Als Peredur kurz nach dem Verlassen des mütterlichen Universums eine Brükke überquert hat, die die typische Grenze zwischen dem, was war und dem, was sein wird, darstellt, ist die erste Person, die ihm begegnet, eine Jungfrau in einem Zelt inmitten eines Gartens. Er rauM ihr einen Kuß, einen Kuchen und einen Ring. Der Diebstahl, den er begeht, bindet ihn jedoch endgültig an die Jungfrau und damit an alle Frauen, die ihn im Laufe seiner seltsamen Suche fuhren werden. Der Kuß stellt den empfindsamen, gefühlsmäßigen, psychologischen Aspekt seiner Fahrt dar: er verspricht allen Frauen, denen er begegnet, seine Liebe und all diese Frauen sind nur vorübergehende Erscheinungen ein und derselben Göttin, der rätselhaften >Kaiserin<. Der Kuchen, den er gierig verschlingt, symbolisiert die Nahrung, die die Frau ihm gibt, und die sie ihm immer noch gibt, denn selbst in abgestilltem Zustand, d.h. der Muttermilch beraubt, erhält der Mann seine Nahrung noch von der Frau. Das ist der natürliche, materielle und animalische Aspekt seiner Fahrt. Der Ring ist die Vorwegnahme des Ringes, den ihm die >Kaiserin< gibt, es ist der gm, der von nun an sein Schicksal bestimmt. Das ist der magische, übernatürliche und metaphysische Aspekt der Quete. Und die Herrin des Gartens ist der auslösende Ur-Grund dafür.
In dem Moment, in dem Owein in den Garten eindringt, um sich der Prüfung zu unterziehen, die man »Die Freude des Hofes« (>Joie de la Cour<) nennt, ist das erste, was er sieht, eine Jungfrau. Sie ist der Grund des Zauberbanns, der auf dem Land lastet. Die Herrin des Gartens breitet ihre Herrschaft auf das ganze Universum aus, denn der Garten ist ein Universum im Kleinen, ein Mikrokosmos. Die Herrin des Gartens ist das poetische Bild der Deesse-mere, der Herrin über Leben und Tod. Sie hält sich in der Nähe eines Baumes (eines Apfelbaumes) auf, der die Weltachse ist, um die herum sich das Leben dreht. Dabei denkt man unwillkürlich an den Garten der Hesperiden oder an das Paradies der Genesis.
Als Jaufre in das Schloß von Monbrun gelangt, schläft er in einem Zaubergarten ein, wo in den Zweigen der Bäume versteckt Vögel singen. Als er erwacht, sieht er über sich geneigt das Gesicht der Brunissen, der dunkelhaarigen Göttin, die sich sofort in ihn verliebt und ihn durch eine Art geis bindet. Denn Brunissen, die unter einer rätselhaften Trauer leidet, beklagt sich, verlassen zu sein; sie erwartet ihren Sohn und Liebhaber, den sie durch ihre Liebe verwandeln wird und mit dem sie über ein schließlich wieder versöhntes Universum herrschen wird, wo das Gute und das Böse nicht mehr existieren, wo die Situation vor dem Sündenfall wieder hergestellt sein wird.
Als eine Frau des Feenlandes Bran, Febals Sohn, aufsucht und ihm von den Herrlichkeiten ihres Landes vorschwärmt, um ihn dazu zu bewegen, dorthin zu kommen, so hebt sie hervor, daß es dort »einen alten Baum mit Blüten« gibt, »auf dem die Vögel durch ihren Gesang die Stunden angeben«.. Um Bran zu ermutigen, seine Reise fortzusetzen, fügt Mananann Mac Llir hinzu, daß es dort »einen Wald mit Blüten und Früchten gebe, dessen Blätter goldfarben seien«. Und dieser Wald befinde sich auf der Insel Emain, dem Feenland. Als Cuchulainn von der Fee Fand eingeladen wird, ihr in das Land der Verheißung zu folgen, schickt er zunächst seinen Kutscher Loeg als Kundschafter aus, und dieser erzählt ihm, was er gesehen hat:
»Am Osttor stehen drei Bäume in leuchtendem Purpur, auf denen endlos und süß die Vögel singen...Am Schloßtor steht ein Baum aus Silber, in dem die Sonne glänzt; seine strahlende Pracht ist der des Goldes ähnlich...Es gibt dort sechzig Bäume, deren Wipfel sich berühren und doch nicht berühren. Dreihundert Menschen ernähren sich von jedem Baum, von seiner reichlichen und einfachen Frucht...In dem Herrschaftssitz lebt ein Mädchen, das sich vor allen Frauen Irlands auszeichnet; sie ist schön, ist geschickt und trägt wallendes Haar...Durch ihre Liebe und Zuneigung verwundet sie das Herz eines jeden Mannes.«[127]
Als Conn der Hundert Schlachten auf einem kleinen Nachen Irland verläßt und sich dem Strom der Wellen überläßt, landet er auf einer wunderschönen Insel. »Auf der Insel gab es schöne Apfelbäume, zahlreiche, herrliche Brunnen, aus denen Wein sprudelte, einen Wald voll schimmernder Trauben, um die Brunnen herum Nußbäume mit herrlichen goldgelben Nüssen, all dies war umschwirrt von kleinen Bienen, die harmonisch über den von aromatischem Saft tropfenden Früchten summten.«[128] Dort wird Conn von einer Königin empfangen, die ein »Kristallgemach« besitzt, wo die Sonne eine sanfte, klare Atmosphäre mit übermächtigem Glanz verbreitet.
Als Viviane Merlin bittet, ihr zu zeigen, wie man einen Mann in Schlaf versetzt, befinden sich beide auf einmal in einem wunderschönen Garten, der »Repaire de Liesse« (Zuflucht des Jubels) genannt wird. Dort enthüllt Merlin ihr das Geheimnis, das ihn wenig später zu ihrem Gefangenen macht, und dort verrät er ihr auch drei Zauberworte, die es einer Frau ermöglichen, einen Mann daran zu hindern, sie körperlich zu besitzen, wenn sie es nicht möchte.
Als Tristan Yseult heimlich treffen will, wirft er Hobelspäne in einen Bach, die der Königin die Nachricht übermitteln. Nun verläßt sie das Gemach ihres Ehemannes, des Königs Mark, und begibt sich in einen verschlossenen Garten, wo ihr Liebhaber sie erwartet, — außerhalb der Welt, in einem Universum, wo Yseult die einzige, allmächtige Königin ist mit ihrem Haar, so leuchtend wie Sonnenstrahlen.
Man könnte noch viele Beispiele dieser Art aufführen. Man hat ständig den Eindruck, als ob an einem Ort außerhalb der Erde eine Frau regieren würde, deren Kennzeichen Schönheit, Licht und Macht sind. Sie ist die gern tyrannische Mätresse, der man immer gehorcht, die man niemals verstößt. Der Liebhaber liegt zu ihren Füßen und »labt sich an den Strahlen ihres Blickes.« Wichtig ist, daß immer wieder der Sonnencharakter der Herrin des Gartens festzustellen ist. Natürlich leben wir nicht mehr in einer Zeit, in der es — aufgrund der Schule Max Müllers — zum guten Ton gehörte, überall Sonnenhelden zu entdecken und die Mythologie als ein Versteckspiel der Sonne und der Planeten zu betrachten, was auf jeden Fall nichts erklärte. Und doch ist der Aspekt der Sonne von der Herrin des Gartens nicht zu trennen.
Zunächst wird uns Yseult mit einer blonden, goldähnlichen, also auch sonnenähnlichen, Haarpracht dargestellt. Grainnes Name stammt von irisch gra'n, was >Sonne< bedeutet. Die Königin der Feeninsel wohnt in einem Kristallpalast, oder besitzt ein Kristall- oder Glasgemach, wo alle Sonnenstrahlen zusammentreffen. Sobald man die Insel betritt, ist man geblendet von dem Licht, das der Landschaft zu entströmen scheint. Jetzt versteht man, daß der Garten auf der Insel der Apfelbäume (Insula Pomorum) eine Art Sonnentempel ist, der direkte Sitz der Sonne.
Und schließlich ist die Sonne in den keltischen und germanischen Sprachen feminin, was ein Indiz ist für das Fortleben einer weiblichen Sonnengottheit, die älter ist als das Bild, das wir uns von dem Sonnengott Apoll machen. Diese Tatsache ist übrigens nicht nur für die keltische oder germanische Tradition typisch, denn auch in der japanischen Mythologie gibt es eine Sonnengöttin, und auch die antike Gottheit der Skythen war weiblich und der Sonne zugeordnet, nämlich die berühmte »skythische Diana«, die die Artemis der Griechen wurde, und wenn Autoren der Antike über sie berichten, heben sie die grausamen und blutigen Rituale hervor, die ihren Kult begleiteten.
Alles fügt sich in den Rahmen der Auflehnung des Mannes gegen die Frau, eine Auflehnung, die einerseits geprägt ist von der Machtergreifung einer paternalistischen Gesellschaft gegenüber einer maternalistischen, und andererseits von einer totalen Umwertung der religiösen Werte: die ursprünglich weiblichen Gottheiten wurden durch männliche Gottheiten ersetzt, die den neuen gesellschaftlichen Strukturen entsprachen.
Ein typisches Beispiel für diese Verkehrung ist die Sage von Apoll. Auf der historischen Ebene, die sich durch den Mythos abzeichnet, bekämpft Apoll, der Sonnengott, die Schlange Python, die bis dahin über Delphi herrschte, tötet sie und setzt sich an ihre Stelle. Früher wurde in Delphi eine weibliche Erdgöttin, dargestellt durch die Schlange, angebetet. Dieser ursprüngliche weibliche Kult der Deesse-mere wurde also durch den Kult des männlichen Helden ersetzt. Aber der männliche Gott Apoll, und dies ist das Auffallende daran, braucht, um sich bei den Menschen Gehör zu verschaffen, weiterhin die Frau: seine Deuterin ist die Pythia, mit anderen Worten, die Priesterin der alten Religion, die in ihrem Amt geblieben ist und noch den Namen der alten Muttergöttin trägt und deren Bedeutung trotz allem im Laufe der Jahrhunderte sogar noch zunimmt.
Dies gibt Anlaß, die Figur des Apoll selbst einmal näher zu betrachten. Wer ist er eigentlich? Nach der griechischen Sagenliteratur, die, wie uns die Religionshistoriker in Erinnerung rufen, das Ergebnis einer Erstarrung verschiedener Glaubensrichtungen ist, die wir zum großen Teil nicht kennen, ist er der Sohn von Leto und Zeus. Man gibt ihm jedoch eine Schwester bei, nämlich Artemis, die spätere Diana der Römer. Apoll ist also die Sonne und Artemis der Mond. In Wirklichkeit waren die Rollen jedoch umgekehrt: man hat Appoll Artemis beigefügt, die ursprünglich die Sonnengöttin war. Artemis und Leto sind Doubletten. Artemis ist zugleich die Schwester (so die neuere Version) und die Mutter (nach der alten Version) Apolls. Diese Argumentation stützt sich nicht nur auf allgemeine Erkenntnisse über die Entwicklung der Religionen, sondern auch auf den keltischen Mythos von Modron und Mabon.[129]
Dieser Mythos von Modron und Mabon[130] enthält tatsächlich archaische Elemente, die sein Entstehen in der Vorgeschichte, zumindest in dem Bronzezeitalter vermuten lassen.[131] Mabon bedeutet ethymologisch >Sohn<. Er entspricht in der gallischen Form dem Maponos, der in Inschriften als Beinamen Apolls bezeugt ist. Damit ist jeder Zweifel an seinem Sonnen-Wesen ausgeschlossen. In dem Mythos, der der walisischen Erzählung Kulhwch et Olwen zugrunde liegt, kann der Held Kulhwch Olwen nicht heiraten, d.h. er kann sein Schicksal nicht verwirklichen, bevor Mabon, der an einem unbekannten Ort gefangen ist, nicht befreit wird. Nach zahlreichen Abenteuern entdeckt man, daß Mabon in einem Kerker sitzt, der nur über den Wasserweg erreichbar ist und unter der Stadt Loyw (Gloucester) liegt, deren Namen ausgerechnet »Zitadelle des Lichtes« bedeutet.
In gewisser Weise heißt das, »nichts geht mehr« im Universum, denn die Sonne wird jenseits des Wassers, d.h. in der Nacht, gefangengehalten. Die Alten glaubten nämlich, daß die Sonne nachts über den Fluß >Oceanos< reist, um am nächsten Morgen jünger und stärker als je zuvor wieder zu erscheinen. Bildlich dargestellt findet sich dieser Glaube in den berühmten Sonnenwagen der Bronzezeit, die Kultgegenstände waren und in den nordischen Ländern um die Ostsee herum besonders häufig gefunden wurden. Diese Sonnenwagen stellen, ebenso wie die Sonnenschiffe der alten Ägypter, die Sonne als Gold- oder Kupferscheibe dar,[135]
Anm. 135: Man beachte, daß diese Sonnenscheibe aus Kupfer eigenartigerweise wieder in dem Chevalier au Lion Chretien de Troyes erscheint: »in einem Hof, in dessen Mitte eine Kupferscheibe hing... Der Vasall nahm einen Schlegel, der an einem Pfosten hing und schlug auf diese Scheibe.« Auf dieses Signal hin scheinen die Leute des Schlosses zu erwachen, und der Held wird von einer schönen und zuvorkommenden Jungfrau von großem und schlankem Wuchs empfangen, deren Zauber ihn während des ganzen Mahls gefangen hält. In: A. Mary: Le Chevalier au Lion, S. 130. — Chretien de Troyes hat diese Episode wohl einer sehr archaischen Quelle entnommen, denn man findet diese Elemente nicht in der entsprechenden walisischen Geschichte. Hingegen ergänzen sich die Details und zeigen deutlich, daß man sich in einem Sonnentempel befindet, denn der Ort heißt »Chäteau etincelant' (>funkelndes Schloß<) und ist »von den Fluten umspielt«; der Hausherr und seine beiden Söhne haben »blondlockiges Haar«, und es gibt auch »vierzundzwanzig Jungfrauen, die nahe des Fensters seidene Stoffe nähen« und natürlich die vierundzwanzig Stunden des Tages symbolisieren. In: J. Loth: Mabinogion II, S. 5 - 7.
…d.h. nicht in menschlicher Gestalt und nicht geschlechtlich bestimmt.[136]
Die Mutter Mabons ist Modron, die gallische Matrona, das heißt, die »Mutter«. Wenn Mabon die junge Sonne ist, die auf ihre Befreiung wartet (und man wird unschwer Parallelen zu dem Mythos der Leto ziehen können, die Hera daran hindert, Apoll und Artemis zur Welt zu bringen), so ist seine Mutter notwendigerweise die Sonnengöttin. Von Modron wird nun gesagt, daß sie die Tochter des Avallach ist, das heißt der Insel Avalon, und wir sehen, daß diese Figur eng verbunden ist mit dem Thema des Gartens, der Feeninsel, des Apfels, dem Symbol der Sonne, und auch an die prähistorische Verehrung des Bernsteins, eines anderen Symbols der Sonne, erinnert.[137]
Es besteht also die große Wahrscheinlichkeit, daß die Kelten, wie die anderen indoeuropäischen Völker, eine Sonnengöttin gekannt haben, die in der Bildplastik und in den Inschriften übrigens als Göttin Sul dargestellt und auf der britischen Insel in Bath verehrt wurde. Genauso, wie Apoll den Platz seiner Mutter und Schwester eingenommen hat, nimmt Mabon den Platz seiner Mutter Modron ein und schmückt sich mit verschiedenen Beinamen, wie Belenos, >der Leuchtende<. Dennoch bleibt die Erinnerung an die Mutter erhalten, die Belisama ( = >die hell Leuchtende<), und auch die deutlich erkennbaren Spuren in den verschiedenen Mythen bezeugen, daß die Frauen einst die Hauptrolle spielten. Dies trifft auf die Geschichte von Tristan und Yseult wie auch auf all ihre Archetypen oder Entsprechungen zu. Yseult wäre also wie Grainne oder Deirdre die neue und letzte Gestalt der alten Sonnengöttin, deren Bild im Inneren einer extrem vermännlichten Gesellschaft weiter besteht.
So wird die Struktur der Geschichte von Tristan und Yseult sehr klar und einfach, sofern man bereit ist, sie als Überrest eines weiblichen Sonnenkultes zu betrachten. Yseult (oder Essylt, — der ursprüngliche Name und seine Bedeutung lassen sich nicht mehr rekonstruieren) ist die Sonnen-Frau. Mark (oder March, was soviel wie >Pferd< bedeutet) ist derjenige, der die Sonne in die Nacht verschleppt, und ihre Wiedergeburt verzögert:[138] er ist der Lenker des Sonnenwagens, das ist für den Pferdegott, der er ursprünglich war, eine ganz normale Rolle.[139]
So verlief etwa die literarische Entwicklung des Sonnenwagens, des Kultobjektes aus der Bronzezeit. Tristan schließlich, dessen Name piktischen (und brit(ton)ischen) Ursprungs Dnistanos ist, was ,,Kraft des Feuers« bedeuten kann, ist der Anhänger dieser Sonnenreligion, derjenige, der seine Kraft aus dem Feuer der Sonne schöpft: er ist der Anbeter der Yseult, der Sonnengöttin, und er möchte sie deshalb Mark entführen, der sie zu lange in der Nacht gefangen hält.[140]
Dieser Charakter einer Sonnengottheit ist es, der Yseult und allen anderen keltischen Heldinnen jenen tyrannischen Aspekt verleiht, unter dem sie so oft erscheinen und der die Ursache dafür ist, daß der geis, über den sie verfügen, absolut und zwingend ist. Folglich ist es ganz normal, daß der Liebhaber der Yseult (und aller anderen Heldinnen), der ihr Anbeter und Anhänger ist, vor dem göttlichen Antlitz in Ekstase gerät: es ist die Quelle, nach der er sich sehnt, es sendet die Strahlen aus, an denen er sich wärmt, von denen er sich nährt und die seinen Durst löschen; und an den Strahlen der Königin, der göttlichen Herrin über Leben und Tod, leidet und stirbt er auch. Denn genauso wie Apoll Glück, Reichtum und Heilung, aber auch Krankheit und Tod zuteil werden läßt, vereint auch Yseult in sich die beiden grundlegenden Aspekte derselben Realität: sie ist der Scheideweg, an dem sich die Gegensätze begegnen.
Sie ist tyrannisch. Alle Damen (vom lateinischen Domina, >Herrin<) der höfischen Liebe sind tyrannisch. In Chretiens Dichtung macht Lancelot diese Erfahrung mit Guenievre. Grainne ist vielleicht das perfekteste Modell dafür, zu welch großer Leistung eine Frau einen Mann beflügeln kann. Aber im Unterschied zur griechischen Heldin (Phaedra), die sich keinen Gehorsam verschaffen kann, ist die keltische Heldin sicher, daß der Liebhaber ihr folgt und eine körperliche Beziehung zu ihr eingehen wird, die beide von der gesellschaftlichen Welt ausschließt, in der sie sich bisher bewegten. Im Gegensatz zu den griechischen Heldinnen, die wir von Racine kennen, wie etwa Hermione, vor der Orest unter Nichtachtung seiner Würde und seiner Ehre buchstäblich kriecht, duldet eine keltische Heldin niemals — und hierfür bildet Grainne den Beweis — eine erniedrigende und unwürdige Haltung. Wonach Grainne sich sehnt, ist ein verantwortungsbewußter Mann, der ihrer Achtung und ihrer Liebe würdig ist, und zwar deshalb, weil sie im alten Sinne des Wortes tyrannisch ist.
Es wäre tatsächlich sinnvoll, hier an die Muttergöttin der Etrusker zu denken, sie wurde Turan genannt, und ihr Name stammt von einer indoeuropäischen Wurzel tur ab, was soviel wie >geben< bedeutet. Diese Wurzel ist noch in dem griechischen bCjpov (doron = >Geschenk<) zu erkennen. Während mit dem Begriff >Tyrann< in geschichtlichen Zeiten ein wirklicher, grausamer und blutrünstiger Despot assoziiert wird, so dürfte dies in vorgeschichtlichen Zeiten möglicherweise nicht der Fall gewesen sein, vor allem, wenn die >Tyrannei< nicht von Männern, sondern von Frauen ausgeübt wurde.[141]
Anm. 141: Eine deutliche Erinnerung an diese Zeiten lebt in den keltischen Epen fort: es ist die magisch-kriegerische Erziehung durch die Frauen. Die irischen Erzählungen über die Erziehung des Cüchulainn und die Brautwerbung um Emer weisen archaische Einzelheiten hierzu auf. Cüchulainn, der sich im Waffenhandwerk bereits früh begabt zeigt, wird nach Schottland geschickt, um sich bei Frauen, die halb Zauberinnen, halb Kriegerinnen sind und die alle wie zum Fürchten aussehen, darin zu perfektionieren. Zunächst ist da eine gewisse Dordmair, deren Beschreibung in etwa an die der >Hideuse Demoiselle a la Mule' aus dem französischen Perceval und aus dem walisischen Peredur erinnert, mit anderen Worten, Kundrie die Hexe und Gralhüterin bei Wolfram von Eschenbach. Ihr folgt Scatach, deren Name >die Furchterregende' bedeutet, und ihre Tochter Uatach, deren Name wiederum soviel wie ,,die sehr Schreckliche« bedeutet. Dordmair verliebt sich in Cüchulainn, dieser stößt sie jedoch zurück. Scatach verschafft Cuchulainn »die Freundschaft ihrer Schenkel«, und der Held nimmt Uatach als Konkubine. Letztendlich heiratet Cüchulainn Aife für die Dauer eines Jahres, und sie schenkt ihm einen Sohn. Die magisch-kriegerische Initiation durch die Frauen ist offensichtlich und nur über sexuelle Kontakte zwischen der »maitresse« (hier sind beide Bedeutungen des französischen Wortes gemeint: »Herrin« und »Geliebte«) und dem Schüler zu verwirklichen (vgl. J.M., LEpoqèe celtique d'Irlande, S. 88 - 95). Eine andere irische Erzählung, Die Kindheil des Finn (Ibid.,S. 141 - 143), beschreibt, wie Finn Mac Cumail, der König der Fiana, von zwei Krieger-FYauen erzogen wird, die ihn in die Kunst der Jagd und des Krieges einführen. Bei einem Schmied, dessen Tochter er für ein Jahr heiratet, vollendet er seine Ausbildung und erhält seine Waffen. In der walisischen Überlieferung erscheint dieses Motiv in der Erzählung Peredur: der Held wird schließlich von den neun Hexen von Kaerlcyw erzogen, die ihn sowohl die Kriegskunst als auch die Kunst der Magie lehren (J. Loth: Mabinogion II, 75 - 76). Weiterhin sind Spuren dieses Brauches in der Erziehung Lancelots bei der Dame du Lac, d.h. bei der Fee Viviane zu finden, und auch in jener Art Schutzherrschaft, die ihm die Königin Guenievre zuteil werden läßt. So erkennen wir den wahren, alten Charakter GuenievreGwenhwyfars wieder, die ihre Liebhaber zu Tapferkeit und Waffenkünsten ausbildet. Die Frouwe der Höfischen Minne, die das Verhalten ihres Liebhabers während der Turniere aufmerksam beobachtet, die eigenhändig ihren Diener und Ritter bewaffnet, die in ihm den Sinn für Heldentum entwickelt, ist im Grunde die Erbin dieser keltischen Kriegs-Frauen, deren Existenz - angesichts der epischen Zeugnisse, die von ihnen berichten — nicht mehr in Zweifel gezcgen werden dürfte.
Ebenso, wie der keltische König ursprünglich ein König in moralischer Hinsicht war, der die Aufgabe hatte, die Mitglieder des Clans zu vereinigen und ihnen Nahrung und Wohlstand zugeben, so muß auch die >Tyrannen-Königin< der gynäkokratisch geprägten Gesellschaften das Geben als ihre Aufgabe betrachtet haben: Leben zu geben, Nahrung zu geben, zu trinken zu geben, Wohlstand zu geben, Glück zu geben und - wohlgemerkt — auch den Tod zu geben, denn genau in dem Moment, in dem man geboren wird, beginnt man zwangsläufig auch zu sterben. Ist es nicht bezeichnend, daß man in den Steinzeithöhlen, wie etwa in denen von Petit-Morin oder in den Dolmen und den Megalithgräbern, wie in Locmariamer, Darstellungen der Göttin findet, die sie zugleich als Beschützerin der Ernte, der Jagd, des Fischfangs und auch als Schutzgöttin der Toten zeigen?
In der Nacht, in der sich Yseult Tristan hingibt, gibt sie ihm alles. Sie verhilft ihm zu dieser zweiten Geburt, die er benötigt, um wirklich er selbst zu werden. Aber wenn er von Yseult eine Gabe (und was für eine Gabe!) erhalten hat, so muß er aufgrund des biologischen (und später moralischen) Gesetzes des Austausches auch alles geben. Jetzt erklärt sich die Unerbittlichkeit des geis: wenn die Frau alles gibt (und das tut sie, indem sie sich dem, den sie liebt, anbietet) muß der Mann ebenfalls alles geben (weshalb der Liebhaber sich ihr nicht verweigern kann). Das ist ein subtiles psychologisches Spiel, das auf einer durchaus biologischen Tatsache beruht (nämlich auf den ständigen Austauschprozessen des Organismus mit der Außenwelt), und dessen Entstehung bis in die graue Vorzeit zurückreicht. Das ist auch die Liebe, denn die Liebe ist der totale Austausch zweier Wesen.
Da jeder Frau ein mütterlicher Wesenszug eigen ist, kann es übrigens auch nicht anders sein. Die Mutter gibt dem Kind alles, da sie es zur Welt bringt und nährt, da sie es lehrt zu leben und selbständig zu werden und da sie es — bewußt oder unbewußt — die Welt der Sexualität und der Gefühle entdecken läßt. Das Kind hat zunächst nur den Horizont des mütterlichen Körpers, und wenn es sich schrittweise von ihm entfernt, dann bewahrt es eine unauslöschliche Erinnerung an ihn. Von diesem Augenblick an identifiziert sich das Mädchen mit der Mutter, und der Junge würde gerne wieder in seine Mutter zurückkehren. Die Beziehungen zweier Liebender haben daher notwendigerweise eine inzestuöse Komponente, da die Situation des Mannes gegenüber der Frau eine Situation der Abhängigkeit von der Mutter ist. Der Mann kann wohl versuchen, dies zu vergessen, er kann versuchen, diese Unterlegenheit zu kompensieren durch Gesetze, die die Frau herabsetzen, oder die sie zwingen, einen niedrigeren Rang einzunehmen. Aufgrund seiner mehr als triebhaften Reaktionen wird er diesen Sachverhalt nie aus der Welt schaffen können. Die Herrschaft der Muttergöttin ist nicht zu Ende, da sie quasi jeden Tag unter den Zügen der tyrannischen Herrin lebendig wird.
So wird die Rolle der Frau nicht so sehr in der Geschichte der Kelten, sondern eher in ihrem mythischen Denken sichtbar. Dies ist übrigens viel wichtiger, da es um die ideale Frau geht, um die Frau, wie sie den Völkern entsprechen konnte, in deren Partikularismus sich noch Vorstellungen erhalten konnten, die man längst verloren glaubte.
Zuerst hat man die Kelten zu sehr unter einem klassisch kartesianischen und danach unter einem im negativen Sinne des Wortes zu romantischen Blickwinkel gesehen. Unter der süßlichen Sentimentalität des bürgerlichen und puritanischen XIX. Jahrhunderts hat das Bild der Yseult erheblich gelitten. Man ist von der ehebrecherischen Liebe zwischen Tristan und Yseult schockiert, denn so etwas tut man nicht, zumindest nicht am hellichten Tage. Dagegen bedauert man sehrwohl die unglücklich Liebenden, die der Macht der Fatalität zum Opfer fallen. Die Fatalität ist jedoch eine bequeme Erfindung, um das Versagen unserer Verantwortung zu maskieren. Nie sind Tristan und Yseult sich ihrer Verantwortung bewußter gewesen als in dem Moment, wo sie den Inhalt des Kruges getrunken haben. Nie haben Diarmaid und Grainne ihre Verantwortung leidenschaftlicher bekannt als durch ihre Flucht. Das Gleiche gilt für Noise und Deirdre, für Blodeuwedd und Gronw Pebyr und viele andere.
Aber sollte man vergessen haben, daß die Hingabe nur freiwillig geschehen kann? Sollte man vergessen haben, daß es nur dort Verantwortung geben kann, wo es auch Freiheit gibt?
Nun, wir sind nicht frei. Wir sind Opfer von Vorurteilen, wir sind Gefangene der Gewohnheiten, die uns binden, wir stecken voller vorgefaßter Ideen. Und aus Mangel an gedanklicher Klarheit verkennen wir die wahren Probleme, die sich dem Menschen stellen, total.
Wir sind nicht frei. Besonders die Frau ist die Sklavin unserer Gesellschaft geworden, die eine Gesellschaft von Sklaven ist, die sich nicht einmal ihres Zustandes der knechtischen Unfreiheit bewußt sind, weil sie sich durch Worte berauschen lassen. Es genügt nicht, das Wort Freiheit ständig auszusprechen, es in allen Tonlagen zu singen, um wirklich frei zu sein, sondern man muß die Freiheit durch Taten verwirklichen.
Die moderne westliche Frau ist nicht frei, Yseult, Grainne und Deirdre waren dagegen freie Frauen. Die keltische Frau war frei, weil sie handelte, und dies im vollen Bewußtsein ihrer Verantwortlichkeit. Und da sie frei war, konnte sie lieben, denn da die Liebe ein Gefühl ist, das sich allen Zwängen und Gesetzen der Vernunft entzieht, können nur freie Wesen lieben. Dies ist vielleicht die wichtigste Lektion, die uns die wunderbare Geschichte von Tristan und Yseult erteilen kann.