6.1. Der Geis

Nach allem, was wir dank der irischen Epik und aus den verschiedenen Gesetzestexten über die Macht der Druiden wissen, ist der geis zunächst und vor allem ein Handlungsmittel, das dem Druiden zur Verfügung steht, um seiner persönlichen Autorität und seinen Anweisungen Bedeutung zu verleihen. In einer theologisch definierten Gesellschaft — und die keltische Gesellschaft ist eine solche — stammt die Macht gewisser privilegierter Menschen von den Göttern, und jeder Verstoß dieser Menschen gegen die Regeln wird von den Göttern sanktioniert. Natürlich wird man an den Gebrauch des Verbots und der Exkommunikation im christlichen Mittelalter erinnert, wenn dieser Vergleich auch nicht ganz stichhaltig ist. Auch wird man an das Beispiel der römischen Religion denken, einer formalen Stadtreligion, deren Ziel es außerhalb aller metaphysischen Gesichtspunkte war, den Menschen, den Bürger in den politischen Rahmen einzufügen: es war also eine Religion mit rein materiellen Zielen, die aber, um geachtet zu werden, einer übernatürlichen Rechtfertigung bedurfte. So wurde erzählt, daß der erste Gesetzgeber Roms, der König Numa Pompilius, seine Gesetze dank der Ratschläge der Göttin Egeria verfaßte, mit der er häufige Unterredungen hatte. Es versteht sich von selbst, daß das Königtum >aus Gottes Gnaden' auf ganz ähnlichen Vorstellungen und Absichten beruhte: die Macht eines Menschen über andere Menschen durchzusetzen, indem sie unter den sowohl beruhigenden als auch furchterregenden Schutz einer himmlischen Macht gestellt wird, an die man im übrigen glauben mag oder auch nicht.
Da die keltische Gesellschaft im Unterschied zur römischen Gesellschaft keine sicheren rechtlichen Grundlagen hatte, war das Akzeptieren der Macht seit Bestehen dieser Gesellschaft ein besonders großes Problem: zu viele verschiedene Elemente spielten eine Rolle, als daß die keltische Gesellschaft jemals eine monolithische Einheit hätte sein können, und diese über den Kontinent und die britischen Insel verstreuten Völker verband nur die Religion, das Druidentum. Alle Verträge und Vereinbarungen, die in Wirklichkeit immer von den einen oder anderen nicht hingenommen werden, wurden aus diesem Grund dem direkten göttlichen Schutz unterstellt, und es war Aufgabe der Druiden, ihre Einhaltung zu überwachen. Daher gab es eine Fülle von Schwüren, die die Verträge heiligen, und eine Fülle von göttlichen »Verfluchungen«, die gegen diejenigen ausgesprochen wurden, die ihre Gelöbnisse nicht achten, und damit gegen die Verträge verstoßen. Vor diesem Hintergrund wollen wir nun die theoretisch ungeheure Macht der Druiden und die Handlungsmittel, die ihnen übertragen waren, näher untersuchen.
Auf die Macht des Weissagens braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden, dies ist natürlich eine ausgezeichnete Art, die anderen gemäß dem, was man vorhersagt und somit entschieden hat, handeln zu lassen. Dies ist aber überall so praktiziert worden und ist somit nichts Besonderes: die Druiden haben sich dieser Macht bedient, wie alle anderen Priester jeglicher Religion. Auch die »magischen Kräfte« der Druiden, die es ihnen ermöglichten, die Natur zu beherrschen, sollen hier nicht berücksichtigt werden: noch jeder Schamane, jeder Zauberer vermag dies dank seiner Suggestivkraft oder seiner parapsychologischen Fähigkeiten ebenso. Es sind vor allem zwei Mittel, die die Druiden von ihren Kollegen anderer Religionen unterscheiden: der glam dicin und dergeis. Beide ähneln sich übrigens, und es ist schwierig, eine Trennungslinie zwischen ihnen zu ziehen.
Der glam dicin ist eine Art lächerlichmachende Beschwörung, die gegen jemand gerichtet ist und zwingende Kraft hat. In Wirklichkeit ist es eine Verfluchung. Diese kann einen wohlbegründeten Anlaß haben, wie etwa den Verstoß gegen göttliche oder menschliche Gesetze, Verrat, Vertragsbruch oder Totschlag, aber sie kann auch aus einfacher persönlicher Rachsucht oder Feindseligkeit ausgesprochen werden. Hierfür ist das Beispiel des Dichters Athirne ein Beweis, den seine Landsleute, die Ulates, nur deshalb dulden, weil sie nichts gegen ihn ausrichten können und weil sie seine ungerechten und haßerfüllten glam dicin fürchten. Denn nicht nur die Druiden können den glam dicin anwenden, sondern ebenso die Dichter (fili), die in der vorchristlichen Zeit bereits versuchten, sich die Rechte der Druiden anzueignen und ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Der glam dicin ist auf jeden Fall zu fürchten, denn er versetzt die betreffende Person in den Zustand der Schande, der Krankheit oder des Todes. Das der Lächerlichkeit zum Opfer gefallene Individuum wird von der Gesellschaft verstoßen, und selbst, wenn man es bedauert, kann man ihm nicht helfen.
Komplexer ist der geis. Er kann nicht auf jede x-beliebige Art und gegen jedes x-beliebige Objekt ausgesprochen werden. Nur ein sehr wesentlicher Grund rechtfertigt ihn, denn er berührt das Schicksal des Menschen (manchmal auch des Tieres) selbst. Er ist eine Art Verbot, das infolge gewisser Umstände gegen ein Individuum ausgesprochen wird, und welches dieses Individuum für immer zeichnet. Den geis zu überschreiten, hieße, sich großen Schwierigkeiten und sogar einem nicht nur schmerzhaften, sondern abscheulichen und schmachvollen Tod auszusetzen, denn auch hier bewirkt die moralische und soziale Bedeutung des Verbots, daß jeder zuwider Handelnde sich auf fatale Weise der Schande aussetzt und von der etablierten gesellschaftlichen Ordnung verstoßen wird. Wir haben zahlreiche Beispiele für geisa. Schon bei seiner Geburt ist der Mensch Opfer dieser geisa. So ist der König Conaire der Große einer ganzen Reihe von mehr oder minder komplizierten Verboten unterworfen, und sein Niedergang setzt in dem Augenblick ein, wo ein einziger übertretener geis als Kettenreaktion die Überschreitung aller anderen geisa nach sich zieht.[54]
Mit seinem >Haupt<-geis wird Cuchulainn in dem Augenblick getroffen, wo er den Namen »Chien de Culann« (Hund des Culann) erhält, was für ihn bedeutet, niemals Hundefleisch essen zu dürfen. Nun muß er - umzingelt und belauert von seinen Feinden — trotzdem Hundefleisch zu sich nehmen, denn seine Feinde umschließen ihn mit einem Netz von geisa: er kann nicht alle einhalten, und ein überschrittener geis zieht auf fatale Art und Weise die Überschreitung auch der anderen nach sich. Cuchulainn wird also durch das magische Spiel der Druiden und >Verspötter< unweigerlich in den Tod getrieben.
Aber der geis hat nicht nur den negativen Aspekt des Verbots. Er kann jemanden zwingen, etwas unter Strafandrohung zu vollbringen. Hier erreicht er seine wahre Macht und wird in den Händen desjenigen, der über ihn verfügt, ein gefürchtetes Mittel, gegen das es keine Abwehr gibt. Wenn Grainne Diarmaid unter den »geis von Mord und Zerstörung« stellt, will sie sagen: »Komm mit mir, wenn Du nicht kommst, bist du nicht nur ein toter Mann, sondern ein entehrter Mann.« Den Beweis hierfür findet man — als Diarmaid um Rat fragt — in der Antwort Oisins und der Fiana, die ja alle dazu verpflichtet sind, die bestehende Ordnung durchzusetzen, und die Finn, ihrem allmächtigen Oberhaupt, Gehorsam schulden: ihre Antwort lautet, daß Diarmaid nichts anderes tun kann, als mit Grainne fortzugehen, und das unter Mißachtung aller menschlichen und göttlichen Gesetze. Es scheint, daß die Macht des geis höher steht als die göttliche und menschliche Rechtsprechung. Der geis hebt alles auf, was zuvor geregelt war, und ersetzt eine alte Situation, die er zerstört, durch eine neue, und zwar durch den Willen desjenigen oder derjenigen, der/die über ihn verfügt.
Denn, wenn das Verfügen über den geis ursprünglich der priesterlichen Kaste der Druiden oder fili (oder auch noch den den Schamanen Asiens und Osteuropas ähnlichen Magiern) reserviert war, so scheint es, daß sich auch noch andere Personen seiner bemächtigen konnten. Die spätesten Texte erzählen nämlich von geisa, die von einfachen Privatpersonen ausgesprochen wurden. In der Geschichte Diarmaids und Grainnes ist es jedoch eine Frau, die die magische Beschwörung ausspricht, und es ist durchaus möglich, daß dies ein Relikt aus früheren Epochen ist, in der die Frauen als Priesterinnen, Gesetzgeberinnen oder sogar Zauberinnen die Möglichkeit hatten, ihren Willen durch rituelle, religiöse und magische Mittel durchzusetzen. Betrachtet man die Spuren des gynäkokratischen Systems, das man in der keltischen Gesellschaft noch erkennt, so hat diese Vermutung nichts Unwahrscheinliches.
Die historischen Berichte über die Gründung der Stadt Marseille erzählen übrigens von einem Brauch der Salyer (eines Volkes, das als »keltisch-ligurisch« eingestuft wird), der an unser Thema erinnert. Während eines Festes wählt die Tochter des Königs der Salyer unter den Freiern ihren Gatten selbst aus. Dieses Detail kann mit der indischen Zeremonie des svayamvara verglichen werden, in der das Mädchen ebenfalls seinen Gatten unter den versammelten Freiern auswählt. Auch die Odyssee hat die Erinnerung an diese gynäkokratischen Institutionen bewahrt: denn wie wäre sonst die Haltung Penelopes, die jeden Tag ihre Freier im Palast empfängt, zu erklären? Sicher, sie zögert, so lange sie kann, verschiebt regelmäßig ihre Wahl, nimmt das berühmte Weben als Vorwand, aber sie ist tatsächlich da, um zu wählen, und keiner der Freier wäre so wahnwitzig, sich ihrer mit Gewalt zu bemächtigen. Dies wäre nicht legal.
Der von Grainne gegenüber Diarmaid ausgesprochene geis ist also in einem sozialen Kontext zu sehen, der auf eine alte Kultur mit gynäkokratischen Tendenzen zurückgeht. Für einen solchen geis gibt es aber durchaus noch andere Beispiele: der berühmteste ist derjenige, den die Heldin Deirdre unter ähnlichen Umständen gegenüber Noise, dem Sohn Usnechs, ausspricht, ein geis, der der Ausgangspunkt einer der finstersten Geschichten der großen keltischen Sagenwelt ist.

Der Mord an Usnechs Söhnen (Irland):

Bei der Geburt Deirdres prophezeit der Druide Cathbad, daß dieses Mädchen viele Morde unter den Ulates verursachen werde. Nach dieser Vorwarnung[55] wollen die Ulates das Kind töten. König Conchobar widersetzt sich aber ihrem Plan: er stellt das Mädchen unter seinen Schutz, erklärt, daß er sich um seine Erziehung kümmern wolle und sie als seine zukünftige Ehefrau betrachte.[56] So wächst Deirdre zu einem schönen jungen Mädchen heran und Conchobar sorgt dafür, daß kein Mann sie sehen kann. Nun erblickt Deirdre eines Tages im Schnee einen Raben, der das Blut eines verletzten Tieres trinkt. Sie ruft: »Der einzige Mann, den ich jemals lieben werde, wird derjenige sein, der diese drei Farben trägt: die Haare wie der Rabe, die Wangen wie Blut und der Körper wie Schnee.«[57] Ein wenig später trifft Deirdre zufällig Noise, ein Sohn Usnechs, der genau dem Bild entspricht, das sich das Mädchen von seinem idealen Liebhaber gemacht hat.[58] Sie bietet sich Noise offen an. Dieser aber hat — wie Diarmaid — Prinzipien: er stößt sie zurück, weil er sein Auge nicht auf ein Mädchen werfen kann, das König Conchobar versprochen ist. Da stürzt sich Deidre auf ihn »und packt ihn bei den Ohren und sagt: >Dies sind zwei Ohren der Schande und des Spotts, wenn du mich nicht zu dir nimmst!<[59] Noise macht einen letzten Versuch, den geis abzuwehren: >Entferne dich von mir, oh Frau.< - >Ich werde dir gehören<, antwortet sie. Da schrie er auf.[60] Als die Ulates die Stimme hörten, stürzten sie sich aufeinander.« Die Brüder Noises kommen, um zu hören, was passiert ist. Noise erzählt es ihnen. Darauf sagen sie: »Das wird ein böses Ende nehmen. Wie dem auch sei, du wirst nicht der Schande ausgeliefert sein, solange wir leben. Wir werden mit ihr in ein anderes Land ziehen.« Tatsächlich wandern Noise und seine Brüder mit Deirdre aus. Nach zahlreichen Abenteuern in Schottland lädt Conchobar sie ein, unter der Bürgschaft und dem Schutz des Helden Fergus mac Roig zurückzukehren. Dies war jedoch eine Falle, und Conchobar läßt die Söhne Usnechs massakrieren, wodurch er die Wut und das Exil Fergus' hervorruft. Deirdre wird die Konkubine Conchobars, doch sie beklagt ununterbrochen das unglückliche Schicksal der Söhne Usnechs. Um sich noch mehr zu rächen, gibt Conchobar sie anschließend dem Mörder Noises als Konkubine. Dies ist mehr, als Deirdre ertragen kann. Sie stürzt sich von einem Wagen und zerschmettert ihren Kopf an einem Felsen.[61]

Man ist einigermaßen erstaunt, mit welcher Gewalt die verliebte Frau die — so könnte man sagen — »sakramentalen Worte« ausspricht, die sie endgültig an den Mann ihrer Liebe binden. Gegen diesen geis gibt es keinen Einspruch: der Mann, der ihn empfängt, wird wider seinen Willen in ein Abenteuer hineingezogen, das für ihn tödlich endet, was er jedoch im Grunde nicht bedauert, denn er entdeckt dadurch die Liebe, die er bis dahin nicht kannte. Aus diesem unerbittlichen geis ist der Liebestrank geworden, der »gewürzte Wein«, das »Liebesgebräu«, das Tristan und Yseult auf dem Schiff zu sich nehmen, das sie nach Tintagel bringt und darüberhinaus ihrem Schicksal zuführt. Im Frankreich des XII. Jahrhunderts wäre der geis als solcher nie verstanden worden. Zuerst mußte er materialisiert werden: was lag da näher, als auf einen Zaubertrank oder ein Aphrodisiakum zurückzugreifen, das man läutert, um daraus die Grundlage des ganzen Dramas zu machen und die Verantwortungslosigkeit der Liebenden zu zeigen. Der Liebestrank hatte gleichzeitig den Vorteil, die Aufmerksamkeit von der Liebe Yseults gegenüber Tristan abzulenken: der christlichen Moral paßte es nämlich nicht, daß die zukünftige Gattin König Marks sich ihres Zustandes bewußt ist, und daß sie selbst die fatale Geste ausführt. Man hat diese Rolle also ihrer Dienerin übertragen, der rätselhaften Brangwain, einer wahrhaften Liebesgöttin. In Wirklichkeit sind die Göttinnen und Götter jedoch nichts anderes als die formale und äußerliche Abbildung dessen, was sich im Inneren des Menschen abspielt.
Durch diese Umformung wird das Thema natürlich fade und verliert an Bedeutung. In seinem Film L'Eternel Retour hat Jean Cocteau, dem es gelungen ist, die Sage umzusetzen und doch das Wesentliche des Mythos beizubehalten, den Liebestrank als einfaches Objekt dargestellt, an dessen Wert niemand recht glaubt, am wenigsten noch der Zuschauer: dieses Objekt, ein Flakon mit dem Etikett »Gift«, ist aber der Katalysator der geheimen Energien Tristans und Yseults, und er ist zudem der materialisierte Ausdruck dessen, was Yseult-Nathalie weiß, nämlich, daß sie Tristan-Patrice liebt, und was sie sich — wie die Princesse de Cleves gegenüber dem Duc de Nemours — aus Angst zu unterliegen, nicht eingestehen will.
Der Liebestrank entschuldigt viel, insbesondere den Ehebruch und sogar den Inzest. Schließlich ist Yseult die Tante Tristans. Das christliche Publikum des XII. Jahrhunderts dazu zu bringen, eine Liebe zwischen Tante und Neffen zu akzeptieren (und nicht nur zu akzeptieren, sondern auch noch sympathisch zu finden!), das soll erst einmal jemand nachmachen! Seien wir aber nicht allzu schokkiert: aus mythischer Sicht ist dieser Inzest sogar normal. Mark ist der Ersatz des Vaters, und Yseult der Ersatz für die Mutter Tristans, der im übrigen seine richtigen Eltern niemals kennengelernt hat. In der Beziehung zwischen Tristan und Yseult herrscht die gleiche Zweideutigkeit wie in der Beziehung Jean-Jacques Rousseaus zu Madame de Warens, die er — gemäß den lokalen Sitten, aber welch ein Zufall! — »Maman« nannte.
Der Beigeschmack des Inzests zieht sich durch alle keltischen Mythen. Erinnern wir uns an Guenievre, die in durchaus archaischer Tradition nach zahlreichen Vorgängern ihren Neffen Gauvain als Liebhaber hat, der schamhaft von Lancelot du Lac versteckt wird. Aber der Autor von La Mort le Roi Artu hatte große Schwierigkeiten, als es darum ging, den Zusammenbruch der Artusgesellschaft daran zu zeigen, daß Guenievre den Reizen ihres bösen Neffen Mordret erlag, der sich zudem auch noch als der inzestuöse Sohn Arthurs erweist (eine schöne Familie!): er hat sich dadurch aus der Affäre gezogen, daß er die Königin als Gefangene Mordrets zeigt, eine Situation, die sowohl dem ursprünglichen Mythos, als auch dem mythologischen und psychologischen Charakter Guenievres widerspricht.
Hier sind die Griechen weiter gegangen, ohne jedoch den entscheidenden Schritt zu tun. Hippolyt reagiert nicht auf die Annäherungen seiner Stiefmutter Phaedra, obgleich es Phaedra nicht an Mitteln mangelt: sie versucht alles, von der Überredung, der Verfluchung bis zur Drohung. Doch Hippolyt ist unerschütterlich in seiner Abweisung. In Wirklichkeit versteht er auch nichts von dem, was Phaedra ihm anbietet, wie wir später sehen werden. All diese Geschichten über Neffen und Tanten, Stiefsöhne und Stiefmütter, Brüder und Schwestern (Bilder, die das Paar Mutter-Sohn ersetzen), beziehen sich auf eine grundlegende Erscheinung der Realität, nämlich die Überschreitung des Inzesttabus bei den Indoeuropäern, welches der christlichen ja sogar der jüdischen Gemeinschaft dagegen vollkommen fremd ist.
Tatsächlich sind die Semiten endogam (bei den Juden des Alten Testaments ist es üblich, daß eine Witwe ihren Schwiegersohn heiratet, ein Onkel seine Nichte — ohne von den Töchtern Loths zu sprechen!), während die Indoeuropäer exogam sind: sie dürfen mit Mitgliedern derselben Familie oder desselben Clans keine sexuellen Beziehungen haben. Dieses Verbot gilt bei den Kelten wie bei den Griechen und Römern generell und für die ganze Bevölkerung. Die Helden jedoch, die Persönlichkeiten außerhalb der Gemeinschaft, die sich in dem Maße, wie sie sich von den anderen unterscheiden, mit den Göttern identifizieren, können dieses Verbot übertreten: denn sie sind die Hauptfiguren des jährlich stattfindenden Clanfestes, bei dem jegliche Exzesse nicht nur erlaubt, sondern erwünscht sind. Die Sagenhelden spiegeln die Erinnerung an diese Akteure der archaischen rituellen Feste wider, in denen die Tabus bewußt übertreten wurden. Später sind sie aus dem Zusammenhang des Festes herausgelöst worden und nur ihr außergewöhnliches Wesen ist ihnen erhalten geblieben. Ein Grundmerkmal dieses Wesens ist aber die (Tabu-)Überschreitung.[62]
Deshalb wurde es notwendig, den geis durch den Liebestrank zu ersetzen. Das wirkte beruhigend und ließ den »Rest« (der Sage) annehmbar erscheinen. Weder Tristan noch Yseult sind also schuldig. Betrachtet man im Vergleich dazu die klar denkenden Figuren Grainne und Deirdre, so kann man nicht umhin, festzustellen, daß der ursprüngliche Geist des Mythos verfälscht wurde. Die ursprüngliche Yseult war sich nämlich dessen, was sie tat, vollkommen bewußt und sie war es auch, die Tristan dazu brachte, sie zu lieben.
Ist sie daher nicht eine Fee oder Zauberin? Ist sie daher nicht auch ein göttliches Wesen? Sie ist blond wie die Sonnengöttin. Sie ist Magierin und verwandelt sich in einen Vogel, um bei Tristan sein zu können. Zweimal heilt sie Tristans unheilbare Wunden. Sie ist die Herrin des Gartens, das heißt, des Paradieses. Sie ist Herrscherin und verfügt über die Macht der Muttergöttin: sie kann insbesondere dem ihr dienenden Ritter anordnen, was ihr gefällt, und dieser muß gehorchen. Hier sind natürlich die Verbindungen zu der Definition der »Dame« der höfischen Liebe zu sehen, die über das Verhalten ihres Liebhabers die absolute Herrschaft hat. Im Lancelot-Roman von Chretien kann Guenievre beispielsweise Lancelot anordnen, sich bei einem Turnier auf sehr lächerliche Weise zu verhalten, bevor sie ihn dazu ermächtigt, zu siegen. Lancelot zuckt nicht mit der Wimper: die Schande, die er empfindet, als er den Spott der anderen Ritter ertragen muß, wiegt nicht die Schande auf, die er empfinden würde, wenn er Guenievres Befehlen nicht oder nur zögernd gehorchte. Dieser absolute Wille Guenievres ist dem irischen geis gleichbedeutend.
Die Erzählung vom Tod des Cuchulainn bietet ein weiteres Beispiel dieser Art. Der Ulates-Held liegt mit den Söhnen und Töchtern des Calatin in Fehde, die geschworen haben, ihn zu töten und ihn mit einem Netz von geisa umschließen, während die Ulates bereits Opfer ihrer magischen Krankheit sind. König Conchobar vertraut den Frauen — die einzigen, die nicht von dieser Krankheit betroffen sind — Cuchulainn an. Sie sollen ihn beschützen, und daran hindern, sich auf die Kämpfenden zu stürzen, die von den magischen Beschwörungen seiner Feinde aufgestachelt sind. Vor allem Niam, die Tochter Celtchars und »Favoritin« Cuchulainns ist mit dieser Aufgabe betreut. Sie nimmt den Helden also mit in ihre Burg und gibt ihm zu trinken. Aber eine der Töchter Calatins, eine Zauberin, die ihr Aussehen verwandeln kann und Morrigane sehr stark ähnelt, nimmt die Gestalt Niams an und spricht so zu Cuchulainn:

»Oh, meine Seele, oh Krieger, oh herrlicher Hund (...) die Truppen sind bis zu Emain vorgedrungen und die Adligen der Provinz haben mir den Vorwurf gemacht, dich hier zurückzuhalten und dir nicht zu gestatten, die Provinz zu rächen und die Truppen zurückzudrängen. Außerdem weiß ich, daß Conall mich töten wird, wenn ich dir nicht die Erlaubnis gebe, die Provinz zu beschützen und dich den Männern Irlands zu nähern«.[63]

Den Helden Cuchulainn, der fähig war, vier verbündeten Armeen alleine zu widerstehen, nun ganz von dem Willen einer Frau abhängig zu sehen, muß nachdenklich stimmen. Aber er steht wie Lancelot du Lac einer Macht gegenüber, die stärker ist als seine eigene Kraft, einer insofern unstrittigen Macht, als sie von der geliebten Frau ausgeht, der »Herrin« (Maitresse) und »Favoritin«. Dies ist eine Form des geis; es gibt aber noch zahlreiche andere.
In dem Book of Conquests[64] findet sich die eigenartige Geschichte von Elgnat, der Frau des Partholon, eines der ersten Eroberers Irlands. Elgnat lädt einen ihrer Diener ein, mit ihr ins Bett zu gehen. Aus Angst vor Partholon weigert sich der Diener jedoch. Nun »beschämt« ihn die Frau, worauf der Diener gehorcht.[65] Als Partholon davon erfährt, reagiert er übrigens durchaus philosophisch. »Der Paarungslust zu widerstehen ist nicht einfach!«
In der Erzählung Die Erziehung des Cuchulainn[66] weilt der Held bei der »Zauberin« Scatach, um die Kampfspiele zu erlernen. Die Tochter Scatachs, genannt Uatach ( = >Sehr Schrecklich<) verliebt sich in ihn und schleicht in sein Bett. Cuchulainn stößt sie zurück und bricht ihr dabei sogar den Finger. Das Mädchen bedroht den Helden nun mit einem geis der Zerstörung, wenn er nicht gewillt sei, sie bei sich zu behalten. Cuchulainn muß nachgeben, entreißt aber Uatach das Versprechen, ihn dafür zu belohnen. Derselbe Cuchulainn wird in Das Leiden des Cuchulainn von einer rätselhaften Krankeit erfaßt, und zwar an dem Tag, als er bei der Jagd auf zwei Vögel — in Wirklichkeit zwei Feen[67] — versagt hat. Er kann nur unter der Bedingung wieder geheilt werden, daß er dem Ruf einer der beiden Feen, der in ihn verliebten Fand, gehorcht und in die Welt der Feen folgt. Auch dies ist ein Aspekt des von einer Frau dem von ihr geliebten Mann gegenüber ausgesprochenen geis. Man kann den geis einerseits wiedererkennen in dem Gesang der Sirenen, die den von ihnen auserwählten Schiffer mit sich auf den Meeresgrund hinabziehen, und andererseits noch deutlicher in der keltischen Mythologie, nämlich in der irischen Geschichte von Connle dem Roten: eine Fee hat ihm einen Apfel gegeben und seitdem kann er dem Ruf der Autre Monde nicht mehr widerstehen. Die Frau kann also, ohne wirklich einen geis auszusprechen, auch etwas ihm Entsprechendes tun. Die junge Derbforgaille, die sich aufgrund seiner Heldentaten in Cuchulainn verliebt hat, ohne ihn jemals gesehen zu haben, erscheint ihm als Vogel. Cuchulainn verletzt sie, und als sie daraufhin ihre menschliche Gestalt annimmt, saugt er ihr das Blut aus der Wunde, um die Kugel zu entfernen. Infolge der Blutsbande, die sie nun vereinen, kann Derbforgaille nicht mehr Cuchulainn angehören. Er gibt sie deshalb einem seiner Freunde, den er persönlich ausgewählt hat.[68] Der geis hat aber nichtsdestotrotz ein unauflösliches Band zwischen beiden geschaffen, und als Derbforgaille getötet wurde, setzte Cuchulainn alles daran, sie zu rächen.
Der geis ist in der irischen Tradition klar und deutlich zu erkennen, aber man findet ihn darüber hinaus auch in der brit(ton)ischen Tradition und in abgeschwächter Form in der Artus-Tradition wieder. Bei dem Kampf gegen den addanc, das grauenhafte Ungeheuer auf dem Grund einer Höhle (hier fällt eine Analogie zur Tristan-Sage auf, wo der Held den Drachen tötet und dadurch die Hand Yseults erhält), trifft Peredur eine Frau, die berühmte und rätselhafte »Kaiserin«. Diese warnt ihn, daß der addanc unbesiegbar sei, da er alle, die seine Höhle betreten, vor ihnen sieht. »Wenn du mir jedoch dein Wort gibst, mich mehr als jede andere Frau der Welt zu lieben«, fügt sie hinzu, »werde ich dir einen Stein als Geschenk geben, der es dir ermöglicht, ihn bei Betreten der Höhle zu sehen, ohne von ihm gesehen zu werden.«[69] Der verpflichtende Charakter des Geschenkes, das die »Kaiserin« Peredur im Austausch gegen seine Liebe[70] vermacht, rückt dieses natürlich in die Nähe des geis: die »Kaiserin« nützt die Situation aus, sie weiß sehr wohl, daß Peredur ihr Angebot nicht ablehnen kann, und so bindet sie ihn durch den Stein symbolisch an sich, der in demselben Sinne eine Materialisation der magischen Kraft ihrer Worte ist, wie der Liebestrank, den Tristan und Yseult trinken. Die »Kaiserin« taucht übrigens im Laufe der Erzählung in mehreren verschiedenen Gestalten auf und jedes Mal zwingt sie Peredur zu irgendeiner Handlung. Als »Häßliches Maultierfräulein« (die Kundrie von Wolfram von Eschenbach) belegt sie Peredur-Parzival mit einer Art Bann. Sie wirft ihm vor, seine Aufgabe nicht erfüllt zu haben und zwingt ihn, seine Suche wieder aufzunehmen.[71] Als »Herrin des Schachschlosses« und dann als »Junge Schwarze Frau«[72] verpflichtet sie ihn, zum »Schloß der Wunder« (>Chastel Marveile<) zu gehen und ermöglicht so das Ende der Suche.
Auch in der walisischen Erzählung Owein, sowie im Chevalier au Lion von Chretien wird der Held der Aventiure mit der »Zofe« Luned und mit ihrer Herrin, der >Dame de la Fontaine<, auch durch eine Art geis verbunden. Die walisische Erzählung zeigt Owein wirklich in großer Bedrängnis. Er hat gerade seinen Gegner erschlagen, der ihn allerdings in seine Festung verschleppt hatte. Jetzt sitzt Owein gefangen, während er von seinen Reisigen gesucht wird. Er wird jedoch von einem jungen Mädchen >mit blond gelockten Haaren< befreit, »ihr Kopf ist von einem goldenen Band geschmückt, sie ist in kostbare gelbe Seide gekleidet und ihre Füße stecken in Schnürschuhen mit prächtig bunten Bändern«. Das Mädchen spricht ihn folgendermaßen an: »Es wäre die Pflicht einer Frau, dir zu dienen. Ich habe gewiß nie einen jungen Mann gesehen, der für eine Frau geeigneter wäre. Hättest du eine Freundin, wärest du sicher der bestmögliche Freund für sie; hättest du eine Geliebte, gäbe es keinen besseren Liebhaber als dich; ich werde alles tun, was in meiner Gewalt ist, um dich aus der Not zu befreien. Nimm diesen Ring und steck' ihn an deinen Finger. Dreh' den Stein nach innen und schließe deine Hand. Solange du ihn versteckst, wird auch er dich verstecken.«[73] Dann führt Luned Owein in ein geheimes Zimmer, wo er der Witwe seines Opfers begegnet und sich unsterblich in sie verliebt. Luned richtet es nun so ein, daß er die Dame de la Fontaine schließlich heiratet.
Offenkundig erinnert der Tarnring an den Ring des Gyges, er wird jedoch zu den dreizehn Wundern der britischen Insel gezählt. Ebenso offenkundig ist es, daß Luned eine Fee, eine Frau mit magischen Kräften ist. Zudem spielt sie gewissermaßen die Rolle der Kupplerin oder auch einer richtigen Liebesgöttin, vergleichbar mit der Brangwain. Von hier an wird die Geschichte eigenartig: zwischen Brangwain und Yseult, Luned und Laudine (der Dame de la Fontaine) entwickelt sich ein verwirrendes und unerklärliches Spiel - genauso übrigens wie im Prosa-Lancelot zwischen der Jungfrau Saraide und Viviane, der Dame du Lac. Man kann fast von zwei Gesichtern ein und derselben Frau sprechen: alle beide sind austauschbar (Brangwain, die Yseults Platz im Bett Marks einnimmt, ist der Beweis dafür). Zunächst hat man den Eindruck, daß die Fee Luned gegenüber Owein die berühmte Beschwörungsformel des geis ausspricht, daß sie Owein an sich bindet, da sie in ihn verliebt ist, aber sie gibt sich ihm nur in der Gestalt ihrer Herrin Laudine hin. Chretien de Troyes, der dieselbe Geschichte dichtet, gibt sich jedoch Mühe, sie zu rationalisieren: er rechtfertigt die Haltung Luneds damit, daß sie dem Ritter Yvain Dank schuldet, da er ihr früher am Artushof geholfen hat. Diese Rechtfertigung erklärt jedoch nicht all die zwanghaften Kontakte zwischen Luned und Owein-Yvain. Am Ende des Romans, als Luned gewissermaßen zum Scheiterhaufen verurteilt ist, eilt Owein-Yvain ihr zu Hilfe, und dies tut er unter Mißachtung aller anderen Verpflichtungen. Zwischen der Zofe-Fee und dem Helden besteht tatsächlich eine zwingende Bindung, und durch sie gelangt Owein-Yvain zu Laudine, der Personifikation der Macht und Souveränität. Man erkennt hier wieder das in allen keltischen Überlieferungen bekannte Thema der Fee, die dem Mann die Allmacht anbietet. Wenn er sie nicht annimmt, ist er des Lebens nicht würdig. Das ist aber nichts anderes als ein geis.
Genauso verhält es sich in der Geschichte von Viviane und Merlin. An dem Tag, an dem Merlin die junge Viviane kennenlernt, steht er bereits unter dem geis, denn obwohl er genau weiß, daß sie die Herrin über sein Leben sein wird, kann er nicht umhin, zu ihr zurückzukehren und sie seine Magie zu lehren, durch die sie übrigens erst die Macht erhält, ihn für immer an sich zu binden. Indem Viviane neunmal den Baum umschreitet, an dessen Fuß Merlin eingeschlafen ist, vollzieht sie das Ritual: Merlin wird verwandelt und in ein Luft- oder Glasschloß versetzt, das er nicht mehr verlassen kann. Ist dies nicht die Materialisation des psychischen und sozialen Zustandes, in den der Mann versetzt wird, der einem geis unterstellt ist?
Spuren hiervon findet man im Bereich der Folklore ebenso wie in den Märchen, die nichts anderes als die Umsetzung alter Mythen sind, wie auch im Volksaberglauben und in den Praktiken der Hexerei. Wir haben bereits den Hl. Guengalc'h erwähnt, der in den Augen seiner Gefährten von einer ,,Meeresfrau« betört worden war und trotz Beichte und beispielhaftem Leben ein Jahr später als Opfer eines magischen Aktes starb, den die »Meeresfrau« an ihm vollzogen hatte, um ihn für immer zu binden.[74] Wie sind aber erst die seltsamen Hochzeitsbräuche zu deuten?
Der Volkskundler Paul Sebillot macht auf einen weitverbreiteten Brauch aufmerksam, wonach sich die Mädchen, die um jeden Preis heiraten wollen, an die Statue eines Heiligen wenden und sich dort so verhalten, als wäre die Statue aus Fleisch und Blut, ein richtiger Ersatz dessen, den sie lieben. So zogen im Minervois um 1850 die Mädchen zu der Statue des Saint Sicre, erhoben eine Gabel über seinem Haupt und drohten ihm in gereimten Formeln, ihn damit zu stechen, falls sie in einem Jahr nicht einen Liebhaber oder Ehemann gefunden hätten.[75] Diese Geste ist aufschlußreich: sie stellt eine Drohung dar, und damit muß der von den Mädchen erwartete und durch das Bildnis des Heiligen repräsentierte, Mann (den sie bereits kennen, oder auch nicht) gehorchen und den Ruf beantworten. Wenn er nicht gehorcht, wird er geschlagen, ermordet, verdammt werden. Genauso verhielt es sich in der Gegend von Ain, wo die Mädchen dem St. Blaise drohten, ihn in die Rhone zu werfen, in Sorbey (Meuse), wo sie St. Vildbrock steinigten, oder auch in Portugal, wo sie auf dem Mont Lucie die Statue Saint Elisees mit Steinen bewarfen.[75] Die rituelle Geste wird vom ersten Wort an wirksam. So durchbohren die Mädchen in Perros-Guirec (Cötes-du-Nord) die Nase des unglücklichen Saint Guirec mit Nadeln und bitten ihn, einen Mann für sie zu finden. Im Frankreich des XVI. Jahrhunderts verbrannte das Mädchen einen Lorbeerzweig ( — der Lorbeer ist Apoll gewidmet — ) und wünschte sich dabei, daß das Herz des Geliebten ähnlich entflamme und sich vor Liebe verzehre. Im Süden Englands warf das Mädchen drei Freitage hintereinander nachts Salz ins Feuer und sprach dabei folgende Worte: »Nicht dieses Salz soll brennen, sondern das Herz dessen, den ich liebe .. .Möge er weder Ruhe noch Glück finden, bevor er gekommen ist, mit mir zu sprechen!«[76] In Cornwall und Sussex wäscht das Mädchen in der Johannisnacht um Mitternacht eines seiner Kleidungsstücke, legt es heimlich auf einen Stuhl zum Trocknen vor das Küchenfenster und läßt die Tür offenstehen. Der Mann, der das Kleidungsstück umdrehen wird, wird der Erwählte sein. Derselbe Vorgang findet in der Grafschaft Donegal (Irland) statt: am Abend vor Allerheiligen, d.h. an dem alten keltischen Samonios-(Samain)-Fest dient das Hemd des Mädchens ebenfalls dieser Probe, nachdem es zuvor in fließendem Wasser gewaschen wurde.[77] Dies ist nicht weit entfernt vom Hexenzauber, vor allem vom Kleidungsfetischismus, der bei manchen Frauen und auch bei Männern zu beobachten ist.
In der Grafschaft Donegal umkreist das Mädchen, das heiraten will oder sich zumindest mit einem Mann verbinden will, zu Allerheiligen auch einen Heuschober, in dessen Wand es dann ein Messer mit schwarzem Griff hineinstößt und dabei den Namen des Teufels ausspricht. Derjenige, der das Messer herauszieht, wird der Erwählte sein.[78] Es fällt auf, daß sich auch hier wieder der Teufel in einen magischen Zauber einschleicht, weil er das Verbotene symbolisiert. Die Geste, das Messer in die Holzwand einer Scheune zu stoßen, kennzeichnet dieses Ritual als ein erotisches, wobei der Heuschober die Frau und das Messer den Mann symbolisiert: neben dieser einfachen erotischen Bedeutung klingen dabei auch alle religiösen Vorstellungen an, die sich um die Nacht von Allerheiligen und um das berühmte Samain-Fest ranken. Hier öffnet sich die Welt der Toten (in den Seelenhügeln, den sidh, die hier durch den Heuschober dargestellt werden) den Lebenden (der Held, der die Probe besteht, um anschließend in sie einzutreten und wieder zurückzukommen, ist hier durch das Messer dargestellt).
Der erotische Aspekt des geis ist natürlich nicht überraschend und auch nicht nur bei den keltischen Völkern zu beobachten. Calypso mußte Ulysses einige unangenehme und beleidigende Bemerkungen über seine Männlichkeit machen, um seinen Widerstand zu brechen, und Ruth hat Booz sicherlich in gleicher Weise provoziert. Wozu diente also der berühmte Schwur in testiculis, und woher sollte er stammen? Sicher ist er eine der Formen des geis, wie sie über die ganze Erde verbreitet sind. Erinnern wir uns daran, daß Deirdre nicht ohne Grund Noise an den Ohren packt, als sie den geis gegen ihn ausspricht: wie diskret war doch der Autor, indem er die Hoden durch die Ohren ersetzte! Es stimmt allerdings, daß auch die Ohren ihre eigene Symbolik hatten, und daß die Macht des geis und vor allem seine moralische Tragweite dadurch nicht gemindert wird. Im volkstümlichen Aberglauben existiert der erotische Aspekt nach wie vor, und wird manchmal sogar recht ungeschminkt zum Ausdruck gebracht. In Fougeres (Ille-et-Vilaine) setzten sich die Mädchen, die einen Mann begehrten, auf einen hohlen Stein, genannt »Chaire du Diable« (>Teufelsstuhl<).[79] In Carnac (Morbihan) hoben sie ihre Röcke und setzten sich so auf den Tisch eines Dolmen, der den Namen »La Pierre Chaude« (>der heiße Stein<) hatte. In dieser Weise setzten sich die Mädchen in Dinan auf den Menhir >Saint-Samson<.[80] In Bonduen (Bouches-duRhône) befand sich hinter der Kirche ein Felsen, der eine schräge Ebene bildete: dieser Felsen war im Laufe der Zeit glatt poliert worden, da er als »Scheuerstein« (>ecorchade<) diente; das bedeutet, daß sich die Mädchen jahrhundertelang nackt an ihm rieben, um damit den Wunsch nach einem Mann zum Ausdruck zu bringen.[80] Dieselbe Art des Reibens oder Gleitens wurde auch auf dem Grand Menhir von Locmariaquer (Morbihan) praktiziert, wobei der Kontakt des nackten Fleisches mit dem Stein dort sogar obligatorisch war.[81] In der Umgebung von Grenoble beteten die Mädchen und Witwen, die heiraten wollten, vor der Kapelle von Brandes und hielten dabei zwischen den Knien eine Art Herme (einen Begrenzungspfahl), genannt »Pierre de Saint Nicolas«.[81] Die Reihe weiterer Beispiele für diese weiblichen Praktiken im Kontakt mit Felsen, Bäumen, Statuen oder Menhiren ließe sich noch unendlich weit fortsetzen. Ein anderes, nicht weniger interessantes Ritual wird an verschiedenen Orten bezeugt, so in Aunis, Saintogne, Gironde, in den Deux-Sevres, in der Vendee, in der Umgebung von Rennes und Dinan, besonders auch in Plessala (Côtes-du-Nord): die Frau spuckt in den Mund dessen, den sie liebt und kann damit sicher sein, daß er von nun an ihr gehört.[82] Es wird deutlich, daß es sich um eine verkehrte und vorweggenommene Form des Liebesaktes handelt: die Frau spuckt ihren Speichel in den Mund des Mannes, weil sie umgekehrt möchte, daß er seinen Samen in sie ergießt. Es handelt sich hier um eine authentische magische Geste, die zudem physiologische Reaktionen des Mannes auslösen kann. Die Geste ist eine Provokation. Ist der geis denn etwas anderes? Der Kuß auf den Mund, das Eindringen der Zunge und die Vermischung des Speichels gehören übrigens zu der gleichen Art von Handlungen, die in psychologischer wie in physiologischer Hinsicht in gleicher Weise bedeutsam sind. Das reicht vom Bereich des täglichen Lebens, in dem die Frau versucht, sich so zu kleiden — selbst unbewußt —, daß sie die Blicke der Männer auf sich zieht (und somit auch ihr Begehren), wo sie versucht, ihn im wahrsten Sinne des Wortes durch den Gebrauch von Parfüm zu berauschen, bis zum Bereich des religiösen Lebens, vor allem der Antike, wo die Göttin oft nicht nackt dargestellt wurde, sondern mit geschürztem Gewand, so daß ihr Geschlecht provokativ sichtbar war. Selbst in dieser alten Form ist das nichts anderes als das, was in einer aktuellen, leicht abweichenden Form als Perversion angesehen wird und des Exhibitionismus bezichtigt wird. Weshalb sollte man also nicht auch hierin eine abgeschwächte und veränderte Form des geis erkennen können? die bildende Kunst und die Literatur sind voll von Beispielen dieser Art.[83]
Dem Mann bleibt nichts anderes übrig, als dieses Spiel mitzuspielen. Die magische Kraft des Speichels knüpft an die magische Kraft des Liebestrankes an, den Tristan und Yseult zu sich nehmen.[84] Im Grunde ist dieser berühmte Liebestrank, den sie auf dem Schiff zu sich nehmen, nichts anderes, als ihr vermischter Speichel. Und sie trinken diese Mischung mit Wonne. Wie ekelhaft, wird man sagen. Nun, dann sollte man einen Augenblick über die brutale Realität nachdenken: im Liebesakt wird etwas vollzogen, was ohne Liebe zu dem Partner abstoßend wäre, d.h., wenn man nicht Lust hätte, sich mit dem Partner zu vermischen. In diesem Augenblick existiert nichts anderes, auf keinen Fall aber eine negative, abstoßende Empfindung wie Scham oder Ekel. Vor allem kann der Mann von den Emanationen der Weiblichkeit verzaubert werden — dies ist eine logische Folge des geis —: es entsteht ein wahrhafter Fetischismus, und in dem Wort Fetischismus schwingt ein durchaus religiöser Zusammenhang obligatorischer Anbetung mit. Man lese hierzu einmal, was Jean-Jacques Rousseau über Madame de Warens sagt:

»Wie oft habe ich mein Bett geküßt und habe daran gedacht, daß sie darin geschlafen hat, meine Vorhänge, alle Möbel meines Zimmers habe ich geküßt, immer daran denkend, daß sie ihr gehören, daß ihre schöne Hand sie berührt hat; selbst den Fußboden, auf den ich mich niederwarf und daran dachte, daß ihr Fuß ihn berührt hat (...) Eines Tages, bei Tisch, schreie ich in dem Moment, wo sie sich ein Stück in den Mund steckt, daß ich ein Haar sehe: sie spuckt das Stück wieder auf ihren Teller aus, und ich ergreife es begierig und verschlinge es.«[85]

Und wenn man Rousseau als krankhaft betrachtet, so lese man Michelet, einen Historiker und Moralisten:

»Die Frau ernährt den Mann gemäß seinem Bedürfnis, seiner Müdigkeit, seinem ihr bekannten Temperament; sie bereitet die Nahrung zu, macht sie durch Feuer, Salz und Seele menschenwürdig. Sie vermengt sich mit ihr, fügt das Aroma der geliebten Hand hinzu...Bei allem, was mit der Hand berührt werden muß (und, sagen wir es offen, notwendig mit den Ausdünstungen der betreffenden Person durchmischt ist), ist es wünschenswert und >charmant<, daß sie es ist, die es vollführt. Diese Pastete und jener Kuchen, diese Creme können nur von derjenigen hergestellt werden, die man liebt und begehrt.«[86]

Also ist der Zauber, den die Frau auf den Mann ausübt, keine rein geistige Einbildung. Ganz im Gegenteil, er stützt sich auf einen grundlegenden Trieb des Mannes, einen biologischen Trieb: im Extremfall wäre er das Bedürfnis, den Geschmack der Muttermilch wiederzufinden, den Geschmack der Haut der Mutter, einschließlich allen damit verbundenen halluzinatorischen Bildern. Es genügt bereits, daß die Frau gegenüber dem Mann ihrer Wahl die Sinnlichkeit — nun sichtbar, hörbar, spürbar und durch den Geruch wahrnehmbar — voll entfaltet, damit der unbewußte Prozeß der Reaktualisierung des glücklichen Urzustandes einsetzt. Der Mann ist für immer durch seine Erinnerungen gebunden. Die Frau ist sich dessen bewußt und dies ist es, was ihre Macht begründet. Deshalb ist sie fähig, den geis zu benutzen: Liebestrank, Beschwörungsformeln, ein Ring oder irgendwelche andere Liebesgaben — all diese Requisiten sind nichts anderes als materielle Hilfsmittel einer psychologisch-physiologischen Handlung, die sich gegen alle Zwänge, alle Tabus, alle moralischen, göttlichen und menschlichen Gesetze richtet: damit befinden wir uns nicht mehr im Reich der Vernunft, sondern in dem früher viel mächtigeren Reich der triumphierenden und wiedergefundenen Triebe.
Man lese Chateaubriand, den unbestreitbar keltischsten Schriftsteller der französischen Literatur. Unterstellt die Druidin Velleda Eudore nicht einem geis, um diesen zu zwingen, sie trotz seiner und ihrer Gesetze zu lieben? Es spielt dabei keine Rolle, daß Velleda in Wirklichkeit der Name einer germanischen Priesterin ist, und daß das angeblich gallisch-bretonische Dekor nichts als billige Staffage ist. Chateaubriand rekonstruiert auf jeden Fall das Wesentliche des Mythos:

»Ich wußte wohl, daß ich dich hierher locken würde. Nichts kann der Kraft meiner Stimme widerstehen.« So Velleda, als Eudore erscheint. Sie fährt fort: »Hilflos irre ich um dein Schloß herum und bin untröstlich, daß ich es nicht betreten kann. Ich habe aber den ein oder anderen Zauber vorbereitet; ich werde Selago suchen: zuerst werde ich Wein und Brot als Opfergabe spenden; ich werde weiß gekleidet sein, meine Füße werden nackt sein, meine rechte, unter der Tunika verborgene Hand wird die Pflanze pflücken, und meine linke wird sie der rechten entreißen. So kann mir nichts mehr widerstehn. Ich werde auf den Strahlen des Mondes zu dir herabgleiten, mich in eine Ringeltaube verwandeln und auf den Turm hinauffliegen, wo du wohnst.«[87]

Hier geht es um eine magische Beschwörung, die dem geis ähnelt. Als Velleda sich in die Fluten stürzen will, hält Eudore sie mit seinem Segelschiff zurück und ruft die von der Druidin erwarteten Worte: »Du wirst geliebt sein«. Chateaubriand fügt natürlich hinzu: »Die Hölle gab das Fanal für diese unheilvolle Vermählung.« Jeder magische Akt geschieht notwendigerweise im Zeichen des Teufels. Tatsache ist aber: auch Eudore und Velleda bilden das ursprüngliche Paar wie Tristan-Yseult, Diarmaid-Granne und Noise-Deirdre.
Die Figur der Velleda gibt übrigens ein plastisches Bild von den Phantasmen Chateaubriands, und somit von den Phantasmen des westlichen Menschen auf der Suche nach der Idealfrau.
Für den Menschen des Okzidents, und vor allem für den Kelten, bedeutet die Liebe eine Tizftwüberschreitung, denn das stärkste Tabu ist die Liebe selbst. Velleda überschreitet das Tabu ihrer geheiligten Jungfräulichkeit. Man beachte, daß sie dabei weiter geht als Atala, die in der Vorstellung des Autors jedoch dieselbe Figur ist. Atala hätte sich eher getötet, als dieses Tabu zu verletzen. Im übrigen war auch Chateaubriand Zeit seines Lebens selbst mit einem Tabu konfrontiert, welches zu überschreiten er jedoch nicht wagte: das Inzesttabu. So konnte er nur in der dichterischen Imagination die verbotene Situation verwirklichen, sei es, daß er seine Maitressen-Figuren mit dem Zauber seiner Schwester Lucile ausstattete, sei es, daß er diese als furchterregende Fee, Druidin oder Gottheit beschrieb, deren Schleier man nicht lüften darf, die aber dennoch dazu verführt, daß man sich unsterblich in sie verliebt.

»Lucile war groß und von auffallender, aber ernsthafter Schönheit. Ihr blasses Gesicht war von dunklen Locken umrahmt; oftmals entsandte sie Blicke voller Traurigkeit oder Glut gen Himmel oder in die Runde. Ihr Gang, ihre Stimme, ihr Lächeln, ihre ganze Physiognomie hatten etwas Träumerisches und Leidendes... Durch ihre Haltung, ihre Melancholie, ihren Liebreiz ähnelte sie einem trauernden Genius (...) In den Nebeln Kaledoniens wäre Lucile eine himmlische Frau Walter Scotts gewesen, begabt mit dem zweiten Blick; in den Nebeln der Bretagne jedoch war sie nur eine von Schönheit, Genie und Unglück bevorzugte Einzelgängerin.«[88]

Ist dieses feenhafte Wesen, diese Sylphe, diese im ureigensten Sinne des Wortes »bezaubernde« Dämonin nicht eine neue Verkörperung der Grainne? Betrachten wir dazu die Beschreibung der Atala:

»Tränen rannen aus ihren Augen (...) Sie war von ebenmäßiger Schönheit; ihr Gesicht hatte etwas unsagbar Tugendhaftes und doch Leidenschaftliches, was unwiderstehlich anzog. Dazu gesellten sich zärtlichste Formen der Anmut; ihr Blick strahlte eine außergewöhnliche Sensibilität, gepaart mit tiefster Melancholie aus, ihr Lächeln war himmlisch.[89]«

Man könnte sie mit Mila, der Indianerin, vergleichen, die Rene zwar nicht heiratet, ihn jedoch heftiger liebt als Celuta:

»Von einem Schleier verhüllt, zeigte sie außerhalb des Wassers nur ihre halbnackten Schultern und ihr nasses Haupt; einige sorgsam drapierte Windhaferähren schmückten ihre Stirn...Man hätte die kleine Indianerin für eine Wassernymphe halten können, die der Ceres die Krone entwendet hat.«[90]

Es sei noch auf die erste Erscheinung Cymodocees hingewiesen: »Sind Sie nicht ein Engel?«[91] Und hier noch einmal das Bildnis der Pauline de Beaumont: »Ihre mandelförmigen Augen hätten vielleicht zu stark gestrahlt, wenn nicht eine außergewöhnliche Lieblichkeit ihren Blick gedämpft und ihm ein sehnsüchtiges Leuchten verliehen hätte, so wie sich ein Lichtstrahl mildert, wenn er durch kristallklares Wasser scheint...Als eine erhabene Seele voll von großem Mut war sie geboren für die Welt, aus der sich ihr Geist teils aus eigenem Entschluß, teils aus Unglück zurückzog.«[92] »Diese Zauberin«, so gestand Chateaubriand ein, »verfolgte mich unsichtbar überallhin...Pygmalion dürfte seine Statue weniger geliebt haben, meine Not entstand daraus, daß ich der meinen gefiel...ich falle der Herrin der Landschaft von Enna zu Füßen; die Seidenwogen ihres gelösten Haares liebkosen meine Stirn, wenn sie ihr sechzehnjähriges Gesicht über meines beugt und wenn ihre Hände meine vor Respekt und Begierde wogende Brust berühren.«[93] Immer hat sie diese melancholische Aura, die aus ihr ein Wesen der beiden Welten, der der Lebenden und der der Toten, macht:

»In den kleinen Gassen der Cite, in dem dunklen Tor von Heloise sah ich die mich Verzaubernde wieder; sie hatte aber unter den gotischen Bögen und Grabstätten etwas Todesähnliches angenommen; sie war bleich und sah mich mit traurigen Augen an; dies waren nur noch der Schatten oder die Manen eines Traumes, den ich geliebt hatte.«[94]

Chateaubriand mußte die Klarheit des Alters erwarten, um das ewig junge Bild der Sylphe ganz wiederzufinden:

»Oh, Cyntie, erbleichend im Widerschein der Reinheit Dianas bist du tausendmal schöner als diese Palme (...) Deine Blicke begegnen denen der Sterne und vermählen sich mit ihren Strahlen (...) Hasmin, die Hebe aus Alabaster, ist eine römische Magierin, vor sechzehn Maimonaten und einem halb verstrichenen Frühling zum Tor der Lyra, bei Morgenröte in einem Rosenfeld Paestums geboren.«[95]

Die bezaubernde Frau herrscht — unter verschiedenen Namen — in der Domäne des Traums, in ihrem fast unzugänglichen Garten. Sie herrscht kraft ihrer Souveränität mit Hilfe von magischen Beschwörungen, die sie ausspricht, Worte, die die Gestalt der Dinge verändern, die Essenz der Wesen verwandeln. So etwa ist die Macht des geis zu erklären.