Das Zeitalter der Disziplin dämmert herauf: Vernunft, Ohrfeigen und Selbstverteidigung

Vor diesem Kapitel hätte ich mich am liebsten gedrückt wirklich. Mit dem Wort »Disziplin« kann man Eltern ganz schnell erzürnen, verunsichern oder auf die Palme bringen. Sie halten wahrscheinlich Ihr Kind entweder für hoffnungslos verzogen oder für unnatürlich unterdrückt. Und sie denken das gleiche von den Kindern der anderen. Denn schließlich gibt es viele Spielarten des Familienlebens. Nehmen wir einmal irgendeine x-beliebige Straße: Herr und Frau Sorgsam achten immer darauf, daß ihre Kinder sich schriftlich für Geschenke bedanken, ihren Spinat aufessen, aufstehen, wenn ein Besucher den Raum betritt, und pünktlich um sieben Uhr das Licht ausmachen. Die Kinder dürfen nicht mit den Schuhen auf das Sofa, auch nicht mit Hausschuhen. Die Kinder der Nachbarsfamilie Sorglos flitzen prinzipiell mit ungekämmten Haaren herum, turnen mit Gummistiefeln auf den Möbeln herum, gehen zu Bett, wann es ihnen paßt, und beschimpfen ihre Eltern.
Sie sind jedoch eifrige Leser und sehr musikalisch. Wieder ein Haus weiter wohnt die Familie Verdrießlich. Auch deren Kinder gehen ins Bett, wann sie wollen, essen nie bei Tisch, sondern ernähren sich von Kartoffelchips und Wurstsemmeln und spielen mitten auf der Straße mit einem selbst gebauten Gocart, dessen Räder den Kinderwagen der Umgebung in den letzten sechs Monaten abhanden gekommen waren. Die Hackordnung ist hier komplizierter, als man auf den ersten Blick annehmen möchte. Ganz offensichtlich sind für Herrn und Frau Sorgsam die beiden anderen Familien indiskutabel. Andererseits gibt es in ihrer Familie oft Ohrfeigen, was wiederum die Familie Sorglos zutiefst entsetzt. In der Familie Sorglos kennt man keine Ohrfeigen, und die Kinder dürfen auch niemanden schlagen.
Das ist die einzige, feste Grundregel in ihrem chaotischen Künstlermilieu. Herr Sorgsam ist dafür, daß die Kinder sich tatkräftig zur Wehr setzen »Sie müssen lernen, auf eigenen Füßen zu stehen«, sagt er. Die Familie Sorglos rümpft die Nase, vor allem über Familie Verdrießlich, weil deren Kinder viel zu viel fernsehen und mit Blechdosen auf der Straße kicken. Die Verdrießlichs wiederum verachten die Kinder der Sorgsams, weil sie petzen, und sie rümpfen die Nase über die der Familie Sorglos, weil sie unanständige Worte benützen. Die Verdrießlich-Kinder haben allerdings das Herz auf dem rechten Fleck. Sie waren die einzigen, die neulich für das Kinderhilfswerk gesammelt haben. Die Sorgsams hatten Bedenken, ihre Kinder könnten zu müde werden, und die Familie Sorglos hatte das Datum vergessen. Allen sechs Eltern gemeinsam ist nur die tiefe Verachtung für die Familie Neureich, die in dem großen Haus ein Stück weiter oben wohnt, weil sie die leidige Frage der Kindererziehung auf ein bezahltes Kindermädchen und ein teures Internat abgeschoben haben.
Natürlich sind die Neureichs der Meinung, die drei anderen Familien zögen sich eine schreckliche Brut von Rowdys heran. Wer kann also bei so unterschiedlichen Lebensstilen schon sagen, was unter »Disziplin« zu verstehen ist? Und wie früh sollte begonnen werden? Es gibt immer noch verzopfte, autoritäre Hebammen und Kindermädchen, die allen Ernstes daran glauben, man könne ein neugeborenes Baby disziplinieren  - »halten Sie sich an den Vierstundenrhythmus,  und lassen Sie sie schreien, meine Liebe, sie muß lernen, wer hier der Herr im Hause ist«. Auch regelmäßige Schläge für Kinder unter zwei sind durchaus an der Tagesordnung (obwohl sie sinnlos und brutal sind). Sie und ich wissen, daß das falsch ist. Aber wir kennen auch alle die ängstliche Familie, in der das »Füttern auf Verlangen« Jahr um Jahr weitergeführt wird, bis es schließlich auch noch Aufräumarbeiten nach mitternächtlichen Teenagerpartys und die selbstverständliche Überlassung des Familienautos an fünf Tagen der Woche einschließt. Das wollen wir nun wieder nicht. Andererseits wollen wir aber auch nicht gefühllos-sture Feldwebel sein, oder? Schließlich sind wir eine Familie und nicht die chinesische Armee.
Das Wort »Disziplin« selbst ist schon eine Falle. Die Politiker werfen es uns an den Kopf, wenn nur einmal eine Bierdose von der Fußballstadiontribüne aufs Spielfeld geschleudert wird. »Keine Disziplin zu Hause gelernt«, heißt es dann. Andererseits predigen ernst zu nehmende Lehrer immer wieder das alte Lied, man solle die Kinder »zur Selbstdisziplin anhalten, anstatt ihnen strengen Gehorsam aufzulegen«. Väter kommen entnervt von der Arbeit nach Hause und beklagen lautstark, das Kind »hätte noch nie etwas von Disziplin gehört«, wenn der Fünfjährige partout wieder einmal nicht ins Bett gehen will. Und bei all dem geht uns die Geschichte aus dem alten Kinderbuch nicht aus dem Sinn, in dem zwei kleine Jungs stundenlang in einem dunklen Schrank eingesperrt waren, weil sie nicht folgen wollten. Aber lassen Sie uns nun einmal das Wort »Disziplin« ohne negativen Beigeschmack betrachten. Es hat etwas mit Ordnung zu tun, es bezeichnet die Fähigkeit des einzelnen, sein Verhalten in bestimmte geordnete Bahnen zu lenken. Das muß gelernt werden. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Disziplin der Verhaltensbereich ist, der von außen auferlegt wird, auch wenn dies durchaus sanft geschehen kann und sollte. Es ist nicht dasselbe wie die natürliche Freundlichkeit, die Ruhe oder die interessierte Versunkenheit in eine Aufgabe, die wir oft bei Kindern beobachten können. Ein schüchternes Kind bleibt nicht etwa auf der Straße bei seiner Mutter, weil es diszipliniert ist.
Andererseits verdient ein Kind, das furchtlos und neugierig ist und trotzdem gelernt hat, nicht gleich loszuspuren, höchste Anerkennung und Belohnung. Ein ohnehin ruhiges Kind ist nicht notwendigerweise besonders »brav«,  wenn es während einer langen Bahnfahrt stundenlang Bilder malt. Es ist auch nicht besser oder schlechter als der Bengel vom Abteil nebenan, der ununterbrochen den Gang auf- und abläuft und die Sitze auf Trampolintauglichkeit testet. Die beiden Kinder haben einfach unterschiedliche Charaktere und werden beide noch früh genug lernen müssen, die Instinkte, die ihnen die Natur mitgegeben hat, zu kontrollieren. Disziplin wird den kleinen Bücherwurm in die frische Luft hinaus treiben, damit er etwas Bewegung bekommt; und Disziplin wird den kleinen Vagabunden auch zum Stillsitzen zwingen, damit er seine Hausaufgaben erledigt. Bestimmte Regeln zu befolgen, ist nur ein Teil des Ganzen. Regeln sind notwendig für das Zusammenleben in einer Gesellschaft und zur Sicherheit des einzelnen. Aber echte Selbstdisziplin geht tiefer. Wir sprechen hier von einem Lernprozeß, der drei Dinge beinhaltet: Selbstbeherrschung, Rücksicht auf andere und warten können auf das, was man möchte. »Verzögerte Befriedigung« nennen die Psychologen das. Ein Neugeborenes weiß davon noch nichts. Es brüllt, wenn es hungrig ist oder sich nicht wohl fühlt, und es ist ihm völlig egal, daß es drei Uhr früh ist.
Es kann nicht warten. In den nächsten fünf oder sechs Jahren wird es diese brüllende Selbstsüchtigkeit aufgeben müssen, und Sie werden ihm dabei helfen. Aber wo fängt man an, und wie? Die meisten Eltern haben keine Erfahrung, wie man anderen die Grundbegriffe der Disziplin beibringt, es sei denn, sie waren Lehrer, Pfadfindergruppenführer oder Feldwebel. Sie lieben einfach ihren kleinen Sonnenschein über alles und ertragen es nicht, ihn traurig zu sehen. Ist das Kind unter zwei Jahre alt, hat es keinen Sinn, böse zu werden. Sie nehmen einfach dem Kind das verbotene Ding zum hundertsten Mal weg. Wenn jedoch der Zeitpunkt gekommen ist, an dem Ihr Kind zur Steckdose geht und dabei einen Blick über die Schulter riskiert oder sogar kichert, dann dürfen Sie schon einen schärferen Ton anschlagen. Gewaltanwendung ist unnötig. Ein ernstes, lautes »NEIN!« wirkt auf ein Kind, das liebevolle Zuneigung gewohnt ist, wie eine Ohrfeige. In diesem Stadium etwa beginnt auch die lebenswichtige Lektion der verzögerten Befriedigung. Ein Kind lernt, daß es auf sein Abendessen warten muß, weil sie es noch zubereiten. Auch hier ist es oft ziemlich schwer abzuwägen, ob es angebracht ist, ein Kleinkind, das nach seinem Essen quengelt, zusammenzustauchen. Denn einerseits könnte es ja wirklich schrecklich hungrig und dadurch völlig aus der Fassung sein, und bei einer anderen Gelegenheit will es vielleicht nur seine Macht ausprobieren. Im ersten Fall kann es schlimme Folgen haben, wenn Sie ausrasten. Es jagt dem Kind einen Schrecken ein, ohne es etwas zu lehren. Sie müssen also eine Engelsgeduld aufbringen, auch wenn das bedeuten kann, daß Sie einfach aus dem Zimmer gehen und die Katze mit üblen Flüchen bedenken müssen. Wird es erst einmal ganz offensichtlich, daß das Kind Sie ganz bewußt austricksen will - normalerweise ab drei Jahren - dann schadet es meiner Meinung nach nichts, auch gelegentlich laut zu werden.
Irgendwann müssen unsere Kinder lernen, daß auch ihre Mütter Gefühle haben. Aber schmollen sollten Sie nie. Kleine Kinder vergeben und vergessen innerhalb von Sekunden, und so müssen Sie das auch halten. Wie oft tönte fast in einem Atemzug durch unser Haus ... »HALT' DEN MUND! Komm' Kleines, hinein in die Badewanne, so ist's brav!« Es erleichtert den Disziplinierungsprozeß, wenn Sie sich die Mühe machen zu erklären: »Wir können jetzt nicht mehr zum Spielplatz gehen, weil der Installateur kommt. Wenn er nicht kommt, haben wir kein heißes Wasser zum Baden. Und das brauchen wir, denn sonst werden wir so schmutzig, daß wir krank davon werden«, usw. usw. Nützlich ist auch darauf hinzuweisen, daß~ alle Menschen sich bestimmten Regeln unterwerfen müssen, eine Tatsache, die das Kind nicht wissen kann, ehe es zur Schule gebt. Die meisten Vierjährigen sind fasziniert von Gesetzen, Polizei und Gefängnissen und finden es toll, daß auch ihre mächtigen Eltern sich unterordnen müssen. So ganz nebenbei können Sie auch eine Begründung für etwas einfließen lassen, das Sie selbst nicht sonderlich gerne tun, aber womit Sie jemand anderem helfen: »Ach ja, wir wollten den schweren Wäschekorb für Mrs. Biggs von nebenan zum Waschsalon bringen, es geht ihr nicht so gut.« Oder: »Wir sollten jetzt unseren ganzen Picknickabfall zusammensuchen. Es wäre ja gar nicht schön, wenn andere Leute ihn fänden.« Dafür braucht es allerdings schon ein wenig diplomatisches Geschick, ansonsten bekommt Ihr Kind den Eindruck, alle anderen Leute seien nur unangenehme Plagegeister. Dazu fällt mir der alte Scherz ein: »Gott hat uns zur Erde geschickt, damit wir anderen helfen. Warum er die anderen geschickt hat, weiß nur er allein.«
In allen Entwicklungsphasen zahlt es sich aus, sein Kind gut zu kennen. Mein Sohn machte zum Beispiel mit vier Jahren eine Zeit durch, in der er jedesmal, wenn wir ihm etwas verboten haben, wütend »ihr Blödmänner« schrie, aus dem Zimmer stürmte und die Tür hinter sich zuknallte. Ein älteres Kind hätten wir sehr wohl zurückgeholt und ihm eine Entschuldigung abverlangt (»So spricht man nicht mit seinen Eltern!«). Aber in unserem Fall unterwarf sich ein sehr kleines Kind einem Verbot, steckte zurück und ließ dann plötzlich auf die einzige Weise, die es kannte, Dampf ab. Also beschlossen wir, die Blödmänner zu überhören.
Im Grunde genommen ist die einzige Art von Disziplin, die man haben sollte, die Selbstdisziplin. Denn sind die als Bremsklötze fungierenden Eltern erst einmal weg, dann gerät ein Kind ohne Selbstdisziplin oftmals sehr leicht aus den Fugen. Die Kinder aus ganz gestrengen Elternhäusern kennen häufig keine Grenzen mehr, wenn Vater, Mutter, Kindermädchen oder Lehrer außer Sichtweite sind. Selbstdisziplin ist der einzig verläßliche Kontrollmechanismus. Damit sie funktioniert, muß erst das Konzept der »verzögerten Befriedigung« verarbeitet werden. Das ist heute, in unserer Wohlstandsgesellschaft, besonders schwer zu vermitteln. Ständig werden die Erwachsenen von Kreditgesellschaften und Geschäften umworben, doch »nicht mehr länger zu warten«. Doch irgendwie ist es für Sie als Eltern eine moralische Verpflichtung, Ihrem Kind beizubringen, daß man nicht immer alles gleich haben kann und sollte. Das muß nicht auf repressive Weise erfolgen. Das gute alte Prinzip des »guten Benehmens« hat nichts von seiner Wirksamkeit verloren. Jedesmal, wenn ein Kind sich ein Stück Schokolade für später aufhebt oder geduldig auf seine Geburtstagsüberraschung wartet, sollten Sie es dafür und für seine Ausdauer loben. Wenn es dann noch mit einem anderen Kind teilt, dann können die Loblieder gar nicht laut genug ausfallen (aber singen Sie erst später, wenn Sie mit Ihrem Kind allein sind).

QUENGELN.

Jammern, winseln, quengeln. Nennen Sie es, wie Sie wollen ein Ärgernis ist es allemal. Für Quengeleien kann jeder Mutter oder jedem Vater eher einmal die Hand ausrutschen als für viel schwerere Vergehen. Schon wenn die Kinder noch sehr klein sind, muß man anfangen, gegen die weinerliche Quengelstimme zu Felde zu ziehen. Freundlich bittet man sie, ihr Anliegen noch einmal vorzubringen. Selbst wenn Sie damit konsequent schon anfangen, solange das Kind noch zwei Jahre ist, werden Sie mit dem Quengeln einige Jahre leben müssen. Die Schwierigkeit bei der Therapie besteht darin, daß es Sie ganz persönlich auf die Palme bringt. Der Taktik mit der vertauschten Persönlichkeit des Kindes kann ich nichts abgewinnen: »Oh, wo ist denn mein Timmy? Statt dessen ist hier ein schrecklicher kleiner junge, der ständig quengelt. Ach, wenn doch mein Timmy wieder zurück käme...« Irgendwie ist mir diese Strategie unheimlich. jedoch habe ich mitunter schon schöne Erfolge erzielt mit der Behauptung, meine Ohren wären mit »Quengelfiltern« ausgestattet, die bewirken, daß ich Forderungen, die mit jammerndem oder aggressivem Unterton vorgebracht würden, einfach nicht hören könne. Wenn Sie dazu noch ziemlich überzeugend schauspielern können, wird es Ihr Kind zumindest halbwegs glauben. Es weiß zwar, daß das nicht stimmen kann, handelt aber so, als wäre es tatsächlich so. Es ist auch ein Spaß und hält Sie davon ab, zu wenig sozialen Mitteln wie Bestrafungen oder Anbrüllen zu greifen.

ESSEN.

Wenn es in diesem Bereich eine wahrhaft nutzlose Schlacht gibt, dann ist es die mit dem »Aufessen«. Essen sollte nicht eine Angelegenheit von Wohl- oder Unerzogenheit sein. Es dient einzig und allein der Energiezuführung oder dem Vergnügen. Kinder benützen seltsame Eßgewohnheiten, um Eltern zu ärgern, aber sie haben auch ganz bestimmte Abneigungen und Vorlieben. Wie auch immer, lassen Sie sich nicht zu einer Provokation hinreißen. Ein Stück Brot mit Erdnußbutter und danach Obst - das ist eine ausgewogene Mahlzeit. Und in der Richtung gibt es noch viele andere Möglichkeiten. Die einzigen Grundregeln, für die sich ein Einsatz lohnt, sind: keine leeren Kalorienbomben zwischen den Mahlzeiten außer an besonderen Tagen, und Nachtisch und Süßigkeiten erst nach Eiweiß und etwas Grünem. Versuchen Sie den lauten Aufschrei zu unterdrücken, wenn sich Ihr Kind bei einem Freund gierig auf das Fleisch und die Gemüsebeilagen stürzt, die es zu Hause nicht anrühren würde. Versuchen Sie wegen der auf Festen und auf Ausflügen angebotenen Müllnahrung nicht gleich hysterisch zu werden. In 99 Prozent der Fälle richtet ein gelegentlicher diesbezüglicher Ausrutscher keinen bleibenden Schaden an, auch wenn Ihnen beim Anblick der leuchtend orangen Mundumrandung Ihres Kindes schier die Galle hochkommt.

OHRFEIGEN.

Hier scheiden sich die Geister. Einige Länder verbieten die körperliche Züchtigung der Kinder durch die Eltern. In England wird heftig darüber diskutiert, ob wir dem Beispiel folgen sollten. Einigkeit auf breiter Front - ein paar verrückte alte Verfechter der Prügelstrafe ausgeschlossen - herrscht darüber, daß man Babys und Kleinkinder niemals schlagen sollte, daß es auch bei größeren Kindern nie über einen festen Klaps hinausgehen Sollte, und daß man ein Kind nie, unter keinen Umständen, mit der Hand oder irgendeinem Gegenstand - Stock, Löffel oder Riemen - auf den Kopf schlagen sollte. Aber auch die Stimmen, daß jede »körperliche, gewalttätige Handlung« gegen ein Kind strafbar sein sollte, werden immer lauter. Ich habe zu diesem Thema einige Interviews geführt und herausgefunden, daß die Befürworter dieser Idee immer Eltern halbwüchsiger oder bereits erwachsener Kinder mit einem schlechten Gedächtnis sind. Wenn ich versucht habe, ihnen das Zusammenleben mit einem aufsässigen Vier- bis Fünfjährigen wieder zu vergegenwärtigen, sah ich nur Unverständnis in ihren Gesichtern. Aber die Argumente waren nichtsdestotrotz interessant.

Die Hauptargumente gegen die Ohrfeigen waren:

  • Es nützt nichts.
  • Es verführt zu härteren Maßnahmen, vielleicht sogar zu Kindesmißhandlung.
  • Es ist viel symbolischer für eine negative Grundhaltung gegenüber Kindern, nämlich daß sie nicht die vollen Menschenrechte haben. Wir züchtigen ja auch Gefangene und Mörder nicht mehr körperlich.
    Als Alternative schlagen sie vor, mit dem Kind vernünftig zu reden oder es »einfach links liegen lassen« - ein wahrhaft arroganter Gedanke.

Die Argumente für eine gelegentliche Ohrfeige waren:

  • Es hilft manchmal wirklich.
  • Es muß nicht unbedingt zu härteren Maßnahmen führen. Auf tausend Familien, in denen Kinder gelegentlich eine Ohrfeige bekommen, kommt vielleicht eine, in der es zu anderen Gewalttaten kommt.
  • Katzen tun es mit ihren Jungen. Das soll nur beweisen, daß es so instinktiv und natürlich ist wie eine Umarmung. Und die Kinder lernen daraus, daß sie es eben einfach zu weit getrieben haben.

Die Ohrfeigenbefürworter weisen auch darauf hin, daß das »vernünftige Zureden« in eine unbarmherzige Nörgelei ausarten kann, und daß das »Linksliegen lassen« alle möglichen Spielarten von eiskalten, subtilen Grausamkeiten in sich birgt.
Ich erinnere mich an eine Geschichte, in der eine böse Tante vorkam. jedesmal, wenn ein Kind ungezogen gewesen war, dachte sie sich eine besonders schöne Belohnung für die anderen aus, von der dann der kleine Übeltäter ausgeschlossen wurde. Kinder sind impulsive, aufregende Geschöpfe, und Lynette Burrows vertritt die Ansicht, das »kurze, dramatische Ereignis eines unerwarteten Klapses« bringe sie schneller wieder zur Vernunft als ewiges Gekeife. Meine Kinder haben ab und an eine Ohrfeige bekommen, deren Hauptvorteil ich darin sehe, daß eine unliebsame Episode dadurch zu einem schnellen Ende gebracht wurde und die Luft wieder rein war wie nach einem Gewitter. »Du sollst deine Schwester nicht knuffen und andere Leute nicht anspucken«, begleitet von einem Klaps auf den Hintern ist manchmal eine bessere Lösung als: »Also nun hör' mal zu: Du weißt doch, daß du deine Schwester nicht knuffen sollst - was würdest du sagen, wenn sie es bei dir täte? Sie hat es getan? Und dir dein Auto weggenommen? Nun, sieh mal, sie ist viel kleiner als du, und du hättest es mir sagen sollen, anstatt sie mit dem Fuß zu treten... Nein, du sollst sie nicht anspucken, das ist nicht nett nein, ist es nicht, werde jetzt bloß nicht frech, sonst gibt es heute keinen Nachtisch Frederick, so etwas darfst du nie wieder zu deiner Mutter sagen. Geh jetzt sofort in dein Zimmer.« Wenn Frederick sich dann noch weigert, in sein Zimmer zu gehen, dann wird seine Mutter noch ein wenig lauter werden oder ihn mit Gewalt dorthin bringen müssen (aber denken Sie daran, jede Art von Einschränkung wird gar nicht gerne gesehen).
Bis zum Mittagessen ist die Missetat längst vergessen, und der Entzug des Nachtischs mag dann als eine wahrhaft drakonische Maßnahme erscheinen. Den ganzen Tag wird daraufhin ein ungutes Gefühl in der Luft hängen. Hätten Sie Ihrem Sohn, aufgebracht wie Sie in Ihrem ersten Zorn waren, hingegen einen Klaps verpaßt (und ihm sein Auto zurückgegeben, das ihm seine hintertriebene Schwester geklaut hat), dann wäre die ganze Angelegenheit in ein paar Sekunden vorbei gewesen. Gut, Sie hätten seine Menschenwürde angekratzt, aber zumindest hätte er sich ein für allemal gemerkt, daß Treten und Spucken mit einem Verlust an Menschenwürde verbunden ist. Aber was immer Sie von der eben beschriebenen Situation halten - es gibt natürlich noch mindestens ein halbes Dutzend andere Möglichkeiten, sie zu meistern - wirklich negativ haben sich die Ohrfeigengegner lediglich auf das ohnehin schon geringe Selbstwertgefühl der Mütter ausgewirkt. Ganz ehrlich gesagt, hin und wieder rutscht uns einfach mal die Hand aus. Entweder signalisiert uns unser Instinkt, daß es richtig ist, oder aber wir sind so ausgelaugt, daß wir unseren Gefühlen einfach freien Lauf lassen müssen. Wenn dann aber angesehene Kindererziehungspäpste uns vorwerfen, Ohrfeigen seien etwas ganz Verworfenes und würden automatisch zu Kindesmißhandlungen führen, dann geraten wir natürlich in Panik. Unsere Instinkte funktionieren nicht mehr! Wir sind schlechte Mütter! Irgendwie hatten wir es ja schon immer gewußt, schon vom allerersten Augenblick an, als aus der natürlichen Geburt plötzlich eine Zangengeburt wurde.
Wir sind grausame alte Vetteln, die nur durch strenge Gesetze unter Kontrolle gehalten werden. In unseren kalten, nordischen Kulturkreisen bedarf es nur sehr wenig, um Müttern ein tiefes Gefühl der Unzulänglichkeit zu geben. Meiner Erfahrung nach ist die Zeitspanne, in der es in normalen, liebevollen Familien zu Ohrfeigen kommt, sehr kurz - etwa, wenn die Kinder zwischen drei und fünf sind. Ist das Kind älter, hat es seine Menschenwürde zusätzlich gefestigt. Dann zögert man schon eher, sie mit einer Ohrfeige zu erschüttern. Wenn Ihnen bei einem siebenjährigen Kind noch immer die Hand ausrutscht, dann sollten Sie einmal eingehend über sich selbst nachdenken. Denn schließlich ist das Kind in diesem Alter durchaus schon Vernunftgründen oder kleinen Bestechungstricks zugänglich. Sie können ihm Vorrechte entziehen, ohne wirklich unfair zu sein, einfach weil das Kind schon ein besseres Gedächtnis hat. Sobald meine Kinder Taschengeld bekamen, habe ich mit großem Erfolg auch Strafgebühren eingeführt (Treten und Spucken werden derzeit mit fünf Pence belegt.
Natürlich bin ich nicht herzlos. Die fünf Pence kann man durch Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Rücksichtnahme zurückbekommen). Es gibt noch viele andere, eher unerfreuliche Bestrafungsmaßnahmen: Fernsehentzug, Streichung des Lieblingsgerichts , Zimmerarrest, Besuchsverbot für Freunde usw. Das einzige, was man bei jeder Art von Bestrafung unter allen Umständen verhindern sollte: ESKALATION. Menschliche Konfliktsituationen tendieren leider dazu, sich enorm auszuweiten, wenn nicht einer der Betroffenen einen klaren Kopf behält. Passiert das nicht, dann können tatsächlich aus einer banalen Ohrfeige Kindesmißhandlungen werden, aus vernünftigen Erörterungen seelische Grausamkeiten. Normalerweise lassen es Eltern gar nicht so weit kommen. Erst wenn sie ihre Macht als Eltern benützen, um ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, die mit dem Kind gar nichts mehr zu tun haben, passieren die Katastrophen. Denken Sie immer daran: KEINE ESKALATION. Packen Sie sich selbst am Schopf, wenn Sie alleine sind oder sich so fühlen; wenn die tadelnden Vorwürfe sich schon über einen halben Tag hinziehen und Ihre Stimme dabei immer lauter wird; wenn das Taschengeld schon auf Wochen voraus mit Strafen belegt ist; wenn Ihnen die Hand unvermutet ausrutscht, noch ehe Sie sich ein Bild von dem Fall gemacht haben.
Gehen Sie aus dem Zimmer, bürsten Sie Ihr Haar, tun Sie sich irgend etwas Gutes. Schauen Sie sich ein Photo des kleinen Quälgeistes an aus der Zeit, als er noch ein süßes Baby war. Und weinen Sie, wenn Ihnen danach zumute ist. Dann machen Sie sich klar, wie gut Sie bisher alles geschafft haben. Sie haben ein gesundes, liebes, gescheites und trotziges Kind. Selbst der Trotz ist ein Zeichen von liebevoller, gewaltfreier Erziehung. Und wenn Sie dann dermaßen geläutert sind, denken Sie auch daran: Liebe ist besser als Gerechtigkeit. Eine Bestrafung, die aus Gründen der Liebe nicht stattfindet, bedeutet nicht, wie manche gerne behaupten, ein Kind zu verziehen. Im Gegenteil, das kann zur allerbesten Lektion werden. Es macht nichts, daß das kleine Teufelchen ungeschoren davonkommt, obwohl es in einem Wutanfall den Badezimmerspiegel zertrümmert hat, ein nagelneues Buch zerfetzt oder Sie zum fünfzehnten Mal eine dumme Kuh genannt hat. Nach einem kräftigen Donnerwetter sollten Sie manchmal auch Größe zeigen und Ihren Groll mit einer Umarmung und einem befreienden Lachen begraben.
Ja, Sie könnten sich sogar für Ihren Wutausbruch entschuldigen. Wie sonst sollte ein Kind lernen, es ebenso zu machen?