6.2. Die zweite Geburt

Daß der Mann den geis akzeptiert, hat in der literarischen Fiktion immer furchterregende Folgen und führt immer zu einem tragischen Ende. Man könnte daher den Eindruck gewinnen, daß es keine »glückliche Liebe« gibt, daß die Vorstellung des Glücks gestört werden konnte durch einen Akt, der von seiner Natur her eine Zerstörung des Gleichgewichts ist. Der Liebesakt kann zum Glück führen, aber im selben Augenblick gerinnt er bereits zur Erinnerung. Was die großen Liebessagen uns lehren wollen, ist nicht die Suche nach dem Glück (Was ist das übrigens?), sondern was die Liebe einem Menschen und insbesondere einem Mann geben kann. Denn es scheint, daß die Frau seit dem Ursprung der Menschheit das furchterregende Geheimnis, das den Mann anzieht und fliehen läßt, für sich behält.

»Im Rahmen der Schöpfung wird ständig der Vorrang des Mannes hervorgehoben. Die nachträglich aufgestellte Theorie, wonach die Frau durch den Mann in die Sexualität eingeweiht worden sei, ist eine logische Folge der ersteren. Die Schlange hingegen, die ursprünglich kein kriechendes Reptil war, erscheint zuerst der Eva. Sie erzählt ihr, daß die göttliche Macht angezweifelt werden kann und daß es >teuflisch< interessante Dinge gibt. Eva, die nun gewarnt ist, verführt Adam dazu, die Ursünde zu begehen. Wenn wir uns die Sexualsymbolik der Schlange vor Augen halten, so können wir davon ausgehen, daß Eva die erste war, die die Sexualität kannte, und daß sie Adam dazu brachte, sie ihr scheinbar zu enthüllen. So ist das unbewußte Element, das in dem Schöpfungsbericht zwischen den Zeilen sichtbar wird, die Tatsache, daß die Frau dem Mann die Sexualität enthüllt.«[96]

Nimmt man den Text der Genesis beim Wort, so ist auf jeden Fall die Frau für die Veränderung der menschlichen Verhältnisse verantwortlich. Zahlreiche zunächst mythologische und später historisierende Überlieferungen stellen uns diese Veränderung der Verhältnisse als einen Rückschritt, einen Fall dar: dies ist z.B. in der biblischen Tradition der Fall. Dieser semitischen Konzeption entspricht aber auch die indoeuropäische, die in der Figur der Pandora zum Ausdruck kommt, der von Prometheus erschaffenen Frau, die aus ihrer Büchse alles Unglück, an dem die Menschheit leidet, entweichen läßt. Die christliche Konzeption macht aus der Frau ebenfalls ein diabolisches Wesen, das dazu erschaffen ist, den Mann »in Versuchung zu führen« und zu erniedrigen. Dieser weit verbreiteten und so tief in den Seelen verwurzelten Meinung, die nur schwer zu widerlegen ist, stellt sich jedoch eine gewaltige Denkströmung entgegen, die jedoch so stark esoterisch geprägt ist, daß sie fast wieder erstickt wird: »Der Weg zu Gott führt über die Frau«, erklärt der Troubadour Uc de Saint-Circ; die Sünder des Mittelalters baten die Jungfrau Maria, daß Gott sich erweichen lassen möge; Goethe ruft in seinem Faust aus: »Das ewig Weibliche zieht uns hinan.« Wer hat da unrecht, wer hat recht?
Hält man sich an die augenscheinlichen Folgen der Liebesgeschichten, die uns hier beschäftigen, so kann die Bilanz negativ erscheinen. Die Liebe von Tristan und Yseult führt zu Ehebruch, Felonie (dem Treuebruch gegenüber dem Lehensherren), Lüge und Mord. Die Liebe Diarmaids und Grainnes führt ebenfalls zur Felonie, zu Verrat und Verbrechen. Die Liebe Noises und Deirdres mündet in Meineid und Verbrechen. Auf jeden Fall brechen die Katastrophen nicht nur über die beiden Liebenden herein, sondern auch über all jene, die mehr oder weniger mit der Geschichte verbunden sind. Nein, »es gibt keine glückliche Liebe«, das steht fest. Und wenn man einem jungen Ehepaar, das gerade geheiratet hat, seine besten Wünsche ausspricht, so ist es nicht das Glück ihrer Liebe, das man erhofft, sondern das Glück eines ausgeglichenen Lebens im Rahmen einer sozial und legal etablierten Ehe, der Basiszelle, die das Gebäude unserer Gesellschaft aufrechterhält. Hier handelt es sich wiederum um eine ( — von den Sittenrichtern unserer Gesellschaft bewußt vollzogenen — ) Verwechslung zwischen der gefühlsbestimmten Liebe und der rechtlich definierten Ehe. Im Rahmen einer paternalistischen Gesellschaft kann es jedoch nicht anders sein, und, wie Marcuse zu Recht bemerkt, wirkt die Liebe jenseits dieser legitimen Ausdrucksformen destruktiv und führt nicht zu Produktivität und konstruktiver Arbeit. Daher die Einbettung der Liebe in die Ehe und die unmißverständliche Verdammung all dessen, was die Liebe von diesem einschläfernden und beruhigenden Weg abzubringen droht. Die Mythen von Tristan und Yseult, Diarmaid und Grainne, Noise und Deirdre sind also ein Versuch, die Liebe zu befreien, ein Versuch, die Liebe von ihren legalen und im sozialen Sinne verpflichtenden Ketten zu befreien, um ihr die volle Kraft, ihr ganzes Wesen zurückzugeben. Wohin führt jedoch diese aus ihrem sozialen Kontext herausgelöste Liebe? Die Antwort ist einfach: sie gestattet es, teuflisch interessante Dinge zu entdecken.
Rekonstruiert man die logische Struktur der Tristan und Yseult-Sage, so erkennt man schnell, daß sich Yseult sofort in Tristan verliebt hat. In der paternalistischen Gesellschaft, in der sie lebt, kann sie sich nicht dem Gesetz des Vaters entziehen. Sie muß warten, daß Tristan bei ihm um ihre Hand anhält, oder daß er sie wenigstens um ihre Liebe bittet. Nun tut Tristan dies nicht, oder wenn er es tut, dann im Namen eines Anderen (der nur der allmächtige Vater sein kann, hier durch den Onkel/ König dargestellt). Man kann sich fragen, aus welchen Gründen Tristan nicht in Yseult verliebt ist. Er müßte es eigentlich schon sein, aber entweder ist er sich dessen nicht bewußt, oder er wagt es nicht, das väterliche Gesetz zu brechen. Auf jeden Fall ist er nicht frei, denn frei sein heißt wissen. Er aber weiß nicht, was sich in ihm oder in der Seele Yseults abspielt. An dieser Stelle der Geschichte ist das Verbot, das auf ihm lastet, (die Angst vor dem Vater, die Achtung vor dem Schwur, die Furcht vor dem Inzest) ein ausgezeichnetes Alibi, aufgrund dessen er ein gutes >Ge-Wissen< haben kann, wie es so schön heißt. In Wirklichkeit hat er jedoch überhaupt kein Wissen, d.h. kein Bewußtsein. Tristan ist ein von der Logik geprägter Mann, oder er ist zumindest in der Logik der Dinge, die man tut und die man nicht tut, erzogen worden.
Yseult aber ist eine Frau. Der vorherrschende Charakter des >Weibchens< (dieser Begriff wird hier in seiner normalen Bedeutung verstanden) ist die Intuition. Yseult weiß intuitiv, was in ihr und in der Seele Tristans vorgeht. Sie ist frei, da sie weiß. Dem freien Wesen steht es zu, zu handeln, und sie wird so handeln, daß sie Tristans Bewußtsein erweckt, daß sie ihn von seiner Betäubung erweckt. Daher das Thema des Liebestrankes, der — wie wir gezeigt haben - den ursprünglichen geis ersetzt. Jetzt entdeckt Tristan, daß am Grunde des silbernen Kelchs teuflisch interessante Dinge auf ihn warten. Jetzt kann er das Verbot überschreiten, etablierte Werte ablehnen, um unterdrückte Werte wieder einzusetzen und eine diabolische, weil sich der normalen Ordnung widersetzende Haltung annehmen.
Und Tristan ist, nachdem er eine Nacht mit Yseult, der offiziellen Verlobten seines Onkels und Königs, verbracht hat, nicht mehr der alte, ungeschickte, unwissende und befangene Tristan: er ist ein neuer Tristan geworden, geschickt, wissend und frei. Der Liebesakt hat ihn verwandelt. Der Kontakt mit der Frau hat ihn wiedergeboren, denn die Frau ist dazu bestimmt, zur Welt zu bringen, sei es ein Kind aus ihrem eigenen Fleisch, sei es einen Mann, gesättigt von ihrem Fleisch und in ihr aufgehend wie das Urwesen in der >Urflut<. Yseult hat Tristan zu einer zweiten Geburt verholfen, diese Geburt, die ihm seine Mutter weder biologisch noch psychologisch zu Teil werden lassen konnte. So erklärt sich der Hintergrund von Tristan und Yseult: um den Preis einer ungeheuren Anstrengung der Frau (die der der Geburt vergleichbar wäre) kann der Mann die entscheidende Stufe, die aus ihm erst einen richtigen Mann macht, erklimmen. Dafür müssen aber die Brücken zur Vergangenheit abgebrochen werden. Das ursprüngliche Verbot muß überschritten werden.
Die Struktur der Sage von Diarmaid und Grainne ist, bis auf einige feine Unterschiede, dieselbe. Die Verantwortlichkeit der Frau erscheint größer (und letztendlich dem ursprünglichen Mythos der Genesis näher), denn Grainnes Liebe zu Diarmaid entspricht einer wirklichen Revolte gegen die paternalistische Ordnung, und im Grunde zieht sie Diarmaid in diesen Kampf mit hinein. Andererseits zögert Diarmaid, wiedergeboren zu werden, denn er gehorcht nur äußerlich dem geis, der Flucht und somit der Revolte gegen Finn.[97]
Er beschränkt sich also auf ein Zusammenleben mit Grainne, wobei er sorgfältig jeden sexuellen Kontakt mit ihr meidet, als ob es ihm davor grauen würde, in sich etwas Diabolisches zu erwecken. Eine Sagenversion wird hier sogar noch deutlicher und gibt an, daß er für gewöhnlich jeden Abend vor dem Eingang der Höhle oder der Hütte, die er mit Grainne bewohnt, einen Pflock in den Boden rammt, und auf diesen Pflock das Viertel eines Tieres spießt, um Finn zu zeigen, daß er seine Frau respektiert. Finn schreitet nicht ein, und tut dies erst an dem Tag, an dem Diarmaid keinen Pflock mehr gesetzt und damit bewiesen hat, daß er die Vereinigung mit ihr vollzogen hat.[98] Grainne muß also die Entscheidung treffen. Sie unterstellt Diarmaid einem neuen geis, der ihn zwingt, sie zu lieben.[99] Hier findet die wahre Verwandlung Diarmaids statt, und der alte König Finn ist sich dessen voll bewußt: er schreitet ein, um Diarmaid zu töten, dem Grainne zu dem Wissen verholfen hat, zu dem nur Finn allein berechtigt ist. Weil Diarmaid jetzt im Besitz von teuflisch interessanten Geheimnissen ist, bedeutet er eine Gefahr für Finn, der ihn daher vernichten muß, selbst auf die Gefahr hin, deswegen andere Verbote zu überschreiten. Was Diarmaid betrifft, so kann man sagen, daß für ihn das Verletzen des paternalistischen Tabus schmerzhaft ist, und daß dies nur durch die Macht der Frau möglich wurde.
Diese neue Geburt des Mannes im Liebesakt, die er der Frau verdankt, ist untrennbar von der neuen Geburt der Frau, die sie um ihrer selbst willen vollzieht und dem Manne ihrer Wahl verdankt. Tatsächlich hat der Mann das unbewußte Bedürfnis, das - verlorene oder imaginäre - Paradies durch das Eindringen in die Frau, d.h. in das mütterliche Universum, zu verwirklichen. Da aber der Penis nur Substitut des ganzen männlichen Wesens ist, kann der Mann dieses Paradies nur verwirklichen, wenn er sich damit abfindet, den Gehalt eines Ganzen darzustellen, eines Ganzen, das über ihn hinausgeht und notwendigerweise mächtiger ist als er: dies ist der Grund für jenen Zustand der Minderwertigkeit, jenen »Komplex« — denn es ist einer — des Mannes, und auch der Grund für all die Erfindungen, die er für sein Täuschungsmanöver (den Herren zu spielen) benötigt. Aber auch die Frau verwirklicht die Paradies-Situation, indem sie dem Kind (wenn sie Mutter wird) und dem Mann (im Liebesakt) Asyl gewährt. Für sie ist es in beiden Fällen eine neue Geburt. Denn das Minderwertigkeitsbewußtsein der Frau — die Psychoanalyse hat dies deutlich herausgestellt — entsteht nur aus der seitens der Eltern fehlenden Anerkennung der Vagina, wohingegen die Anerkennung des Penis durch die Eltern es dem Jungen erlaubt, einen realen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Von dem Augenblick an, wo der Penis des Mannes in ihrer Vagina ist, und wenn sich dann das Kind in ihrem Bauch befindet, (dies ist derselbe Vorgang) verspürt die Frau die Anerkennung ihrer Vagina als einen Triumph, als ihren wahren Eintritt in die soziale Welt. Daher erfreut sich die verheiratete Frau übrigens einer Achtung, die ihr als Mädchen nicht entgegengebracht worden ist und daher kann sich eine Witwe oder eine geschiedene Frau auch das freie Leben erlauben, das dem Mädchen versagt ist. Die Tatsache, entjungfert zu sein und dann Mutter zu werden — stellt für die Frau eine neue Geburt dar. So finden die einen Frauen ihre Verwirklichung im Liebesleben und die anderen im Muttersein. Die Bewußtwerdung ist in beiden Fällen jedoch dieselbe. Die neue Geburt betrifft also sowohl die Frau als auch den Mann.
Nach den keltischen Sagen und auch nach den alten Traditionen der anderen indoeuropäischen Völker scheint die Frau die wesentliche Rolle zu spielen, und der Mann durch die Prüfung in viel stärkerem Maße verwandelt zu werden als sie. Dies ist z.B. dem alten Circe-Mythos zu entnehmen, der schon in der Odyssee zugunsten einer paternalistischen Gesellschaft verwertet wurde. Dort werden dem Mythos Argumente gegen die Frauen entnommen, die deren furchterregende Macht aufzeigen, eine Macht, die in dieser falschen Sehweise nur negativ erscheinen kann. Bekanntlich verwandelt Circe ihre Liebhaber in Tiere und bewahrt sie in einer Art Museum auf. Dies ist immerhin noch besser, als Antineas Art, ihre Liebhaber zu mumifizieren oder das Verhalten der Dahud-Ahes, die sie in eine Höhle werfen ließ, oder gar die Tatsache, daß Marguerite de Bourgogne ihre Liebhaber in die Seine werfen ließ, — und das zu einer Zeit, wo die Seine schon ziemlich verdreckt war. Der listenreiche Odysseus, die perfekte Verkörperung der paternalistischen Gesellschaft (der doch seinen Vater in Ithaka wiederfinden will, seinen Vater, der das Symbol der fortdauernden Macht ist, welche von Penelope repräsentiert wird), dieser Odysseus unterliegt dem Charme der Circe nicht: im Gegenteil, er bekämpft sie und es gelingt ihm, alle zu befreien, die in ihre Falle gegangen waren. Er dreht das Rad der Entwicklung zurück. Er spricht der Frau, symbolisiert durch Circe, der Göttin und Magierin, die Gabe der Schöpfung, d.h. die Gabe, das menschliche Wesen zu verwandeln, vollkommen ab. Diese reaktionäre Idee hat seitdem Schule gemacht. Man kann das in all den Geschichten über »böse Feen«, »Hexen« und andere Teufelskreaturen verfolgen. Hier eine bretonische Version:

Die Groac 'h von der Ile du Lok (Bretagne):

Leonard Houarn Pogamm hat sich entschieden, vor seiner Heirat mit Bellah Postik sein Glück zu suchen. Er verläßt seine Verlobte, die ihm zwei Reliquien (magische Objekte) übergibt, das Glöckchen von Saint-Koledok, das im Moment der Gefahr von allen Freunden seines Besitzers, wie groß die Entfernung auch immer sein mag, gehört werden kann, und das Messer von Saint-Korentin, das jeden Zauber bricht. Für sich selbst behält Bellah die dritte Reliquie, den Stab von Saint-Vouga, der seinen Besitzer überall dorthin führen kann, wohin dieser will. Houarn zieht fort zu der Insel Lok, wo die Hexe Groac'h wohnt, die im Besitz sagenhafter Schätze ist. Sie wohnt in einem See im Inneren der Insel, und zu ihrem Zauberpalast kann man mit einem Schiff gelangen, das die Form eines Schwanes hat. Houarn trifft die Groac'h, sie empfängt ihn sehr liebenswürdig, gibt ihm zu trinken und möchte ihn heiraten. Houarn will schon zusagen, als er plötzlich die Fische, die die Groac'h zum Braten in die Pfanne gelegt hatte, unverständliches Zeug murmeln hört. Als er sie mit seinem Messer berührt, verwandeln sie sich in Männer, die ihm erzählen, daß sie von der Hexe verzaubert wurden, nachdem sie sie geheiratet hatten. In diesem Moment kommt die Groac'h zurück und wirft ihr stählernes Netz über Houarn, woraufhin dieser in einen Frosch verwandelt wird. Das Glöckchen von Saint-Koledok dringt jedoch bis zu den Ohren Bellahs, die als Junge verkleidet durch die Kraft des Stabes von SaintVouga schnell herbeieilen kann. Die Groac'h, die diese Verkleidung nicht erkennt, äußert den Wunsch, Bellah zu heiraten. Bevor Bellah antwortet, bittet sie jedoch darum, mit dem Netz, das die Groac'h an ihrem Gürtel befestigt hat, einen der Fische fangen zu dürfen, die sich in dem Fischteich tummeln. Bellah wirft das Netz über die Groac'h, die sich sofort in eine abscheuliche >Pilzkönigin' verwandelt, welche Bellah nun in einen Brunnen wirft. Danach gibt sie mit Hilfe des Messers von Korentin Houarn und allen unglücklichen Ehemännern der Groac'h ihre Menschengestalt und Freiheit wieder. Houarn und Bellah bemächtigen sich schließlich der Schätze, die in dem Zauberpalast der Groac'h gehortet wurden.[100]

Die ausschmückenden Elemente dieser Sage sind voll und ganz der Mythologie entnommen. Die Groac'h (ethymologisch >alte Frau<, also >Hexe<) ist eine Wasserfee, die in einem Palast in einem See unter der Insel lebt. Die geographische Lage ist bezeichnend: die Frau inmitten des Wassers stellt die Mutter dar, die MutterGöttin, die ihre Kinder wieder zu sich nimmt, sie verwandelt und ihnen so ein neues Leben gibt. Aber wenn die Groac'h auch die Große Mutter repräsentiert, so steht sie daneben auch für die alte mütterliche Macht, mit anderen Worten, für die gynäkokratische Tradition. Wenn Houarn im Bewußtsein der Gefahren, die ihm drohen, die Hexe in ihrem Zauberpalast aufsuchen möchte, so bedeutet dies entweder, daß er in die Welt des Traumes, d.h. die Welt seiner Kindheit oder sogar in den Zustand vor seiner Geburt zurückkehrt, oder daß er im Grunde seiner selbst weiß, daß er nicht im Besitz aller Macht ist, und daß es genügt, diese dort zu suchen, wo sie sich befindet, nämlich im Universum der Mutter, in einer noch gynokratischen Gesellschaft. Die Schätze der Groac'h sind ganz offensichtlich die Schätze der Autre Monde, aber diese Autre Monde ist nicht das zukünftige Paradies: es ist eine Autre Monde, mit der man ständig in Berührung kommt, und in die man eintauchen muß, um wiederzufinden, was noch nicht in Gebrauch war und von der Gesellschaft bisher verachtet worden ist. Hier handelt es sich tatsächlich um eine Rückkehr zu den Quellen.
Houarn ist jedoch nicht frei. Er ist an Bellah gebunden, die die Frau der paternalistischen Gesellschaft repräsentiert, eine Frau, gedacht als legitime und von den Gesetzen der Männer geachtete Gattin. Würde sie Houarn ziehen lassen, dann würde die Bindung abbrechen: daher die Verwendung eines Talismans, des Glöckchens und des Messers, die es Bellah gestatten, einzuschreiten und Houarn aus einer kompromittierenden Situation zu »retten", in die er durch einen Augenblick des Haltverlusts geraten war. Houarn war dem Zauber der Groac'h erlegen, mit anderen Worten: er wollte die Erfahrung des Matriarchats machen. Es ist offenkundig, daß die Hingabe Houarns an diesem Punkt der Geschichte mit einer Flut von ausschmückendem Beiwerk maskiert wird: es sei nicht seine Schuld, der Wein habe ihn erhitzt, seiner Widerstandskraft beraubt. Dies ist ein oft zu hörender Refrain, damit soll die Rolle der Versucherin, der Schlangen-Frau, der Monster-Frau, der Menschenfresserin betont werden. Wenn die Groac'h ihr Netz über Houarn wirft, so ist dies eine deutliche Allegorie: sie läßt ihren Sohn in ihren Bauch zurückkehren und läßt ihn sich zur Gestalt eines Frosches (oder Fisches) zurückentwickeln. Diese Rückkehr in den Urzustand wird in der Geschichte als Verfluchung betrachtet. Schnellstens muß also die aktuelle Situation wieder hergestellt werden: daher die Figur Bellahs. Hier geht es also um einen Kampf zwischen der Mutter und der (wohlgemerkt legitimen) Ehefrau, oder auch zwischen der Mutter und der Tochter. Die Tochter siegt, weil sie dem paternalistischen Gesetz unterstellt ist.
Diese von Houarn und den anderen Ehemännern der Groac'h erfahrene Verwandlung ist somit eine Rückkehr zu der gynäkokratischen Gesellschaft, in der der Mensch in den andersartigen Gefühlsbeziehungen, die auf der Mutter-SohnBindung basieren, ein neues Gleichgewicht findet. Diese berühmte Partnerschaft zwischen Mutter und Sohn versuchte das Christentum zumindest ursprünglich in dem Paar Maria-Jesus wieder aufzubauen. In der hier behandelten Legende könnte es sich um die Gegenüberstellung zweier Arten des Christentums handeln, des alten, dargestellt durch Groac'h, und des neuen, repräsentiert durch Bellah. Eine solche Behauptung könnte gewiß skandalös klingen, und doch verbirgt sich häufig unter der grauenhaften Maske des Teufels die wahre christliche Religion in ihrer reinen und ideologischen Form, so gut organisiert waren die repressiven paternalistischen Machenschaften, die aus unserer sogenannten hochentwickelten Gesellschaft eine vollkommene Farce gemacht haben.
Durch diese in die Tiefen des Unbewußten verdrängte Symbolik der Groac'h finden wir nämlich nicht nur das authentische Christentum (das des Paares Maria-Jesus, das heute nur noch für verdummende Predigten herhalten muß), sondern auch die Form der alten Mann-Frau-Beziehung. Diese alte Form der Beziehung ist durch die Liebe zwischen Tristan und Yseult, Diarmaid und Grainne, Noise und Deirdre wieder aktualisiert worden, durch eine Liebe, die sich formal der Legitimität des Königs, sei es Mark, Finn oder Conchobar, widersetzt. Hier gibt die Groac'h dem Houarn diese alte Art der Beziehung wieder, die für die gegenwärtige., paternalistische und die Triebe unterdrückende Gesellschaft, die auf dem Leistungsprinzip durch Nicht-Befriedigung basiert, nicht mehr zu ertragen ist. Hier kommt Bellah, die Objekt-Frau, ein Geschöpf dieser Gesellschaft, zu Hilfe, denn sie war so klug, Houarn nicht gehen zu lassen, ohne ihm vorher den Ariadne-Faden zu geben.
Wir leben nämlich in der Tat seit Anbeginn der Psychoanalyse mit einem Nonsens, einem völlig falschen Verständnis des Ariadne-Mythos, und davon ausgehend, mit einem völlig falschen Verständnis des Phaedra-Mythos, der in den Sagen, die wir hier untersuchen, ständig vorkommt. In Wirklichkeit ist der Ariadnefaden nicht die Nabelschnur, die Theseus (also den Menschen) an Ariadne (seine Mutter) bindet, sondern das unzerstörbare Band, das den Mann an die paternalistische Gesellschaft bindet.[102]
Ariadne hat Theseus nicht den Faden zum Abwickeln gegeben, um ihm zu helfen, das Monster zu töten oder um ihm den Weg in das Innere zu weisen, sondern im Gegenteil, um ihm den Ausgang zu zeigen, d.h., um ihn zu ihr zurückzuführen. Diese Feststellung ist von größter Wichtigkeit, und zwar nicht, weil sie die Bedeutung eines Mythos in Frage stellt, sondern darüber hinaus, weil sie aufzeigt, wie leicht man den von einer hierarchischen und repressiven Gesellschaft vorgefertigten Bildern aufsitzt. Das Labyrinth ist eindeutig das Symbol der Mutter, und die Tatsache, daß der Minotauros, das Bastard-Monster, das die widernatürliche Verbindung der männlichen Kraft mit der weiblichen Fruchtbarkeit (zwischen dem Stier und der Pasiphae) darstellt, getötet werden soll, stellt einen Versuch dar, zurück zu den Ursprüngen zu gehen, um über das Sein im MutterLeib zu einem Punkt zurückzukehren, wo die Beziehungen zwischen den beiden Geschlechtern neu überdacht werden können. So zieht Ariadne, die Objekt-Frau die Fäden des Dramas, dessen Held Theseus ist: sie gibt dem Mann scheinbar die Freiheit, hält ihn aber in Wirklichkeit fest. Er wird zurückkommen müssen und sich dem Willen, den sie verkörpert, unterwerfen müssen.
Theseus hat sich gegen diese Skalverei gewehrt, er hat Ariadne verlassen. Diese, die man normalerweise beklagt, hat ihr Schicksal hingegen verdient: als Objekt-Frau zählt sie nur so lange, wie eben ein Objekt zählt. Wenn man ein Objekt nicht mehr benötigt, wirft man es weg. Und die Frau, die Theseus heiratet, ist Phaedra.
Auch hier — vorausgesetzt, man bleibt objektiv und läßt sich nicht von vorgefaßten Meinungen einschüchtern — wird sich der Mythos in einem ganz neuen Licht darstellen. Denn der komplexen Persönlichkeit der Phaedra mangelt es nicht an Größe. Als Theseus sie heiratet, heiratet er diejenige, die die Freiheit, die verwirklichte Initiation verkörpert. Phaedra hat ihm sicher ein Gefäß mit einem Zaubertrank gezeigt, und auf dem Grund dieses Gefäßes gab es zweifelsohne teuflisch interessante Dinge zu sehen, sonst hätte Theseus Ariadne nicht für Phaedra verlassen. Aber in dem Rahmen seiner Gesellschaft kann der König Theseus als Nachfolger seines Vaters nur die ihm zugeteilte Rolle spielen, nämlich die des Verteidigers der Gesellschaft, die ihn zum König gemacht hat. Er betrügt Phaedra und läßt sich auf viele Liebesabenteuer ein, die in der Geschichte Symbole der Treulosigkeit sind gegenüber dem, was Phaedra repräsentiert. Also ist Theseus auf der Jagd nach der Objekt-Frau, die er früher verabscheute. Da Phaedra von diesem Helden, der sich dem allgemeinen Gesetz beugt, ungeheuer enttäuscht ist, kann sie gar nicht anders, als sich nach einem anderen Mann umzusehen. Und wohin soll ihr Blick fallen, wenn nicht auf Hippolyt, den jungen Hippolyt, den Helden, der sich zwar als Mann gewiß noch nicht bewährt hat, in den man aber doch alle Hoffnungen setzen kann. Hippolyt stellt, wie es Racine so genial ausgedrückt hat, den neuen Theseus dar:

»Ja, Herr, ich schmachte, brenne für den Theseus,
Ich liebe Theseus, aber jenen nicht,
Wie ihn der schwarze Acheron gesehn,
Den flatterhaften Buhler aller Weiber,
Den Frauenräuber, der hinunterstieg,
Des Schattenkönigs Bette zu entehren.
Ich seh ihn treu, ich seh ihn stolz, ja selbst
Ein wenig scheu — Ich seh ihn jung und schön
Und reizend alle Herzen sich gewinnen.«[103]

In der Psychoanalyse würde man dies als ein Phänomen der »Übertragung« bezeichnen. Und dieser Fall liegt tatsächlich vor. Liest man in der racineschen Tragödie die Folge der Erklärung Phaedras an Hippolyt, so entdeckt man noch tiefere Zusammenhänge. Racine ist in seiner Intuition für die wahre Bedeutung des Mythos nie so weit vorgedrungen wie hier: mit prägnanten Strichen skizziert er die wirkliche Situation. Alle verborgenen Mechanismen werden sichtbar und bilden die moralische und metaphysische Rechtfertigung für Phedres Haltung:

»O daß du, damals noch zu zarten Alters,
Nicht in dem Schiff mit warst, das ihn gebracht!
Den Minotaurus hättest du getötet,
Trotz allen Krümmen seines Labyrinths.
Dir hätte meine Schwester jenen Faden
Gereicht, um aus dem Irrgang dich zu führen.
O nein, nein, ich kam ihr darin zuvor!
Mir hätt's zuerst die Liebe eingegeben,
Ich, Herr, und keine andre zeigte dir
Den Pfad des Labyrinths. Wie hätt' ich nicht
Für dieses liebe Haupt gewacht! Ein Faden
War der besorgten Liebe nicht genug;
Gefahr und Not hätt' ich mit dir geteilt,
Ich selbst, ich wäre vor dir hergezogen,
Ins Labyrinth stieg ich hinab mit dir,
Mit dir war ich gerettet oder verloren.«[104]

Welch erstaunliche Denkschöpfung zeigt hier Racine, der klassischste unter den >Classiques<, mitten im Jahrhundert der kartesianischen Logik und der triumphierenden Vernunft! Welch Paradox, ausgerechnet in seinen Werken die Rechtfertigung für eine These über das Wesen der Frau zu finden! Es stimmt, daß die keltische Frau die universelle Frau ist - vor der Verschleierung — und daß Racine, der vor allem das universell Gültige suchte, eines Tages unausweichlich auf diesen grundlegenden Mythos stoßen mußte. Es genügte aber nicht, den Mythos einfach zu entdecken, er mußte auch erklärt oder zumindest erspürt werden. Und dies ist Racine auf geniale Art gelungen.
Er hat wirklich alles angesprochen. Wenn Hippolyt dagewesen wäre — oder ein Theseus, der würdig gewesen wäre, in die Tiefe des Labyrinths geführt zu werden,[105] dann hätte Ariadne, die Objekt-Frau, das Geschöpf der paternalistischen Gesellschaft, ihm nicht zu helfen brauchen. Es wäre Phaedra gewesen, und ihr liegt alles daran, zu verdeutlichen, daß sie dank ihrer Liebe (hier nähern wir uns dem Tristan-Mythos) Hippolyt vorangegangen wäre, und daß sie keine Komplizin der Gesellschaft gewesen wäre, die am Handgelenk des Helden einen Faden befestigt hätte. Phaedra hätte das Schicksal mit Theseus/Hippolyt geteilt, sie wäre ihm vorangegangen und wäre seine Führerin gewesen. Dies ergibt ein völlig anderes Bild und dürfte die ziemlich geistlose und (seit Chateaubriand weit verbreitete Meinung erschüttern, derzufolge Racines Phaedra eine Christin wäre, der die Gnade nicht zuteil geworden ist. Phaedra hat im selben Maße wie Yseult, Grainne und Deirdre die Macht der Initiation und der Verwandlung. Phaedra, die von der Sonne abstammt (man denke an Grainne, deren Name von dem irischen Wort für »Sonne« stammt, oder an Yseult la Blonde, eine in hohem Maße der Sonne zugehörige Figur), Phaedra, die Sonnenhafte, die den Helden auf der Suche nach der Wahrheit, die in der Gebärmutter liegt, durch die dunklen Gänge des Labyrinths (des Mutterleibs) führt, das ist eine Gestalt, die in hohem Maße zu denken gibt. Denn an Stelle der verfluchten, lasterhaften Verführerin von Minderjährigen zeichnet sich nun das Gesicht einer Fee ab, die dem Mann anbietet, ihn in die dunklen Regionen zu geleiten, in die nur sie Licht bringen kann, wohin nur sie den Weg kennt. Und dies ist nicht ein Rückschritt, sondern ein Fortschritt! Hippolyt versteht die Botschaft jedoch nicht besser als Theseus. Mit Schrecken zieht er sich von Phedre zurück. Er zeigt hier dasselbe Verhalten wie Tristan, der vor Yseult flieht, wie Diarmaid, der sich weigert, Grainne zu folgen, wie Noise, der Deirdre ausweicht, weil sie Conchobar versprochen ist. Die Frau, die authentische Frau, die den vollen Besitz ihrer Macht wiedererlangt hat, macht diesen Mangelprodukten der paternalistischen Gesellschaft natürlich Angst. Dies ist der Grund, weshalb Hippolyt zugrunde gehen wird, denn er ist blind und er erkennt nicht die Möglichkeit, die sich ihm bietet.[106]
Phaedra ist indessen sehr weit gegangen. Immer noch nach der Tragödie Racines, die eine Rekonstruktion des ursprünglichen Mythos darstellt, unterstellt Phaedra Hippolyt einem echten geis, als sie ihn provoziert:

»Auf, räche dich und strafe diese Flamme...
Hier treffe deine Hand, hier ist mein Herz![107]

Aber Hippolyte versteht die Tragweite des geis nicht. Phedre insistiert:

»Entehrte deine Hand so schmählich' Blut,
Leih mir dein Schwert, wenn du den Arm nicht willst.
Gib!«[108]

Und Phaedra entreißt Hippolyt das Schwert. Dieses Objekt, das sie in ihrem Besitz behält, und das als Beweisstück dienen wird, wenn es darum geht, Hippolyt der versuchten Vergewaltigung anzuklagen, ist also ein Instrument des Schicksals, tatsächlich ist es, wie der Liebestrank Tristans, eine Materialisierung des geis. Aber wenn Tristan, Diarmaid und Noise die Möglichkeit hatten, ihre Liebe zu verwirklichen und zur Wahrheit zu gelangen, so ist Hippolyt, da er sich geweigert hat, der Verpflichtung des geis zu genügen, sogleich verloren, ohne auch nur die Andeutung irgendeines Wissens zu erlangen.
Die in der griechischen Sage geschaffene Situation war im übrigen so unerträglich, daß sie nur duch den Tod der Antagonisten gelöst werden konnte. Phaedra mußte untergehen, da sie ein Monstrum darstellte: sie teilte das Schicksal der Verräter, die eine Gesellschaft zwangsläufig vernichtet. Hippolyt mußte sterben, einerseits, weil er durch die Rache Phaedras in den Tod mit hineingezogen wurde, und andererseits, weil trotz allem die Gefahr bestand, daß er von der gefährlichen Krankheit, die die Phaedra darstellte, angesteckt war. Poseidon, der Schutzgott des Theseus, übernimmt als Beschützer der patriarchalischen Institutionen den Vollzug der Rache.
n einer der keltischen Fassungen der Sage verläuft die Entwicklung ganz anders, und zwar so, als ob dabei dem Inzest-Tabu keine größere Wichtigkeit beigemessen würde:

Die Überschwemmung des Lough Neagh (Irland):

Ein König von Munster hatte zwei Söhne, Rib und Ecca. »Ecca war ruhelos und unnachgiebig, sein Verhalten mißfiel dem König außerordentlich. Er sagte zu seinem Bruder Rib, daß er sich entschlossen habe, das väterliche Haus zu verlassen und sich in irgendeinem fernen Teil des Landes eigenen Besitz erobern wolle. Rib versuchte mit aller Macht, ihn davon abzubringen, aber wenn es ihm auch gelang, ihn einige Zeit zurückzuhalten, so konnte er sich seinem Aufbruch doch nicht entgegenstellen. Schließlich fügte Ecca, geleitet von seiner Stiefmutter Ebliu, seinem Vater eine schwere Beleidigung zu und flieht mit all seinen Leuten aus Munster. Sein Bruder Rib und seine Stiefmutter Ebliu gingen mit ihm.« Die Druiden erklären, daß die Brüder sich trennen müssen. Rib läßt sich in einer Ebene nieder, und dort »springt plötzlich das Wasser eines Brunnens aus der Erde hervor« und ertränkt ihn und seine Leute. Ecca läßt sich in einem anderen Tal nieder und baut eine Burg und eine Stadt. Bald darauf überschwemmt das Wasser eines Brunnens auch dieses Tal und ertränkt alle außer den Schwiegersohn Eccas und Libane, eine Tochter, die er mit Ebliu hatte.[109]

Diese Geschichte ist wieder eine der Ausformungen des Mythos der Stadt Ys. Bemerkenswert ist die Komplizenschaft Eccas und seiner Stiefmutter Ebliu: sie widersetzen sich beide der väterlichen Macht. Sie verwirklichen tatsächlich, was Phaedra und Hippolyt nicht gelungen war, sie ersetzen die Autorität des Königs von Munster, eine maskuline, ausschließliche Autorität, durch ein neues, viel feminineres System, das auf dem Gleichgewicht zwischen Mann und Frau, zwischen Sohn und Mutter beruht, da Ebliu, wie Phaedra, der richtigen Mutter entspricht. Dies ist auch der Sinn des christlichen Bildes von Jesus und Maria. Die keltische Sage ist zunächst von einem Erfolg geprägt, aber dieser Erfolg ist nur vorübergehend. Er kann nicht andauern, da die rein maskuline Autorität der paternalistischen Gesellschaft verhöhnt wurde. Die Kelten waren, wie alle anderen auch, den paternalistischen Strukturen verhaftet.[110]
Durch Figuren wie Phaedra, Ebliu, Yseult, Grainne und Deirdre berühren wir immer wieder das Thema der Revolte des >Blütenmädchens<. Sie verkörpern nur einen anderen Aspekt Blodeuwedds, der Lilith-Frau, die in der Gestalt Evas wieder erscheint. Das Band, das sie mit ihrem Liebhaber knüpfen, ist etwas Furchterregendes, Magisches und Definitives. Die wichtige Lehre, die man daraus ziehen kann, ist folgende: bei den Sagen scheint alles darauf ausgerichtet zu sein, die absolute und verheerende Macht der Liebe hervorzuheben. Für eine organisierte Gesellschaft wirkt die große Liebe zerstörend, da sie zwei Wesen, die sich selbst genügen und sich gegen den existierenden rechtlichen Rahmen stellen, isoliert.
Phaedra hingegen ist gescheitert. Es gibt weitere Beispiele dieser Art des Scheiterns.[111] Sie rächt sich, indem sie Hippolyt mit in den Tod zieht, sie klagt ihn einer Sache an, die er nicht getan hat.[112] Die Höllenmaschine ist in Gang gesetzt und nichts kann sie mehr stoppen: denn ein nicht beachteter geis führt zum unaufhaltbaren und schnellen Untergang dessen, der den entscheidenden Schritt nicht getan hat. Und — dies sollte man nicht vergessen - dieser Schritt ist keinesfalls leicht zu tun, denn hier wird mit einer einzigen Geste, einem einzigen Wort die ganze Errungenschaft der paternalistischen Gesellschaft vom Tisch gewischt. Es handelt sich um eine Art Blasphemie, um die Überschreitung eines jahrhundertealten Verbots, das des Inzests, und die Rückkehr zu einer früheren Situation. Das ist es, was die Racinesche Phaedra Hippolyt angeboten hat.[113]
Anm. 113 Es fällt auf, daß alle Helden Racines Trottel sind, die zu keiner Entscheidung fähig und doch stets von ihrem Recht überzeugt sind. Es sieht so aus, als hätte Racine vorgehabt, das ganze Heldenkonzept zu zerstören. Hier folgte er den jansenistischen Vorstellungen, wonach der Mensch, so mächtig er auch sein mag, ohne die Hilfe Gottes ein schwaches, unfähiges Wesen ist. Die Frauengestalten hingegen sind sehr interessant gestaltet, selbst  diejenigen, die  scheitern. Zunächst sind die grauenerregenden, leiden368 schaftlichen Frauen vom Typ der Hermione, Roxane und Phedre zu nennen. Aber es gibt auch die sogenannten schüchternen, sanften, die wesentlich mehr zu fürchten sind, da sie scharfsinnig, intelligent und listig und in ihren bewußt gefaßten Entscheidungen unerbittlich sind: Andromaque, die die Königin von Epirus wird, oder Aricie, die von ihrem »Kerkermeister« Thesee zur Thronerbin gemacht wird. Der »sanfte« Racine, die »süße« Andromaque sind Klischees, die mitsamt den abgegriffenen Auffassungen über andere klassische oder romantische Autoren, die unglücklicherweise noch viel zu viel in unseren Schulbüchern herumschwirren, längst in den Papierkorb geworfen werden sollten.

Das ist es, was im Grunde Yseult Tristan mit dem Liebestrank anbot, und was Grainne Diarmaid anbot, als sie ihm mit der Zerstörung drohte, wenn er nicht gehorchen würde; Deirdre schließlich bot es Noise an, indem sie ihn an den Ohren zog. Denn danach gab es für ihn teuflisch interessante Dinge zu entdecken.
Diese teuflisch interessanten Dinge warteten auch auf dem Grund eines berühmten Kessels der walisischen Mythologie, und zwar gehörte dieser Kessel der Göttin und Hexe Keridwen. Und wi« wir sehen werden, hat diese Keridwen, die in vielem der Groac'h der Insel Lok ähnelt, auch vieles mit Yseult, Grainne und Deirdre gemeinsam.

Die Geschichte des Taliesin (Wales):

Keridwen haust inmitten des Sees Tegid. Da sie einen Sohn von abstoßender Häßlichkeit hat, beschließt sie, ihm das vollkommene Wissen zu vermitteln. Dazu erhitzt sie einen »Kessel der Inspiration und des Wissens«. Diese Prozedur dauert ein Jahr. Keridwen beauftragt einen gewissen Gwyon Bach, den Kessel zu überwachen. Nun flössen eines Tages »drei Tropfen der magischen Flüssigkeit aus dem Kessel und fielen auf den Finger Gwyon Bachs. Weil sie so heiß waren, steckte er den Finger in den Mund, und in dem Augenblick, in dem die Wundertropfen ihn berührten, konnte er in die Zukunft blicken.« Keridwen ist wütend darüber, ihre Arbeit vernichtet zu sehen und verfolgt Gwyon. Dieser, der nun im Besitz des vollkommenen Wissens ist, verwandelt sich in verschiedene Tiere, um dem Zorn Keridwens zu entkommen, Keridwen verwandelt sich ihrerseits in verschiedene Tiere und verschlingt schließlich in Gestalt eines Huhnes Gwyon Bach, als dieser sich in ein Weizenkorn verwandelt hatte. »Sie ward davon schwanger, — so sagt die Geschichte. Als die Zeit ihrer Niederkunft kam, hatte sie nicht den Mut, das Kind zu töten, denn es war wunderschön. Sie steckte es in einen Ledersack und warf diesen ins Meer...« Aus diesem Kind wird einst der starke Barde Taliesin, berühmt für sein Wissen über die Welt, eine wahrhafte Inkarnation des Druidentums.[114]

Offensichtlich ist der Kessel der Keridwen eine der Darstellungen des ursprünglichen Grals, ein Spender geistigen Reichtums. Nicht weniger deutlich steht der Kessel mit dem Liebestrank in Zusammenhang, den Tristan und Yseult trinken. Der Genuß der Flüssigkeit ist denen, für die sie nicht bestimmt ist, untersagt. Gwyon Bach trinkt sie — wie Tristan — aus Versehen: das bedeutet, daß der eine wie der andere ein Verbot übertreten haben. Indem er den Liebestrank zu sich nimmt, bindet sich Tristan endgültig und unausweichlich an Yseult. Yseult verwandelt den ehemaligen Tristan vollständig und macht aus ihm einen neuen Mann, der zugleich ihr Sohn und ihr Liebhaber ist. Indem er drei Tropfen des von Keridwen zubereiteten Trankes zu sich nimmt, bindet sich Gwyon Bach endgültig und unausweichlich an Keridwen. Er versucht zu entkommen, aber es gelingt ihm nicht, denn die drei Tropfen entsprechen einem geis. Keridwen verschlingt ihn. Das Bild ist deutlich: es handelt sich ganz einfach um den Sexual-Akt, um das Verschlingen des Liebhabers durch die Geliebte als eine Realisierung in der Phantasie, die sich von der Absorbierung des Penis durch die Vagina herleitet. Gwyon Bach kehrt in den Schoß seiner Mutter zurück, um erneut heranzureifen, und als er wieder geboren wird, so nicht mehr in der alten Gestalt des Gwyon Bach, sondern in der neuen Gestalt Taliesins. Keridwen hat dem, den sie verschlungen hat und der zugleich ihr Sohn und Liebhaber ist, ein neues Leben gegeben. Dies ist die deutlichste Veranschaulichung der Verwandlung, die die Frau den Mann, den sie erwählt hat und den sie liebt, vollziehen läßt. Der Liebesakt mündet in eine neue Geburt. Gwyon Bach, Tristan, Diarmaid und Noise ist gelungen, was Hippolyt nicht gewagt hat: durch die Liebe zu derjenigen, die das Abbild ihrer Mutter ist, haben sie — gegen alle Gesetze und vorhergehenden Verpflichtungen — einen wesentlichen Schritt getan. In diesem Augenblick wird durch die Macht der Liebe wie durch die Macht der Poesie, welche selbst eine Verwandlung ist, — nach dem berühmten Satz von Rimbaud: »Je est un autre.« — aus dem Ich ein Anderer. Man denke hier an die Legende des Hl. Johannes Chrysostomos, der ein sehr schlechter Schüler war: eines Tages betete er vor seiner Statue zu der Heiligen Jungfrau. Da sprach die Statue zu ihm und bat ihn, ihre Lippen zu berühren. Er drückte seine Lippen auf die der Heiligen Jungfrau, und durch diesen einzigen Kuß wurde er von einer unermeßlichen Weisheit und einem wunderbaren Wissen in den Artes liberales durchdrungen: seitdem hieß er fortan der Heilige Johannes >Goldmund<.
Diese Episode gibt uns Gelegenheit, den Aspekt des Verstoßes zu unterstreichen, den diese Liebesgeste darstellt. Für den Hl. Johannes war es nahezu eine Blasphemie, die Lippen der Heiligen Jungfrau zu küssen. Für Tristan war es nicht weniger blasphemisch, seinem Onkel die Frau (oder zukünftige Frau) zu >nehmen<. Dies ist eine Störung des Gleichgewichts, ein Akt der Revolte, eine Herausforderung an die Gesellschaft. Nur um diesen Preis kann sich die Verwandlung des Mannes vollziehen, und mit ihr die Zerstörung der bestehenden und Errichtung einer anderen Gesellschaft. Aber die Helden des Abenteuers sind noch Einzelgänger, Desperados, Outcasts und bizarre Wesen. In allen Mythologien ist der Liebhaber der Göttin ein außergewöhnliches Wesen, dem meistens ein tragisches Schicksal bestimmt ist. In den Volksmärchen, die nicht nur Ausdruck der unbewußten Ängste, sondern auch der Hoffnungen der Menschheit sind, ist der Liebhaber der Göttin zu dem Abenteurer geworden, der eine Prüfung besteht: als Belohnung erhält er die Tochter des Königs, er wird der Schwiegersohn des Königs, und da es keinen Zufall gibt, hat der König selbst keinen Sohn. Somit wird der Abenteurer, derjenige, der es gewagt hat, das Tabu der Klassenunterschiede zu überschreiten, der Thronfolger. Und warum? Weil die Prinzessin die Souveränität ist und weil sie den Mann ihrer Liebe verwandelt hat: sie hat aus einem armen Vagabunden einen König gemacht. Und hier schließt sich der Kreis, denn der neue König wird zwangsläufig zum Gefangenen seiner Rolle. Er wird die Ordnung, die er bekämpft hat, verteidigen. Dies ist ein weiteres Eingeständnis des Versagens. Natürlich weichen andere Märchen diesem Ende aus. In ihnen geht es nur um die von der Frau weitergegebene Macht. So unterschlägt eine Überlieferung aus der Gegend Treguier die Liebesbeziehungen des Helden mit der Fee und betont dennoch die Rolle, die die Mutter bei der Verwandlung und der neuen Geburt des Kindes spielt:

Die Geschichte von Rannou dem Starken (Bretagne):

Eine Frau rettet eine Sirene, die gestrandet war, und bringt sie zurück ins Meer. Als Belohnung gibt die Sirene ihr einen Trank, der ihren Sohn stärker und tapferer machen soll, als alle anderen Männer. Sie schärft ihr ein, daß nicht ein Tropfen dieses Getränkes verschüttet werden darf, da es gefährlich sein kann. Die Frau probiert den Trank erst an ihrer Katze aus, bevor sie ihn ihrem Sohn zu trinken gibt. Da er der Katze nicht schadet, gibt sie nun das Getränk auch ihrem Sohn. »Der kleine Rannou und die Katze verspürten bald die Kraft des magischen Tranks. Die Katze wurde so groß und stark, daß sie mit Eisenketten an einem Felsen festgebunden werden mußte. Und Rannou zerbrach bereits im Alter von neun Jahren sieben Hufeisen auf einmal.« Dann wuchs er so rasch heran und verfügte über derartige Kräfte, daß er ein Riese wurde.[115]

Die Parallelen zu der Geschichte von Keridwen sind nicht zu bezweifeln. Das Getränk, das die Fee als Geschenk gibt, ist dem Getränk aus dem Kessel vergleichbar. Dieser Zaubertrank verleiht hier physische Kräfte, während er in der walisischen Geschichte das vollkommene Wissen verleiht. Eine weitere Erinnerung an Keridwen findet sich in der Heiligenlegende des Hl. Conerin, der, von Übeltätern getötet und verbrannt, sich in einen Apfel verwandelt. Diesen Apfel ißt eine junge Frau, sie wird davon schwanger und schenkt ihm das Leben wieder, ein neues, heiliges Leben, in dem ihm das Wissen über alle Dinge mitgegeben wird.[116] Wiederum in der Bretagne finden wir eine bezeichnende Erzählung, deren Ursprung sich auf denselben Mythos bezieht. In dem mehr oder weniger christianisierten Kontext der Volksmärchen wird die Liebe der Fee und des Helden zugunsten einer magische Kräfte spendenden Freundschaft okkultiert. Das Thema ist jedoch nach wie vor gegenwärtig: der Mann bezieht seine Macht von einer rätselhaften Frau, die das Abbild der vielgestaltigen Göttin ist.

Koadalan (Bretagne):

Der junge Koadalan hat von einer rätselhaften Stute, die sich in eine Frau verwandelt hat, Reichtum und drei Bücher über Magie erhalten.[117] Eines Tages nimmt er, um drei Teufeln, die ihn ergreifen wollen, zu entkommen, die Gestalt eines Rindes und dann eines Hundes an.[118] Die drei Teufel, die das Aussehen von Händlern hatten, jagen als Wölfe hinter ihm her. Aber Koadalan gelingt es, in Gestalt des Hundes nach Hause zu gelangen. Ein anderes Mal wird er in Gestalt eines Pferdes von den drei Teufeln gefangen genommen. Aber »das Pferd springt in den Fluß und verwandelt sich sogleich in einen Aal. Die drei Händler springen hinterher und verwandeln sich in drei große Fische, um den Aal zu verfolgen. Dieser fliegt aber in Gestalt einer Taube davon und erhebt sich über die Stadt hoch in die Lüfte. Die drei großen Fische verfolgen auch diese, und zwar in Gestalt dreier Sperber.« Daraufhin verwandelt sich die Taube in einen Goldring, der in einen Zuber fällt, den eine Dienerin gerade auffüllt. Die Dienerin steckt sich den Ring an ihren Finger. Die drei Sperber verwandeln sich nun in drei Musikanten, die unter den Fenstern des Schlosses spielen und als Belohnung den Goldring der Dienerin erbeten.[119] Koadalan aber nimmt für einen Augenblick wieder seine menschliche Gestalt an, um der Dienerin zu sagen, daß sie den Ring nicht hergeben solle, es sei denn, sie werfe ihn in ein großes Feuer, aus dem die Musikanten ihn holen würden. So geschieht es. Aber der Goldring verwandelt sich in ein Korn,[120] das sich nun in einem Speicher befindet. Die Musikanten werden zu drei Hähnen, die sich daran machen, das Korn zu suchen. Nun verwandelt sich das Korn in einen Fuchs, der die drei Hähne auffrißt. Damit ist Koadalan von den Teufeln befreit.
Als er alt wird, trifft Koadalan, der nicht sterben will und das Geheimnis der Wiedergeburt kennt, seine diesbezüglichen Vorkehrungen. Er läßt eine Frau kommen, die ihr Erstgeborenes stillt. Er schlägt ihr vor, sechs Monate im Schloß zu bleiben, wofür sie monatlich einhundert Taler erhielte. Sie solle während dieser Zeit niemanden sehen, nicht einmal ihren eigenen Mann. Und Koadalan sagt zu ihr: »Ich werde getötet und zu Hackfleich gemacht werden; dann wird mein zerstückelter Körper in eine große Terrine gegeben werden. Diese Terrine wird in einem heißen Misthaufen versteckt werden, und Ihr müßt sechs Monate lang zweimal am Tag, mittags und um drei Uhr nachmittags kommen, jedes Mal eine halbe Stunde bleiben und auf dem Misthaufen, an der Stelle, wo sich die Terrine befinden wird, Eure Milch aus den Brüsten verteilen. Aber achtet darauf, daß Ihr dabei nicht einschlaft. Wenn Ihr genau tut, was ich Euch sage, werde ich mich nach sechs Monaten gesund und lebendig, stärker und schöner, als ich jemals gewesen bin, in ganzer Größe aus der Terrine erheben und nie mehr sterben.« Alles geschieht, wie Koadalan es wollte. Monatelang erfüllt die Frau ihre Pflicht, aber drei Tage vor Ablauf der Frist schläft sie auf dem Misthaufen ein. »Als man die Terrine entdeckte, fand man den Körper Koadalans vollständig hergestellt dem Gefäß entstiegen und kurz davor, sich zu erheben. Noch drei Tage und es wäre ihm gelungen!«[122]

Diese seltsame Geschichte von Koadalan, dem »bretonischen Taliesin«, läßt an ein antikes Wiedergeburtsritual denken. Man denke an den zerstückelten und im Kessel der Clotho gekochten Pelops, oder an Osiris — von Typhon zerstückelt und von Isis wieder zusammengesetzt. Denn die Frau ist anwesend. Es ist die Stuten-Göttin, die Beschützerin Koadalans, die es ihm ermöglichte, durch seine Verwandlungen den drei Teufeln zu entkommen. Auch das Rezept für seine Wiedergeburt in einem unsterblichen Körper stammt von ihr. Dafür ist es jedoch notwendig, zumindest vorläufig zu sterben. Faust hatte dieses »Kochen« nicht nötig, um sich zu verjüngen, aber er mußte seine Seele an Mephisto verkaufen. Koadalan verkauft seine Seele nicht. Aber er hat aufgrund einer Unachtsamkeit seitens der Frau keinen Erfolg. Und wer ist diese Frau? Die Stellvertreterin der Göttin, die Nahrung-Spendende, die Versorgende, die die Inder Anna Pourna, die romanischen Völker Anna Parenna und die Bretonen Sainte Anne nennen. Mit ihrer Milch nährt sie den zu Hackfleisch zerstückelten Koadalan. Und wo befindet er sich? In einer Terrine, d.h. in einem Gefäß, dem Abbild der Gebärmutter. Dieses Behältnis ist von Mist bedeckt. Man fühlt sich hier an die Aussage Augustins erinnert: »nascimur inter faeces et urinam«. Aber der Misthaufen ist heiß, und dies ist bekanntlich ein sowohl real als auch symbolisch absolut günstiger Ort für die Heranreifung eines Wesens. Man muß tief in die von ekelhaften Ausdünstungen erfüllte Höhle eindringen, in das unreine und dunkle Labyrinth, in das brackige Wasser der Teiche, wenn man den Zauber-Palast der Göttin entdecken will und sich dieser fremdartigen und paradiesischen Welt, über die sie regiert, öffnen will.
Der Liebesakt ist mit dem Tod verbunden, das ist bekannt. Bei einigen Tieren, wie z.B. der Gottesanbeterin, schließt sich an die Begattung ein Hochzeitsmahl an, allerdings hat das Männchen dabei die Kosten zu tragen. Der männliche Orgasmus — und hierin stimmen alle medizinischen Erkenntnisse mit den Beobachtungen der Psychoanalyse überein — versetzt das Individuum in einen todesähnlichen Zustand. Dies ist der große Riß, durch den sich der Mann für den Bruchteil einer Sekunde »von der Realität zurückzieht«. Danach hat er, biologisch gesehen, keine Existenzberechtigung mehr, da er seinen Samen vergeben hat und aus diesem ein neues Lebewesen entstehen kann. »Das Ausstoßen sexueller Produkte im Genitalakt«, so Freud, »entspricht in etwa der Trennung der Körperzellen[123] von den Keimzellen;[1124] deswegen ähnelt die totale sexuelle Befriedigung dem Tod.« Dieser kleine Tod ist für den Menschen dennoch kein wirklicher Tod.[125] Und dies, weil der Orgasmus, so vollkommen er auch sein mag, nicht zur totalen Befriedigung führt. Es muß, wie man etwas derb zu sagen pflegt, immer noch etwas für den nächsten Tag übrig bleiben. Es ist das ureigene Wesen des Wunsches, »niemals ganz und gar befriedigt zu werden, was die Bedingung für die Wiedergeburt ist.«[126] Für das Leben, das aus einem ständigen Streben nach irgendetwas besteht, ist der Wunsch der grundlegende Antrieb. Dies meint Schopenhauer, wenn er behauptet, daß der Mensch Ruhe und Glück in einer Art nirvana findet, sobald er den Lebenswillen überwunden hat, das heißt, jeden Wunsch zu leben, und folglich jedes reine Verlangen, welches zu einer fortwährenden Wiedergeburt führt.
Da wir den wahren Mechanismus des Mythos von Tristan und Yseult (Diarmaid und Grainne, Noise und Deirdre) untersuchen wollen, brauchen wir nur noch diese Feststellung anzuwenden. Damit müßten wir ein weiteres Mal Denis de Rougemont Unrecht geben, wenn er sagt: »die Liebesleidenschaft...ist ein Feuer, das den Glanz seines Ausbruchs nicht überleben kann. Aber das Brennen bleibt unvergeßlich, und dieses Brennen wollen die Liebenden verlängern und bis in das Unendliche hinein erneuern.« Dies ist wohl eine Vorstellung voll oberflächlicher Romantik und suspektem Wagnertum. Dieses berühmte Brennen ist nichts anderes als die Begierde selbst, die niemals befriedigt worden ist. Und die Liebe zwischen Tristan und Yseult, das Vorbild der vollkommenen Liebe, wird mit einer niemals ganz befriedigten Begierde verwechselt, die die Liebenden zwingt, ständig von vorn anzufangen. Sie haben sich dem Tod genähert, den kleinen Tod erlebt, aber sie sind niemals wirklich tot. Sie sind aus der Erstarrung, die dem Orgasmus folgt, entschlossener denn je hervorgegangen, wieder von neuem zu beginnen: dies ist die Beständigkeit und fortdauernde Kraft der großen Liebe, die Möglichkeit, denselben Akt unbegrenzt zu wiederholen. Denn wenn sie beim ersten Mall die vollständige Erfüllung ihres Begehrens erreicht hätten, hätten sie nie wieder Lust gehabt, noch einmal zu beginnen. Der tragische Tod, der die Abenteuer von Tristan und Yseult, Diarmaid und Grainne, Noise und Deirdre und vieler anderer beendet, ist nicht die Krönung ihrer Liebe aufgrund der vollkommenen Befriedigung ihres Begehrens, sondern die Rache der Gesellschaft, die es nicht mit ansehen kann, daß sie nur mit sich selbst beschäftigt sind. Ist es nicht bezeichnend, einen Weinstock und eine Rose aus den Gräbern Tristans und Yseults emporwachsen und sich umschlingen zu sehen, was zeigt, daß alles nach dem Tode fortbesteht, und daß die beiden Liebenden sich auch dann noch bis in alle Ewigkeit suchen. Dies ist übrigens eine viel schönere und poetischere Feststellung, als der morbide Liebestod, an den man uns allzu sehr gewöhnt hat.
Noch einmal sei es gesagt — und es kann nie oft genug wiederholt werden —: auf dem Grund des Liebestrankes warten teuflisch interessante Dinge. Diese Dinge suchen die Liebenden in ihren Umarmungen. Durch die Macht des geis erlangten sie das Wissen über alle Möglichkeiten, die ihnen offenstanden. Von diesem Augenblick an existiert nichts anderes mehr, es gibt kein Universum mehr, keine Gesellschaft, keine Gesetze, keine Familienbande. Dies ist die äußerste Überschreitung aller überlieferten Tabus, aller Voreingenommenheiten, aller vorherigen Bindungen. Durch den geis ist eine neue Situation geschaffen, die sich ständig an den bestehenden Normen reibt, aber auch ständig in ihrer Entwicklung fortschreitet. Diese Situation ermöglicht es den Liebenden, einer idealen, paradiesischen Situation entgegen zu sehen, wo sich endlich all ihre Kindheitsträume verwirklichen werden, denn letztendlich ist es die Welt der Kindheit oder des Lebens im Mutterleib, das die Liebenden wieder erwecken wollen. Deshalb werden Tristan und Yseult nach jedem Orgasmus wiedergeboren, und deshalb beginnen sie wieder von vorn. Aber was würde Tristan ohne Yseult tun? Oder vielmehr, was hätte er getan, wenn Yseult ihm nicht die teuflisch interessanten Dinge am Grunde des Liebestrankes gezeigt hätte?
Denn alles Leben geht aus dem Tode hervor und umgekehrt. Wenn das Korn nicht stirbt, kann es nicht wiedergeboren werden. In der Frau findet diese sowohl biologische als auch psychologische Wiedergeburt statt. Die verschiedenen Auffassungen, die wir hinsichtlich der abstoßenden, grauenhaften Frau, oder vielmehr der als solche dargestellten Frau kennengelernt haben, sind nur Symbole dieser Realität: wir gehen aus dem Misthaufen hervor, egal ob diese Geburt nun real oder nur in der Vorstellung stattfindet. Aber angesichts dessen, was ihm ständig gesagt wurde, zögert der Held des Abenteuers, sich weiter vorzuwagen. So will Tristan zunächst nicht der Liebhaber Yseults werden, Diarmaid will Grainne nicht folgen, und Noise versucht Deirdre auszuweichen. Sie haben Angst, sie haben genau die Angst, die die Gesellschaft ihnen der Frau gegenüber eingehämmert hat. Angst gegenüber der Frau, die ein fremdes und rätselhaftes Wesen ist, eine Lebens- und Todesspenderin, ein lebender Misthaufen, der von seinem Blut und seiner Milch das Kind, das sie in sich trägt, nährt und der nichts anderes ist als eine Projektion des Mannes selbst. Hier hat das Bild der Keridwen, der Hexe, die ihren Liebhaber verspeist, um ein Kind zu gebären, seinen Ursprung. Aber Taliesin ist nur der wiedergeborene Gwyon Bach. Und Keridwen erscheint als furchterregend und tyrannisch: sie ist die dominierende Herrin. Daher ist es ganz normal, daß man Angst hat und vor ihr flieht. Nun haben wir uns zu fragen, warum sie eigentlich die Herrin ist.