wohl glücklich preisen,
Soll grausam sein, um edel nur zu heißen?«[47]

Camille hat ihre Situation klar erkannt und beschließt daher, den entscheidenden Schritt zu tun. Wie sich herausstellt, handelt es sich keineswegs um ein plötzliches Überfluten der Leidenschaft. Camille ist zu ihrer Entscheidung erst nach einer langen Entwicklung gelangt, ihr geht eine jener ausgiebigen >Erörterungen< (debats) voraus, die für Corneilles Werk so typisch sind. Ihre endgültige Haltung wird von ihrer Vernunft diktiert. Wenn etwas ausufert oder überläuft, dann deshalb, weil das Maß voll ist und weil Camille nun nichts mehr zu verlieren hat:

»Mein Herz, entarte lieber solchem Vater!
Sei lieber unwerth eines solchen Bruders!
Ruhmvoll ist es, feige zu erscheinen,
Wenn Barbarei die höchste Tugend ist.«[48]
(Horace IV, 4-5, passim)

Das ist eine durch die Vernunft geleitete unwiderrufliche Verurteilung und zugleich der Beweis dafür, daß ganze Welten die Mentalität des Bruders von der der Schwester trennen. Hier liegt nicht mehr nur ein Konflikt zwischen Bruder und Schwester vor, sondern ein Konflikt zwischen zwei Weltanschauungen, zwischen zwei Kulturen. Diejenige von Horace ist eine Kultur der Gewalt, des Terrors, der Unterdrückung und der reinen Vernunft. Diejenige von Camille ist eine Kultur der Liebe, der Affektivität.
Aber Camille steht mit ihrem Standpunkt allein da. Vor der gefühllosen und barbarischen Haltung ihres Bruders explodiert sie im wahrsten Sinn des Wortes und spricht über Rom ihren Fluch aus, denn für sie ist Rom das krasse Symbol dieser Kultur, die sie so sehr aus tiefster Seele ablehnt, daß sie der hochmütigen Stadt den endgültigen Untergang wünscht. Horace tötet sie, und um sich vor den Augen eines Soldaten, der Zeuge dieser Tat wird, zu rechtfertigen, spricht er die folgenden Worte, aus denen hervorgeht, daß er begriffen hat, worin die Ursache allen Übels besteht.

»... denn ihr frevelhafter Wunsch,
wenn auch noch machtlos, ist ein wuchernd Unkraut,
das man im Keime schon ersticken muß.«[49]
(Horace IV, 6)

An dieser Stelle erreicht Corneilles Tragödie die Höhe eines objektiven und aussagereichen Werkes — vorausgesetzt natürlich, daß man es wirklich aufmerksam liest und nicht nur dem Klappern der Alexandriner-Verse und einigen schaurig-schönen Redewendungen lauschen will. Was hat man aber von dem V. Akt zu halten? Was soll man von dem Gerechtigkeitsgefühl eines Königs halten, der uns dort als das Muster eines Herrschers präsentiert wird? (Man beachte nebenbei den zwischen den Zeilen durchschimmernden Kniefall vor Richelieu, dem eigentlichen Gründer der absolutistischen Monarchie in Frankreich.) Der König genießt sämtliche Rechte und Freiheiten, da er über den Gesetzen steht, die er einsetzen und abschaffen kann (und zwar >im Namen Gottes<; schließlich ist Gott in manchen Situationen eine höchst praktische Sache, besonders wenn es um die Lenkung des Staates geht). Daher erteilt der König Horace die Absolution:

»Lebe, Horatius, lebe, Krieger mit dem allzu großen Herzen;
Deine Tugend setzt den Ruhm noch über dein Verbrechen.«[50]
(Horace V, 3)

Wenn unser Moralgefühl sich über diesen Freispruch empört, um so schlimmer für uns: denn schließlich gibt es die Staatsraison, die Tugend und den Ruhm, drei Werte, denen man alles zu opfern hat (immer nach der schönen Devise: »Es geschieht nach Gottes Willen«). Obwohl Horace zum Mörder seiner drei Schwäger und seiner Schwester wird, ist er ein Held, auch wenn Blaise Pascal, jener Häretiker, der hartnäckig darauf besteht, Macht und Recht sauber voneinander zu trennen, der gegenteiligen Ansicht ist.**412.6.51***
Gerechterweise müssen wir uns aber auch in die Lage des Königs versetzen: der König kann gar nicht anders handeln, als Horace freizusprechen. Anderenfalls würde er nämlich das Verhalten der Camille implizit gutheißen, damit würde er aber der Gesellschaft, die er repräsentiert, einen gefährlichen Schlag versetzen. Arme Camille! Sie ist also dazu verurteilt, sich zu den Manen der Phaedra, der  Guenievre, der Blathnait und der Blodeuwedd zu gesellen. Der Aufstand des Blütenmädchens ist damit ein weiteres Mal gescheitert.
Eine ungewöhnliche Geschichte aus der irischen Literatur erzählt jedoch von einem Versuch dieser Revolte, der wesentlich weiter geht und sogar zum Teil gelingt. Die Motivationen der Geschichte sind ziemlich unverständlich, denn es geht darin in erster Linie um die tragische Konfrontation zwischen dem Druidentum (in einer auf das Niveau des Hexenzaubers herabgesunkenen Form) und dem siegreichen Christentum. Da aber das Druidentum in der bereits christianisierten gälischen Gesellschaft offiziell nicht mehr anerkannt ist und wie in den anderen ehemals keltischen Ländern auf dem Kontinent seitdem nur noch von den Frauen in der Form des >Hexenwesens< heimlich weiter praktiziert wird, dürfte es interessant sein, diesen Konflikt einmal näher zu betrachten:

Der Tod des Muirchertach (Irland):

Muirchertach, der >Ardri<, der höchste König von Irland, begegnet eines Tages auf der Jagd einem jungen Mädchen, in das er sich sofort unsterblich verliebt. Auf sein inständiges Bitten, mit ihm zu kommen, ist die junge Frau unter der Bedingung bereit, ihm nach Cletech in seinen königlichen Palast zu folgen, daß der König sich ihr vollständig unterwerfe und daß niemals eines Priesters Fuß sein Haus betrete, solange sie dort weile. Als der Ardri sie nach ihrem Namen fragt, antwortet sie, sie heiße Sin; das bedeutet soviel wie »Seufzen, Brüllen, Sturm, rauher Wind, Winternacht, Schrei, Weinen, Klagen«. Sobald sie sich in Cletech eingerichtet hat, jagt sie als erstes die Königin und ihre Kinder aus dem Haus. Die Königin geht sich bei dem Bischof Cairnech beschweren, worauf dieser dem Miurchertach ein Ultimatum stellt und auffordert, Sin aus seinem Haus zu entfernen. Der König weigert sich, woraufhin Cairnech ihn mit einem Bannfluch belegt, dessen Zeremonie dem Druidentum wesentlich näher steht als dem Christentum. Die Männer Irlands stehen jedoch auf der Seite des Ardri und damit auf der Seite der Sin, sie sind gegen den Bischof. Eines Tages fragt der König Sin, woher sie ihre Macht habe. Sie antwortet, sie sei eine Hexe, und gibt ihm einige Beispiele ihrer Zauberkünste. Mit der Zeit fühlt Muirchertach, daß ihn allmählich ein immer stärkeres Gefühl der Schwäche überkommt. Dies erscheint ihm verdächtig. Er geht beim Bischof zur Beichte und verspricht ihm, sich von Sin zu trennen. Nach seiner Rückkehr unterliegt er jedoch von neuem dem Einfluß des Mädchens, das ihn mit phantastischen Visionen behext. Muirchertach wird von einer Vorahnung seines baldigen Todes ergriffen, aber da ist es bereits zu spät, um diesen noch abwenden zu können, denn zu stark ist der Zauber der Sin. Eines Tages schreckt er mitten in der Nacht jäh aus dem Schlaf hoch und sieht, daß sein Palast in Flammen steht. Er versucht, ein Faß Wein zu erreichen, fällt hinein und ertrinkt. Anschließend geht die Kunde durch das Land, daß Sin die Tochter eines Mannes sei, den der Ardri einst habe ermorden lassen, und daß sie all diese schrecklichen Taten nur begangen habe, um ihren Vater zu rächen. Da sie sich aber selbst im Grunde ihres Herzens in den König Muirchertach verliebt hatte, starb auch sie kurz darauf, da sie den Schmerz nicht überleben konnte.[52]

Diese Geschichte hat beinahe corneillehafte Züge: hin- und hergerissen zwischen Liebe und Rache, erfüllt sie dennoch ihre Pflicht und erwirkt den Tod des Schuldigen. Aber der dieser Sage zugrundeliegende Mythos geht noch weiter: denn wenn man einmal von dem Element der Rache absieht, das eine nachträgliche, rationalisierende Begründung zu sein scheint, die die Aufmerksamkeit von dem eigentlichen Ziel der >Hexe< ablenken sollte, so erkennt man, daß hier im Grunde eine echte Revolte gegen den König stattfindet. Und diese Revolte entwickelt sich aufgrund der angewandten Methode besonders subtil. Man könnte ähnliche Beispiele aus der Bibel anführen, etwa das der Dalila, die dem Samson seine Kraft raubt, oder der Judith, die Holophernes tötet, aber diese Beispiele lassen sich immer dadurch rechtfertigen, daß es sich um Kämpfe zwischen rivalisierenden, feindlichen Ländern und Völkern handelt. Hier geht es auch nicht um den klassischen Aufstand des Sohnes gegen den Vater (der im privaten wie im öffentlich-gesellschaftlichen Leben zweifellos eine wichtige Rolle spielt), denn dabei handelt es sich stets um eine Rivalität unter Männern. Sich gegen den Vater zu empören bedeutet, eine alternde Autorität durch eine neue, junge Autorität ersetzen zu wollen — und dies ist reine Männersache. Diese Revolte des Sohnes — gelegentlich mit Unterstützung der Mutter — wurde bereits in aller Breite und Tiefe untersucht, wobei man auf der Suche nach Argumenten zur Klärung des Phänomens sogar bis zur Urhorde zurückging, in der das Oberhaupt theoretisch nur das stärkste Männchen gewesen sein konnte. Wer hat aber jemals über die Revolte der Tochter gegen den Vater gesprochen?
Diese Frage wurde ganz einfach deshalb nie ernsthaft diskutiert, da der Aufstand des Sohnes gegen den Vater keine Gefahr für das patriarchalische Gesellschaftsgebäude bedeutet. Ganz im Gegenteil ist es sogar notwendig, daß eine innere Gefahr die eingeschlafenen Energien immer wieder weckt und zu einer Lösung der inneren Konflikte beiträgt. Dies hat keine systemverändernde, sondern eine systemerhaltende Wirkung. Die Individuen wechseln, die Institution bleibt die gleiche, das ist ein unumstößliches Naturgesetz. Der Aufstand des Sohnes gegen den Vater läßt zwar das in der gegenwärtigen Gesellschaft herrschende Unbehagen sichtbar werden (Protestbewegung, Forderungen der Jugendlichen nach Mitbestimmung und mehr Rechten, bestimmte >Bewegungen< und >Initiativen< einzelner Gruppen), aber im Grunde ist er nur die Sichtbarmachung der Angst, auf der die Gesellschaft aufbaut. Die Angst zeigt sich durch die Tatsache, daß die Frau >verboten< ist, d.h. tabuisiert wird, obwohl sie gleichzeitig begehrt wird. Gesellschaftlich ans Ziel zu gelangen bedeutet also, die Tabus zu seinem eigenen Vorteil zu übertreten, um dann, sobald man arriviert ist, d.h. sobald man von der Position des Sohnes in die Position des Vaters übergegangen ist, die gleichen Tabus in voller Härte wieder zu errichten. Damit bleibt alles beim alten, nichts wurde verändert. Der neue Vater genießt nach wie vor die gleichen Privilegien und wird die Früchte seines Sieges zu sichern wissen. Daher die geheiligten Gesetze, die — nach Ansicht ihrer Gründer — für Wachstum und Blüte der menschlichen Gesellschaft stets die besten und wirksamsten sind.
Dies alles ist jedoch ein gewaltiger Schwindel, für den die Söhne und die Töchter zu bezahlen haben. Die althergebrachte Erziehung und ihre bekannten repressiven Maximen, die die Töchter nicht nur in einen Zustand der Angst, sondern geradezu des Horrors versetzen, hatte eine so durchschlagende Wirkung, daß die Töchter schließlich in einen Zustand der totalen Abhängigkeit und psychischen Entfremdung gerieten. Sobald die Töchter aber die Augen öffnen und erkennen, was das Gesetz des Vaters - mit der Unterstützung der Mutter - aus ihnen gemacht hat, dann besteht die Gefahr eines Aufstandes.
Selbst wenn die geistig-moralische Empörung durchaus vorhanden sein mag, fällt es aber immer noch schwer, sich vorzustellen, mit welchen Mitteln dieser Aufstand in die Tat umgesetzt werden könnte, da sämtliche Maßnahmen zu seiner Verhinderung getroffen sind. Der Aufstand der Sin gegen die Autorität des Königs läßt sich also nur mit Hilfe einer List verwirklichen. Daher spricht aus allen Überlieferungen ein so starkes Mißtrauen gegenüber der Verstellung und Verschlagenheit der Frau, die sich unlauterer Mittel bedient, um an das Ziel ihrer Wünsche zu gelangen. Und doch muß dieses Mißtrauen überraschen: denn gerade die Regeln der paternalistischen Gesellschaft sind es doch, die die Frau zum Rückgriff auf solche Mittel zwingen. Daher bleibt der Gesellschaft nichts anderes übrig, als die aufrührerische Tochter als ein »ungeheuer undankbares Ding« oder gleich ganz als Ungeheuer einzustufen, welches über dämonische Kräfte verfügt: und damit gelangt man wieder zur Hexe und Zauberin, was höchst praktisch ist, denn diese endet gewöhnlich ohne lange Diskussionen auf dem Scheiterhaufen.
So wie Sin ihn in die Tat umsetzt, ist der Aufstand perfekt: sie vereint in sich List (Hexerei), Charme, d.h. Zaubei (im sanften Sinn des Wortes) und Intelligenz, >Esprit<. Sin sichert sich nicht nur den Sieg, sondern bewirkt auch noch den Untergang des Königs/ Vaters: sie degradiert die Autorität zur Karikatur, sie zeigt jedem, der Augen dafür hat, das wahre Gesicht des >Kulturheroen<, wie die Gesellschaft ihn sich geformt hat: über die Masse herausragend und doch schwach wie ein Kind, aufgeblasen und maßlos eingebildet.[53]
Gelegentlich machen sich aber einzelne >Kulturheroen< auch zu Komplizen des weiblichen Aufstandes, der weiblichen Emanzipation. Das älteste Zeugnis dieser Art dürfte die in der Rig-Veda enthaltene Legende sein, wonach Indra die Kühe befreit, welche von den Panis in einer Höhle eingeschlossen worden waren. Der sich dahinter verbergende Mythos ist nicht schwer zu entschlüsseln: der Indra geht es darum, die Aversion gegen dis Weibliche zu besiegen, wodurch die Kühe (= die Frauen) in das dunkle Abseits der Höhle abgedrängt worden waren, ihr geht es darum, die Höhle (= die Vagina) zu erforschen und die Frauen wieder zum hellen Tageslicht zurückzuführen (>vaginal zu befreien<), damit sie ihre Sexualität wieder mit befriedigendem Leben erfüllen können und ihren Zustand der Entfremdung verlieren. Ein ähnliches Abenteuer erlebt in der iranischen Avesta die Thraetana, die zwei atemberaubend schöne Mädchen aus einer Höhle befreit. Auch bei Titus Livius wirkt der Indra-Mythos noch in der Sage von Hercules nach, die bekanntlich noch Teile des ursprünglichen Charakters der Indra in den griechisch-römischen Bereich hinübergerettet hat: als Hercules einmal schlief, raubte der Schäfer Cacos ihm seine Herde und schloß sie in eine Höhle ein. Als der Held erwacht, weiß er nicht mehr, was aus seinen Kühen geworden ist, denn Cacos hatte darauf geachtet, daß die Kühe rückwärts in die Höhle gingen. Diese List ist weit mehr als ein hübscher Witz: es handelt sich um eine regelrechte Inversion, eine vollkommene Umkehr der Polaritäten, wodurch Cacos die weibliche Persönlichkeit entfremdet. Schließlich verrät aber das aus der Höhle dringende Brüllen einer Kuh das Versteck. Hercules bringt Cacos um und kann die Kühe befreien. (Titus Livius I, 7)
Im keltischen Bereich erinnert an diese Sage von Indra bzw. Hercules am deutlichsten das Abenteuer, das dem Helden Cüchulainn am Schluß der Geschichte von der Erziehung des Cuchulainn widerfährt. Diese Geschichte ist der Form nach relativ jung, ihr Inhalt läßt jedoch darauf schließen, daß ihre Entstehung auf archaische Zeiten zurückgeht. Bei seiner Rückkehr aus Schottland, wo er sich im Waffenhandwerk hat ausbilden lassen, entdeckt Cüchulainn einmal am Ufer ein junges Mädchen ohne Begleitung. Die junge Frau erklärt ihm, daß sie durch den König, ihren Vater, als Tribut den Fomore ausgeliefert werden soll, jenem mythischen Meeresvolk, das der Feind der Galen und Tuatha De Danann ist. Cüchulainn tötet den riesenhaften Fomore, der sie holen will, und gibt damit dem Mädchen seine Freiheit zurück. Man beachte die Verwandtschaft zwischen dieser Geschichte und der Sage von Theseus und Minotauros, sowie der Sage von Tristan, der jenen Morholt besiegt, welcher für den irischen König vom Volk von Cornwall jährlich Tribut fordert. In allen drei Beispielen befreit der Held ein oder mehrere junge Mädchen aus der Gewalt des väterlichen Gesetzes, durch das sie gezwungen werden, sich opfern zu lassen. Ein ähnlicher Sachverhalt liegt in der walisischen Erzählung Owein und die Brunnendame und in Chretiens YvainRoman Chevalier au Lion vor, wo Owein/ Yvain die von Luiton (einer Art Teufel, der den Vater repräsentiert) auf dem Schloß der >Pesme-Aventiure< gefangen gehaltenen Jungfrauen befreit. Diese Szene ist auch in der christianisierten Queste du Saint-Graal enthalten: Galaad, der durchaus noch an Indra oder Hercules erinnert, wird zum Befreier von jungen Mädchen, die im >Chäteau des Pucelles< ('Schloß der Jungfrauen') gefangengehalten werden, welches den Charakter einer Unterwelt hat. Überhaupt verwirklichen in allen Artusromanen die Ritter, die junge Mädchen aus den Klauen eines Riesen oder Ungeheuers befreien, ebenfalls diesen Akt der Befreiung der durch den Vater oder durch einen anderen Repräsentanten der patriarchalischen Gesellschaft entfremdeten Persönlichkeit der Frau. Dies führt uns geradewegs zu Don Quichotte, dem berühmten Ritter von der traurigen Gestalt, welcher versucht, eine Dulcinea zu befreien, die lediglich in seiner Vorstellung existiert, und auch zu all den Märchen, in denen der Held — im allgemeinen ein >charmanter Prinz< — eine verzauberte Prinzessin durch einen Kuß aus ihrem Dornröschenschlaf befreit.
Und doch ist ein solches Verhalten bei einem >Kulturhelden<, der per definitionem ein Produkt der paternalistischen Gesellschaft ist, eher selten oder reiner Zufall. Nach einem kurzen Exkurs in ein abweichendes Verhalten der beschriebenen Art pflegen diese Helden jedoch wieder zu ihrer wahren Natur zurückzukehren. Denn entweder heiratet die befreite Frau ihren Befreier, womit sie gelegentlich in noch schlimmere Fesseln gerät, oder sie ist gezwungen, ihren Weg bis zum definitiven Abschütteln des männlichen Jochs ohne fremde Hilfe allein weiter zu gehen. In den meisten Sagen, Legenden oder Volksmärchen lassen sich die einzelnen Stationen dieses Kampfes in filigranen Konturen ablesen.
Nehmen wir als typisches Beispiel den Mythos von Apoll. Der Sonnengott der Griechen stammt ursprünglich aus dem Norden und akklimatisierte sich mit der Ankunft der Indoeuropäer auch in Griechenland. Untersucht man die einzelnen an Delphi geknüpften Sagen und Legenden, so kann man einen allmählichen Wandel des Kultes feststellen, der dem Wandel der >Mentalität< und auch der Gesellschaft folgt. In Delphi gab es ursprünglich eine große Schlange, die Python hieß. Diese ist eindeutig ein Symbol der Erde. Als Apoll erscheint, greift er die Schlange an und tötet sie: das bedeutet aber nichts anderes, als daß der weibliche Kult der Erde durch einen männlichen Kult des Himmels ersetzt wurde, oder anders ausgedrückt, daß die androkratischen Strukturen die alten Strukturen im Bereich der griechischen Urgesellschaft ersetzt hatten, die entweder gynäkokratisch oder zumindest stärker weiblich geprägt waren. Aber der Sieg des Gottes Apoll — man erinnere sich noch einmal daran, daß die Sonne in den ältesten Überlieferungen weiblichen Geschlechts ist — war dennoch nicht vollkommen: denn seitdem er der Sieger über die Schlange ist, trägt er ihren Namen als Beinamen, vor allem aber haben seit dieser Zeit die Frauen - sie heißen stets Pythia — das Amt, den Willen der Götter in Worte zu fassen, was sie seit dieser Zeit im berühmten Orakel von Delphi tun.
Daran läßt sich ermessen, wie wichtig diese Rolle der Pythien, Sybillen, Feen und Hexen in einer Welt ist, die offiziell ihre Rolle ignoriert oder sie bestraft, sobald sie über die Grenzen der vagen, unverbindlichen Wahrsagerei hinaus aktiv werden. Die Hexensabbate sind noch die letzten Spuren eines Aufstandes des Blüten-Mädchens. Genau deshalb hat die paternalistische Gesellschaft sie auch mit so viel Härte und Grausamkeit verfolgt: die Hexen sind Geschöpfe des Teufels, zudem weiß man, daß der Teufel ursprünglich eine weibliche Gestalt war, wie aus den verschiedenen Sagen von »des Teufels Großmutter« hervorgeht, die die Personifizierung der antiken MUttergöttin ist. Die Hexensabbate waren in Wirklichkeit nichts anderes als die Bacchanale der Antike oder die sakralen Orgien zu Ehren von Demeter und Isis. All jene mysteriösen Sekten, die in den verschiedenen Jahrhunderten aufkamen und bald wieder verschwanden oder noch heute existieren, entsprangen — unbewußt oder bewußt — ein und derselben Absicht, nämlich die Frau mit ihren alten Vorrechten wieder in die erneuerte menschliche Gesellschaft zu integrieren. Aufgrund der von der paternalistischen Gesellschaft eingesetzten Tabus und Verbote können derartige Revolten natürlich nur im Dunkel des Untergrundes stattfinden. So war auch das Christentum zunächst eine Geheimgesellschaft, denn es hatte damals noch keinen Platz in der Hierarchie des patriarchalischen römischen Staates. Das Christentum, das auf dem Paar Mutter-Sohn aufbaute (d.h. die Wiedereinführung der Liebe und des Gleichgewichts der Rechte von Mann und Frau zum Ziel hatte), richtete sich anfangs in der Hauptsache gegen die patriarchalische römische Gesellschaft. Das erste Gebot Christi lautete nämlich: ,,Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Das war ein Prinzip, das der Idee des Krieges und der aggressiven Spannung widersprach, denn beides bildete die wichtigsten Stützen der paternalistischen Gesellschaft. Die Römer waren sich darüber sehr wohl im klaren:[54] daher nämlich jene grausamen Exzesse bei der Verfolgung der Christen, Jene« vor allem zur Last gelegt wurde, daß sie nicht den Göttern des römischen Staates opferten, d.h. nicht dem Patriotismus huldigten (und in dem Wort Patriotismus steckt wieder das Wort pater, >Vater<.) Das Christentum konnte erst dann >offiziell< werden und sich erst dann in aller Öffentlichkeit zeigen, als es von der Macht vereinnahmt und an die römischen Gesetze angepaßt worden war. Diese Umformung brachte dem Christentum den Vorteil der Micht, aber gleichzeitig wurde damit der ideologische Charakter einer revolutionären Bewegung getilgt. Seit dieser Zeit ist das Christentum, indem es Gehorsam gegenüber der etablierten Ordnung predigt und die Frau kulpabilisiert, die solideste Stütze der paternalistischen Gesellschaft.
Und doch tauchten im Schoß des Christentums außer der Tendenz, die antike Muttergöttin in Gestalt der Jungfrau Maria wieder einzusetzen, immer wieder bestimmte Häresien auf, die den Versuch machten, die Emanzipation der Frau konkret werden zu lassen. Da wäre etwa die gnostische Sekte der Phibioniten zu erwähnen, die im III. Jahrhundert aufkam. Bei ihnen beinhaltete die Zeremonie des Abendmahls nicht nur die Einnahme von männlichem Sperma, sondern auch von weiblichen Sekreten, vornehmlich des Menstruationsblutes. Die Phibioniten lehnten die Fortpflanzung ab und befreiten dadurch die Sexualität von allen materiellen Zielen, was der Frau tatsächlich die volle Verfügung über ihren Körper ermöglichte. Dieses Denken beruhte übrigens auf einem Syllogismus der Antitacten und Nicolaiten, welcher wiederum eine Reminiszenz des Manichäismus ist, der auch die Grundlage der Katharer-Mystik des XII. Jahrhunderts bilden sollte. Dieser Syllogismus ging davon aus, daß »alles, was von Gott geschaffen ist, gut ist, daß aber anschließend ein Gott niederer Kategorie (der Teufel) allem das Böse eingegeben hat; folglich muß man zur Bekämpfung des Bösen die Schöpfung zerstören; daher die Propagierung von Empfängnisverhütung und Abtreibung«.[55] Zu den Schwarzen Messen ist zu sagen, daß sie sich im allgemeinen erheblich von den Ritualen unterscheiden, die ihr von der Sensationspresse angedichtet werden. So hahnebüchen die Motivationen derer bisweilen auch sein mögen, die an solchen Zeremonien teilnehmen, und wie makaber-immoralisch diese Messen auch gelegentlich sein mögen, so läßt sich bei einer eingehenden Analyse ihrer Strukturen dennoch erkennen, daß ihnen die bewußte Absicht zugrundeliegt, dem normalen Mechanismus der maskulinen und paternalistischen Gesellschaft, die als repressiv verdammt wird, eine — wie auch immer geartete — gynäkokratische archaische Ordnung entgegenzusetzen oder sogar wieder einzuführen. Die Tatsache, daß bei diesen Messen der Körper der Frau als Altar dient, und daß dabei die Anbetung der Frau im Mittelpunkt steht, ist ein hinreichender Beweis dafür. Ähnliches gilt für die sogenannte >Messe à rebours< - >Messe wider den Strich< oder >Anti-Messe<: darin werden die sakralen Texte der Messe rückwärts gelesen, was, verbunden mit einer bewußt blasphemischen Absicht, den Versuch der Rückkehr zu den Ursprüngen darstellt, nämlich zu jenen Zeiten vor der Errichtung der Herrschaft des großen männlichen Gottes der Juden über die europäisch-mediterrane Welt. Gewiß sind dies unbestritten Teufelskulte, wobei jedoch darauf hingewiesen werden muß, daß der Teufel (....../diabolos) der ursprünglichen Bedeutung seines Namens gemäß derjenige ist, >der sich querstellt< oder >der durcheinanderwirft< und somit die Dinge an ihrer normalen Entwicklung hindert. Daher wäre es ein Irrtum, die >Schwarzen Messen< und sogenannten Teufelskulte für reine Anbetungen des Bösen zu halten: sie sind lediglich die Negation der etablierten Ordnung und symbolisch die Negation desjenigen, von dem diese Ordnung ihre Legitimation ableitet, nämlich des jüdisch-christlichen Gottes, (man vergleiche dazu den Begriff >Antichrist< für den Teufel). Man kann daher von dem Phänomen der Blasphemie sprechen. Denn begeht nicht jeder, der den Wert dessen abstreitet, was als allgemein anerkannt gelehrt wird, eine Blasphemie?
Die keltische Überlieferung kennt im Bereich der Blasphemie ein Meditationsobjekt und -thema, welches für die Christen des Mittelalters, freilich ohne daß sie seinen Sinn noch richtig verstanden, eine wichtige Rolle spielte: der Mythos des Fischer-Königs, wie er im Perceval des Chretien de Troyes, in der Queste du Saint-Graal, sowie im Parzival des Wolfram von Eschenbach enthalten ist (während er im walisischen Peredur fehlt). In diesen Texten wird der >Roi Pecheur<, der >Roi Mehaigne< der >Fischerkönig< und Gralhüter als hinkend, weil am >Schenkel< verletzt, dargestellt. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß dies als die euphemistische Umschreibung einer Verletzung der Genitalien zu lesen ist, deren Folge die >Impotenz< in jedem Sinne des Wortes, also die generelle Machtlosigkeit des Königs ist, so daß er zur Ausübung seiner Königsherrschaft unfähig ist. Wie kam es aber zu dieser Verletzung? Nach der Queste soll der König, als er dem Gral zu nahe gekommen war — obwohl er >unwürdig< war, ihn zu schauen — von einer rätselhaften Waffe getroffen worden sein. Diese Erklärung hält einer eingehenden Prüfung nicht stand, denn man fühlt deutlich die Absicht, damit das rätselhafte Auftreten der Lanze während der Gralsprozession zu erklären, einer Lanze, die blutet und deren Funktion erst dann verständlich wird, wenn man dabei auf die gälische Mythologie Irlands zurückgreift. Andererseits ist die Absicht der christlichen Morallektion zu deutlich zu erkennen: der König hat eine Todsünde begangen, daher ist er unwürdig, das Blut Christi zu berühren. Im christlichen Kontext wäre man beinahe geneigt, in dem Ausdruck >Roi Pecheur< ein Wortspiel zwischen pecheur (peccator, >Sünder<) und pecheur (piscator, >Fischer<) zu erkennen. Wolframs Dichtung, die trotz einer Flut von esoterischem Blendwerk nach dem Geschmack des deutschen Mittelalters zu Beginn des XIII. Jahrhunderts noch eine Menge archaischer Elemente enthält, liefert dazu den Schlüssel, liest man den Text nämlich genau, so stellt sich heraus, daß Amfortas deswegen verwundet wurde, weil er sein Keuschheitsgelübde nicht eingehalten, also >verletzt< hatte,[56] und weil seine Komplizin dabei jene rätselhafte Kundrie la Surziere (la sortiere, >die Hexe< bzw. >Zauberin<) war, die im Gral-Mythos eine entscheidende Rolle spielt, eine Zauberin, die sich im Parzival bald als monsterhaft-abstoßendes >Maultierfräulein<, bald als Gralsbotin von strahlender Schönheit zeigt und im Peredur in Gestalt der >Kaiserin< mit den tausend Gesichtern auftritt. Amfortas und Kundrie bildeten, wie Wolfram andeutet, ein götterähnliches Paar, das mit den Götterpaaren der antiken Bilddarstellungen verglichen werden kann. Ähnlich wie sich der Wandel des Kultes der Göttin zum Kult des Gottes über die Zwischenphase eines göttlichen Paares erklären läßt (wobei der Gott zunächst zu einem Gegenpol der Göttin wird und sie schließlich ganz eliminiert), läßt sich auch die Genese des Gralkönigtums rekonstruieren: am Anfang war die Göttin die Hüterin des Grals, mit dem sie ursprünglich sogar identisch gewesen sein dürfte; anschließend übernahm diese Funktion ein göttliches Paar, ein König und eine Königin (— dabei entspricht Pelles-Kundry bzw. Amfortas-Kundrie dem walisischen Paar Pwyll-Rhiannon —), bis schließlich nur noch ein König allein herrschte, nämlich Pelles oder Amfortas. Was ihm aber blieb, war der alte Zustand einer Verletzung, und diese Verletzung wurde kulpabilisiert, um die Erinnerung an diesen einstigen Zustand der Gynäkokratie oder zumindest der ausgewogen gleichberechtigten Paarbeziehung auszulöschen. Aber diese Feststellung führt uns in ein so umfangreiches Gebiet, das eigens im folgenden Kapitel behandelt werden muß, wo wir die tiefe Natur und Wirklichkeit des Grals, sowie die Funktion der Quete eingehender untersuchen werden. Hier möge der Hinweis genügen, daß die sexuelle Vereinigung zwischen dem >Fischerkönig< und Kundry/ Kundrie eine Blasphemie darstellt, die verdrängt werden muß, weil sie an eine gefährliche Situation erinnert, die unter keinen Umständen noch einmal eintreten darf. Bei dieser Gelegenheit sei darauf hingewiesen, daß das moderne Wort Blasphemie über das lateinische blasphemum eine theologische Rekonstruktion des ursprünglichen Ausdrucks ist, welcher in der normalen volkstümlich-laienhaften Entwicklung zu dem französischen Wort bläme (engl, blame) mit der Bedeutung >Tadel< bzw. >Schande< führte, woraus das Wort Blamage auch ins Deutsche entlehnt wurde. Der Begriff Blasphemie stammt vom griechischen ...... (blasphemia) ab, was im theologisch-sakralen Sprachgebrauch soviel wie »Wort, das während einer Meß-Zeremonie nicht ausgesprochen werden darf bedeutete; im profanen Bereich bedeutete es dann >Verleumdung, Lästerung, böse Nach-Rede< und stand im Gegensatz zu evifußta (euphemia) >gutes Wort<, Euphemismus.
Der Mythos vom Aufstand des Blütenmädchens hat uns zur Analyse bestimmter Sagen und Legenden geführt, in denen die Frau sich gegen die etablierte und blasphemische Ordnung auflehnt. Dieses vom Mann geschaffene, d.h. erzogene und konditionierte Blütenmädchen, diese Tochter aus der Blüte, macht, wie wir gesehen haben, den Versuch, dem Machtbereich ihres Schöpfers zu entkommen, und bedient sich dazu verschiedener Mittel, worunter der Ehebruch wenn nicht das häufigste, so doch das am konsequentesten gegen den Mann gerichtete zu sein scheint. Aber die Funktion des Ehebruchs als Reaktion gegen die Auffassung von der Frau als Objekt läßt diesen zu einer Revolte gegen den Vater werden, wobei es keine Rolle spielt, ob sie sich dabei gegen den Gatten oder gegen den Herrscher richtet. Von diesem Aufstand gegen den Vater, der natürlich ein Aufstand der Tochter ist, handelt ein bemerkenswertes Chanson de Geste aus dem XIII Jahrhundert. Wir wissen heute, daß die Chansons de Geste eine Mischung aus germanischen, romanischen und keltischen Elementen sind. Mit den berühmten >Sarasins< >Sarazenen<, die darin stets vorkommen, waren häufig die >Heiden< im weitesten Sinn gemeint; zu diesen wurden nicht nur die Mohammedaner und Anhänger von Cäsarenkulten der dekadenten Spätzeit Roms, sondern auch die in den Provinzen des Imperiums noch lebenden druidischen Sekten gerechnet. Auch in dem Chanson de Fierabras geht es genau um die Auflehnung der Tochter gegen ihren Vater, den König, wobei dieser Aufstand geschickt im Sinne der christlichen Ideologie rekupiert wurde. Wenn die Protagonistin der Geschichte auch noch den Namen Floripar hat, was die exakte lateinische Entsprechung zu Blodeuwedd ist, dann hat man allen Grund, dieses Heldenepos mit besonderer Aufmerksamkeit zu untersuchen.

Chanson de Fierabras (Chanson de Geste):

Kaiser Karl (der Große) befindet sich im Kampf gegen die >Heiden<, um einige christliche Reliquien zurückzuerobern. Der Heidenheld Fierabras (— er gleicht der in den irischen Texten so häufig dargestellten keltischen Version des Hercules - ) wird von Oliver besiegt und getauft. Fierabras' Vater, der berühmte König Balan (der Held des Chanson d'Apremont) führt jedoch den Kampf weiter, nimmt Oliver, Gui de Bourgogne (= Wilhelm von Burgund) und andere Franken gefangen und wirft sie in ein gräßliches Verlies. Nun hat aber Balan eine Tochter namens Floripar und diese verliebt sich in Gui de Bourgogne. Sie verrät ihren Vater, befreit die fränkischen Ritter und verschafft ihnen ein sicheres Asyl. Unterdessen rücken Roland, Naymes und andere Franken mit ihren Mannen gegen das Land des Balan vor. Unterwegs treffen sie auf eine Gruppe von Heiden, töten vierzehn von ihnen und nehmen ihre Köpfe als Trophäen mit. Nachdem sie einen Gebirgszug überquert haben, gelangen sie zu einer Brücke, die aus zwanzig Marmorbögen besteht und so breit ist, daß hundert Ritter sie nebeneinander reitend gleichzeitig passieren können. Zehn Eisenketten sind quer über sie hinweggespannt, und über jedem Brückenpfeiler ragt ein Turm auf, der mit je hundert Rittern bewehrt ist. Der Brückenkopf wird von einem Riesen bewacht, der mit einer gewaltigen Keule aus Kupfer bewaffnet ist (ein typisch keltisches Requisit!). Niemand kann die Brücke überqueren, ohne vorher eine Maut von sagenhaften Ausmaßen zu entrichten: 400 Hirsche, 100 Jungfrauen, 100 Falken nach der Mauserung, 100 Zelte und ebenso viele Streitrösser, 100 goldbeladene Saumtiere und ebenso viele silberbeladene. Mit Hilfe einer List gelingt es den Franken aber, die Gebühren zu umgehen und die Brücke dennoch zu passieren, und so gelangen sie schließlich an König Balans Hof. Sofort erkennt Balan die vierzehn abgeschlagenen Köpfe wieder. Maßlos erzürnt läßt er die Franken in den Kerker werfen. Aber Floripar befreit auch diese und händigt ihnen obendrein noch die begehrten Reliquien aus. Bald danach werden die Franken und Floripar, die bei ihnen ist, von den Heiden belagert. Floripar besitzt jedoch einen magischen Gürtel, der vor Hunger schützt. Da schickt Balan den Zauberer Maupin aus, damit dieser sich des Gürtels bemächtige. Eines Nachts gelingt es ihm auch, den Gürtel an sich zu reißen, aber gleichzeitig kann er der Verlockung, Floripar zu vergewaltigen, nicht widerstehen. Diese ruft sofort laut um Hilfe, Gui de Bourgogne eilt herbei und schlägt den Zauberer mit einem Schwerthieb in zwei Teile. Leider wird dabei auch der Gürtel zerschnitten, wodurch er seine Zauberkraft verliert. Aber schließlich kann durch die Gnade des Himmels Balan doch noch besiegt werden, und er muß sich unterwerfen.

Zunächst sei auf eine Übereinstimmung hingewiesen, die zu schön ist, als daß man sie für einen Zufall halten könnte. Auch wenn sich die Linguisten nun empören werden, kann man zwischen den Namen Floripar ( = >die aus den Blüten — oder aus einer Blüte — Geborene<), Balan (das ist das bretonische Wort für Ginster) und Guide Borgogne (auch wenn Gui von der lateinischen Form des germanischen Namens Willehalm abgeleitet ist) einen Zusammenhang[57] sehen. Ferner besteht eine Beziehung zwischen dem Namen Balan und dem von Belenos, dem Sonnengott der Gallier, wozu die Beschreibung von Balans Wunderreich (d.h. der Autre Monde) ein interessantes Argument liefert.
Wie man sieht, berichtet die Geschichte von Floripar ebenfalls von einem Aufstand der Tochter gegen ihren Vater, der der König ist und damit jene Autorität verkörpert, die den Gefühlen des Mädchens hinderlich ist. Sie liebt Gui de Borgogne, d.h. einen seiner Feinde, wie Camille Curiace/ Curiatius, den Helden von Alba Longa liebt und wie Blathnait Cuchulainn, den Feind ihres Gatten Curoi liebt. Nach den Gesetzen der paternalistischen Gesellschaft ist dies Landesverrat bzw. Hochverrat. Bei eingehender Betrachtung erkennt man jedoch, daß dieses patriarchalische Recht zum großen Teil auf dem Prinzip der Angst gründet. Diese Angst, diese Furcht ist aus dem Bruch hervorgegangen, den die gesellschaftlichen Strukturen zwischen der Vernunft und den Trieben aufgerissen haben. Wenn es einen Bruch zwischen Vernunft und Trieb gibt, dann muß es zu Konflikten, Gegensätzen, Krieg und Gewalt kommen. Eine Gesellschaft, die auf der Ausbeutung der Angst beruht, kann nur durch Gewalt zusammengehalten werden, denn nur die Gewalt kann die Angst besiegen nach dem Motto: wenn du nicht umgebracht werden willst, dann bringe du selbst diejenigen um, die dich umbringen könnten! Die paternalistische Gesellschaft kann gar nicht anders als aggressiv sein, selbst dann nicht, wenn sie sich >nur< verteidigt, oder besser gesagt, wenn sie glaubt, angegriffen zu werden, denn die Ursache der Angst ist der Glaube, daß man in Gefahr ist. So sieht die Struktur der Gesellschaft aus, die durch Balan regiert und repräsentiert wird. Balans Tochter will ihre natürliche Spontaneität wiederfinden: ihre Gefühlswelt drängt sie zu ihrer Liebe zu Gui de Bourgogne. In diesem Augenblick spielt es keine Rolle, daß er der Feind der Nation, des Volkes oder des Vaters ist, denn das Liebespaar fühlt sich stets allein auf der Welt. Daher bedeuten die Liebenden für die Gesellschaft aber eine Gefahr, denn sie entziehen sich und sind sich selbst genug. Aus diesem Grunde ignoriert Floripar die Existenz der repressiven und durch ihren Vater verkörperten Gesellschaft und handelt so, wie ihre Triebe, ihre Gefühle es ihr raten: sie zieht sich aus dem Krieg zurück und kümmert sich wenig darum, welche der Parteien als Sieger den Krieg beendet, da ihr Ziel der Frieden um jeden Preis ist, eine Qualität, die zu Anbeginn der Welt geherrscht hat und Grundmerkmal jeder Gesellschaft des weiblichen Typs ist, da die Frau nicht von Natur aus destruktiv ist wie der Mann, sondern im Gegenteil neues Leben gebärt und schützt, und weil sie die Lebewesen liebt, denn sie sind im Grunde alle ihre Kinder.[58]
Der Aufstand des Blütenmädchens ist nicht nur eine egoistische Revolte und Trotzhandlung, nicht nur die Laune einer Tochter, die entgegen den Wünschen des Vaters heiraten will, oder der banale Ehebruch einer Frau, die in der Ehe nicht genügend Befriedigung findet. Diese Handlung geht entschieden weiter, nämlich bis zur radikalen Forderung der Frau, wieder vollständig im Besitz ihrer Persönlichkeit zu sein, d.h. sowohl über ihren Geist (Vernunft) als auch über ihre Gefühlswelt (die Triebe) frei verfügen zu können. Daher muß sie die abgetragenen Kleider, mit denen der Mann sie kostümiert hat und die (wie das Ritual der dem Mandschou-Kaiser abzuliefernden Zöpfe der Chinesen) trotz des schönen Scheins eines hübschen Schmuckes dennoch das Zeichen der schlimmsten Unterdrückung sind. Man solle nie eine Frau schlagen, heißt es gewöhnlich, nicht einmal mit einer Blume oder Blüte. Aber die Frau wird ja auch nie wirklich geschlagen. Denn um jemanden schlagen zu können, muß dieser Jemand existieren. Aber die Frau existiert nicht mehr als eine auf dem Wasser dahintreibende Blüte. In der Gesellschaft des paternalistischen Typs ist sie nur die chimärenhafte Kopfgeburt eines angeblichen Vernunftwesens, das sich für einen Schöpfer hält. Gwyddyon, der Sohn der Don, gleicht ein wenig uns allen. Blodeuwedd verkörpert alle Frauen.