Von allen keltischen oder in einen keltischen Kontext eingegangenen Mythen erwies sich der Gralmythos gewiß als der fruchtbarste, wenn man bedenkt, wie viele >Continuations< (= Fortsetzungen), Varianten und Deutungen er im Laufe der Zeit erfuhr. Man berief sich immer wieder auf den Gral und machte ihn zum schier unerschöpflichen Symbol für alles Mögliche, so daß es fast nichts gibt, was er nicht bedeutet. Das gilt für das Mittelalter ebenso wie für die Moderne. Nachdem die Zisterzienser-Mystik des beginnenden XIII. Jahrhunderts dieses eindeutig heidnische Motiv als Gefäß deutete, das das Blut Christi, Symbol des göttlichen Geistes und Symbol der den rechtgläubigen Christen verheißenen Schätze des Paradieses, enthalten habe, bemächtigte sich auch die Esoterik dieses sakralen Gefäßes. Es bedarf eines umfangreichen separaten Studiums,[1] um die unüberschaubare Zahl all der Theorien zu würdigen, die bisher über das Problem des Grals aufgestellt wurden, und würde bei weitem den Rahmen sprengen, dessen Thema die Rolle der Frau im gesellschaftlichen, soziologischen und mythologischen Bereich der keltischen Kultur ist, wobei der mythologische Bereich sichtbar macht, wie das Idealbild der Frau in den verschiedenen Denkströmungen und Peripetien der Geschichte gesehen wurde.
Wie ich bereits an anderer Stelle ausgeführt habe, sind die Sagen und Legenden um den Gral ursprünglich aus einem keltischen Motiv der Blutrache entstanden.[2] Diese These ist kein einfach in den Raum gestelltes Postulat, sondern eine Feststellung, zu der man durch die Analyse eines dieser Sagentexte gelangt, nämlich der walisischen Geschichte von Peredur. Obwohl sie keineswegs die älteste Ausformung des Stoffes ist, enthält sie die meisten archaischen Elemente des Mythos. Diese Behauptung wurde auch schon von Joseph Loth in einer Anmerkung zu seiner französischen Übersetzung der Mabinogion-Dichtungen, sowie von Mary Williams in ihrem Essai sur la Composition du roman gallois Peredur[3] bewiesen. Im folgenden werden wir sehen, daß in anderen, wesentlich später entstandenen Graldichtungen zunächst unverständlich erscheinende Elemente, die in den Texten überlebten, ohne daß die Autoren noch recht verstanden was sie bedeuteten, nur mit Hilfe dieser grundsätzlichen Feststellung verständlich werden. Jedoch wäre andererseits die Behauptung, die Gralsuche sei daher ausschließlich die Geschichte einer Rache, allzu vorschnell aufgestellt. Die grundsätzliche Frage muß lauten: was war der Anlaß zu dieser Rache — mit anderen Worten: was versteckt sich wirklich hinter dieser verrätselten und dem Geschmack der christlichen Gesellschaft des XII. und XIII. Jahrhunderts angepaßten Geschichte?
Zahlreiche Gelehrte rückten das Motiv der Prüfung, die die Gralsuche zweifellos auch ist, stark in den Vordergrund. Parallelen zu diesem Aspekt weisen in der Tat alle walisischen oder irischen Sagen von rätselhaften Meerfahrten oder Ausflügen in die Autre Monde auf. Daher könnte man einen Vergleich mit den Praktiken des Schamanismus aufstellen, wovon sich übrigens in der Mythologie der Druiden, oder in dem, was davon noch überliefert ist, zahlreiche Spuren nachweisen lassen. Andere Forscher setzten den Akzent auf das Ziel der Suche und entdeckten darin eine Art Initiation in die Kunst der Königsherrschaft. Wieder andere haben in der Regeneration, in der Gesundung der Gralwelt durch den erwählten Ritter eine Art Fruchtbarkeitssymbol gesehen, das den prähistorischen Bräuchen entspricht, deren Echo noch in den Religionen des Mittelmeerraums und der skandinavischen Länder festzustellen ist. Jessie Watson hat in einer Reihe von teilweise anfechtbaren, aber dennoch faszinierenden Werken[4] die These aufgestellt, daß alle Elemente der Gralprozession eine symbolische und rituelle Bedeutung haben und vor allem daß der Gral, d.h. der Kelch, das weibliche Prinzip symbolisieren muß, wenn man davon ausgeht, daß die blutende Lanze das männliche Prinzip symbolisiert. Daher sei die Vereinigung dieser beiden Prinzipien das auslösende Moment, das dem verödeten und unfruchtbaren Gralreich seine einstige Blüte und Fruchtbarkeit wiedergibt.
Auf jeden Fall ist die Sexualsymbolik des als graal bezeichneten Gegenstandes nicht zu verkennen: er ist ein Kelch und als solcher das Bild der nährenden Brust. Aber die Analogie geht noch weiter: er ist ein Behälter, und sein Inhalt ist in der christianisierten Fassung das Blut Christi. Daraus ist unschwer zu schließen, daß der Gral die Jungfrau Maria, die Mutter des Erlösers darstellt. Weit mehr als das Bild der Brust symbolisiert der Gral-Kelch den Uterus der Muttergöttin, die — vorausgesetzt, daß sie geschwängert wird — den Geschöpfen auf Erden das Leben schenkt. Bekanntlich ist das Gralreich unfruchtbar und verwüstet und wartet auf den erwählten Ritter, der ihm seine verlorene Fruchtbarkeit wiedergibt. Und was ist erst von der Verletzung des Fischerkönigs an seinem >edelsten< Körperteil zu halten? Allein durch diese Analogie zwischen dem Gral-Kelch und dem Mutterschoß dürfte die Weiblichkeit des Grals hinreichend bewiesen sein.
Das ist aber noch nicht alles. Wenn die Suche (Quête) einen Abstieg in die Unterwelt, einen Vorstoß in die Autre Monde darstellt, dann ist dies im Grunde wieder ein regressus ad uterum, ein Versuch, den paradiesischen Zustand vor der Geburt wieder herzustellen. Dies ist ein zweites Argument, das für das weibliche Geschlecht des Grals spricht. Auch dürfte niemand abstreiten, daß es sich bei der Prüfung, die die Suche nach dem höchsten Herrschertum, nach der höchsten Souveränität bedeutet, um den Versuch handelt, die Nähe der Weiblichkeit in ihrer reinsten und vollkommensten Form zu erreichen, da die Souveränität in den keltischen Mythen stets in den Händen der Frau liegt.
Diese Überlegungen führen zu einer Feststellung, die bereits wesentlich mehr als eine reine Arbeitshypothese ist: der Gral ist — unter welcher Form er auch immer in den verschiedenen Texten erscheinen mag — etwas Weibliches. Damit ist die Gralsuche (Quête du Graal) des Ritters eine Suche nach der Weiblichkeit (Quête de la Femme), nach dem >ewig Weiblichen<. Die Analyse der verschiedenen Ausformungen der Sage führt zu einem Fundus an Fakten, die diese Auffassung stützen werden und zu Rückschlüssen über die wahre Funktion des Mythos in der europäischen Gesellschaft des Hochmittelalters führen können. Der zentrale Basistext der Gral-Sage ist der Perceval von Chretien de Troyes. Chronologisch gesehen ist er der älteste, in dem die vielzitierte »Gralsprozession« auftritt, und wenn dieser höfische Roman auch nicht die erste dichterische Ausgestaltung war, so bildete er doch zumindest die ausschlaggebende Grundlage zur weiteren Entwicklung der Sage. Entscheidend ist einerseits, daß in Chretiens Roman das Wort graal ein >nom commun< zur Bezeichnung eines Gebrauchsgegenstandes ist, und andererseits, daß der Text keinerlei Hinweise auf den Schluß der Geschichte von Perceval enthält, da der Autor sein Werk nicht vollendete. Über das Thema der Fortsetzung, bzw. des Schlusses haben die Fortsetzer, die Autoren der verschiedenen >Continuations<, ihrer Phantasie freies Spiel gelassen, wobei sie sich jedoch auf Fragmente keltischer Dichtungen stützten, zu denen sie auf verschiedenen Wegen gelangten. In Chretiens Text haben wir daher sozusagen das >Rohmaterial< des Gral-Mythos vorliegen:
Perceval (Chretien de Troyes):
»Fackeln ließen den Saal in solcher Helligkeit erstrahlen, daß man auf der ganzen Welt kein prächtiger erleuchtetes Haus hätte finden können. Während die Anwesenden sich noch zwanglos unterhalten, tritt ein Diener aus einem angrenzenden Gemach, der eine leuchtend weiße Lanze an der Mitte ihres Schaftes hereinträgt (...). Ein Tropfen Blutes perlte von der eisernen Lanze herab und rann bis auf die Hand des Dieners, der sie trug (...). Da erscheinen zwei weitere Diener, zwei Männer von herrlich-schöner Gestalt, ein jeder mit einem Lüster aus nieliiertem Gold; in jedem davon brannten zehn Kerzen oder mehr. Dann erschien ein graal. Er wurde mit beiden Händen getragen von einem wunderschönen, wohlgeborenen und in edelste Gewänder gekleideten Fräulein, das den Dienern folgte. Als es mit dem graal eintrat, wurde der Saal von einer so gewaltigen Helligkeit erfüllt, daß die Fackeln und Kerzen verblaßten wie die Sterne oder der Mond, wenn die Sonne aufgeht. Nach diesem Fräulein erschien eine weitere Jungfrau, die eine Tranchierplatte von kostbarem Silber trug. Der vor ihr hergetragene graal war aus reinstem Gold und mit den kostbarsten und buntesten Edelsteinen besetzt, die es auf Erden zu Wasser und zu Lande gibt; keine noch so kostbare Gemme läßt sich mit der des graal vergleichen.[5]
Die präzise Beschreibung dieser »Gralsprozession« enthält drei Elemente von entscheidender Wichtigkeit: einen Gral («un graal«), eine Lanze und eine Tranchierplatte (tailloir). Ferner wird der >Gral< sowie die Prunkplatte von einer Frau getragen. Diese Tranchierplatte ist aus Silber, der Gral dagegen aus Gold; zumindest heißt es, daß er wie Gold glänzt und wie die Sonne strahlt.
In der Lanze, von der Blut heraltropft, ist noch mühelos eines der vielen Wunderobjekte der keltischen Quête zu erkennen, obwohl die spätere christliche Deutung aus dieser Lanze die berühmte Waffe des Centurio Longinus, den >Longinus-Speer< machte. In Wirklichkeit handelt es sich aber um die Lanze, die bereits die Tuatha De Danann von den »Inseln am Nordrande der Welt mitgebracht hatten«, um »die Lanze, die Lug besaß und jeden — ob Mann oder Frau —, der sie in der Hand hatte, unbesiegbar machte«.[6] »Ihre Kraft war so zerstörerisch, daß man ihre Spitze stets in einen Kessel tauchen mußte, damit die Stadt, in der sie sich gerade befand, nicht Feuer fing.«[7] »Das ist >Assais Lanze<! (...) Des Todes ist jeder, dessen Blut sie zum Fließen bringt: ihr Wert besteht darin, daß sie ihr Ziel niemals verfehlt, wenn man zu ihr »ibar« sagt. Sagt man zu ihr dagegen »athibar«, dann fliegt sie zurück in die Hand dessen, der sie geworfen hat.«[8]
Ferner ist sie die Lanze des irischen Helden Celtschar, Sohn des Uthechar, einer ziemlich seltsamen Gestalt, die in einigen weniger bedeutenden Epen des Ulster-Zyklus auftritt. Als in einem Epos mit dem Titel Das Schwein des Mac Dathó einmal alle Krieger versammelt sind und sich um den >Heldenantei< streiten, fordert diese Ehre Celtschar für sich, aber er wird von Cet, Magas Sohn, mit folgenden Worten zurückgewiesen:
»Ich bin an das Tor deines Hauses gekommen. Alle lärmten auf mich ein. Alles Volk strömte zusammen. Auch du eiltest herbei. Du gingst in einer Marschkolonne und trafst mit mir zusammen. Du warfst einen Jagdspieß nach mir. Ich warf einen anderen nach dir und traf dich am Oberschenkel in der Höhe des Geschlechts. Seit dieser Zeit hast du ein Drüsenleiden und hast seither nie mehr einen Sohn oder eine Tochter gezeugt.«[9]
Daraus geht hervor, daß Celtchar das gleiche Leiden hat wie der Fischer-König. Folglich kann er den >Heldenanteil<, d.h. die Rangstelle des Königs nicht für sich beanspruchen, denn die Königswürde ist, wie wir schon häufig feststellen konnten, unvereinbar mit sexueller Impotenz. Noch überraschender ist, daß Celtchar eine Lanze besitzt, die so gefürchtet ist wie die von Assal, aber trotzdem seinen eigenen Tod verursacht. In dem Epos Der gewaltsame Tod von Celtchar, Sohn des Uthechar hat Celtchars Frau, Brig Brethach, ihren Mann mit Blai Briuga betrogen, woraufhin Celtchar den Liebhaber seiner Frau tötet, als dieser gerade im Hause des Königs einer Schachpartie zwischen Conchobar und Cuchulainn zusieht. Er rammt seine Lanze durch den Körper des Feindes, »so daß von der Spitze der Lanze ein Blutstropfen auf das Schachbrett fiel«. Dieser Blutstropfen ist ein wichtiges Indiz, denn aus der Stelle, wohin das Blut spritzte, läßt sich erkennen, ob Conchobar oder Cuchulainn näher an dem Opfer saß, mit anderen Worten: wer von beiden an Celtchar Rache zu nehmen hat, da dieser das Recht des Asyls und der Gastfreundschaft im Haus des Königs verletzt hat. Schließlich wird Celtchar als Sühne auferlegt, Ulster von drei Plagen zu befreien. Die erste Plage ist Conganches Mac Dedad, der Bruder von Curoi, der das Land in Schrecken hält und gegen den jeder Speer und jedes Schwert machtlos ist. Celtchar bringt diesen Conganches dazu, seine Tochter zu heiraten, die auffälligerweise Niam heißt, was >Himmel< bedeutet (im religiösen Sinn; bretonisch: Nenv). Niam kann in Erfahrung bringen, wie ihr Gemahl tödlich verwundbar ist. Auf ihre Frage antwortet er: »Dazu muß man mir rote Pfeile in Fußsohlen und Schienbeine stechen.«[10] Man beachte die Ähnlichkeit zwischen dieser Episode und der Geschichte von Blodeuwedd, die ebenfalls ihren Gemahl Lleu Llaw Gyffes selbst fragt, wie er getötet werden kann. Niam erzählt Conganches Worte an ihren Vater weiter und Conganches wird getötet. Anschließend nimmt sich Celtchar die zweite Plage vor: sie ist eine Art Höllenhund, und mit Hilfe einer List gelingt es Celtchar, auch diesen zu töten. Die dritte Plage, bei der es sich ebenfalls um einen Schrecken erregenden Hund handelt, endet dagegen für Celtchar tödlich: Er tötete zwar auch diese Bestie, aber als er die Lanze aus dem Kadaver des Hundes zog und in die Höhe streckte, »rann ein Tropfen vom Blut des Hundes am Schaft der Lanze herab und drang durch ihn hindurch bis auf die Erde; daran starb der Held.«
Das Motiv des Blutstropfens an der Lanzenspitze tritt hier jeweils zu deutlich und nachdrücklich auf, als daß man dabei von reinem Zufall sprechen könnte. Daher ist die Frage berechtigt, ob die »Gralprozession« nicht eine Reminiszenz dieser rätselhaften Geschichte von Celtchar oder einer anderen Geschichte dieser Art ist. Die Frage muß unbedingt bejaht werden. Nicht nur das Motiv des Höllenhundes, eine Art unglückbringender Zerberus, der das Land der Sterblichen verwüstet, läßt an den desolaten Zustand denken, in dem sich das Gralreich befindet, sondern auch die Figur des Celtchar, der an seinen Geschlechtsteilen verletzt ist und durch einen Blutstropfen seiner Lanze getötet wird, gemahnt an den ähnlich verletzten Fischerkönig, der in der Gralprozession die vielzitierte Lanze vorführen läßt, von deren Spitze ebenfalls Blut herabrinnt. Und schließlich liegt dem Unglück des Celtchar wirklich ein Rachefall zugrunde, und zwar eine Blutrache wie im ursprünglichen Stoff der Gralsage. Was Niam, den Namen der Tochter von Celtchar betrifft, so deutet dieser darauf hin, daß Celtchar wie der Fischer-König mit der Autre Monde in Verbindung steht; daher ist es nicht ausgeschlossen, daß die Tochter des Königs, die Gralträgerin, aus der später in der von der Zisterzienser-Ideologie geprägten Queste del Saint-Graal die Mutter des Erlösers Galaad wird, die gleiche mythische Gestalt ist wie diese Niam.
Mit einiger Berechtigung läßt sich die Celtchar-Sage auch mit der Geschichte von Yspaddaden Penkawr in dem walisischen Mabinogi von Kulhwch und Olwen vergleichen. Der junge Kulhwch hält nämlich bei Yspaddaden um die Hand seiner Tochter an. Da schleudert dieser dreimal hintereinander auf Kulhwch eine lanzenähnliche Steinzeitwaffe,[11] die jedoch dank der Geistesgenwart von Kulhwch und seiner Gefährtin auf den Schützen zurückfliegt und ihn grausam verwundet. Es muß darauf hingewiesen werden, daß die Figur des Yspaddaden, genannt >Großkopf<, mehr als eine Eigenschaft mit dem Fischerkönig gemeinsam hat: er ist der Vater eines Mädchens, dem ein außergewöhnliches Schicksal bevorsteht; er lebt auf einer rätselhaften Burg der Autre Monde, und schließlich erinnert sein Kopf, der zum Schluß abgehackt wird, an gewisse Eigenschaften des Gral-Kopfes, wie wir anhand des Peredur und anderer späterer Dichtungen noch sehen werden. Auf alle Fälle braucht die männliche Sexualsymbolik dieser Lanze, wie auch der anderen scharfen Streitwaffen, nicht erst bewiesen werden. Nach Chretiens Meinung ist die Lanze sicher die Waffe, mit der der Fischer-König verwundet wurde. Daher ist es nichts Außergewöhnliches, wenn sie in einer Prozession vorgeführt wird, in der gewissermaßen alle Requisiten jenes Leidensweges vorgeführt werden, den der König und damit das durch ihn verkörperte Königtum (das ein zugrundegehendes Königtum ist), durchlebt.
Noch interessanter ist die silberne Prunkplatte, obwohl ihre Funktion hier eher schwer zu deuten ist. Aber wie wir sehen werden, wird sie in den anderen Ausformungen des Stoffes wieder ihrer ursprünglichen Rolle entsprechend eingesetzt. Zuvor aber müssen wir uns sinnvollerweise dem graal/Gral selbst zuwenden, da er letztendlich das zentrale Element des Mythos ist, oder zumindest als solches von den Lesern des Perceval-Romans empfunden wurde, nämlich von den Autoren der Fortsetzungen von Chretiens Werk, sowie von allen Gelehrten, die sich seitdem unaufhörlich fragen, was der Sinn dieses geheimnisumwitterten Objektes sei.
Der Name graal bietet keinerlei Schwierigkeiten. Es handelt sich eindeutig um einen Gattungsbegriff, der okzitanischer Herkunft ist (<gradalis oder gradale) und auf lateinisch cratalis zurückgeht. Er taucht z.B. in einem Dokument aus dem Jahre 1010 auf, — also etwa 170 Jahre vor der wahrscheinlichen Entstehungszeit von Chretiens Dichtung —, nämlich in dem Testament eines gewissen Ermengaud d'Urgel, der dem Kloster Sainte-Foy de Conques »gradales duas de argento«, d.h. >zwei Silberteller< vermachte. Auch in dem Roman d'Alexandre, der etwa aus dem Jahre 1150 stammt, hat das dort auftretende Wort gradal die Bedeutung >Teller<. Zu Beginn des XII. Jahrhunderts assimiliert der Mönch Helinand de Froidmont das Wort gradalis (= >Gral<) mit dem lateinischen Wort scutella (= >Trinkschale<, >Mischkrug<, >Schöpfkelch<, >Schüssel<). Wir wissen heute, daß die wahrscheinlich auf Robert de Boron zurückgehende und in der Estoire du Saint-Gral gestaltete Zisterzienser-Fassung der Sage aus dem Gral jene Schüssel (bzw. den Teller) machte, aus der Christus das Osterlamm aß: diese Schüssel soll Pontius Pilatus dem Joseph von Arimathia gegeben haben, und dieser soll dann vor der Grablegung Christi darin dessen Blut aufgefangen haben.
Der von Chretien de Troyes genannte graal ist also eine Art Schüssel oder Schale, mit anderen Worten ein Gefäß. Dem wäre noch hinzuzufügen, daß nach Giraldus Cambrensis (Giraud de Cambrie), einem Autor, der im allgemeinen über das Wales des XIII. Jahrhunderts gut informiert ist, die Waliser gewöhnlich Eßschalen von besonders auffälliger Größe und Tiefe benutzten. Wenn Chretien eine walisische oder aus dem Walisischen übersetzte Vorlage vor sich hatte, was durchaus wahrscheinlich ist, mußte er für dieses Gefäß einen völlig gebräuchlichen und gängigen Begriff vorgefunden haben. Angesichts der knappen und genauen Darstellung der Gralprozession drängt sich die Frage auf, ob dieser graal nicht einfach ein gewöhnliches Gefäß ist, das jedoch etwas enthält, was der Autor an der betreffenden Stelle noch nicht bei seinem Namen nennen wollte, sondern als Geheimnis hütete und erst am Schluß seiner Dichtung enthüllen wollte. Chretien hat nämlich an keiner einzigen Stelle seines Textfragmentes auch nur die geringste nähere Beschreibung oder Erklärung zum Thema des Grals abgegeben. Daß der graal etwa das Blut Christi enthalte, ist bei Chretien ebenfalls nirgends zu lesen. Nirgends wird angedeutet, was sich in dieser Schüssel befindet. Mit keiner Silbe hat er davon gesprochen, daß die Gralprozession eine religiöse Zeremonie sei, wie sie es in der zisterziensichen Quête dann ist. Als Romancier, der sein Handwerk versteht und aus besten Quellen schöpft, hat er damit eine wahrhaftige Spannung aufgebaut, um das Interesse des Lesers zu fesseln — was ihm nicht vorzuwerfen ist, denn dies zeugt von seinen unbestritten hervorragenden Qualitäten als Dichter, selbst wenn das Resultat dadurch für den Mythologen enttäuschend ausfällt.
Vor seiner rein mystischen und christlichen Adaptation — oder besser gesagt Rekuperation — durchlief das Gral-Motiv jedoch noch andere Zwischenstufen. Die beiden wichtigsten davon sind zwei Dichtungen, die zwar erst zu Beginn des XIII. Jahrhunderts entstanden, die sich aber bei eingehender Untersuchung als besonders eng an einen Archetyp angelehnt erweisen, der in ihnen ständig durchscheint, ohne jedoch eindeutig faßbar zu werden: das eine dieser Werke ist der Parzival von Wolfram von Eschenbach, das andere der Peredur, verfaßt von einem walisischen Autor, dessen Namen wir nicht kennen. Im Peredur erfahren wir, was das als Gral bezeichnete Gefäß enthält.
Peredur (Wales):
»Er sah, wie zwei Männer mit einer gewaltigen Lanze in den Saal kamen und das anschließende Gemach betraten: drei Ströme von Blut rannen vom Hals der Lanze herab auf den Boden. Bei diesem Anblick brachen alle Anwesenden in Seufzen und Wehklagen aus (...) Nach einigen Augenblicken sprachloser Stille traten zwei Jungfrauen ein, die zwischen sich einen großen Teller trugen, auf dem das Haupt eines Mannes in seinem Blute schwamm. Da brachen die Anwesenden in ein schmerzliches Geschrei aus, das so heftig war, daß es beschwerlich wurde, mit ihnen länger in ein und demselben Raum zu verweilen.«[12] »Du hast den lendenlahmen König aufgesucht, du hast den jungen Mann mit der roten Lanze gesehen, an deren Spitze ein Blutstropfen hing, der zu einem Rinnsal geworden bis zur Faust des jungen Mannes rann; auch noch anderer Wunder wurdest du Zeuge — und doch hast du nicht nach Sinn, noch nach Ursache von alledem gefragt! Hättest du es getan, dann wäre der König wieder zu Gesundheit für sich und zu Frieden für sein Land gekommen, während er nun weiterhin nichts als Kampf und Krieg, getötete Ritter, verwitwete Frauen und eine Herrin ohne Auskommen sehen wird; und daran trägst du die Schuld.«[13]
Wie man sieht, ist diese seltsame Prozession, in der man einen großen Teller (den Graal) mit einem abgeschlagenen Haupt darauf, sowie die berüchtigte, Entsetzen verbreitende und magische Lanze vorüberträgt, unendlich weit entfernt von der »Gralsprozession« mit ihrer gottesfürchtig-frommen und weihevollen Atmosphäre. Es sieht so aus, als gehe es hier viel eher um die Geschichte einer Rache für einen Mord, der noch nicht geahndet ist und ein für die Ohren der Anwesenden fast unerträgliches Schreien auslöst, sobald daran erinnert wird. Vielfach wurde behauptet, daß der Peredur die damals aktuellen volkstümlichen Auffassungen vom Gral wiederspiegelt, während die in Frankreich und Deutschland entstandenen Dichtungen eher intellektuelle, aristokratische und religiöse Versionen des Stoffes sind. Damit gibt man aber gerade zu, daß die Fassung des Peredur mit größerer Wahrscheinlichkeit die authentische oder zumindest die traditionelle ist, da sie nicht durch literarische Zusätze und theologische oder philosophische Zielsetzungen entstellt ist. Übrigens enthält Wolframs mittelhochdeutscher Text, obwohl er ein ziemlich haarsträubendes Amalgam aus zahlreichen heterogenen Denkströmungen ist, nicht wenige ungewöhnliche Elemente, die mit der Theologie der Zisterzienser nur schwer vereinbar sind. In Wolframs höchst raffinierter und komplexer Fassung gibt es nämlich ebenso viele aufschlußreiche und wahrscheinlich uralte Elemente wie in der volkstümlichen Fassung des Peredur.
Parzival (Wolfram von Eschenbach):
»Ein Knappe sprang zur Tür herein, der trug eine Lanze (...) an ihrer Scheide entquoll Blut und lief am Schaft hernieder bis auf die Hand, so daß es im Ärmel versickerte. Da ward geweint und geschrien im weiten Saal (...) Er trug die Lanze in seinen Händen rings an den Wänden herum bis zurück zur Tür. Der Knappe lief wieder hinaus (...) Am Ende des Saales wurde eine stählerne Tür aufgeschlossen. Daraus hervor traten zwei edle Kinder (...) Es waren klare Jungfrauen. (...) Jede trug in der Hand einen goldenen Leuchter (...) Danach kam eine Herzogin mit einer Begleiterin. Sie trugen zwei Bänklein von Elfenbein. (...) Seht, inzwischen waren vier weitere Frauenpaare hereingetreten. Die waren dazu bestimmt, daß vier von ihnen große Kerzen trugen, die anderen vier aber trugen achtsam einen kostbaren Stein, durch den am Tage das Sonnenlicht durchscheinen konnte. Danach war sein Name geheißen (...) Man sah jetzt die beiden Fürstinnen in Kleidern einherkommen, die sehr herrlich waren. Zwei Messer, scharf wie spitze Gräten, ein Wunder zu schauen, brachten sie (...) Das war schweres weißes Silber (...) Nach ihnen kam die Königin. Von ihrem Antlitz ging ein Schein aus, daß alle meinten, es beginne zu tagen (...) Auf grüner Achmardiseide trug sie des Paradieses Vollkommenheit (= >was man sich als Paradies wünscht<), Wurzel war es zugleich und Krone des Geästs. Das war ein Ding, das hieß der Gral, allen Erdensegens Überschwung (= >der alles irdische Wünschen übertraf<). Die aber, von welcher der Gral sich tragen ließ, war Repanse de Schoye. Es war des Grales Art, daß er von reiner Hand (= von einer Jungfrau) verwahrt werden mußte; die ihn in rechte Obhut nahm, die mußte ohne Falsch sein.«[14]
Es fällt auf, daß diese schier endlos anmutende Beschreibung der »Gralprozession« nur recht oberflächlich christlich eingefärbt ist. Außerdem befinden sich in dieser Prozession viel zu viele Frauen, als daß man dabei noch von einem orthodoxen Ritual sprechen könnte (Wolfram: »Wenn ich recht gezählt habe, so müssen nun achtzehn Frauen hier beisammenstehn.«[15]). Im Mittelalter waren nämlich — außer in Irland und auf der britischen Insel — nie Frauen zur Teilnahme am christlichen Gottesdienst zugelassen. Offensichtlich spielen bei Wolfram in dieser Gralzeremonie die Frauen — und sogar noch mehr als bei Chretien (obwohl er dieser Quelle ansonsten folgt) und dem unbekannten walisischen Autor — eine besonders wichtige Rolle. Diese Tatsache ist umso erstaunlicher, als Wolfram abgesehen davon in seinem Werk eine deutlich christliche und mystische Geisteshaltung zeigt. Wie ist dies zu beurteilen? Auf jeden Fall wird bei Chretien und Wolfram der Gral und im Peredur jener makabre Kopf von einer Frau getragen. Daraus geht hervor, daß in dieser ziemlich rätselhaften Zeremonie die ausführende Rolle einer Frau vorbehalten ist. Das ist eine unbestreitbare Tatsache und wir werden noch darauf zu sprechen kommen.
Von all den wunderlichen Requisiten der Prozession kommt die Lanze nur in den drei genannten Texten vor. Bei Wolfram heißt es nur, daß sie blutet. Bei Chretien handelt es sich um einen einzigen Blutstropfen. Im Peredur sind die Angaben widersprüchlich: zunächst ist von drei Blutbächen die Rede, und bald darauf von nur einem einzigen Blutstropfen, der zu einem Rinnsal wird. Aber abgesehen von diesen Abweichungen im Detail ist die Geschichte jeweils die gleiche. Die Silberplatte taucht nur bei Chretien auf. Bei Wolfram übernehmen die >Bänklein< diese Funktion, im Peredur dagegen tritt er überhaupt nicht auf. Der französische Dichter aus der Champagne hebt wie Wolfram das erstaunlich helle Licht hervor, das sowohl das >Ding<, als auch diejenige, die es trägt, verströmt, während wie der walisische Dichter nur Wolfram die Schreie des Schmerzes und der Trauer erwähnt, die noch weniger zu einer christlichen religiösen Handlung passen. Auch hier ist das Motiv der Rache nicht zu übersehen. Am Schluß des Peredur findet man so etwas wie eine Erklärung dafür, oder zumindest den Ansatz dazu; dort heißt es:
»Es war das Haupt meines Vetters ersten Grades. Er wurde von den Hexen von Kaerloyw umgebracht; sie sind es, die deinen Onkel so grausam zugerichtet haben (...) Du bist ausersehen, dich dafür an ihnen zu rächen.«[16]
Und diese Rache taucht überraschend wieder in der hoch-komplizierten und raffiniert durchkomponierten Fassung von Wolfram auf, während sie bei Chretien mit keinem Wort erwähnt wird. Daher stellt sich die Frage, ob Wolfram nicht irgendeinen direkten Kontakt zu brit(ton)ischen oder walisischen Quellen bzw. Dichtern hatte, und sei es auch nur über die Vermittlung eines Übersetzers, der Wolframs berühmter angeblicher Gewährsmann »Kyôt der Provenzâl« sein könnte, hinter dem er sich ständig verbirgt. Als nämlich Parzival beschließt, seine Mutter zu verlassen, beschränkt sich diese nicht wie in Chretiens Werk nur darauf, ihm einige dümmliche Ratschläge zu geben, sondern macht ihm eine bedeutende Enthüllung:
»Du sollst auch wissen, mon fils, der stolze, kühne Lähelin (J.M.: >Le Hellin<!) kämpfte Deinen Fürsten zwei Länder ab, die Deiner Hand dienen müßten: Waleis und Norgals[17] (J.M. interpretiert diese Ländernamen als Wales, frz. Galles, und Nord-Wales, frz. Norgalles; Anm. d. Übers.). Einer Deiner Fürsten, Turkentals (J.M.: >Dorgental<), empfing von seiner Hand den Tod. Dein Volk erschlug er oder führte es gefangen.« Parzival antwortet: »Dies räch< ich, Mutter, will es Gott! Mein Gabilöt (< frz. Javelot = >Jagdspieß'; Anm. d. Übers.), das trifft ihn schon.«[18]
Gewiß vergißt Parzival diesen Vorsatz der Rache bald wieder, und doch fragt man sich, wer denn dieser stolze, kühne Lähelin/Le Hellin ist. Sein Name hat nichts Keltisches an sich: er evoziert eher das englische bzw. mittelhochdeutsche Wort hell/helle, das aus einer gemeinsamen germanischen Wurzel hervorgegangen ist, die >Hölle< bzw. >Autre Monde< bedeutet. So wird die noch im nordfranzösischen Volksbrauchtum lebendige »Chasse diabolique« (= >Teufelsjagd<) häufig auch Mesnie Hennequin oder Mesnie Hellequin genannt. Davon spricht auch im XIII. Jahrhundert der Trouvere Huon de Mery in seinem Tournoiement Antechrist; im Jeu de la Feuillee des Adam de la Halle stellt sich ein gewisser Croquesot der Fee Morgue (= Morgane) als Bote des Feenkönigs Hellekin vor. Obwohl ein Vorkommen des Wortes hell(e) in der Keltika nicht belegt ist, muß man möglicherweise in Yeun Blies, dem Sumpfgebiet in der Nähe von Brasparts (Finistere), das als Eingang in die Unterwelt gilt, oder im Wald Broceliande (Brecheliant) die Reminiszenz eines alten indoeuropäischen Wortes sehen, das heute aus dem Bretonischen verschwunden ist.
Was es auch immer mit dieser blutrünstigen Rache auf sich haben mag, fest steht jedenfalls, daß sie sich gegen ein Wesen der Autre Monde richtet: Parzival soll gegen einen Le Hellin kämpfen, welcher allem Anschein nach ein Dämon im mittelalterlichen Sinn ist, und Peredur muß gegen die Hexen von Kaerloyw kämpfen. Dabei fällt auf, daß Parzival seine Mission vergißt, und daß Peredur die Hexen nicht selbst töten kann, da er einst ihr Schüler war: daher läßt er dies durch Artus und seine Ritter erledigen. In diesem Zusammenhang müssen wir auf die Gestalt der Kundrie la Surziere, der Hexe Kundry zu sprechen kommen, einer zweigesichtigen Figur, die sich bei näherer Betrachtung als die wahre Herrin des Grals herausstellt. Auch hier scheint sich Wolfram enger an den Archetyp zu halten.
Und doch hat auch Wolfram sich in seiner nicht endenwollenden Beschreibung der Gralprozession, obwohl dort seine Vorstellungsgabe geradezu schwindelerregend sicher funktioniert, sehr wohl davor gehütet, zu verraten, was der Gral nun eigentlich ist. Wir erfahren lediglich, daß der Gral auf einem Kissen aus grünem »Achmardi«-Stoff ruht (dessen Material er mit einem aus der altfranzösischen Form esmeralde entstellten Form benannte, aus der im Neufranzösischen emeraude und im Deutschen Smaragd wurde; Anm. d. Hrsg.); mit anderen Worten: der Gral ruhte auf einer harten Unterlage aus Smaragd und damit auf einer Art Platte aus Smaragd. Den Gral selbst bezeichnet er mit einer metaphorischen Periphrase als »wunsch von paradis/ beide Wurzel unde ris«, d.h. >Wurzel und Krone dessen, was man sich als (vom) Paradies wünscht<. Man muß gestehen, dies kann so ziemlich alles bedeuten. Erst als Parzival dem Einsiedler Trevrizent begegnet, erfährt Parzival — und wir mit ihm — was wirklich auf dieser Smaragdplatte lag.
Parzival ( Wolfram von Eschenbach):
»Ich will euch sagen, wovon sie leben: sie (= die Gemeinschaft der Gralhüter) leben von einem Steine, der von ganz eigener Art ist. Falls ihr ihn nicht kennen solltet, sei er Euch hier genannt. Er heißt Lapsit exillis. Durch dieses Steines Kraft verbrennt der Phönix zu Asche. Die Asche macht ihn aber flugs wieder lebendig. Diese Erneuerung aus der Asche ist beim Phönix dasselbe, was bei anderen Vögeln die Mauserung ist. Danach beginnt er hell zu strahlen und wird wieder schön wie zuvor. Dieselbe Kraft wie beim Vogel Phönix bewährt der Gral bei den Menschen. Es mag einem Menschen noch so schlecht ergehn, wenn er eines Tages den Stein sieht, so wird er in der Woche, die auf diesen Tag folgt, nicht sterben. Auch bleibt sein Aussehen dasselbe, das er hatte, als er den Stein erblickte, und zwar so, wie er in seiner besten Zeit aussah, — Frau wie Mann — und wenn sie den Stein zweihundert Jahre lang sähen;solche Kraft gibt der Stein dem Menschen, daß Fleisch und Bein flugs Jugend empfängt. Der Stein wird auch genannt der Gral. (...) (Jeden) Karfreitag, da erwartet man auf Munsalwäsche eine Taube, die sich vom Himmel herabschwingt. Sie bringt auf den Steine eine kleine, weiße Oblate herab, und davon empfängt der Stein seine besondere Kraft: alles zu spenden, was an Trank und Speise gut riecht auf Erden, wie des Paradieses Vollkommenheit, ich meine: alles, was die Erde gebären mag. Der Stein soll ihnen weiter auch alles geben, was an Wild unter dem Himmel lebt, ob es fliegt oder läuft oder schwimmt...«[19]
Diese Beschreibung, die sich nicht weniger endlos hinzieht, als die der Gralprozession, muß zu allererst im Rahmen von Wolframs Grundtendenzen und -Zielsetzungen gesehen werden. Chretiens mysteriöse Andeutung war für Wolfram ein willkommener Anlaß zu einer mystischen Reflexion, die er der damaligen Mode in Deutschland gemäß mit eindeutig esoterischen Elementen eintönte. Die Gralhüter sind bei ihm jene rätselhaften templeisen, ein militärisch-religiöser Orden, der nach außen hin dem der Templer durchaus verwandt ist. Daneben gleicht er jedoch aufgrund gewisser Merkmale seiner Ordensregeln den Geheimgesellschaften, hermetischen und ähnlichen >Bruderschaften<. Zur damaligen Zeit war nämlich die Alchimie bereits stark in Mode: daher könnte die Beschreibung dieses >Steines< durchaus auf die Beschreibung des Steins der Weisen passen, nach dem die Alchimisten suchten, die sich selbst als Philosophen und den >Stein der Weisen< als lapis philosophorum bezeichneten; der Stein der Weisen ist gleichzeitig Summe aller Weisheit und Wissenschaft, Mittel zur künstlichen Herstellung des Goldes und schließlich ein universales Lebenselixir, das sämtliche Krankheiten heilt und ewige Jugend garantiert.
Es würde zu weit führen, an dieser Stelle die mögliche Bedeutung des Grals als Stein der Weisen zu diskutieren. Dies würde das Problem des Grals zwar unter einem neuen Aspekt erscheinen lassen, aber zu weit von unserem eigentlichen Thema ablenken, nämlich der Weiblichkeit des Grals, oder zumindest des weiblichen Prinzips, das sich hinter dem Gral, der Gralprozession, seines Rituals und allem, was dazugehört, verbirgt. Zunächst fällt wieder auf, daß Wolfram trotz allem in Wirklichkeit wenig Konkretes über den Gral selbst verrät: man erfährt lediglich, daß es sich um einen gewaltigen (Edel-)Stein handelt, und daß von diesem >reinen Stein< eine Kraft ausgeht, die jedes Jahr am Karfreitag durch eine — übrigens »durchscheinend weiße« — Taube und der von ihr aus dem Himmel mitgebrachten weißen Oblate mit neuer Energie angereichert wird, worin ein Symbol dafür zu sehen ist, daß dieser Stein eine spirituelle Kraft hat. Wieder ist wie bei Chretien der Gral ein Gefäß — hier ein >Kissen<(?) bzw. eine Platte aus Smaragd. Somit ist der Gral der Behälter, das Beinhaltende. Dagegen wird von dem bairisch/fränkischen Autor ebensowenig wie von dem Autor aus der Champagne[20] beschrieben, was der Inhalt ist. Nur der walisische Dichter führt näher aus, daß es sich um den Kopf eines Enthaupteten handelt. Und doch läßt sich sagen, daß auch nach Wolframs Auffassung der Gral-Stein die zentrale Rolle spielt: die Karfreitags-Taube überträgt nämlich dem Stein ihre himmlische Oblate, d.h. Botschaft und Kraft. Wenn man einmal von Chretien absieht, der zu dieser Frage schweigt, gelangt man zu der Feststellung, daß die aktive Energie des Grals, mit anderen Worten: sein Inhalt vor der Zisterzienser-Fassung (die als Lösung des Rätsels das Blut Christi vorschlägt) entweder ein Kopf oder ein Stein war. Was aber ist der Grund dafür, daß die beiden Fassungen sich in diesem Punkt zu widersprechen scheinen?
Das Motiv des abgeschlagenen Kopfes geht in Mythologie und Geschichte der Kelten bis weit in älteste Zeiten zurück. Eindeutige Beweise davon sind in den Werken der römischen und griechischen Autoren der Antike — besonders bei Titus Livius — zu finden, sowie in den Museen Südfrankreichs, in denen kuriose Gehänge aus Schädeln zu sehen sind. Bei den Galliern war es nämlich Brauch, die besiegten Feinde zu enthaupten und deren Köpfe nicht nur als Siegestrophäen, sondern auch als sakrale Kultobjekte zu konservieren — und es besteht kein Anlaß, daran zu zweifeln, daß dies auch bei den übrigen Kelten üblich war.21 Und mit diesem Brauch könnte der von zwei Mädchen auf einer Prunkplatte präsentierte Kopf eines Enthaupteten in der Peredur-Dichtung durchaus in Zusammenhang stehen. Das bekannteste historische Beispiel dieser Gepflogenheit ist der Fall des römischen Konsuls Postumius, der, wie Titus Livius berichtet (XXIII, 24), von dem Gallierstamm der Bojer besiegt und hingerichtet worden war und dessen Schädel anschließend in Gold gefaßt als Kultgefäß diente. Auch dieser in Gold gefaßte Schädel, der als Gefäß dient, dürfte mit dem Gral gewisse Gemeinsamkeiten haben.
1. Der episch-strukturale Archetyp des Grals
Mit Hilfe der vergleichenden Analyse der wichtigsten Texte, in denen der Gral als Gral-Kopf und als Gral-Stein eine Rolle spielt, dürfte sich die ursprüngliche epische Ausgangsstruktur der Gralzeremonie sowie der Suche, deren Ziel er ist, wieder rekonstruieren lassen. Da diese Version aber durch den epischen Charakter geprägt ist, der die kriegerische und patriarchalische Kultur kennzeichnet, muß man anschließend nach Abzug all dessen, was die christlichen Autoren des XIII. Jahrhunderts aus der ursprünglichen Quête machten, zu noch älteren Zeiten zurückgehen und versuchen, dort der heidnisch-mystischen Urform der Suche, d.h. dem religiösen Archetyp auf die Spur zu kommen, der das Keimen, die Blüte und die weitere Entwicklung der Sage auslöste. Das Ergebnis dieser Untersuchung wird mehr als überraschend ausfallen.
Eines der ältesten walisischen Epen, die noch die archaisch brit(ton)ischen Tradition aus der Zeit vor der Spaltung des Volkes in Briten und Bretonen repräsentiert, nämlich die zweite Branche der Manigonion-Dichtungen, ist die bekannte Geschichte vom Abgeschlagenen Kopf, von der bereits die Rede war und der wir uns nun eingehender zuwenden müssen: es ist die Sage von Bran dem Gebenedeiten, einer stark sagenumwobenen Gestalt, in der jedoch einige Forscher den König Ban de Benoic, Lancelots Vater wiederzuerkennen glaubten, einer Figur, die auf jeden Fall eine der verschiedenen Verkörperungen des Fischerkönigs ist.
Das Haupt des Bran ( Wales):
Das nach Irland gerichtete Unternehmen, womit Bran und seine Brit(ton)en (Inselbretonen) hofften, die seiner Schwester Branwen zugefügte Schmach zu rächen und einen magischen Kultkessel, der die Toten wieder auferweckt, erobern zu können, endet als Desaster. Bran, der von einer vergifteten Lanze am Bein verletzt wurde, fordert die sieben überlebenden Brit(ton)en auf, ihn zu enthaupten und seinen Kopf mit sich fortzuführen. Die Gefährten erfüllen ihm seinen Willen. Die sieben Überlebenden landen in Begleitung von Branwen, Brans Schwester, in Harddlech und lassen sich dort nieder. »Sie versahen sich mit reichlichen Vorräten an Speisen und Getränken und begannen dann endlos zu speisen und zu zechen. Da erschienen drei Vögel und stimmten einen Gesang an, der selbst das Schönste, das sie je vernommen hatten, im Vergleich dazu reizlos erscheinen ließ. Dieses Festmahl währte sieben Jahre lang; gegen Ende des siebenten Jahres brachen sie nach Gwales in Penvro auf.« Dort richteten sie sich in einem großen Saal ein und stellten Brans Haupt in ihrer Mitte auf. »Welch schrecklichem Leiden sie auch immer begegnet waren, was immer sie durchlitten hatten, an nichts davon konnten sie sich von da an noch erinnern und ebenso wenig an irgendeinen anderen Kummer dieser Welt. So verbrachten sie vierundzwanzig Jahre, ohne sich erinnern zu können, irgendwann in ihrem bisherigen Leben eine herrlichere und köstlichere Zeit erlebt zu haben. Niemand verspürte Anzeichen von Erschöpfung; keiner von ihnen konnte feststellen, daß irgendeiner unter ihnen in der Zeit seit ihrer Ankunft älter geworden war. Die Gesellschaft des Hauptes war ihnen nicht weniger angenehm als in jenen Tagen, da Bran Bendigeit noch unter den Lebenden weilte.« Als diese vierundzwanzig Jahre vergangen sind, öffnen sie einmal eine Tür: — und schon bemächtigt sich ihrer wieder die Erinnerung all ihrer Leiden, dazu ihre Erschöpfung, und sie machen sich daran, auch den allerletzten Willen von Bran zu erfüllen, nämlich sein Haupt auf dem White Hill in London zu beerdigen.[22]
In der Tat eine höchst sonderbare Geschichte, diese »Gastfreundschaft des Heiligen (sakralen) Hauptes«! Sie weist jedoch eine ganze Reihe von Analogien zu Prozession und Fest des Grals auf. Da ist zunächst einmal der Kessel, der die Toten auferweckt. Da es nicht gelingt, ihn zurückzuerobern und Bran somit in dieser Hinsicht versagt hat, vermacht er seinen Kampfgefährten gewissermaßen als Ersatz für den Kessel seinen eigenen Kopf. Außerdem ist Bran durch eine vergiftete Lanze am Fuß verletzt worden: daher ist er, ganz wie der FischerKönig, der «Verwundete König< und nicht mehr fähig, sein Reich zu regieren. Auch das Rachemotiv tritt klar hervor: der Raubzug nach Irland wird unternommen, um die Schmach, deren Opfer Branwen wurde, zu rächen. Als die Überlebenden des gescheiterten Unternehmens anschließend das abgeschlagene Haupt von Bran an dem Ort, wo sie sich niederlassen, in ihrer Mitte aufstellen, verlieren sie jedes Gefühl für die Zeit und altern nicht. Der Kopf spielt hier genau die gleiche Rolle, wie der Gral im Parzival des Wolfram von Eschenbach: er verschafft ihnen einen Überfluß an Speise und Trank und hält sie jung. Somit sind sie in eine Art Paradies versetzt, das jenem in der irischen Literatur so häufig anzutreffenden Feenland gleicht, in dem es weder Tod, noch Leiden oder Krankheit gibt. Der Kopf verschafft ihnen somit im Grunde wieder jene paradiesische Lage, die sie durch ihre Geburt verloren haben. Dieser Umstand verleiht dem Kopf eindeutig einen mütterlichen, weiblichen Charakter, der außerdem noch verstärkt wird durch die Gegenwart der Vögel der Muttergöttin Rhiannon, sowie durch die Anwesenheit der Branwen, deren Name — unter anderem — >Weiße Brust< bedeutet, und die durchaus die Trägerin des Kopfes, also die Gralträgerin sein könnte. Aufgrund dieser Elemente könnte die beschriebene Passage aus der Geschichte Branwen, Tochter des Llir ein Aspekt des ursprünglichen Archetyps des Grals sein — und dies ist nicht nur eine gewagte Hypothese: den mittelalterlichen Dichtern ist diese Sage vom abgeschlagenen Haupt des Bran sicher bekannt gewesen, denn man begegnet ihr immer wieder in den höfischen Romanen von der Tafelrunde und der Gralsuche.
Dritte Perceval->Continnation< (Manessier):
Im Verlauf der verschiedenen Mißgeschicke auf seiner Gralsuche muß Perceval einmal gegen einen gewissen >Partinal de la Tour Rouge< kämpfen. Er sticht seinen Gegner zu Boden und schlägt ihm das Haupt ab. Anschließend hängt er es an seinen Sattel (nach der Gewohnheit der Gallier, die von Diodor v. Sizilien beschrieben wurde) und kehrt zur Gralburg zurück. Sobald der verwundete und hinkende Fischer-König den Kopf erblickt, kann er sich wieder auf die Beine stellen und ist vollkommen geheilt. Perceval macht ihm das Haupt zum Geschenk. Der König dankt ihm, daß er für ihn an seinem Feind Rache genommen hat und läßt die Trophäe auf der Zinne des höchsten Turmes seiner Burg anbringen.[23]
In dieser Episode spielt das Motiv der Rache eine besonders entscheidende Rolle, da durch sie der König wieder geheilt wird, und zwar bereits allein durch den Anblick des Kopfes, der sie symbolisiert. Es gäbe zwar viel zu der blühenden Phantasie der Fortsetzung von Chretiens unvollendetem Werk zu sagen, vor allem könnte man ihnen vorwerfen, den ursprünglichen Charakter des Grals verfälscht zu haben, aber dennoch bleibt festzuhalten, daß sie dazu schriftlich fixierte oder mündlich überlieferte Sagen keltischen Ursprungs verwendet haben. Wie wäre nämlich sonst das hartnäckige Überleben jenes rätselhaften Rachethemas zu erklären, das an die Verwundung des Königs, an den abgeschlagenen Kopf, sowie an das Fest auf der Gralburg geknüpft ist? Alle diese Elemente sind auch noch in einem Werk aus dem XIV. Jahrhundert enthalten, das von Pierre Bercheur lateinisch verfaßt wurde und von einer Aventiure des Ritters Gauvain handelt, der zahlreichen Angaben zufolge nicht nur einer der ältesten Kampfgefährten von Artus, sondern auch der ursprüngliche Held der Gralsuche gewesen sein muß.
Reductorium Morale (Pierre Bercheur):
Galvagnus (Gauvain/Gawan) konnte einmal seine Verfolger abschütteln, indem er in einen See tauchte. Dort entdeckt er einen Unterwasserpalast und betritt ihn. In einem der Säle »stand ein Tisch gedeckt, der sich unter herrlichen Speisen bog, und davor harrte ein Stuhl des Essers. Indeß fand er keinen Weg mehr, wie dieser wunderliche Ort zu verlassen sei. Als er gerade nach den Speisen greifen wollte, da er Hunger verspürte, gewahrte er plötzlich das Haupt eines Toten auf einem Tablett, sowie einen Riesen, der unweit des Kaminfeuers auf einer Bahre ruhte. Mit einem Satz fuhr der Riese so jählings hoch, daß er mit dem Schädel gegen die Decke des Raumes stieß, und schrie Galvagnus an, er dürfe die Speisen auf keinen Fall berühren. In der Tat gelang es ihm nicht, irgendeine der Köstlichkeiten anzurühren, und erst nach verschiedenen wunderlichen Erlebnissen konnte er diesem Ort entrinnen; nie jedoch fand er heraus, wie ihm das gelungen war.«[24]
Man ist geneigt, in diesem Riesen die gleiche Figur wie Bran Bendigeit, den >Gebenedeiten<, zu sehen, denn auch dieser ist von gewaltiger Statur und kann bei Bedarf sogar seinen Kriegern als Brücke über einen Fluß dienen. Auf jeden Fall aber haben wir es hier wieder mit einem auf einer Platte liegenden Kopf und mit einem Fest(-mahl) zu tun. Aber Galvagnus/Gauvain darf die Speisen des Festmahls nicht berühren. Er ist wie später in der Zisterzienser-Fassung der Quête seiner nicht würdig. Der für den künftigen Erwählten bereitstehende Sitz ähnelt in verblüffender Weise jenem >Siege Perilleux<, dem >Gefährlichen Sitz< (auch genannt >Sorglicher Sitz<), an der berühmten Rundtafel der Tafelrunde, der für Galaad bestimmt ist, der alle Aventiuren bestehen und die Suche zuende führen wird. Aber das hier zitierte Gauvain/Gawan-Abenteuer ist kein Einzelfall: es kommt daneben auch in leicht abgewandelter Form in einer der Fortsetzungen von Chretiens Perceval-Roman vor.
Erste Perceval->Continuation< (Pseudo-Wauchier I):
Gauvain betritt das Schloß des Bran de Lis, das am Ufer eines Flusses steht. Er gelangt in einen großen Saal und findet eine gerade zu einem Festmahl gedeckte Tafel. Als er jedoch den Speisen zusprechen will, entdeckt er mehr als hundert Wildschweinköpfe auf einer gewaltigen Platte. Höchst erschrocken bekreuzigt er sich, da bemerkt er auf einmal nahe am Feuer einen auf einem Bett ausgestreckten Ritter. Der Ritter erwacht — es ist Bran de Lis — und greift Gauvain an.[25]
Bran de Lis (auch Bran de la Cour, >Bran vom Hofe<) ist eindeutig Bran der Gebenedeite. Zugleich ist er auch der Fischer-König: ein Text, der im allgemeinen als Vorwort zu Chretiens Gral-Dichtung gilt (aber später verfaßt worden ist) und unter dem Titel Elucidation bekannt ist, betont nämlich, daß der Fischer-König ein Mann sei, «qui moult savait de nigromance/ qu'il muast cent fois sa semblance« (>der die Kunst der Necromatik/Magie so trefflich beherrschte, daß er hundertmal seine Gestalt verwandeln konnte<)«. Daraus spricht auch seine Zugehörigkeit zu den Wesen der Autre Monde. Ferner folgt aus seiner Wandelbarkeit, daß seine Tochter (die Graljungfrau), oder seine Schwester (Branwen) oder gar seine Herrin (Kundry) den Helden der Quête in entsprechend vielen Gestalten erscheinen können. In einer anderen Fortsetzung des Perceval wird die Gauvain-Aventiure plötzlich zur Aventiure seines Bruders Gaheriet und erfährt dabei überraschende Änderungen.
Zweite Perceval->Continuation< (Pseudo-Wauchier II):
Gaheriet gelangt zu einem prächtigen Schloß am Ufer eines Flusses. Die Gassen sind reich geschmückt, aber menschenleer. Der Held dringt zu einem Saal vor, in dem ebenfalls keine Menschenseele zu erblicken ist. Dann tritt er in einen Garten hinaus und sieht einen Zwerg mit einem silbernen Humpen in der Hand in einem Zelt verschwinden. Gaheriet stürzt hinter ihm her in das Zelt und entdeckt dort einen riesenhaften Ritter, der verwundet auf einem Bett liegt. Als Gaheriet eintritt, beginnen die Wunden des Ritters zu bluten. Da erscheint ein »kleiner Ritter« und fordert Gaheriet zum Kampf heraus, schlägt ihn zu Boden und zwingt ihn, unter dem Spott der Menge, die plötzlich das ganze Schloß überschwemmt, zur Flucht.[26]
Offensichtlich sind der verwundete Ritter, der Zwerg und der »kleine Ritter« drei verschiedene Gestalten ein und derselben Figur, nämlich dieses Fischer-Königs, der mit dem Helden ein proteushaftes Verwandlungsspiel treibt. Hier kommt das Motiv der Verwundung dem der blutenden Lanze recht nahe. In diesem Zusammenhang dürfte der Hinweis von Interesse sein, daß nach einem in zahlreichen Texten belegten keltischen Glauben die Wunden eines verletzten oder sogar toten Menschen wieder zu bluten beginnen, sobald der Mörder in seine Nähe kommt. Daher drängt sich die Frage auf, ob möglicherweise Gaheriet selbst für die Verwundung des Fischer-Königs verantwortlich ist.
Aber nun zurück zum Motiv des Kopfes. In dem französischen Roman Perlesvaus, der in der Tradition von Robert de Boron steht und etwa um 1200 entstanden ist, begegnet Lancelot in einer verlassenen Burg einem schwer bewaffneten Ritter. Dieser fordert Lancelot auf, ihm mit einem Beil den Kopf abzuschlagen. Falls Lancelot sich weigert, würde er selbst enthauptet werden, d.h. Lancelot müsse nach einem Jahr wieder kommen und sich von dem gleichen Ritter den Kopf abhacken lassen. Daher gibt Lancelot dem Wunsch des Ritters nach, köpft ihn und verläßt die Burg. Da entdeckt er, daß Kopf und Rumpf des Enthaupteten auf einmal verschwunden sind.[27]
Obwohl er die Geschichte auf eine gefällig-liebenswürdige Art erzählt, hat der Dichter des Perlesvaus recht wenig von diesem »Enthauptungsspiel« verstanden. Einen vollständigen Archetyp, wenn nicht gar den Schlüssel zu dieser Geschichte, liefert das irische Erzählepos vom Fest des Bricriu:
Das Enthauptungsspiel (Irland):
Die drei größten Ulates-Helden Cuchulainn, Loegaire und Conall ringen um den »Heldenanteil«, der dem Tüchtigsten von ihnen gegeben werden soll. Nachdem sie mehreren Urteilen unterworfen worden waren, die alle zu Gunsten von Cuchulainn ausfielen, aber von den beiden anderen Helden nicht anerkannt wurden, steht den drei Helden nun das Urteil des Uath Mac Immonainn (des >Schrecklichen Sohns der Großen Furcht<) bevor, der ein wilder und gefürchterer Riese ist. Dieser sagt ihnen: »Ich habe hier eine Axt. Einer von Euch nehme sie heute zur Hand und schlage mir damit das Haupt ab, morgen will ich ihm dann sein Haupt von den Schultern hacken.« Conall und Loegare schlagen diesen Handel aus. Cuchulainn dagegen erklärt sich einverstanden. »Nachdem Uath eine Beschwörungsformel über die Schneide seiner Axt ausgesprochen hat, legt er seinen Kopf vor Cuchulainn auf den Hackstein; Cuchulainn ergreift die Axt des Riesen, schlägt zu und trennt ihm das Haupt vom Rumpf. Uath steht wieder auf, nimmt in die eine Hand seine Axt, in die andere seinen Kopf, hält ihn vor die Brust, begibt sich solcherart hinab zum See und taucht unter.« Als am folgenden Tag Cuchulainn am vereinbarten Ort erscheint und nun sein Haupt auf den Stein legt, begnügt sich Uath, der sichtlich ebenso gesund und munter ist wie tags zuvor, damit, seine Axt dreimal über Hals und Rücken des Helden zu schwingen, und erkennt ihm als dem Würdigsten die geforderte Ehre zu.[28]
Jede allzu definitive Interpretation dieser Episode wäre riskant. Nur zwei Dinge gehen eindeutig aus ihr hervor: zum einen handelt es sich um eine Art gegenseitige Hinrichtung bzw. Opferung, die mit einem simulacrum (Scheinopfer) endet (dJi. mit einer Substitution des wirklichen Opfers durch ein anderes oder durch eine symbolisch-rituelle Geste), wobei diese Hinrichtung einer regelrechten Blutrache, einem echten Talions-Verfahren entspricht; zum anderen ist der Riese, nachdem ihm der Kopf abgeschlagen wurde, nicht wirklich tot, sondern erinnert verblüffend an jene sogenannten Kephalophoren unter den Heiligen, die in großer Zahl in den christlichen Heiligenlegenden vorkommen: wird ein solcher Heiliger enthauptet, dann nimmt er einfach seinen Kopf unter den Arm und zelebriert seelenruhig die Messe auf diese Weise weiter, oder vollendet die Beschäftigung, bei der er durch die Enthauptung unterbrochen wurde. Der Riese (Bran, der Fischer-König, der Herr der Autre Monde oder Unterwelt) ist im Grunde eine unsterbliche Figur, die den definitiven Tod nicht kennt, weil er in gewisser Hinsicht der Gott des Todes und des Lebens ist. Und genau dies hat der Autor des Perlesvaus nicht verstanden: als nämlich Lancelot ein Jahr, nachdem er den Riesen geköpft hatte, wieder an die vereinbarte Stelle zurückkommt, will auf einmal der Bruder des Geköpften den Enthauptungsakt vornehmen und der Held kann nur durch zwei Jungfrauen gerettet werden, die zu seinen Gunsten intervenieren.[29] An dieser Stelle sei noch angemerkt, daß in dem alt-englischen Roman Syr Gawayne and the Green Knyght aus dem XIV. Jahrhundert eine ganz ähnliche Aventiure vorkommt, deren Held diesmal Gawain ist.
Dieser abgeschlagene Kopf, der uns so viel Kopfzerbrechen bereitet, muß jedoch irgendeine außergewöhnlich wichtige Funktion haben. In einer Passage des Lancelot von Chretien de Troyes tritt die >Demoiselle à la Mule<, das Maultierfräulein auf. In Chretiens Versromanist sie die Schwester des Meleagant. Sie fordert von Lancelot das Haupt des Ritters, den er soeben besiegt hat, und reitet damit fort. Sie hat aber dem Helden versprochen, daß sie ihm zu gegebener Zeit zur Belohnung für seine Gabe mit ihrer Hilfe beistehen werde. Chretien gibt keinerlei Erklärung über die Bedeutung dieser Geste, und auch hierin ist wieder zu erkennen, wie raffiniert der Autor die Technik des suspense einsetzt. Und doch paßt uns das überhaupt nicht. Wahrscheinlich hat er diese Episode in seiner Vorlage vorgefunden und sie in einer vollkommen ehrbaren literarischen Absicht verwendet, die uns jedoch auf unserem Durst sitzen läßt. Tatsächlich hat man den Eindruck, als bliebe der blutige Kopf, den Peredur in jenem Schloß der Wunder auf einem Teller entdeckt, als ein lediglich melodramatisches Motiv oder ein Bild poetischer Imagination völlig unerklärbar im Raum stehen.
Es stellt sich aber heraus, daß die dem sogenannten Pseudo-Wauchier I zugeschriebene Erste >Continuation des Perceval die gleiche Geschichte enthält, nur daß diesmal der Held Caradoc heißt, der, wie wir gesehen haben, ebenfalls zu den ältesten Artus-Rittern zählt und -vermutlich eine bretonische Gestalt ist.[30]
Ein unbekannter Ritter erscheint am Hofe des Königs und provoziert alle Anwesenden, indem er verlangt, daß einer von ihnen ihn enthaupten soll, um sich nach Ablauf eines Jahres dann seinerseits köpfen zu lassen. Caradoc, der Sohn des Königs von Vannes, stellt sich dieser Prüfung, und nach einem Jahr wird er das Scheinopfer (simulacrum) der Hinrichtung durch diesen Unbekannten, der sich als der Zauberer Eliavres herausstellt und der wirkliche Vater von Caradoc ist. Daraufhin will sich seine Mutter aus rätselhaften Beweggründen an ihrem Sohn rächen, und so windet sich eine Schlange um Caradocs Arm und saugt ihm die Lebenskraft aus. Nur durch den Opfertod einer Jungfrau kann er gerettet werden.[31]
Es ist durchaus wahrscheinlich, daß zwischen der wirklichen oder scheinbaren Enthauptung und der weiblichen Rache ein bestimmter Zusammenhang besteht. Aber trotzdem ist diese Rache der Mutter an ihrem Sohn schwer zu erklären, sofern man ihn nicht mit dem von Arianrod über ihren Sohn Lleu Law Gyffes ausgesprochenen Fluch in Verbindung setzt. Jedenfalls erscheint das Motiv der Rache deutlich als eine Art Kompensation der Anerkennung des Sohnes durch den Vater: Eliavres erkennt Caradoc offiziell als seinen Sohn an, folglich wird die Mutter verlassen und tritt in den Hintergrund, daher ihr Racheplan, durch den sie ihrem Sohn das Leben, das sie ihm einst gegeben hat, wieder nimmt. Hier stehen wir also dem Übergang von einer mütterlich-gynäkokratischen zu einer väterlich-androkratischen Familiensituation gegenüber.
Dieser Machtwechsel wird durch das »Enthauptungsspiel«, d.h. durch ein Blutritual vollzogen. Man könnte dabei an das Ritual der Beschneidung und an die verschiedenen anderen Initiationsrituale zum Eintritt der Jugendlichen in die Welt des Erwachsenseins denken, die in den sogenannten primitiven Kulturen üblich sind. Da das »Enthauptungsspiel« ein Übergangsritual ist, kann man annehmen, daß auch der abgeschlagene Kopf auf dem Teller die Erinnerung an ein Ritual dieser Art ist. Übrigens braucht man dazu nur die antiken Autoren zu konsultieren, die über die Kelten berichten. Eine Bemerkung von Pomponius Mela (III, 2) liefert einen wertvollen Hinweis; dort heißt es nämlich:
»In Gallien leben tapfer-stolze und abergläubige Stämme, die die Barbarei einst bis zu Menschenopfern trieben;[32] diese Art des Opfers hielten sie für besonders wirksam und besonders beliebt bei den Göttern. Diese gräßliche Sitte ist bei ihnen zwar abgeschafft, jedoch sind davon heute noch Spuren zu finden: den Menschen, die sie ihren Gottheiten weihen, nehmen sie heute nicht mehr das Leben, führen sie aber immer noch zu ihren Altären und bringen ihnen dort leichte Verletzungen bei.«
Hierdurch wird deutlich, daß der auf der Platte vorgeführte Kopf des Enthaupteten sich einerseits auf das »Enthauptungsspiel« bezieht und andererseits die letzte Reminiszenz einer Rache ist, die jedoch nur noch rein rituellen Charakter hat, und hinter der das Gesicht der Großen Mutter, d.h. der Ur-Göttin, sichtbar wird. Weshalb wird aber dann der Gral, der eine jüngere Form dieses Rituals ist, so stark in die Nähe eines Steines gerückt (und von Wolfram mit einem Stein gleichgesetzt; Anm. d. Hrsg.), während doch ursprünglich, wie wir gesehen haben, auf dem Teller ein Kopf lag? Mit anderen Worten, es stellt sich die Frage, welcher Zusammenhang zwischen dem Kopf und dem Stein besteht.
Zunächst ist festzustellen, daß in dem Mabinogi von Branwen die berühmten Sieben Überlebenden schließlich Brans Kopf im White Hill von London beisetzen. Damit kehrt der Kopf als wesentliches Element des Körpers und somit der ganzen Person in den Mutterschoß, nämlich in die Erde zurück. Diese Rückkehr findet aber nicht an irgendeinem x-beliebigen Ort statt, sondern der Kopf muß wieder an einer Stelle >be-erdigt< werden, wo etwas Bestimmtes vollzogen werden kann, an einem Ort also, der das Haupt (lat. caput) eines Landes, eine >Hauptstadt< (lat. caput imperii/regni) ist, mit anderen Worten: an einem Ort, der Leben und Geist des Landes ausstrahlt, somit den Charakter eines ....... (omphalos), eines Nabels und Knotenpunktes der Welt hat. Bekanntlich wird in einer römischen Stadtsage die Wahl des Mons Capitolinus als Zentrum damit begründet, daß auf diesem Hügel ein eingegrabener Kopf gefunden worden sei.[33]
Die Beantwortung dieser Frage muß im keltischen Bereich in Irland gesucht werden, und zwar in den Sagen des Ulster-Zyklus über den König Conchobar und seinen berühmten »Clan«[34] des >Roten Astes<. Vorweg sei daraufhingewiesen, daß der >Rote Ast< einer der Orte ist, wo der König von Ulster seine Krieger zu versammeln pflegt:
»Conchobar besaß drei Häuser, den >Roten Ast<, das >Bunte Haus< und den >Blutigen Ast<. Im Hause >Roter Ast'jedoch residierten die Könige, denn es hatte die rote Farbe der Könige. Das >Bunte Haus< war das Arsenal der Lanzen, Schilde und Schwerter...«[35]
Mit diesen drei Häusern hat es eine eigenartige Bewandtnis, denn in dem dritten wurden die Beutestücke und insbesondere die erbeuteten Köpfe aufbewahrt, was an die »Schädelgehänge« denken läßt, die in den Heiligtümern der keltischligurischen Salyer in Südfrankreich entdeckt wurden. Aber abgesehen davon erinnert dieses Ritual der >Bruderschaft<, die einen Saal für die Versammlungen, einen anderen für die Aufbewahrung der Köpfe und einen dritten als Waffenarsenal hat, durchaus an die Verhältnisse in der Gralburg, wo vor den Augen der Bewohner (der in den >Clan< Eingeweihten) und des Gralsuchers (der hier vor einer Art Initiationsprüfung steht) eine Waffe (die Lanze), ein Teil des für die Versammelten bestimmten Festgedeckes (die Tranchierplatte), sowie der Teller (mit dem Kopf) vorgeführt werden. Man könnte hier immer noch von zufälligen Übereinstimmungen oder von gewagten Interpretationen sprechen, die nicht mit den üblichen sogenannt wissenschaftlichen Methoden vereinbar sind;[36] dann erhebt sich aber die Frage, wie das Phänomen zu erklären ist, daß die Gralzeremonie, die im allgemeinen übereinstimmend als keltisch angesehen wird, so ganz aus dem Nichts entstanden sein kann. Es gibt aber zwei Geschichten von diesem >Roten Haus<, nämlich des Sitz des Dun Etair (oder Howth) und den Tod des Conchobar, die ein erstaunliches Licht in das Dunkel dieses Rätsels bringen.
Das Haupt des Mesgegra (Irland):
Wegen des Druiden und Poeten Athirne, genannt der >Lästige<, mußten die Ulates einmal gegen Mesgegra, den König von Leinster kämpfen. Conall Cernach hatte bei diesen Kämpfen zwei seiner Brüder verloren und verfolgt nun den König von Leinster, um seine Brüder zu rächen. Schließlich trifft er Mesgegra, als dieser gerade mit einem seiner Diener allein ist, der ihm während eines Streites die Faust abgeschlagen hat. Conall fordert Mesgegra zum Zweikampf heraus und schlägt ihm das Haupt ab. Anschließend legt er den Kopf auf einen Stein nahe einer Furt über einen Fluß. »Ein Blutstropfen rann aus dem Hals, fiel auf den Stein und fraß sich durch ihn hindurch bis auf den Boden. Da legte er Mesgegras Haupt auf einen anderen Stein, doch dort bohrte sich der ganze Kopf durch den Stein.«[37] Daraufhin nimmt Conall den Kopf und setzt ihn sich auf seinen eigenen. Da rollt ihm der Kopf auf die Schulter »und Conalls Augen begannen zu schielen.«[38] Inzwischen erscheint Mesgegras Gemahlin, und Conall will sie dazu bewegen, mit ihm zu gehen, indem er behauptet, Mesgegras Kopf hätte es so befohlen. Mesgegras Weib (- sie heißt Buan, d.h. >die Ewige< -) lehnt ab, stößt einen durchdringenden Schrei aus und fällt tot um. Conall will den Kopf des Enthaupteten wieder an sich nehmen und befiehlt seinem Diener, ihn aufzuheben. Es ist jedoch unmöglich, den Kopf vom Boden zu lösen. Da befiehlt Conall: »Löse ihm mit deinem Schwert das Hirn heraus, nimm es und verknete es mit Erde zu einer Schleuderkugel.«[39] Dieses Geschoß wird anschließend im Saal des >Blutigen Astes< aufgestellt. Als eines Tages die Ulates einmal stark berauscht sind und streiten, will es Conchobar nicht gelingen, den Frieden unter ihnen wieder herzustellen. Da läßt Conall »Mesgegras Hirn« bringen und fordert die anderen Krieger zum Zweikampf mit der Steinschleuder heraus. Doch so gewaltig ist der Schrecken, den »Mesgegras Hirn« auslöst, daß niemand die Herausforderung annehmen will. Das »Hirn« wird an seinen angestammten Ort zurückgebracht, und damit kehrt unter den Versammelten wieder Harmonie und Brüderlichkeit ein. Aber Cet, Magas Sohn, ein Held aus Leinster, der stets auf der Suche nach einem üblen Schlag ist (nämlich nach einem abzuschlagenden Kopf eines der Ulates), weiß, »daß Mesgegra prophezeit hatte, sein Schicksal werde einst durch seinen eigenen Kopf gerächt«; also bemächtigt er sich des zum Geschoß geformten Hirns von König Mesgegra und es gelingt ihm, dieses in Conchobars Schädel zu schießen. Dessen Leibarzt weigert sich, ihm die Schleuderkugel aus dem Kopf zu entfernen und beschränkt sich darauf, die Schädelteile des Verwundeten mit einem Goldfaden zusammenzubinden. So bleibt Conchobar ungeheilt und schwach und kann nichts anderes tun, als dazusitzen und zuzusehen. Nach sieben Jahren gerät Conchobar in so großen Zorn, »daß Mesgegras Hirn aus seinem Schädel spritzt und er daran auf der Stelle stirbt. Einst wird ihn Conall Cernach rächen, der den Cet, Magas Sohn, töten und enthaupten wird.«[40]
Dieses Epos vom Haupt des Mesgegra ist allerdings mehr als ungewöhnlich. Mit den Siegestrophäen des >Blutigen Astes< werden irische Epenhelden erster Ordnung in Beziehung gesetzt. Außerdem dreht sich die Handlung gleich um eine ganze Serie von Rachefällen: Mesgegra hatte den magischen Befehlen des Druiden und Poeten Athirne zuwidergehandelt, daher rächte sich dieser an den Ulates; die Krieger von Leinster töten daraufhin zwei Brüder von Conall; Conall nimmt für seine Brüder Rache an Mesgegra; Cet rächt sich für Mesgegra an Conchobar; Conall rächt sich für Conchobar an Cet. Auffälligerweise kommt diese Lawine von Katastrophen dadurch ins Rollen, daß König Mesgegra sich weigert, dem Athirne seine Gemahlin zur Frau zu geben. Und diese Königin hat auch noch den aufschlußreichen Namen >die Ewige<. Der Blutstropfen, der aus Mesgegras Halsstumpf rinnt und den Stein durchfrißt, erinnert deutlich an den Blutstropfen, der während der Gralprozession aus der vorgeführten Lanze rinnt. Dieser Blutstropfen ist gefährlich, er besitzt eine korrodierende Kraft und löst Krankheiten aus (Conall beginnt zu schielen!); ja sogar der ganze Kopf ist gefährlich: er zerfrißt den Stein, und um seine Kraft zu neutralisieren, muß er mit Erde vermengt werden. Doch auch dann bleibt er immer noch ein Instrument der Rache. Diese bizarre Geschichte, die mit großer Wahrscheinlichkeit der ursprüngliche epische Archetyp der Gralsuche sein dürfte, bestätigt wenn auch nicht die Identität, so doch zumindest die Analogie zwischen dem Kopf und dem Stein, eine Analogie, die uns bereits aufgefallen ist, als der Kopf von Bran feierlich auf dem Weißen Hügel von London beigesetzt werden mußte.
Vor dem Hintergrund der bisher erörterten Quellen wird man nun weniger überrascht sein, wenn man in der deutschen Dichtung des Gralmythos von Wolfram von Eschenbach als Entsprechung zum Gral-Kopf des walisischen Peredur einen Gral-Stein findet. Über die gleichzeitig heilsame und destruktive magische Kraft, die von diesem Stein ausgeht, gibt auch der Peredur einige aufschlußreiche Hinweise:
»In diesem cairn befindet sich ein Lindwurm und in dem Schwanz des Lindwurmes ein Stein. Dieser Stein hat die >Tugend<, daß jeder, der ihn in eine Hand nimmt, in die andere Hand soviel Gold erhält, wie er sich nur wünschen kann.«[41]
Natürlich wird Peredur diese Schlange töten. Zuvor aber muß er den addanc besiegen, der ebenfalls eine Art >Lindwurm< ist. Dies kann ihm aber nur mit Hilfe eines unsichtbar machenden Steines gelingen, den er von einer geheimnisvollen Frau erhält.[42]
In der irischen Literatur kommt daneben noch ein anderer berühmter Stein vor, nämlich der >Stein von Fäl<, der ein Herrschafts-Stein bzw. Macht-Stein ist:
»Von Falias stammte der Stein von Fal, der sich in Tara befand; er schrie unter jedem König, der über Irland herrschte.«[43] »Der Stein von Fäl, der Penis-Stein...: Wenn jemand die Herrschaft über Tara antreten sollte, dann schrie der Stein (...) in einer Art, daß jeder es deutlich hören konnte.«[44] »Da entdeckte Conn einen Stein zu seinen Füßen. Er trat auf ihn und sofort begann der Stein so laut zu schreien, daß man es in ganz Tara hören konnte. Da fragte Conn die fili um Rat, weshalb der Stein geschrieen und was es mit ihm auf sich habe. Die fili baten sich fünfzig und drei Tage Bedenkzeit aus, bevor sie antworten könnten. Schließlich antworteten sie, der Name des Steines wäre Fäl; [45] er sei von der Insel Fäl nach Tara, in das Land von Fäl gekommen. Bis dahin habe er sich in Tailtiu befunden, an jenem Ort, wo die berühmten Spiele stattfinden. Ein Fürst, der ihn am letzten Tage der Feste von Tailtiu gefunden habe, sei noch im selben Jahre verstorben. Die Zahl der Schreie, die der Stein habe hören lassen, als Conn auf ihn trat, bedeuteten die Zahl der Könige aus seinem Stamm, die noch über Irland herrschen würden.«[46]
Dieser >Stein von Fäl< läßt sich nicht nur mit jenem als Gral bezeichneten Objekt vergleichen, sondern er spielt auch in der Gralsuche selbst eine Rolle. Als König Artus die Institution der Tafelrunde gründet (die letztendlich von ähnlicher Art ist, wie die irische Bruderschaft der Fiana oder wie die des >Roten Astes<), gibt Merlin, der Zauberer, ihm folgenden Rat:
»Zur Rechten von seiner Majestät des Königs soll stets ein Sitz frei bleiben in seligem Gedenken an unseren Herrn Jesus Christus; niemand werde sich auf diesen Platz setzen können, ohne das nämliche Schicksal wie Moses zu riskieren, welcher in der Erde versank, außer dem vollkommensten Ritter auf Erden, der den Gral erringen und den tiefen Sinn der Wahrheit erfahren wird.«[47]
Gemeint ist der >Siege Perilleux<, der >Gefährliche Sitz<, auf den sich nur der Erwählte setzen darf. Im Didot-Perceval, der den Beginn der Christianisierung des Mythos darstellt, setzt sich Perceval auf ihn:
»Sofort spaltete sich der Stein unter ihm entzwei und schrie in solch erschütterndem Ton, daß alle glaubten, die Welt würde in den Abgrund gerissen. Und nachdem die Erde diesen Schrei getan hatte, trat eine so nachtschwarze Dämmerung ein, daß sie aus mehr als einer lie ue Entfernung einander nicht mehr sehen konnten.«[48]
Der Text läßt keinen Zweifel zu: wie der Lia Fall, der unter dem erwählten König schreit (durch den Mund der Götter oder durch die Mutter Erde), schreit der >Siege Perilleux<, um anzudeuten, daß Perceval der Gralkönig ist. Aber der Dichter des Didot-Perceval fügt in seiner Absicht, den Mythos zu christianisieren, noch hinzu, daß plötzlich eine Stimme zu vernehmen ist, die Artus den Vorwurf macht, daß er dieses Sakrileg zugelassen habe, denn Perceval sei unwürdig, auf dem >Siege Perilleux< Platz zu nehmen. Indem er sich darauf niedergelassen hat, habe er die Krankheit des Fischer-Königs ausgelöst. Und der Fischer-König werde erst durch denjenigen wieder geheilt, der die Abenteuer der Gralsuche besteht: dann werde der geborstene Stein wieder zusammenschmelzen. Percevals Charakter war zu heidnisch, als daß man ihm zum Gralhelden hätte machen können: auf diese Weise mußte der Auftritt des reinen Galaad erzählstrategisch vorbereitet werden, der Auftritt dessen, der (dem Anschein nach) von jedem Verdacht frei war, ein Erbe keltischer Überlieferung zu sein. Daher läßt der Autor der Queste del Saint-Graal, der bereits vollkommen christianisierten Ausgestaltung des Mythos, Galaad sich auf den >Siege Perilleux< setzen, ohne daß irgend etwas passiert. Der Lia Fall war damit restlos von seinen heidnischen Elementen befreit, die einen leidenschaftlichen Christen des XIII. Jahrhunderts in der Tat hätten beunruhigen können, denn wenn, wie Georges Dumezil[49] anmerkt, der >Stein der Herrschaft< schreit, dann schreit in Wirklichkeit die Erde in Gestalt einer Gottheit, nämlich einer Deesse-mere, einer Mutter-Göttin, die ihre Entscheidung äußert. Diese Bemerkung ist von großer Tragweite: wir haben also mit der Gralsage, selbst wenn diese Sage deformiert und vom Christentum vereinnahmt wurde, einen sehr alten, an den Kult der Ur-Göttin geknüpften Mythos vor uns.
Wir hatten uns zur Aufgabe gestellt, zuerst den epischen Archetyp der Gralsuche zu rekonstruieren. In der Geschichte von Mesgegra und von dem Stein der Herrschaft haben wir ihn gefunden: die Gralsuche ist ein blutiger Kampf zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft um die höchste Macht und Souveränität und diese wird durch die Frau verkörpert, die als Königin oder Göttin das Symbol der allmächtigen Mutter ist, deren Söhne und Töchter wir sind. Wenn Mesgegra sein Leben (seinen Kopf) verliert, so deshalb, weil er sich geweigert hatte, seine Gemahlin Buan, d.h. die Ewigkeit herzugeben. Die Racheserie, die dadurch ausgelöst wird und zu einer Reihe von abgeschlagenen Köpfen führt, ist der Kampf zwischen den Nachfolgern. Und in diesem Augenblick stellt der Kopf auch Macht und Herrschaft dar, da Mesgegra und Buan beide tot sind. Alles was von der alten Souveränität noch übrig ist, ist dieser Kopf. Er ist gefährlich und heilbringend zugleich, er blutet und tötet. Er wird in ein Steinschleudergeschoß umgeformt und dient auch so noch weiter zum Kampf gegen die Anderen. Durch die Verlagerung wird die Souveränität, die nun nicht mehr im Besitz der Frau ist, sondern in den Händen der Männer liegt, aggressiv und untermauert die Strukturen der neuen männlichen Gesellschaft. Und ebenso wie die Königin Guenievre Liebhaber hatte, die nacheinander an ihrer Macht Anteil hatten, gehört der Kopf von nun an so lange dem Stärksten, bis sich die Gerechtigkeit, d.h. die Stimme von Fäl, des >Steines der Herrschaft< hören läßt. Auf diese Weise stellt sich ein neues provisorisches Gleichgewicht ein. Alles sieht so aus, als würden die momentanen Besitzer der Souveränität sich gegenseitig umbringen und dem jeweiligen Sieger den Genuß der Macht allein überlassen. Diesen Eindruck erweckt zumindest die Geschichte von Yvain in Chretiens Roman vom Löwenritter: nachdem Yvain den Schwarzen Ritter getötet hat, heiratet er bald schon dessen Witwe, die übrigens als Herrin über den Zauberbrunnen, der Jammer und gleichzeitig Fruchtbarkeit erzeugt, eine doppelte Natur hat.
Nun bleibt noch der tiefe Sinn dieser Suche zu ermitteln, die die Männer zum Kampf um den Besitz der Frau treibt, sowie die Frage zu beantworten, was diese Macht, diese >Souveränität< genau bedeutet. Die epische Quête, in der die symbolischen Requisiten, wie die blutende Lanze, der Teller, der Kopf oder Stein nur Chiffren sind, kann nur dann wirklich gedeutet werden, wenn sein Zweck und Ziel erkennbar wird. Die Suche läßt sich als ein religiöses und mystisches Ritual interpretieren und so wurde sie von den christlichen Dichtern des XII. und XIII. Jahrhunderts auch aufgefaßt; wenn sie dabei keinerlei Schwierigkeiten hatten, so beweist das nur, daß das Schema vorgezeichnet und bereitsein mystisches Schema war. Aber es handelte sich um eine heidnische Mystik, deren Entstehen bis in das Dunkel der Vorzeit zurückgeht.
2. Der mystische Archetyp des Grals
In allen Graldichtungen zeigen sich die Personen, die die Gralburg bewohnen oder mit ihr in irgendeiner Verbindung stehen, in ständig wechselnder Gestalt. Wie aus der Elucidation hervorgeht, beherrschte der Fischer-König die Kunst der Magie so perfekt, daß er je nach Belieben seine »semblance«,sein Aussehen wechseln konnte. Darin war er jedoch nicht der Einzige. Der Roi Mehaigne, der >verwundete König<, und der Fischer-König sind nur zwei Aspekte ein und derselben Figur. Kundrie la Surziere dagegen ist zugleich die >Hideuse Demoiselle á laMule< (das häßliche Maultierfräulein) und die Königin und Gralträgerin. Dies ist ein Kennzeichen aller keltischen, gälischen oder walisischen Epen, in denen ein Held oft in verschiedener Gestalt und unter verschiedenen Namen auftritt. Wenn wir bei Chretien einen Teller oder einen Kopf, bei Wolfram einen Stein finden, so sind dies noch längst nicht alle Gestalten des Grals, sondern das eigentliche >Ding< kann auch wie in der Queste del Saint-Graal eine Vase oder wie bei Thomas Malory in La Morte d'Arthur ein Kelch sein. Auch darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, daß ein wohlbekannter Archetyp des Grals auch der berühmte Kessel ist, der allenthalben in den keltischen Sagen der britischen Inseln eine Rolle spielt. Die Bedeutung dieses magischen Kultkessels wollen wir nun einmal näher untersuchen.
Aus den Funden der protohistorischen und keltischen Archäologie geht hervor, daß der Kessel in Gallien wie auf den britischen Inseln in Gebrauch war. Er stellte vor allem zu Beginn einen beachtlichen Fortschritt der Kochkunst dar und zeugt von einer bereits hoch entwickelten Kultur. Obwohl die Menschen bereits in der Prähistorie allmählich dazu übergingen, das Wild nicht mehr roh zu essen, sondern vorher zu braten, so dauerte es dennoch bis zur Jungsteinzeit, bis die ersten Behälter auftauchten, die auf das Feuer gesetzt werden konnten. Der keltische Kessel bestand aus den verschiedensten Materialien und wurde in den verschiedensten Formen und Größen hergestellt: man fand Kessel aus Bronze, Kupfer und Silber. Manche waren, wie der berühmte Kultkessel von Gundestrup, von dem gleich noch die Rede sein wird, mit schmuckvollen Gravuren verziert. Wahrscheinlich stellten die Kelten, wenn sie keine Metalle zur Verfügung hatten, diese Gefäße auch aus Ton her.[50] Der Kessel war also bei ihnen ein gängiger Gebrauchsgegenstand. Daneben gab es aber auch, wie wir durch einen Hinweis von Strabo (VII, 2) wissen, sakrale Kessel, die als Kultobjekte verwendet wurden. Aufgrund dieses religiösen und symbolischen Verwendungszweckes wurde der Kessel natürlich mit der Zeit auch zu einem Requisit der Mythen.
Ohne an dieser Stelle weiter ins Detail zu gehen,[51] ist es dennoch angebracht, wenigstens die wichtigsten Aspekte dieses Kessels in der irischen und walisischen Literatur zu erwähnen. So erwähnt z.B. ein Gedicht von Taliesin einen »Kessel, der nicht die Speise eines Feiglings kocht«.[52] Das walisische Gedicht zitiert eine Tradition, die in einem irischen Gedicht über den Helden Cuchulainn festgehalten ist: dieser ist eines Tages mit Curoi in eine geheimnisvolle Burg eingedrungen, um »einen von Gold und Silber perlenden Kessel«[53] zu rauben. Der walisische Kessel von Tyrnog kochte ebenfalls nicht die Spiese eines Feiglings, während das sogenannte Becken (ebenfalls eine Art >Kessel<) des Galen Diwrnach Speisen in Überfluß zu spenden scheint.[54] Unter den Dreizehn Kleinodien von Britannien befindet sich der >Magische Korb von Gwyddno<: »Wenn man Speise für eine Person hineinlegte, den Deckel schloß und ihn dann wieder öffnete, so enthielt er Speise für hundert.«[55] »Als Keridwen, die Mutter-Göttin ihrem Sohn Avanc-Du Intelligenz einhauchen will, braut sie ihm einen Kessel voll Inspiration. Drei Tropfen dieses Getränkes fallen zufällig dem Gwyon Bach auf den Finger, und sofort besitzt er das Wissen über Vergangenes, Gegenwärtiges und Künftiges und verwandelt sich dadurch in den Barden Taliesin.[56]
Die aufgrund ihrer Funktion und des Zusammenhangs, in dem sie stehen, interessantesten dieser Kessel dürften die von Dagda in Irland, sowie von Bran und Peredur in Wales sein. Bei diesen handelt es sich um wahrhaftige Archetypen des >Gral< genannten Objektes, in denen mit hoher Wahrscheinlichkeit die direkte Quelle der Bedeutung zu suchen ist, die der Gral im christlichen Kontext bekommen hat.
Der Kessel des Dagda (Irland):
»Von Murias stammte der Kessel des Dagda; nie zog eine Gruppe fort, ohne ihm dafür zu danken.«[57] Als Dagda in das Lager der Fomore, seiner Feinde, eindringt, zwingen diese ihn zum Spott, den Inhalt eines gewaltigen Kessels zu verspeisen, den sie in ein in die nackte Erde gegrabenes Loch geschüttet hatten. Dagda verspeist dieses erstaunliche Mahl bis zum letzten Happen.[58]
Der Kessel des Bran (Wales):
»Ich vollende die Wiedergutmachung, indem ich dir einen Kessel schenke, der folgende Eigenschaft hat: wenn man dir heute einen deiner Männer erschlägt, dann wirf ihn getrost in diesen Kessel, und morgen wird er wieder so schön sein wie je zuvor, nur daß er nicht mehr sprechen kann.«[59]
»Die Galen machten Feuer unter dem Kessel der Auferstehung. Man füllte ihn bis zum Rand mit Leichen. Am folgenden Morgen standen diese wieder auf und waren wieder ebenso gefürchtete Krieger wie je zuvor, außer daß sie nicht mehr sprechen konnten.«[60]
Der Kessel des Peredur (Wales):
»Er kam an den Hof des Königs der Leiden. Als er ihn betrat, erblickte er nur Frauen. Bei seinem Erscheinen erhoben sie sich und bereiteten ihm artigen Empfang. Er kam mit ihnen gerade ins plaudernde Gespräch, als er plötzlich ein Pferd hereintraben sah, das eine Leiche im Sattel trug. Eine der Frauen erhob sich, nahm den Leichnam aus dem Sattel, badete ihn in einem Zuber heißen Wassers, der wenig niedriger war als die Tür, und bestrich den Körper mit einer kostbaren Salbe. Der Mann erwachte zu neuem Leben, entbot den Umstehenden seinen Gruß und machte ein heiteres Gesicht. Bald kamen zwei weitere Leichen an. Beide rief die Frau auf die nämliche Weise wie den ersten ins Leben zurück.«[61]
Wie wir sehen, hat der Kessel der Kelten zwei Eigenschaften: er verschafft nach Art des Füllhorns Überfluß und ruft die Toten ins Leben zurück. Auch der christianisierte Gral spendet Überfluß, da ja für die Teilnehmer an dem Gral-Festmahl die Lieblingsspeisen in ihren Tellern nicht zur Neige gehen. Daneben verschafft auch der Gral Unsterblichkeit, da auch er die Toten auferweckt und mit ewigem Leben beschenkt. Dabei handelt es sich jedoch nicht um das Leben der Vergangenheit, wie bei dem Kessel des Bran, sondern um ein zukünftiges Leben in einer anderen Dimension: die Wiederauferstandenen haben keine Sprache, sie gehören also der Autre Monde an.
Dieses Phänomen erinnert an eine der Abbildungen auf den gravierten und getriebenen Schmuckplatten des Kessels von Gundestrup: Auf ihr ist eine riesenhafte Figur dargestellt, die gerade einen Krieger mit dem Kopf zuerst in eine Art Kessel taucht. Auf dem unteren Teil der Darstellung bewegen sich kleinere Figuren, ebenfalls Krieger, von rechts nach links auf den Kessel zu. Auf dem oberen Bildteil, der vom unteren durch einen liegenden Baum abgetrennt ist, dessen Wurzeln in die Seitenwände des Kessels zu greifen scheinen, bewegen sich andere Krieger nach rechts von dem Kessel weg; diese Krieger reiten auf Pferden und werden von einer widderköpfigen Schlange angeführt. Das Ganze erscheint auf den ersten Blick ziemlich rätselhaft[62] Wenn man aber die Größe der zentralen Figur betrachtet, die die Krieger in den Kessel tauchen, so kann man aufgrund des Kessels, des Baumes (der möglicherweise ein Lebensbaum ist), sowie aufgrund der Kriegerkolonne, die sich unten nach links, also nach der katastrophalen Seite bewegt, der anderen Kriegerkolonne, die sich oben nach rechts bewegt (und von einer Widder-Schlange geführt wird, was ein Lebenssymbol ist) zu dem Schluß gelangen, daß es sich hier um eine rituelle Wiederbelebungszeremonie handelt, wie sie in der Geschichte von Branwen und in der von Peredur beschrieben wird. Man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehen: aus den Scolien in Pharsalos von Lucian kennen wir nämlich einige Einzelheiten über den Kult des gallischen Gottes Teutates: »Mercur Teutates wird bei den Galliern wie folgt verehrt: man taucht den Kopf eines Menschen in ein großes Becken, bis er ertrinkt.«[63] Es ist sehr wahrscheinlich, daß zwischen diesem Opferritual und dem auf dem Kessel von Gundestrup dargestellten und in der Geschichte von Branwen und Peredur beschriebenen Ritual ein Zusammenhang besteht. Aus diesem Grunde muß der Fischer-König (oder Gralkönig) als die gleiche Figur wie Teutates betrachtet werden, der nach Caesar der römische Dis Pater ist, d.h. der Gott der Leben und Tod gibt und in gewissem Sinn dem Primordialgott entspricht.
Pindar berichtet in den Olympien (1,40), daß die Göttin Clotho, nachdem Pelops in Stücke geschnitten und in einem Kessel gekocht worden war, alle Stücke seines Körpers wieder in den Kessel warf und Pelops dadurch von den Toten auferweckte. Wenn man Freuds in Tabu und Totem entwickelte Argumentation wörtlich nehmen würde, dann hätte man eine Reminiszenz des archaischen Totem-Mahles vor sich, bei dem die Söhne unter sich den Körper des Vaters aufteilen, den sie getötet haben, womit der Archetyp jenes Abendmahls geboren wurde, bei dem Jesus seinen Leib und sein Blut in Gestalt von Brot und Wein unter seinen Jüngern austeilte. Ganz so einfach scheint die Sache jedoch nicht zusein, vor allem deshalb nicht, weil es in den ältesten Gesellschaften, die sicher Matriarchate und keine Patriarchate waren,[64] keinerlei Beweise dafür gibt, ob der Urmord am Vater überhaupt stattgefunden haben muß. Natürlich ließen sich in der keltischen Epik durchaus Spuren von Totemismus finden. Eine davon hat sogar direkt mit unserem Thema zu tun. In dem irischen Epos vom Schwein des Mac Datho hat Mac Dathos Wohnsitz »sieben Herdfeuer und sieben Kessel. Jeder, der des Weges kam, tauchte seine Gabel in den Kessel, und was er dabei mit dem ersten Stich erhaschte, war so reichlich, daß er nicht noch einmal nachfassen mußte.«[65] Dieser Kessel ist eindeutig ein Kessel des Überflusses, gewissermaßen ein >Kesselfüll-dich<. In dieser Geschichte hat das Schwein wieder eine symbolische Valenz: in dem Kessel gekocht erhält es den Gehalt einer Speise, die unsterblich macht, und dies umso mehr, als die Figur des Mac Datho, der übrigens einen zerberusähnlichen Hund hat, ein Wesen der Autre Monde ist. Die Schweine von Manannan sind in der gesamten irischen Mythologie bekannt: es sind diejenigen, die Mananann den Tuatha De Danann gegeben hat, damit sie nicht verhungern mußten, nachdem sie von den Galen aus Irland vertrieben worden waren. Daneben kommt das Schwein auch als Wunderspeise in der walisischen Tradition vor: in der vierten Mabinogion-Branche raubt der Gott und Magier Gwyddyon die »Schweine des Südens«, die Pwyll, der »Herr des Abgrundes« und Vater von Pryderi einst als Geschenk erhalten hatte. Die Schweine gehörten bei den Kelten zu den ältesten Nahrungsgrundlagen, zugleich stellten sie aber offensichtlich auch eine spirituelle Nahrung dar. Es ist daher naheliegend, in diesen archaischen Sagen die Reminiszenz eines Totemismus zu sehen.
Diesem ungewöhnlichen, makabren Festmahl begegnen wir jedoch auch in den Graldichtungen. So erlebt im Perlesvaus, dem Versroman aus dem XII. Jahrhundert, der noch zahlreiche Archaismen aufweist, die meist auf den Einfluß des Klosters von Glastonbury zurückgehen, (das unter der Herrschaft des Hauses Plantagenet eine Hochburg des Keltentums war) Gauvain eine sonderbare Aventiure. Um die Burg des Fischer-Königs finden zu können, muß er sich in den Besitz eines Schwertes bringen, mit dem — wie der Dichter präzisiert[66] — Johannes der Täufer enthauptet wurde. Er erhält dieses Schwert, nachdem er einen Riesen getötet hatte, der gerade den Sohn des Königs Gurgalan entführt hat. Trotz seines Sieges über den Riesen hat Gauvain nicht verhindern können, daß der Riese den Königssohn umbrachte. Der König konvertiert zum Christentum und lud Gauvain zu einem Festmahl ein. Dazu hatte man aber ausgerechnet den Leichnam des unglücklichen Jungen Mannes in einem Kessel gekocht und alle Gäste teilen sich nun dieses entschieden ungewöhnliche Gericht.[67] Diese Szene ist nicht nur eine Reminiszenz des totemistischen Ur-Essens, sondern steht daneben auch mit der griechischen Sage von Pelops auf der einen Seite und mit der Sage von Peredurs und Brans Kessel auf der anderen Seite in Zusammenhang.
Im Perlesvaus kommt es jedoch noch besser, und dies führt uns direkt zu Wolframs Parzival und zum walisischen Peredur: In beiden Dichtungen taucht nämlich, diesmal in Verbindung mit dem Kessel, wieder das Rachemotiv auf. Man darf nicht vergessen, daß bei Wolfram der Held seiner Mutter gelobt hatte, den stolzen Lähelin/Le Hellin zu töten, der seine Erblande geraubt und seine Dienstmannen versklavt oder getötet hat.
Percevals Rache (Perlesvaus; anglo-normannisch):
Soeben hat Lancelot dem Perceval die Nachricht hinterbracht, daß der Fischer-König gestorben und der Gral verschwunden sei. Da fällt Perceval wieder sein ursprünglicher Auftrag ein und so rächt er sich für seine Mutter an seinen Feinden, die ihm seine Erblande geraubt hatten. Perceval läßt zwölf Ritter enthaupten, und sammelt ihr Blut in einem Kessel. Anschließend gibt er den Befehl, seinen Hauptfeind über dem Kessel an den Füßen aufhängen zu lassen, so daß er mit dem Kopf in das Blut taucht, keine Luft mehr bekommt und ertrinkt.[68]
Hier besteht kein Zweifel mehr: das von Perceval ausgeführte Racheritual entspricht exakt demjenigen, das die Gallier im Rahmen des Teutates-Kultes anzuwenden pflegten. Und dies wirft ein ganz neues Licht nicht nur auf den im Blut schwimmenden Kopf, der auf einem Teller dem Peredur vorgeführt wird, sondern darüber hinaus auf alle abgeschlagenen Köpfe, die in den irischen und walisischen Epen vorkommen. In Wirklichkeit kann erst durch die Blutrache die Wiedergeburt des Lebens möglich werden, so daß im Grunde das christliche Meß-Opfer nichts anderes ist als die rituelle Wiederholung der Opferung Christi, der sein Blut hingibt, um den Menschen ein neues Leben zu geben. Nun dürfte verständlich werden, weshalb der Gral so rasch und mühelos christianisiert werden konnte: eben weil seine Funktion in keinerlei Widerspruch zur christlichen Lehre stand.
Verlieren wir dabei aber nicht den ursprünglichen weiblichen Aspekt des Grals aus dem Blickfeld. Eine kurze irische Geschichte enthält eine Verbindung zwischen dem barbarischen Ritual der Erhängung über dem Blutbecken und der Göttin, die in jener Autre Monde der Gralburg ständig im Hintergrund präsent ist.
Die Abenteuer des Nera (Irland):
Ailill und Mebdh fordern die Gäste eines Festes, das sie in ihrer Residenz in Cruacham geben, auf, zu Füßen eines Gefangenen, der sich in der Folterkammer befindet, Weidengeflecht niederzulegen.[69] Anschließend erfährt man, daß der Gefangene an den Füßen aufgehängt ist. Diejenigen, die versuchen, der Aufforderung nachzukommen, um die dafür versprochene Belohnung zu erhalten, kommen aber rasch wieder zurück, denn sie haben Angst. Furchtlos geht nun auch Nera in die Folterkammer. Da spricht ihn der Gefangene an: »Nimm mich auf deinen Rücken, und laß mich mit dir etwas trinken gehen. Seitdem ich aufgehängt bin, habe ich nämlich großen Durst.« Nera ist einverstanden und trägt den Gefangenen in ein Haus, »wo es Wannen gab, in denen man baden und sich waschen konnte, und jede enthielt einen Trank... Da tat der Gefangene aus jedem einen Schluck und blies jeweils den letzten Tropfen aus dem Gehege seiner Lippen auf das Volk, das sich in diesem Hause befand. Alle, die von dem Tropfen getroffen wurden, fielen sofort tot um.« Dann führt Nera den Gefangenen wieder in die Folterkammer zurück. Aber als er anschließend den Weg nach Cruachan einschlug, »da bot sich ihm ein schauerlicher Anblick: der ganze Hügel war ein Raub der Flammen geworden, und er entdeckte einen Berg abgeschlagener Köpfe. Es waren die Köpfe seiner Gefährten. Dann gewahrte er eine Schar Krieger auf dem Hügel. Er folgte der Truppe und stieg mit ihr in Cruachan in die Tiefe«. Auf dem Grunde des sidh fällt seine Gegenwart auf, der König spricht ihn an: »Geh in dieses Haus. Dort wirst du eine Frau finden, die allein ist. Sie wird dich empfangen.« So kommt es, daß Nera »verheiratet« wird. Lange bleibt er in dem sidh wohnen, bis eines Tages seine Frau zu ihm sagt, er sei Opfer einer Illusion gewesen, wenn er die Burg von Cruachan in Trümmern gesehen habe: »Du bist nur einem Heer von Schatten begegnet, aber wenn du nicht die Deinigen verständigst, wird die Vision Wirklichkeit werden.« Nera möchte wissen, wie er sie denn benachrichtigen kann. Sie antwortet: »Erhebe dich und gehe zu ihnen, sie sitzen immer noch um den gleichen Kessel herum und was er enthält, ist noch nicht zur Neige geleert.« Nera ist erstaunt: »Es war ihm, als wäre er drei Tage und drei Nächte[70] in dem sidh gewesen.« Die Frau rät ihm, seine Leuchte am Samain-Tag bereit zu halten und dann den sidh zu zerstören, denn anderenfalls würden die Bewohner des sidh die Burg Cruachan zerstören. Sie gesteht ihm noch, daß sie von ihm schwanger ist und bittet ihn, bevor seine Mannen den sidh zerstören, zurückzukommen und sie mit ihrer beider Sohn, der dann geboren sein würde, und ihrem Vieh noch rechtzeitig zu holen. So geschieht es. Als seine Gefährten ihn fragen, woher er komme, antwortet Nera: »Ich war in einem wunderschönen Land mit herrlichen Schätzen, kostbaren Dingen, reichem Zierrat, köstlichen Speisen...« An dem Tage, den Ailill festgesetzt hatte, kehrt er in den sidh zurück und holt sein Eheweib, seinen Sohn und seine Rinderherde heraus. Da »zogen die Männer von Connaught und das Schwarze Heer des Verbannten (= Fergus Mac Roig) gegen den sidh. Sie machten den sidh dem Erdboden gleich und plünderten alles, was ihnen in die Hände fiel.« Unter der Beute befindet sich auch eine Wunderkrone. Nera aber kehrt in den sidh zurück, um von nun an für immer dort zu bleiben.[71]
Obwohl diese Geschichte von Nera, die eine Umarbeitung verschiedener Stoffe ist, sich als reichlich konfus herausstellt, ist sie dennoch in unserem Zusammenhang nicht uninteressant. Was zunächst auffällt, ist eine Prüfung, und diese Prüfung ist mit der Gralprobe deswegen vergleichbar, weil es um eine Rache an einem rätselhaften Gefangenen geht; dieser Gefangene ist an den Füßen aufgehängt, er befindet sich also in der Stellung der dem Teutates geweihten Opfer. Die Geste, Weidengeflecht, also dürres Holz, unter den Aufgehängten zu legen, beweist, daß er dazu verurteilt ist, verbrannt zu werden. Bevor es zu dieser Hinrichtung kommt, eilt Nera dem Häftling zu Hilfe, der nahe daran ist, zu verdursten. Dieser Gefangene — wahrscheinlich ein Wesen der Autre Monde — trinkt aus allen Waschbottichen, von deren Inhalt jeweils der letzte Tropfen einen unheilvollen Zauber hat: er tötet die Leute, die er trifft. Das erinnert natürlich wieder an die drei Tropfen aus dem Kessel der Keridwen, die Taliesin das vollkommene Wissen geben, während der Rest des Kesselinhaltes den Fluß vergiftet. Das erinnert ferner an den Tropfen, der von Celtchars Lanze rinnt und ihn vergiftet — und erinnert ebenfalls an die Verwundung des Fischer-Königs sowie an den Fluch, der die Bewohner der Gralburg getroffen hat.
Nera aber hat die Prüfung bestanden. Am Schluß der Geschichte ist er woanders, aber es fällt auf, daß dieses Anderswo nicht räumlich, sondern zeitlich ist; genauer gesagt befindet sich Nera plötzlich außerhalb der Zeitdimension, das bedeutet, er ist in die Autre Monde eingegangen.
Die Autre Monde der Kelten hat nämlich das besondere Kennzeichen - was sie wesentlich von den übrigen mediterranen oder skandinavischen Jenseitsauffassungen unterscheidet — daß sie sich unmittelbar neben der vertrauten Welt der Menschen befindet. Es genügt bereits, einen Fluß oder einen Meeresarm, einen Hügel oder einen Wald hinter sich zu lassen, und schon befindet man sich in der Autre Monde, vorausgesetzt, man versteht es, sie zu erkennen. Man kann nämlich diese Autre Monde, die sich zwar in unserer unmittelbaren Nachbarschaft befindet, die aber den Nicht-Eingeweihten unsichtbar bleibt, nur daran erkennen, wenn man eine Prüfung besteht. Nur derjenige, der das Losungswort kennt, kann sie betreten. Eine Ausnahme gibt es jedoch: den Samain-Tag, bzw. die SamainNacht (in der das Fest des Gottes Samain, wie die Iren ihn nannten, bzw. Samonios, wie er in Gallien genannt wurde, begangen wird); in dieser Zeit sind die Wohnungen der Tuatha De Danann,[72] die Zufluchtstätten der alten Götter und toten Helden, somit jene Orte, die man die sidh nennt, den Lebenden zugänglich. In dieser Nacht ist die Kommunikation zwischen den beiden Welten möglich, und diese Kommunikation, dieser Austausch findet nach beiden Seiten statt: die Bewohner der sidh können in die Welt der Menschen eindringen und die Menschen können in die Autre Monde eindringen. In der Samain-Nacht ist das nicht nur das Privileg derer, die die Prüfung dazu bestanden haben, diese Nacht ist das keltische Fest der Einheit der beiden Welten: in Wirklichkeit sind diese Welten nämlich nur dem Schein nach getrennt, sie existieren gleichzeitig nebeneinander. Wenn man bedenkt, daß das Allerheiligen-Fest am 1. November die christianisierte Form dieses Festes zu Ehren von Samain/Samonios ist, dann kann man in der Tat nur staunen, wie haltbar und langlebig Traditionen sein können. Denn wodurch könnte die tiefe Einheit und Verbundenheit zwischen den beiden Welten der Lebenden und der Toten besser dokumentiert werden als durch dieses christliche Fest, das dem Andenken an die von uns Gegangenen, d.h. ihrer Anwesenheit in den Gedanken der Lebenden gewidmet ist?
Nera findet sich plötzlich — außerhalb der Zeit — in der Autre Monde wieder. Er glaubt, die Burg von Cruachan in Trümmern zu sehen. Wie Taliesin, nachdem er die drei Tropfen des Zaubertranks aus Keridwens Kessel getrunken hat, kennt nun auch Nera die Zukunft, nur weiß er es nicht. Alles um Cruachan herum ist verbrannt. Ist das nicht genau das Drama des >Waste Land<, der >Gaste Terre<, des Ödlands um die Gralburg?
»Stund um Stunde wird das Land um Perceval herum immer trostloser; er begegnet weder Gehöften noch bebauten Feldern; nur Brachland und verdorrtes Gras, so weit das Auge reicht; in den verlassenen Obstgärten nicht ein Baum, der auch nur eine einzige Frucht trüge...«
Wie Perceval, den die Verzweiflung übermannt, folgt Nera dem Heer der Schatten und steigt in den sidh hinab. Der König heißt ihn willkommen und nimmt ihn auf: weil er die Prüfung bestanden hat, und wahrscheinlich auch deshalb, weil er dem Gefangenen seine Hilfe nicht verweigert hat, ist der König nicht im geringsten gegen ihn eingenommen. So wird Nera in das Universum des sidh aufgenommen. Der König gibt ihm sogar eine Frau. Und dies erinnert an Lancelot du Lac, der im Schloß Corbenic empfangen und vom König Pellees aufgenommen wird; dieser gibt ihm anschließend seine Tochter Helen, die Gralträgerin, von der Lancelot einen Sohn bekommen wird. Hat es hier immer noch Sinn, von Zufall zu sprechen?
Die Frau gibt Nera alles: Liebe, Reichtum und sogar Ruhm. Sie ist es, die alles leitet in diesem Universum des sidh, denn sie ist es, die Nera auffordert, seinen Leuten zu eröffnen, daß sie den sidh zerstören sollen. Diese Frau scheint mehr Autorität zu besitzen als der König, da sie eigenständig den Untergang ihres eigenen Stammes beschließt, oder genauer ausgedrückt, die Vernichtung all derer, die durch die Berührung mit Nera nicht zu neuem Leben erweckt worden sind. Im Grunde handelt sie nur in ihrem eigenen Interesse und für ihren zukünftigen Sohn: sie repräsentiert die Souveränität und die Macht, den Reichtum und die Fruchtbarkeit (die Kuhherde), während Nera nur ihr >ausführendes Organ< ist. Daher kann Nera nach der Zerstörung des sidh sein neues Reich wiederherstellen und beziehen, ohne daß es ihm jemand streitig machen wird. Er wird wie Perceval der neue Gralkönig sein. Die Königin aber wird immer präsent sein.
Dies sind wahrscheinlich die Elemente der mystischen Ur(Gral-)suche. Ihr Ziel ist es, einen Zustand der Dauer zu erreichen, der eine Lösung des Dilemmas Leben versus Tod und die Abschaffung der Zeit bedeutet, denn der Begriff der Zeit impliziert einen Anfang und ein Ende. Nachdem Nera seine epische Quête (in dieser Geschichte ist sie immer noch von Heldentum und kriegerischem Kampfgeist geprägt) vollendet hat, befindet er sich nicht mehr in der einen oder der anderen Welt, sondern gleichzeitig in beiden. Wenn er sich nach der Zerstörung der sidh durch Ailill und Mebdh dennoch wieder in der Innenwelt des sidh niederläßt, dann deshalb, weil sich für ihn praktisch nichts geändert hat: die Zukunft ist schließlich nur die ins Unendliche ausgedehnte Vergangenheit, mit anderen Worten: da die Dimension der Zeit nun fehlt, gibt es jetzt weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern einen in Worten nicht mehr faßbaren Zustand, der eine Herausforderung an die traditionelle Logik ist. Wie eine Gottheit, die sowohl Leben als auch Tod oder weder das Eine noch das Andere ist, befindet sich Nera in einer Lage des Seins und des Nicht-Seins. Seine Lage entspricht der unbewußten Sehnsucht der gesamten Menschheit, einer Sehnsucht, die die Kelten vielleicht am heftigsten bewegte. Ist es nicht bezeichnend, wenn selbst in jüngster Zeit noch die Dichter des Landes der Bretonen ihre Erzählung etwa mit folgender Wendung beginnen, die weniger bizarr als tiefsinnig ist:
»Es war einmal und einmal war es nicht und zu dieser Zeit begab es sich dennoch, daß...«[73]
Daraus spricht eine ganze >Mentalität<, ein komplettes Weltbild, eine Denkstruktur, die sich in dieser ihrer allseits aneckenden Art ähnlich ausdrückt, wie die Vorliebe der Intellektuellen unter den Barockautoren für den Stil der verkehrten Welt<, wie das von den Surrealisten so sehr geschätzte >Spiel der Gegenteile<, wie das gesamte Oeuvre von Lewis Caroll, oder wie jene geradezu manische Sucht der bretonischen Erzähler, in einer Erzählung oder einem Gedicht die Tempora der Verben systematisch zu vertauschen und gleichzeitig auch noch ganze Satzteile >falsch< zu plazieren:
»Morgen bin ich ins Schwein gegangen, um mein Dorf zu verkaufen. Dort werde ich den nicht sehen, den ich dort treffe, aber er hat mir einen Tresen am Klaren des Gastwirts ausgegeben; außerdem habe ich mir den Bach naß gemacht, als ich mein Hemd überquerte...«
Nera hat also schließlich die zeitlose Königsherrschaft erlangt, die auch dem Parzival des Wolfram von Eschenbach am Ziel seiner Gralsuche winkt. Aber dieses Endstadium hat er nur durch die Führung der Frau erreichen können, wie Parzival durch Kundrie, das Double der Condwiramurs, wie Peredur, der ständig beschattet wird durch die Kaiserin mit der vielfältig wandelbaren Gestalt. Peredur-Parzival hat eine lange Initiationsfahrt zurückgelegt (d.h. einen inneren Weg, der zum Verstehen führte): sie begann in jenem abgelegenen Schloß der Mutter, wo er von der >Welt< fern gehalten wurde (im Mutterleib) und endete mit der mystisch-sexuellen Vereinigung, durch die er Gralkönig wird (in den Mutterleib zurückführt). Wie Rene Nelli nachgewiesen hat,[74] gibt es eine Ebene der >Gralerotik<, die garnicht einmal so sehr verschieden ist von der Erotik der okzitanischen Troubadoure, die jedoch zusätzlich von den verschiedenen keltischen Einflüssen auf die so ungewöhnliche Bewertung der Frau als Einweihende (femme initiatrice) profitiert. Robert Lafont weist in einer bemerkenswerten Studie über die Troubadoure[75] daraufhin, daß
»bei ihnen der Tod möglicherweise etwas ganz anderes (ist), als ein Abbruch der Lebenszeit, eine Grenzüberschreitung, ein Mysterium, das der Klärung noch harrt. Der Tod scheint bei ihnen eine tagtäglich gelebte Wirklichkeit zu sein.«
Diese poetische Transkription der Todeserfahrung ist untrennbar mit dem Bereich der Liebe verbunden, wie aus allen Troubadourdichtungen hervorgeht. Ebenso verhält es sich in der keltischen Tradition, worin die Tristansage in dieser Hinsicht besonders aufschlußreich ist; ebenso verhält es sich auch in der Version der Gralsage, wie sie uns von Chretien de Troyes und Wolfram von Eschenbach präsentiert wird, in der sich die Themen der okzitanischen Troubadoure harmonisch mit den Themen der keltischen Barden vereinen.
Psychoanalytisch ist die Gralsuche als Rückkehr des Sohnes zur Mutter zu deuten. Als Peredur-Perceval-Parzival sein Zuhause und seine Mutter verläßt, wird er geboren, und diese Geburt kostet seiner Mutter das Leben: sie fällt tot um, sobald er die Zugbrücke passiert hat. Aber Perceval bemerkt es nicht, er kann es gar nicht bemerken, denn er befindet sich noch in einem Stadium der Egozentrik bzw. Ego-Fixiertheit, er befindet sich im Rausch der Freiheit, im Rausch des Existierens. Dieser Akt hat jedoch Folgen, denn wenn der Held bei seinem ersten Aufenthalt in der Gralburg den Fischer-König nicht heilen und dem Gralreich seine Fruchtbarkeit nicht wiedergeben kann, so deshalb nicht, weil er noch mit der Sünde, den Tod seiner Mutter verursacht zu haben, belastet ist.[76] Nahezu alle Stationen der Gralsuche des Peredur-Perceval-Parzival sind von Gegenwart und Wirkung einer Frau geprägt. Da er für den Tod seiner Mutter, das heißt für seine eigene Geburt büßen muß, muß er selbständig wieder den Weg finden, der ihn zur Gralburg führt, die - da von Wasser umgeben und die meiste Zeit über unsichtbar — eindeutig das Symbol der Neuen Mutter ist, derjenigen Mutter, der man sich nur als Sohn oder als Liebhaber nähern kann — was jedoch ein und dasselbe ist, denn jeder Liebende ist wie gesagt ein Sohn ohne es zu wissen, so wie jede Herrin, jede >Mätresse< eine Mutter ist.
Um sich von der Richtigkeit dieser Tatsache zu überzeugen, braucht man nur die Dichtungen über Perceval[77] zu untersuchen, der seine Suche schließlich doch noch erfolgreich zuende führt, obwohl seine Initiation bei der ersten Ankunft in der Gralburg mehr oder weniger mißglückt war.
zu Anmerkg. 7.77 Uns scheint Perceval der charakteristischste Held der Gralsuche zu sein; zum einen spricht dafür, daß er aus einem der frühesten Texte stammt (von Chretien) und zum anderen ist sein Name aufschlußreich: Perceval kann gelesen werden als Zusammensetzung aus perce(r) (= >durch<-, >vordringen<) und val (= >Tal<), so daß er möglicherweise derjenige ist, der das Mysterium des Tales durchdringt, in dem sich die Gralsburg befindet. Auf jeden Fall hängt der Name auch mit dem Namen Peredur (in dem das walisische Wort peir, >Kessel< enthalten ist) zusammen, und es könnte im Volksmund zu einer Verbindung der beiden Wörter oder zu einer Neuschöpfung gekommen sein (— die wir nicht kennen—), aus der dann die beiden Namen hervorgegangen sein könnten. Das soll jedoch nicht heißen, daß Perceval der älteste Held der Gralsuche ist, denn angesichts des erheblichen Gewichts der Aventiuren von Gauvain scheint trotz aller Kritik an einer solchen Hypothese die Möglichkeit zu bestehen, daß dieser der erste Gralsucher war (wie es im Peredur tatsächlich der Fall ist). Ohne jeden Zweifel ist Gauvain nämlich der Gwalchmai der walisischen Texte, der bereits in Kulhwch und Olwen, dem ältesten Artusroman, als der Neffe und älteste Kampfgefährte von Artus auftritt. Sein verwandtschaftliches Verhältnis als Neffe von Artus und Sohn von dessen Schwester ist ein wesentlicher Faktor, denn diese Situation entspricht der bestens belegten archaischen Rechtsgewohnheit, der matrilinearen Erb- und Rechtsnachfolge, worin der Onkel mütterlicherseits sowie der Sohn der Schwester in der Erbfrage vorrangig behandelt werden, wie wir eingangs bereits aufgezeigt haben. Roger S. Loomis glaubte, in der walisischen Figur des Gwri Gwallt Euriyn (so lautete Pryderis erster Name!) den Ursprung des französischen Namens Gauwain zu sehen, wofür es jedoch keine Beweise gibt. Gwalchmai bedeutet, so wird im allgemeinen behauptet, >Mai-Falke<. In dem ersten Segment des Wortes finden wir jedoch eine keltische Wurzel wolh-o (= >Vielzahl<; vgl. lat. vulgus/olgus, dt. Volk, irisch folc, walis. gwala, >Übersättigung<, bret. gwalc'ha, >sättigen<), was zu der Funktion der Gralsuche passen könnte, deren Ziel es ja ist, dem von Unfruchtbarkeit und Elend getroffenen Königreich wieder zu Wohlstand und Überfluß zu verhelfen. Was den Namen Galaad betrifft, so ist dieser möglicherweise nicht eindeutig hebräischer Herkunft oder könnte zumindest das Resultat einer Wortkreuzung und einer Homophonie sein. Man kann nämlich in diesem Wort auch die keltische Wurzel gal- (= >Macht<; gallisch GaW und Galates, die >Mächtigen<; irisch gal, >Wachsamkeit<, walisisch: gallu, >Macht<, bretonisch: galloud, >Macht<) sehen; diese Wurzel ist übrigens nicht mit dem bretonischen galt verwandt, was >französisch< bedeutet (irisch galt, >englisch<, und walisisch gall, >Feind<, was von einem keltischen gallo stammt, welches >Fremder< bzw. >Feind< bedeutet), und auch nicht mit den Bezeichnungen gallois, walisisch, Wales und Welsh, denn diese Namen sind angelsächsischer Herkunft. Wenn man bedenkt, daß die Suche nach dem Gral eine Suche nach der höchsten Souveränität ist, dann dürfte diese hier angedeutete, mögliche Bedeutung des Namens Galaad allerdings in Erstaunen versetzen.
Die >Frauen<, denen Perceval auf seiner Suche begegnet, gleichen nicht nur allgemein in erstaunlich hohem Maß den >Feen< und Gottheiten, die die keltischen Helden auf ihren Kriegszügen antreffen, sondern jede einzelne von ihnen scheint daneben eine Rolle zu spielen, die den Figuren eines Schachspiels nicht unähnlich ist. Und als Suche nach der Frau betrachtet ist die Gralsuche geradezu ein richtiges Schachspiel, in dem der König >schachmatt< gesetzt werden muß, bevor man seine Stelle einnehmen kann. Andererseits kann man den König nur mit Hilfe der Königin schlagen, denn sie ist die einzige Figur, die sich auf dem Schachbrett nach allen Richtungen bewegen und den Sieg herbeiführen kann. Diese privilegierte, vielseitige Bewegungsfreiheit der Königin, mit anderen Worten, der Frau als Souveränin äußert sich in den keltischen Epen wie in der Gralsuche in den vielfältigsten Formen: Tatsächlich ist es so, wie es in einem Vers von Gerard de Nerval in ganz anderem Zusammenhang heißt:
»La treizieme revient et c'est toujours la meme ...« (>Die Dreizehnte kommt zurück und doch ist's immer die nämliche...<)
Betrachten wir nun einmal diese Schachpartie, die sich in immer neuen Variationen mit der Königin als Hauptfigur vor unseren Augen in den Graldichtungen abspielt:
Perceval (Chretien de Troyes):
Nach dem er die (Gral)-Burg verlassen hat, begegnet der Held einer jungen Frau, die den Tod ihres ami beweint. Es handelt sich um Percevals Cousine, und sie enthüllt ihm einige Einzelheiten über den Gral, über die Fragen, die er hätte stellen sollen und über das Zauberschwert, das zerbrechen wird. Anschließend söhnt Perceval den ami mit jenem Mädchen wieder aus, dem er zu Beginn seiner Suche gewaltsam einen Kuß geraubt hatte. Träumerisch denkt er an Blancheflor, die er liebt, und die ihn in seinen Gedanken verfolgt. Nach seiner Rückkehr an den Artushof erscheint die >Hideuse Demoiselle ä la Mule<, das häßliche Maultierfräulein, und er muß sich von ihr die gröbsten Beschimpfungen gefallen lassen. Die Demoiselle ruft gleichzeitig zur Suche nach dem Zauberschwert auf, jedoch nur Gauvain versteht diese Andeutung. Er bricht sofort auf und nach Bestehen zahlreicher Mutproben gelingt es ihm, die Mutter des Königs Artus ausfindig zu machen.
Erste Perceval->Continuation< (Pseudo-Wauchier I):
Gauvain setzt seine Suche fort, aber er scheitert dabei.
Zweite Perceval->Continuation< (Pseudo-Wauchier II):
Perceval dringt nach Überquerung eines Flusses in ein Schloß ein, wo er zu einer Schachpartie aufgefordert wird, in der er von einem unsichtbaren Gegener (oder einer unsichtbaren Gegnerin) geschlagen wird. Aus Liebe zu einer Demoiselle (einer Fee) macht er sich auf die Jagd nach dem Weißen Hirsch. Nach verschiedenen Aventiuren findet er Blanchefleur wieder, verläßt sie aber bald, um auf die Burg seiner Mutter zurückzukehren. Dort enthüllt er seiner Schwester seinen Namen, den er vor der Prüfung in der Gralburg noch nicht kannte. Anschließend gelangt er in das >Schloß der Jungfrauen< (das natürlich das >Feenland< ist, jene in den irischen Texten so häufig beschriebene rätselhafte Insel, auf der nur Frauen leben). Dort wird er wie ein Held empfangen. Eine Jungfrau führt ihn in einem finstern Wald zu einem seltsamen gleißenden Licht, über dessen Natur er jedoch keine weiteren Einzelheiten in Erfahrung bringen kann. Die Jungfrau gibt ihm ihr Maultier (also handelt es sich wieder um das >Häßliche Maultierfräulein<), damit er die >Gläserne Brücke< überqueren kann, die ihn in eine Autre Monde führt (deren Gestalt an den in der Meerfahrt des Maeldiun ausgestalteten keltischen Mythos erinnert). Er begegnet der Dame des Schachschlosses wieder und schenkt ihr den Kopf des Weißen Hirschen. Nach weiteren Minne-Aventiuren mit dieser Dame führt sie ihn zu einem Nachen, mit dessen Hilfe er das jenseitige Ufer des Flusses erreichen kann. Dort trifft er auf ein junges Mädchen, das ihm weitere Einzelheiten über den Gral und die Lanze erläutert, und so kann er ein zweites Mal in die Gralburg zurückkehren.
Dritte Perceval->Continuation< (Manessier):
Perceval erhält verschiedene Aufschlüsse über die beiden Jungfrauen, die den Heiligen Graal und den Silberteller hüten. Dabei geht es um eine Königin, die von ihrem eigenen Sohn umgebracht worden ist. Perceval muß durch eine heldenhafte Mutprobe in der Kapelle, in der das Opfer aufbewahrt ist, den Zauberbann, der es gefangen hält, lösen.[78] Anschließend versucht der Teufel, ihn zu ertränken, ihm gelingt es aber, dieser Gefahr zu entkommen: der Teufel hat zu diesem Zweck die Gestalt eines bezaubernd schönen Mädchens angenommen (das ist die christianisierte Form der Fee). Aber Perceval wird von einer Jungfrau geführt, die ihm den Weg zu Trebuchet zeigt, dem Einzigen, der sein zerbrochenes Schwert wieder zusammenschweißen kann. Perceval sieht Blanchefleur wieder und begibt sich ein drittes Mal auf die Gralburg. Diesmal besteht er die Gralprobe. Nachdem er wieder an den Artushof zurückgekehrt ist, eröffnet ihm eine Botin (das Maultierfräulein, bzw. die Gralbotin Kundrie), daß der Fischer-König, sein Onkel mütterlicherseits, soeben gestorben und daß er selbst zum Gralkönig erwählt sei.
Vierte Perceval->Continuation< (Gerbert de Monttreuil):
Perceval befindet sich beim Fischer-König. Dieser erklärt dem Helden, daß er noch nicht reif sei, die Geheimnisse des Grals zu erfahren. Perceval kehrt wieder zum Wohnsitz seiner Mutter zurück. Sein Weg führt ihn an einem allseits umschlossenen Garten vorüber, aus dem eine himmlische Musik erklingt (das ist das Bild des Paradieses, somit die Rückkehr in den Mutterschoß). Es gelingt ihm nicht, den Garten zu betreten, und als er versucht, gewaltsam das Tor zu öffnen, zerbricht sogar sein Schwert. Danach gelangt er zu einer Burg. Dort wird er von der schönen Escolasse empfangen, die der Dichter uns als ganz besonders aufreizend darstellt; so habe sie z.B. »einladend-weite Lenden, um den Spielen im Bette noch trefflicher zu dienen.« Sie bietet Perceval ihre Liebesdienste an. Perceval lehnt ab. Dennoch zeigt sie ihm anschließend den Weg zur Höhle des Schmiedes Trebuchet; Perceval tritt ein, nachdem er vorher zwei >Schlangen< getötet hat, die den Eingang bewachten.[79] Schließlich findet er Blanchefleur wieder und heiratet sie.
La Queste du Saint-Graal (Prosa-Lancelot):
Perceval gelangt zu einem verödeten Schloß, und spielt dort mit einem unsichtbaren Gegner eine Schachpartie. Anschließend wirft er das Schachspiel zum Fenster hinaus, woraufhin er von einer Jungfrau heftigste Vorwürfe zu hören bekommt. Da übermannt ihn die Lust auf dieses Mädchen, er bittet es, ihm seine Liebe zu gewähren, aber die junge Frau schickt ihn statt dessen auf die Jagd auf den Weißen Hirschen, zu welchem Zweck sie ihm ihren kleinen Hund mitgibt. Während dieser Jagd raubt ihm eine alte Frau (offensichtlich das junge Mädchen in einer anderen Gestalt) das Hündchen und zwingt ihn zum Kampf gegen einen Schwarzen Mann. Am Ende hat Perceval alles verloren, was er zurückbringen sollte, nämlich das Hündchen und den Kopf des Weißen Hirschen, und findet auch nicht mehr den Weg zurück zum Schloß. Später muß er gegen einen Ritter kämpfen (es handelt sich um den Uryen Reghed der walisischen Epentradition), der von einem Schwärm von Vögeln verteidigt wird; wie sich bald herausstellt, sind die Vögel in Wirklichkeit verzauberte Frauen, die Dienerinnen der amie des Ritters sind; sie ist die Prinzessin unter diesen Feen und in Wirklichkeit die Modron/Morgane. Nach einem enttäuschend endenden Aufenthalt auf der Gralburg begegnet er der jungen Frau, die den Tod ihres ami beweint (es handelt sich wieder um Percevals Cousine); danach verliert er sein Pferd. Eine Frau von betörender Schönheit erscheint ihm und gibt ihm ein anderes. Kaum hat er sich in den Sattel geschwungen, hätte nicht viel gefehlt, und Perceval wäre mit dem Pferd ins Meer gestürzt. Da wird ihm klar, daß die bezaubernde Schönheit in Wirklichkeit der Teufel war. Am folgenden Tag naht ein Schiff. Eine wunderschöne junge Frau fordert den Helden auf, zu ihr auf das Schiff zu kommen und mit ihr zu ziehen. Berauscht und widerstandslos geworden durch einen guten Tropfen Wein gibt Perceval der Versuchung nach. Er schlägt aber noch rechtzeitig ein Kreuzzeichen, woraufhin das ganze Trugbild in schwarzen Qualm verschwindet, aus dem er noch die junge Frau rufen hört: »Perceval, du bist ein Verräter!« Daraufhin bringt sich Perceval — möglicherweise als Kasteiung — mit seinem Schwert eine klaffende Wunde am linken Oberschenkel bei.[80]
Parzival (Wolfram von Eschenbach):
Nach seinem Versagen bei der Frageprobe auf der Gralburg des Fischer-Königs begegnet Parzival seiner Cousine Sigune, die ihn über den Sinn der Gralprozession aufklärt. Anschließend führt er die Versöhnung zwischen der Schönen Dame de la Lande und ihrem ami, dem Ritter Orilus herbei. Parzival überkommt die Erinnerung an Condwiramurs (der deutschen Entsprechung von Blancheflor), die er heftig liebt und wiedersehen will. Nach seiner Rückkehr an den Artushof muß er die Schelte von Kundrie la Surziere über sich ergehen lassen, die in gräßlichster Monstergestalt erscheint. Während Gawan zu waghalsigen weltlichen Ritteraventiuren aufbricht, macht sich Parzival erneut auf die Suche nach der Gralburg. Dabei begegnet er ein zweites Mal der Sigune, die nun Klausnerin geworden ist. Nach verschiedenen Aventiuren stößt Parzival auf seinen Halbbruder Feirefiz. Kundrie erscheint nun vollkommen verwandelt in Gestalt einer wunderschönen jungen Frau und führt Parzival und Feirefiz zur Gralburg. Auf dem Weg dahin trifft Parzival wieder mit Condwiramurs zusammen. Auf der Gralburg angekommen wird er Gralkönig, während Feirefiz die Gralträgerin Repanse de Schoye heiratet.
Diese verschiedenen Ausformungen der Gralsuche rücken die Rolle der Frau im Zusammenhang mit der lang dauernden Suche nach dem sakralen Objekt deutlich in den Vordergrund. Man könnte das damit erklären, daß die Dichter dieser Werke der zeitgenössischen Mode gehorchten, die dem weiblichen Geschlecht damals wieder eine Bedeutung gab, die in den vergangenen Jahrhunderten unbekannt war. In diesen Texten gibt es jedoch zu viele unverständlich erscheinende Elemente, die aus der entrücktesten Vergangenheit mythischer Vorzeit zu stammen scheinen, als daß man sich mit dieser Deutung zufrieden geben könnte. In allen diesen Texten ist die Frau einzig und vielgestaltig zugleich, stabil fixiert und wandelbar. Femer spielt in den Interessen der Helden die Sexualität eine zentrale Rolle, obwohl ihre Aventiuren sozusagen zensiert sind, und zwar erheblich zensiert, so daß man höchst erstaunt ist, in dieser mystischen Suche nach einem Gefäß mit dem Blut Christi eine so unverblümte und präzise dargestellte Ebene der Erotik vorzufinden. Natürlich wird aus diesem Bereich alles transponiert und christlich interpretiert, jedoch geschieht dies gelegentlich auf so ungeschickte Art, daß in diesem Amalgam aus heterogenen Aventiuren der ursprüngliche Charakter wieder zum Vorschein kommt. Im walisischen Peredur ist die entscheidende Rolle der Frau vielleicht am schärfsten akzentuiert, weil dieser Text eine volkstümlichere, mündliche Überlieferung darstellt und daher bodenständiger ist als die entsprechenden höfischen Dichtungen aus Frankreich und Deutschland.[81]
Peredur (Wales):
Nachdem er seine Mutter verlassen hat, dringt Peredur in das Zelt eines edlen Fräuleins ein. Die junge Frau schenkt ihm einen Ring.[82] Anschließend erscheint Peredur am Artushof, als dort gerade ein Ritter den Kelch geraubt hat, der der Gwenhwyfar[83] gehörte. Peredur tötet den Ritter und bringt den Kelch zurück. Anschließend gelangt er an den Hof seines ersten Onkels mütterlicherseits. Dieser weist ihm den Weg nach dem Zauberschloß, wo er von seinem zweiten Onkel empfangen wird.[84] Dort wird er Zeuge der rätselhaften Prozession, während der zwei Jungrauen den großen Teller mit dem blutigen Haupt des Geköpften vorführen. Nach seinem Abschied von dem Schloß begegnet er einer brünetten Frau, die über den Tod ihres Gatten trauert. Diese eröffnet ihm, daß er durch seinen Weggang den Tod seiner Mutter verursacht hat. Nach langem Umherirren gelangt er zu einer unbekannten Burg, wo ihn ein wunderschönes, ebenfalls brünettes junges Mädchen empfängt. Nachts sucht sie ihn in seinem Schlafgemach auf und fleht ihn um seinen Schutz an.[85] Peredur willigt ein, befreit sie von ihren Feinden und bleibt anschließend noch drei Wochen lang bei ihr. Als er dann von ihr Abschied nimmt, verspricht er, ihr Hilfe und Beistand zu leisten, wann immer sie in Gefahr sei. Anschließend gelingt es ihm, die junge Frau, die ihm den Ring geschenkt hatte, wieder mit ihrem Geliebten auszusöhnen. Eines Tages findet er sich im Schloß einer wunderschönen, majestätischen Gräfin wieder, die ihm jedoch dringend abrät, in ihrem Hause die Nacht zu verbringen, da die Hexen von Kaerloyw nächtens das Schloß heimsuchen. Er bleibt dennoch dort, gerät an eine der Hexen, besiegt sie und schenkt ihr nur unter der Bedingung das Leben, daß sie und Ihresgleichen fortan nicht mehr die Güter der Gräfin behelligen und ihn persönlich in ihre magischen Kampfkünste einweihen.[86] Mit Erlaubnis der Gräfin verbringt er daraufhin drei Wochen (— die Dreizahl hat hier eindeutig symbolischen Charakter —) bei den Hexen von Kaerloyw. Als er danach einen Raben sieht, der auf weißem Schnee das Blut einer Ente trinkt, verfällt Peredur in eine ekstatische Trance: dieser Anblick erinnert ihn nämlich an das Gesicht derer, die er mehr als alles auf der Welt liebt.[87] Das hindert ihn jedoch nicht daran, sich bald nach seiner Rückkehr an den Artushof unsterblich in Ygharat Goldhand zu verlieben. Diese zeigt ihm aber die kalte Schulter, woraufhin Peredur schwört, in Zukunft solange kein einziges Wort mit einem Christen zu wechseln, bis sie ihm gesteht, ihn mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt zu lieben. Dann zieht er wieder auf Aventiure aus. Dabei nächtigt er einmal in einem mehr oder weniger magischen Schloß und läßt sich durch die Tochter seines Gastgebers die Nacht versüßen. Nach einigen Aventiuren kehrt er anschließend wieder an den Artushof zurück. Ygharat erkennt ihn nicht wieder und macht ihm sofort ein Liebesgeständnis.[88] Auf einer Jagd verirrt er sich einmal und gelangt zu einer Burg, in der er die Bediensteten bei einer Schachpartie findet. Eine der drei Jungfrauen, in deren Gesellschaft er Platz genommen hat, verrät ihm, daß ihm von der Seite ihres Vaters, eines Schwarzen Mannes, höchste Gefahr drohe. Peredur kann jedoch den Schwarzen Mann besiegen. Obwohl die drei Jungfrauen ihm anbieten, bei ihnen zu bleiben und sich diejenige von ihnen auszusuchen, die ihm am meisten gefällt, nimmt Peredur Abschied und macht sich auf die Suche nach einem Lindwurm, dessen Schwanzspitze ein magischer Stein krönt. Unterwegs gelangt er an den Hof des Königs der Leiden und trifft dort nur Frauen an.[89] Eine dieser Frauen ruft gerade einen jungen Mann ins Leben zurück, indem sie ihn in einen Kessel taucht. Peredur bietet sich an, gegen den addanc zu kämpfen, bei dem es sich um ein Monster handelt., das junge Männer tötet. Als er aber die Höhle[90] des Ungeheuers betritt, entdeckt er »oben auf einem Hügel sitzend die schönste junge Frau, die ihm je unter die Augen gekommen ist«.[91] Diese (die später als die Kaiserin bezeichnet wird) fordert von ihm das Versprechen, sie stets mehr als jede andere Frau auf der Welt zu lieben. Unter dieser Bedingung gibt sie ihm einen Stein, mit dessen Hilfe er den addanc töten kann. Nach einem Aufenthalt bei der >Gräfin der Heldentaten< besiegt und tötet er den Lindwurm mit dem magischen Stein am Schwanz. Anschließend gelangt er an den Hof der Kaiserin, er erkennt sie jedoch nicht wieder und verliebt sich in sie. Die Kaiserin enthüllt ihm, daß sie mit der jungen Frau identisch ist, der er ewige Treue geschworen hat und die ihm den Stein geschenkt hatte, mit dessen Hilfe er den addanc töten konnte. Vierzehn Jahre lang bleibt Peredur mit der Kaiserin zusammen.[92] Danach begegnen wir Peredur wieder am Artushof. Da erscheint eine schwarzhaarige und abstoßend häßliche junge Frau auf einem Maultier[93] und beschimpft Peredur. Sie macht ihm den Vorwurf, daß er keine Fragen gestellt hat, als er Zeuge der Prozession des abgeschlagenen Kopfes wurde. Anschließend verkündet sie, daß es irgendwo ein Schloß gebe, in dem eine junge Frau gefangen ist und der Befreiung harrt. Gwalchmai reitet sofort diesem Abenteuer entgegen, während Peredur sich hartnäckig weiter auf die Suche nach dem Schloß macht, in dem er versagt hatte, und nicht den von der monströsen Reiterin gegebenen Hinweis aufgreift.[94] Während Gwalchmai/Gawan sofort die galante Quête de la femme beginnt und dabei fast direkt auf das gesuchte Zauberschloß stößt, irrt Peredur ziellos umher und erkundigt sich überall nach dem Verbleib der »Jungen schwarzen Frau«. Er gelangt an den Hof eines Königs, wo er mit dessen Tochter die Nacht verbringt.[95] Er besteht verschiedene Aventiuren und fragt nach dem Weg zu jenem Zauberschloß. Dabei trifft er auf ein erstes Schloß, spielt dort eine Schachpartie gegen einen unsichtbaren Partner und wirft anschließend das Schachspiel in einen See. In diesem Augenblick erscheint eine junge schwarze Frau und wirft ihm vor, das Schachspiel der Kaiserin verloren zu haben.[96] Die junge Schwarze Frau weist ihm den Weg nach dem Schloß der Kaiserin. Dort angekommen findet er nur wieder die junge Schwarze Frau vor, die ihm befiehlt, den Weißen Hirschen zu jagen, der die Besitzungen verwüstet. Er erlegt das Tier und schneidet ihm den Kopf ab. Anschließend läßt er sich nicht nur diesen, sondern auch den Hund stehlen, den ihm danach eine rätselhafte Reiterin gegeben hatte.[97] Diese hatte ihn angeklagt, ihr Liebstes (den Hirschen) getötet zu haben, aber sie zeigte ihm trotzdem, welche Richtung er nun einzuschlagen hatte.[98] Nach einem letzten Kampf gegen einen Schwarzen Mann, der plötzlich unter einem Menhir auftaucht, gelangt Peredur zu dem Zauberschloß, das Gwalchmai bereits vor ihm erreicht hatte. Dort erfährt er, daß der rätselhafte Kopf, den er gesehen hatte, der Kopf seines Cousins ist, den die Hexen von Kaerlyw getötet hatten, und daß es nun seine Pflicht sei, ihn zu rächen.[99] Da er selbst aber der Schüler dieser Hexen ist, kann er sie nun nicht töten und muß die Ritter des Königs Artus zum Kampf gegen sie bemühen und die Rache durch sie ausführen lassen.
Peredur bewegt sich in einem Wald, der von so vielen Frauen bevölkert ist, daß man kaum noch von Zufall reden kann. Wenn dem wirklich so ist, daß all diese Figuren nur verschiedene Gestalten ein und derselben Frau, nämlich der Kaiserin sind, dann bedeuteten die Begegnungen mit ihnen einzelne Etappen einer Initiation. »Des Mannes Weg zu Gott führt über die Frau« heißt es in einem Lied des Troubadours Uc de Saint-Circ, und tatsächlich weisen viele Anzeichen darauf hin, daß es sich bei der Quête des Peredur-Perceval um den mühevollen Weg zur Gottheit, und zwar zu einer deutlich weiblichen Gottheit handelt, die Macht und Souveränität verkörpert. Es wurde bereits daraufhingewiesen, daß das auslösende Ereignis des Geschehens der Raub des Kelchs der Guenievre/ Gwenhwyfar war. Mythologisch gesehen ist die Gralsuche der Versuch, der Souveränität wieder zu ihrem ursprünglichen Recht zu verhelfen, denn sie war in der Vergangenheit aus ihrer angestammten Rolle verdrängt, von den Männern (die hier durch den kleptomanen Ritter symbolisiert sind) gewaltsam usurpiert worden. Und seitdem die Souveränität in den Händen der neuen Machthaber liegt, siecht das Königreich dahin und verkümmert; der König, das Oberhaupt der Familie ist nicht mehr in der Lage, die Macht auszuüben oder die einzelnen Kräfte im Gleichgewicht zu halten: er ist psychisch und physisch macht- und kraftlos. Nur einem jungen, robusten Mann, der seine kämpferische und maskuline Potenz (was das Gleiche ist) unter Beweis gestellt hat, kann es gelingen, den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Und dieser junge Mann ist der Neffe des verwundeten Königs, er ist der designierte Nachfolger. Dieses wahrscheinlich uralte Thema liegt auch gut getarnt den Liebesbeziehungen zwischen Lancelot und Guenievre (ursprünglich zwischen Gauvain und Guenievre) sowie der Liebe zwischen Tristan und Yseult/Isolt, der Ehefrau seines Onkels mütterlicherseits zugrunde. Auch Peredur/Perceval/Parzival wird die Kaiserin heiraten. Denn wer soll diese rätselhafte Kaiserin sein, wenn nicht die Frau — oder die Tochter — des Fischer-Königs? Man darf nämlich nicht vergessen, daß in Wolframs Gral-Roman die Kundrie, die das andere Gesicht jener Kaiserin und die Souveränität mit der häßlichen Gestalt ist, die sich in eine Schönheit verwandelt, sobald sie den Erwählten nach Munsalwaesche führt, - daß diese Kundrie höchst zweideutige Beziehungen mit Amfortas, dem verletzter Fischer-König gehabt hatte.
Leider besitzen wir letztenendes aber dennoch nicht den Schlüssel, der uns das entscheidende Tor zur Gralburg restlos öffnet. Wir befinden uns in einer ähnlichen Lage wie Lancelot, der zur Gralzeremonie nicht zugelassen wird: durch die einen Spalt weit geöffnete Tür sieht er zwar ein grelles Licht, als er aber näher herantreten will, verwehrt ihm eine Stimme jeden weiteren Schritt in diese Richtung, denn der Gral ist das Licht, wie die Frau das Licht ist, nämlich das Licht der Sonne. Ebenso wie der Sonnencharakter des Grals eindeutig aus der Beschreibung von Chretien de Troyes hervorgeht, wird der Sonnencharakter der Frau in den meisten anderen Mythen nicht weniger deutlich hervorgehoben. Yseult ist goldblond wie die Sonne. Grainne führt einen Namen, der auf das Wort grein zurückgeht, das >Sonne< bedeutet. In der Gralprozession wird der Gral mit der Gralträgerin nahezu gleichgesetzt und verbreitet eine strahlende Aura, die die Sterne verblassen läßt. Hier haben wir das von den Dichtern der Pleiade und den >Precieux< später so hoch geschätzte Motiv der »Belle Matineuse«, zu deutsch etwa der >Schönen Morgendlichen< vorgegeben:
«Alors voyant cette nouvelle aurore,
le jour honteux d'un double teint colore
et l'Angevin et l'Indique Orient.«
(Du Bellay)
(>Als er diese neue Morgenröte sieht,/ färbt errötend der Tag mit zweifacher Tönung,/ den Angeviner (Mann aus Anjou) wie den indischen Orient.<)
»Quand la nymphe divine, à mon repos fatale,
apparut, et brilla de tant d'attraits divers,
il semblait qu'elle seule eclairait l'univers,
et remplissait de feux la rive Orientale.«
(Voiture)
(>Als, meiner Ruhe fatal, die göttliche Nymphe/ erschien und in so vielfältigen Reizen strahlte,/ schien es, sie allein erleuchte das All der Welt/ und fülle mit Feuer das östliche Ufer.<)
»Sacre flambeau du jour, n'en soyez pas jaloux:
vous parùtes alors aussi peu devant elle
que les feux de la nuit avaient fait devant vous.«
(Maleville)
(>Heilige Fackel des Tages, seid auf sie nicht eifersüchtig:/ ihr erschient ebenso gering vor ihr/ wie die Feuer der Nacht vor euch.<)
Dieses Bild der Frau als Sonne nimmt in manchen Texten, in denen der Gral — wie z.B. in der Queste del Saint-Graal und in späteren Werken - wirklich ein Kelch ist, sogar noch schärfere Konturen an. Obwohl der Kelch mit der Zeit immer eindeutiger als Abendmahlskelch christlich gedeutet wird, bleibt er weiterhin unbestritten ein Motiv höchst heidnischer, keltischer Herkunft. Das Motiv des Kelches tritt nämlich bereits früh in verschiedenen irischen Sagen über das Thema der Souveränität auf, darunter besonders in einem Epos über den König Conn der Hundert Schlachten.
Die prophetische Extase des Phantoms (Irland):
Conn, der Ardri (= höchster König) Irlands, ergeht sich einmal auf den Festungsanlagen von Tara, als er plötzlich auf einen Stein tritt und dieser zu schreien anfängt. Man fragt die Druiden um Rat, wie dieser Vorfall zu deuten sei. Die Antwort lautet, daß es sich um den Stein von Fäl handelt und daß die Zahl der Schreie, die er ausgestoßen hat, der Zahl der Könige aus Conns Geschlecht entspreche, die noch über Irland herrschen würden. Bald darauf verirrt sich Conn in einen geheimnisvollen, magischen Nebel. Da trifft er auf einen Ritter, der ihn einlädt, ihm in sein Haus zu folgen. Bald gelangen sie zu einer Ebene, in der ein goldener Baum steht, und anschließend zu einem Haus, in dem Conn ein Mädchen entdeckt, das »auf einem Sitz aus Kristall sitzt und eine goldene Krone trägt«. Ihr gegenüber steht ein Faß aus Silber und daneben ein goldener Kelch. Nun gibt sich der unbekannte Ritter als der Gott Lug zu erkennen und erklärt, er habe Conn zu sich kommen lassen, um ihm das Schicksal seiner Nachfahren zu enthüllen. »Und die sonderbare Frau war die Souveränität Irlands und sie bewirtete Conn mit Speis' und Trank«. Anschließend reicht sie ihm mehrere Male einen Kelch rotes Bier[100] und fragt ihn dabei jedesmal, wem der Kelch gegeben werden solle. Lug nennt als Antwort nacheinander alle Fürsten, die nach Conn in Irland regieren sollten. Anschließend sind Lug, das Mädchen und das geheimnisvolle Haus mit einem Mal verschwunden. Alles, was von dem Zauber übrig bleibt, ist das Faß und der Kelch.[101]
Das Mädchen, das den Kelch reicht, ist hier eindeutig das Sinnbild der Souveränität, und das Getränk, das sie Conn reicht, ist der Zaubertrank, der Kraft spendet. Dies erinnert an die germanische Sage von Kvasir: nachdem die Äsen und Vanen in eine Vase gespuckt haben, wird daraus ein Mann, Kvasir, geboren; anschließend wird er von zwei Zwergen getötet, sein Blut wird mit Honig zu einem Zaubertrank gemischt, der Inspiration und Weisheit verleiht. Nicht nur dieser Trank hat wie der, den Keridwen in ihrem Kessel braut, magische Kräfte, sondern auch der Behälter. Er ist das sakrale Objekt par excellence. In einem kuriosen irischen Text stößt Cormac Mac Airt ein Abenteuer zu, das in vieler Hinsicht mit dem oben beschriebenen seines Großvaters zu vergleichen ist. Auch er verirrt sich nämlich eines Tages in einem Nebel und gelangt auf diese Weise in das Land der Verheißung, wo er einen Zauberkelch geschenkt bekommt, der die Eigenschaft hat, in drei Stücke zu zerspringen, sobald man drei Lügen über ihm ausspricht. In dem gleichen Text ist auch von einem Brunnen der Erkenntnis die Rede, aus dem die Bewohner der Autre Monde trinken.[102] Eindeutig handelt es sich dabei um eine Art Jungbrunnen, der gelegentlich auch als >Brunnen der Gesundheit< in Erscheinung treten kann: z.B. in der Schlacht von Mag-Tured heißt es, daß die im Kampf verletzten Tuatha De Danann in diesem Brunnen, der heilend wirkt und sogar die Toten wieder auferweckt, neue Kraft schöpfen.[103]
Dieser Kelch hat wie jedes magische und damit sakrale Objekt aber auch einen schädlichen Aspekt. Man darf nicht vergessen, daß in dem Kessel der Keridwen nur drei Tropfen heilbringend sind und zu vollkommenem Wissen verhelfen, während der restliche Inhalt einen ganzen Fluß vergiftet.[104] So wird in der Erzählung von den Abenteuern von Art, Sohn des Conn, die ebenfalls eine Version der Gralsuche zu sein scheint, das Motiv des gefährlichen Kelches mit dem Motiv von Prüfungen verknüpft, die bestanden werden müssen, bevor die 293 erwählte Frau, das Ziel der Suche, gefunden werden kann. Und diese erwählte Frau, die ebenfalls die Souveränität verkörpert, benötigt Art zur Abwehr eines geis, der das Königreich Irland geschlagen hat. Die Analogie zu dem Gaste Pays ('waste land<), das von einem Fluch getroffen ist, läßt sich unschwer erkennen: ferner ist diese Fassung der Geschichte frei von christlichen Einflüssen, sodaß der eigentliche Gehalt dieser Episoden sich wesentlich besser erkennen läßt.
Die Abenteuer von Art, Sohn des Conn (Irland):
Seitdem der König Conn, der >Held der Hundert Schlachten<, sich Becuna Cneisgel, eine Frau der Tuatha De Danann, die infolge eines rätselhaften Vergehens aus dem Land der Verheißung ausgestoßen worden war, zur Konkubine genommen hat, ist Irland mit dem Fluch der Unfruchtbarkeit belegt.[105] Durch die Scheinopferung eines Kindes, das im letzten Moment durch eine Opferkuh ersetzt wird,[106] versucht man den Fluch zu lösen. Da aber der Königsich von seiner Konkubine nicht lösen kann, denn er ist durch einen geis an sie gebunden, fällt in Irland die Ernte stets um ein Drittel ärmer aus als gewöhnlich. Eines Tages spielt nun Becuna Cneisgel mit Art, dem Sohn des Conn, eine Partie Schach, gewinnt gegen ihn und zwingt ihn durch einen weiteren geis, eine rätselhafte Frau namens Celbchaen, die Tochter der Morgane, von einer entlegenen Insel zu holen und als Braut heimzuführen. Art bricht auf und hat viele phantastische Aventiuren zu bestehen, bis er schließlich zu dem Schloß gelangt, in welchem Delbchaen wohnt. Ihre Mutter empfängt ihn und läßt ihm zwei Kelche reichen. Er muß einen davon auswählen und dessen Inhalt bis zur Neige leeren. Die beiden Trinkpokale werden ihm von zwei Frauen gereicht, der eine enthält Gift, der andere Wein. Da Art von einer Feenkönigin ein Zeichen erhält, wählt er den richtigen Kelch aus. Nun braucht er nur noch der Mutter seiner Dulcinea den Kopf abzuschlagen, alle Schätze des Schlosses zusammenzuraffen, und schon kann er mit Delbchaen die Heimfahrt nach Irland antreten. Da gibt Becuna Cneisgel ihr Spiel auf und verläßt die Insel der Iren, die daraufhin sofort wieder zu ihrer alten Pracht und Blüte gelangt.[107]
Es fällt auf, daß der Schlüssel zur Lösung des Problems hier direkt die Frau ist. Die Prüfungen, die Art bestehen muß, werden ihm von einer Frau auferlegt, und ihr Inhalt ist die Suche nach einer Frau. Ferner erhält Art die dazu nötige Hilfe von einer geheimnisvollen Königin, die mit der >Kaiserin< des Peredur verglichen werden kann und die möglicherweise nur die gesuchte Delbchaen in anderer Gestalt ist. Außerdem ist eine Frau, und zwar eine >böse< Frau die Ursache dafür, daß Irland mit der Geißel der Sterilität geschlagen wird, und schließlich findet der Held seinen Sieg in einem Kelch, den ihm wieder eine Frau reicht. Aus diesem Kelch trinkt er den Wein, jenes symbolische Getränk, das ihm das erfolgreiche Bestehen der letzten Phase seiner Suche ermöglicht, denn erst der Wein gibt ihm den nötigen Mut und die nötige Kraft, um endgültig in den Besitz der Souveränität zu gelangen. Eine Reminiszenz dieses Themas ist auch noch in dem französischen Roman von Huon de Bordeaux[108] zu erkennen; darin gibt der Zwerg Oberon, der Huon zu Kraft verhelfen will, ihm seinen Humpen, der die Eigenschaft hat, sich sooft man will mit Wein zu füllen. Jedoch »niemand kann daraus trinken, es sei denn, er wäre rein und ohne Makel... Sobald ein Schlechter nach ihm greift, zerstört er des Humpens Kraft.«[108] Vielleicht ist hierin die Erklärung dafür zu sehen, daß der Gral seine Kraft (bei Wolfram heißt sie >Tugend<; Anm. d. Hrsg.) verliert, sobald er sich in den Händen von Unwürdigen befindet, ähnlich wie der >Kessel des Abgrundes<, von dem der Barde Taliesin singt, nicht die Speise eines Feiglings kochen kann. Der magische Trank ist also nur denen vorbehalten, die seiner würdig sind, d.h. die zuvor gewisse außergewöhnliche Schwierigkeiten gemeistert und die ihnen gestellten Prüfungen bestanden haben.
Darauf wird in der Elucidation zum Perceval in aller Deutlichkeit hingewiesen. Früher, so heißt es dort, war die Gralburg für jeden sichtbar und zugänglich. Die Reisenden wurden von Jungfrauen empfangen und erhielten von ihnen einen stärkenden Trank aus goldenen Kelchen. Eines Tages aber vergewaltigte der König Amangon eine der Jungfrauen und raubte ihr den Kelch. Seit dieser hirnlosen Tat ist das Königreich wüst und leer, die Bäume haben alle Blätter verloren, die Wiesen sind verdorrt, die Wasserläufe ausgetrocknet. Die Gralburg selbst ist mitsamt ihren Jungfrauen verschwunden, und niemand kennt mehr den Weg, der zu ihr führt. Nur ein Einziger kann die frühere Lage wiederherstellen, nämlich derjenige, dem es gelingt, den richtigen Weg zu finden und den Fischer-König unter all seinen vielfältigen Gestalten wiederzuerkennen, denn dieser König ist ein Zauberer, der hundertmal seine Gestalt verändern kann. Die Jungfrauen erinnern natürlich stark an all jene Feen der keltischen Sagen und Legenden, die den verirrten Reisenden Labsal spenden. Häufig sitzen sie auf den berühmten Hügeln, gelegentlich aber auch in einer unheimlichen Festung, deren Mauern nur unter größten Schwierigkeiten zu überwinden sind. Damit dürfte erwiesen sein, daß dieses Motiv auch noch in der Gralträgerin fortlebt, der Tochter des Fischer-Königs, die mit dem heiligen Getränk über die Allmacht der Souveränität verfügt und nur den privilegierten Auserwählten davon zu trinken gibt.
Von welcher Seite man den Gralmythos und seine dichterischen Ausformungen betrachten mag, immer gelangt man dabei zu der Feststellung, daß darin ständig folgende Grundthemen wiederkehren:
- Die Blutrache nach einem Ereignis, welches das Gleichgewicht der Welt aus dem Lot gebracht und zur Unfruchtbarkeit, zum >Siechtum< des Reiches und der Herrschaft geführt hat;
- Die psychische und physische Impotenz des Königs, die ihm die Fähigkeit zur Herrschaft raubt;
- Das rituelle Opfer eines Menschen oder eines Tieres, entweder als wirkliches Opfer oder in Form einer Substitution (Scheinopfer, simulacrum);
- Verschiedene Prüfungen, die den Gralsuchern auferlegt werden;
- Weibliche Gestalten, die der Feenwelt angehören und den Suchenden den Weg weisen;
- Eine Königin, Prinzessin oder >Kaiserin<, die einen Zaubertrank besitzt, welcher Macht und Souveränität spendet und nur demjenigen gegeben wird, der alle Prüfungen bestanden und alle Hindernisse überwunden hat.[109]
- Die Gralsuche (Quête du Graal) ist gleichzeitig die Suchenach der Frau (Quête de la Femme): derjenige, der den Weg zur Frau gefunden hat, findet auch zum Gral;
- Die Frau, die bisher verzweifelt, einsam und in jeder Hinsicht >steril< in ihrem Schloß gefangen dahinlebte, während ihr Land von einem Fluch getroffen war, bildet nach Ankunft des Erwählten und Erwarteten mit diesem das ideale und vollkommene Paar.
- Auf den macht- und kraftlos dahinsiechenden Fischer-König folgt der neue Gralkönig, ein junger Herrscher, der die Fähigkeit besitzt, dem Land in seiner Umgebung wie auch auf symbolische Art und Weise der Frau, die den Kelch, den Teller, die Prunkplatte oder den Stein trägt (— sie ist die Priesterin eines archaischen Kultes, dessen wahre Bedeutung wir nie mehr herausfinden können —), die einstige Fruchtbarkeit und Blüte zurückzugeben.[109]
Eines ist dabei jedoch sicher: wir stehen hier ein weiteres Mal vor der Reminiszenz des Kultes einer antiken Göttin, die durch männliche Götter ihres Thrones beraubt worden ist. So ist nämlich die Vergewaltigung einer der Jungfrauen (Feen oder göttlichen Wesen) der Gralburg durch den König Amangon zu interpretieren. Amangon hat mit seiner Tat das Schicksal vergewaltigt, d.h. die Macht der Frau seiner blinden und brutalen männlichen Gewalt unterworfen und ihr die durch den Kelch symbolisierte Souveränität geraubt. Im Grunde symbolisieren diese Vorgänge die Errichtung der ausschließlichen Autorität des Vaters. Und seit dieser Zeit ist die Gesellschaft auf der ständigen Suche nach dem Gleichgewicht, das sie erst dann wiederfinden kann, wenn der junge Sohn der Mutter den Vater entweder tötet oder entmannt (oder auf andere Art und Weise >schachmatt< setzt) und damit die einstige Souveränität der Mutter wieder herstellt. Auf diese Weise bedeutet die Gralsuche als Ideal, als Mythos und bereits lange vor dem Aufkommen des Christentums die Glorifizierung der Erwählten, der ewigen, göttlichen Frau mit den tausend Gesichtern, die ewig in den unterirdischen Reichen der Welt herrscht und darauf wartet, daß ihr jüngster Sohn (Mabon) sie findet, damit sie — mit seiner Hilfe — wieder an das Tageslicht kommen und freie Luft atmen kann, wieder ihren Titel der Großen Königin (Rhiannon, Matrona, Modron) annehmen und ein neues Gleichgewicht in der Gesellschaft ihrer zerstrittenen Söhne herstellen kann, die sich dann in der Liebe der Mutter ihnen gegenüber und in ihrer Liebe der Mutter gegenüber wieder aussöhnen werden.