Als es noch Großfamilien gab, wußten die Kinder von klein auf, daß das Leben ungerecht ist. Schon das Kleinkind wußte, daß manche Menschen größer sind als andere, immer neue Kleider bekommen, anstatt alte auftragen zu müssen und Taschenmesser haben durften. Nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit fällt der Geburtstag bei vier oder mehr Geschwistern bei mindestens einem Kind nach Ansicht der anderen schöner aus als der eigene, und eine andere Schwester ist wiederum ungeheuer eifersüchtig auf den Geburtstag desjenigen Kindes, das seinen eigenen für gar nicht so gelungen hält. Die Gesetze des gesunden Menschenverstandes und der finanziellen Grenzen machen es schlicht unmöglich, daß jedes Kind genau zur gleichen Zeit das gleiche Geschenk bekommt. Ein gewisses Wettbewerbsdenken setzt ein, auf sonderbare Weise gepaart mit geschwisterlicher Zuneigung: Man hat festgestellt, daß Söhne und Töchter aus großen Familien leichter Freundschaft schließen, aber auch, daß sie schneller essen als Einzelkinder. Das liegt daran, daß sie immer versuchen, noch schnell einen Nachschlag zu bekommen, ehe der Topf leer ist.
In der modernen Zwei-bis-drei-Kinder-Familie ist das anders geworden. Eltern zweier Kinder, die altersmäßig nicht weit auseinander liegen, können die beiden Geschwister, sobald das jüngere Kind etwa drei Jahre alt ist, doch ziemlich gleich behandeln. Wenn eines ein kleines Geschenk bekommt, wird das andere ebenso bedacht. Sie können beide ins Kino, ins Schwimmbad oder zum Einkaufen mitgenommen werden. Sie können beide schon ziemlich früh Taschengeld bekommen, werden gleichzeitig eingekleidet und können sich gegenseitig schon kleine Geschenke zum Geburtstag machen. Und zu Weihnachten gibt's für beide qualitativ und quantitativ gleichwertige Geschenke. Das ging in meiner Familie ziemlich lange gut, bis zu dem Zeitpunkt, an dem meine Tochter wütend wurde, als sie bemerkte, daß die Patin meines Sohnes nicht auch die ihre sein konnte. Quasi als Ausgleich war es meinem Sohn unverständlich, daß er nicht auch einen Gips bekommen konnte. Das Argument, sein Arm wäre eben nicht gebrochen, zählte nicht. In diesem Augenblick wurde mir klar, daß ich einem schamlosen Irrtum aufgesessen war. Ich hatte von Anfang an eine dumme, wenn auch wohl gemeinte Taktik verfolgt.
Zwei verschiedene Kinder gleich behandeln zu wollen, ist zwar sehr verführerisch, führt aber zu ziemlich negativen Ergebnissen: Bei uns waren das ein riesiger Haufen von abgelegtem, kaputtem Spielzeug (nur eines der Kinder war wirklich groß genug für die verzierte Spielzeuggondel, die wir aus Venedig mitbrachten) und die Gewohnheit der beiden Kinder, die »Besitztümer« des anderen noch argwöhnischer auf Gleichwertigkeit zu überprüfen. Eine Freundin von mir erinnert sich, daß ihre ältere Tochter in der Schule begann, Blockflöte zu lernen und deshalb natürlich eine bekam. Ihre Schwester, die noch zu klein war, um Flöte zu spielen, nahm das sehr persönlich. Vergeblich versuchte ihr die Mutter klarzumachen, daß sie statt dessen einen Gymnastikanzug und Ballettschuhe für die Ballettstunden bekommen hätte, aus denen sich ihre ältere Schwester wiederum nichts machte. Nein, es mußte genau das gleiche sein, und wenn es nicht so war, dann war der Ärger vorprogrammiert. »Das ist gemeeeeiin!« Allmählich haben wir das begriffen und versuchen es jetzt mit langwierigen Vorverhandlungen: »Wenn er auf dem Nachhauseweg von der Mathestunde Pommes mit Mayo bekommt, dann kriegst du am Donnerstag welche, wenn er bei Matthew ist ... « Oder: »Ich kaufe ihm die Schienen für seine Spielzeugeisenbahn, und wir beide gehen uns dafür den Film anschauen, den er nicht sehen will ... « Dieses familieneigene Konkurrenzdenken ist meiner Meinung nach einer der Gründe, warum Geschwisterkrieg und entnervendes Gequengel (»Maami! Er hat mich geschlagen! «) auch durch die verminderte Familiengröße keineswegs aus der Welt geschafft sind. Bei sechs Kindern gibt es Kämpfe mit verteilten Rollen an verschiedenen Fronten. Bei zwei werden die Kämpfe nur mehr an zwei Fronten, dafür aber um so erbitterter ausgetragen. Die ewigen Streitereien sind ärgerlicher als alle anderen unangenehmen Dinge, deren Kinder fähig sind: ärgerlicher als Zerstörungswut, Unordentlichkeit, Frechheit, Trotz und Lügen. Sie bringen die Eltern näher an Gewalttätigkeiten als irgend etwas sonst. Nach all der Mühe, die man sich gegeben hat, erscheinen die Kinder plötzlich verzogen, lästig, undankbar, trotzig und gemein. Jetzt verstehe ich auch, warum in meiner Kindheit oftmals ein hysterisches »Ich schlage euch die Köpfe aneinander!« durch das Haus schallte, was natürlich niemals geschah. Ich hätte das auch schon oft liebend gern getan. Erst kürzlich wieder. Vor zehn Minuten, wenn Sie es genau wissen wollen. Und ich danke Gott für den Alkohol, ohne dessen beruhigende Wirkung ich jetzt nicht den Nerv hätte, weiterzutippen. Wenn ich etwas milder gestimmt bin muß ich jedoch zugeben, daß die leidige Angelegenheit auch gute Seiten hat. Früher oder später müssen alle Kinder lernen, lnteressenkonflikte durchzustehen.
Die Probleme mit den Eltern sind dazu nicht geeignet, haben die Eltern doch zu viele Trumpfkarten in der Hand. Außerdem sind die Kinder doch zu sehr von ihnen abhängig. Auseinandersetzungen mit Freunden sind besonders problematisch. Womöglich zieht sich der Gegner aus der Affäre, indem er einfach weggeht. In diesem Fall bleibt dann nur gegenseitige, kalte Abneigung. Streitigkeiten zwischen Geschwistern sind da viel besser: Hier haben beide etwa gleiche Ausgangsbedingungen, und keiner kann sich einfach aus dem Staub machen. Ein Bruder oder eine Schwester werden den Kampf weder bis zur totalen Niederlage des anderen führen, noch selber allzu schnell klein beigeben. Deshalb sind die Geschwisterkämpfe die beste Vorbereitung auf Auseinandersetzungen mit der großen, weiten Welt: auf Grenzstreitigkeit, auf Konkurrenz im Berufsleben, ja sogar auf die Ehe. Es muß zu einer Versöhnung kommen, weil sonst keiner der beiden Kontrahenten in Frieden und Anstand weiter existieren kann. Da lernen die Kinder doch wirklich was fürs Leben! Wenn Sie sich das klarmachen - was nicht ganz so einfach ist, wenn es auf den Rücksitzen im Auto schlimmer zugeht als wenn sie eine Schimpansenhorde geladen hätten -, dann werden die lautstarken Auseinandersetzungen erträglicher. Das zählt zur Rubrik Gesellschaftserziehung, sagen Sie sich, während Sie mit zusammengebissenen Zähnen versehentlich die Einbahnstraße in falscher Richtung fahren. Die Erkenntnis wertet natürlich auch gleich Ihre Aufgaben als Eltern auf. Sie müssen den allumfassenden Geist der Gerechtigkeit, der Gnade und des Friedens vertreten. Sie sind ein Kissinger, ein Terry Walte, ein Salomon. Bringen Sie Ruhe und Besonnenheit in die hitzige Auseinandersetzung. Damit legen Sie den Grundstein für zukünftige Friedensstifter und Schlichter in unserer stürmischen Zeit. Sollte allerdings nur die Gangschaltung krachen und Ihr Kotflügel den Sperrpfosten der Verkehrsinsel rammen, dann sollten Sie besser an den Straßenrand fahren und tief durchatmen. Das tue ich übrigens sehr oft, wenn die Streiterei im Auto losgeht. Ich halte nach einer sicheren Stelle Ausschau, fahre rechts ran, schalte den Motor und die Musik im Kassettenrecorder aus, verschränke meine Arme über der Brust und weigere mich strikt weiterzufahren, ehe das Gerangel und Gekeife auf den Rücksitzen nicht ein Ende gefunden hat. Vielleicht müssen Sie ein bißchen vermittelnd eingreifen, aber das ist den Aufwand wert. »Also hört mal, wenn ihr euch nicht einigen könnt, ob ihr Radio oder die Musikkassette hören wollt, dann gibt's keines von beiden. Wer heute dem anderen den Vortritt läßt, kommt dafür morgen dran.« Oder: »Okay, gut, das ist Rosis Buch. Aber wenn Nicholas jetzt darin liest, wird es dir nichts bringen, wenn du es ihm wegnimmst und es dabei in zwei Stücke zerreißt. Stimmt's?« Wenn Sie den Wagen rechts angefahren haben, können Sie auch das machen, was jeder gute Schiedsrichter machen muß: zuhören.
Terry Waite sagte mir einmal, das Wichtigste an seiner Arbeit, die jahrelang erfolgreich war, ehe er selbst gekidnappt wurde, war, stundenlang beifällig zu nicken, während ihm fanatische Terroristen ihre Lebensphilosophie darlegten. So müssen Sie es auch halten. Irgend etwas muß doch dran sein an dem Streit um den blöden Plastikdinosaurier, und das sollten Sie herausfinden. Ich habe das Beispiel eines Gerangels im Auto genommen, weil diese Kulisse das elterliche Allheilmittel bei Geschwisterstreitigkeiten, nämlich den Ruf »AUSEINANDER! Tom nach oben, Lucy, du bleibst hier! «, ausschließt. Das hat durchaus seine Vorteile, besonders wenn die Kinder sich gegenseitig zum Spielen brauchen. Letzten Endes werden sie nämlich so lernen, daß man seinen Spiel- und Gesprächspartner nicht gegen das Schienbein treten darf, wenn man seine Gesellschaft möchte und braucht. Aber das intensive Gespräch der Eltern mit den Kindern, bei dem der Streitpunkt analysiert und eine Lösung gefunden wird, ist pädagogisch wertvoller. Wenn Sie den Nerv dazu haben. Und in einem Auto oder in einer Ferienwohnung müssen Sie ihn haben. Hier ein paar Beispiele, worüber sich Geschwister streiten:
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MEIN UND DEIN.
Mit einer klaren, festen Linie in punkto Eigentum. Jedes Kind hat ein Recht auf ganz persönliche Dinge, die allen anderen heilig sein sollten. Jeder Verstoß dagegen wird unbarmherzig geahndet. Kann das Kind sich darauf verlassen, dann wird es auch nicht an die Schubladen der Geschwister angehen. Nicht bei allen Gegenständen sind jedoch die Besitzverhältnisse so genau geregelt. Wem gehört beispielsweise der Stein, der wie eine Eule aussieht und den eines der Kinder wer war es doch gleich wieder? - am Strand gefunden hat. Der Legobaukasten, der beiden gehört, der Modellbaukasten, den sie beide bekommen haben, und dessen Einzelteile inzwischen bunt gemischt sind? Ist eine eindeutige Klärung nicht möglich, ist wieder Salomon gefragt: Entfernen Sie den fraglichen Gegenstand ganz und gar, und warten Sie ab, bei welchem Kind die Empörung größer ist. Besser ist es natürlich, den Kindern ganz ruhig und ein wenig gelangweilt klarzumachen, daß keiner mit dem Gegenstand spielen kann, solange sie sich streiten, und daß sie sich deshalb lieber um einen Kompromiß bemühen sollten. Achten Sie darauf, ob ein Kind immer nachgibt oder auf seine Vorteile verzichtet. Ist das der Fall, dann sollten Sie in einem Gespräch unter vier Augen mit diesem Kind nicht an Lob sparen und es wissen lassen, daß Ihnen bewußt sei, wie schwierig das ist. Sagen Sie ihm, daß Sie stolz auf seine vernünftige Handlungsweise sind. Haben Sie Ihrem Kind erst einmal erfolgreich die Erkenntnis vermittelt, es falle ihm kein Zacken aus der Krone, wenn es einmal nachgibt, dann müssen Sie selbst natürlich auch zu diesem Prinzip stehen. Demonstrieren Sie also gelegentlich, daß auch Eltern vernünftigen Argumenten zugänglich sind. Nehmen Sie zum Beispiel die Schlafenszeit. Muß sie auch an Feiertagen oder in den Ferien stritt eingehalten werden? Warum sollte dann ein Kind nicht genauso streng sein und sich weigern, seine Schwester mit der Eisenbahn spielen zu lassen? -
WÜRDE.
Kinder haben ein beträchtliches Maß an persönlicher Würde. So mancher Streit entsteht, weil ein Kind nichts Besseres zu tun wußte, als seine Schwester als »Walze«, »Furzgesicht« oder »Heulsuse« zu bezeichnen. Ist die Lautstärke bei einem Pegel angelangt, der Sie notgedrungen auf den Plan ruft, sind auch dem anderen Kind inzwischen einige Kraftausdrücke eingefallen, und alle beide behaupten lauthals: »Er/Sie hat angefangen!« Rutscht dabei einem der beiden Streithähne die viel sagende Bemerkung »Nun, sie hat angefangen, das Furzgesicht« raus, dann haben Sie wenigstens gleich Klarheit. Erwähnen Sie beiläufig, Sie wüßten schon, wer der Schuldige sei, und lassen Sie es bei dieser Bemerkung bewenden. Ist der Fall nicht eindeutig, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder Sie »bringen die >message< rüber«, daß Frieden und Eintracht mehr Spaß machen als Kampf und Hader, verkünden streng, daß jede weitere Gewalttätigkeit mit der Bestrafung des Verursachers geahndet werde und ziehen sich damit zurück. Oder, wenn es wirklich ganz schlimm ist, trennen Sie die beiden. Geschwister können sich genauso wie Ehepartner schrecklich auf die Nerven gehen, wenn, sie zu nahe aufeinander hocken. - DIE MUTTER.
Eine schwierige Sache. Manchmal können Sie sich nicht uneingeschränkt Ihren Kindern widmen. Sie haben andere gesellschaftliche Verpflichtungen, dringende Arbeiten im Büro, die Überstunden erfordern, oder Sie fühlen sich nicht wohl und sind einfach deprimiert. (Alle Mütter sind hin und wieder deprimiert. Das ist absolut keine Schande!) Natürlich machen die Kinder in solchen Situationen alles noch schlimmer. Kaum tun Sie irgend etwas für ein Kind, heult das andere jammervoll auf und beklagt sich über die schlechte Behandlung. Dann lassen beide nicht locker und bestehen auf einer verbindlichen Aussage Ihrerseits, welches der Kinder Ihnen denn nun lieber sei. Als Antwort schlage ich eine Gegenfrage vor: »Welches deiner Augen hast du lieber? Welches deiner Ohren? Welchen deiner Füße?« Ganz wichtig an dieser Stelle ist, meine säuerliche Kritik an der versuchten Gleichbehandlung von Geschwistern am Anfang dieses Kapitels erst einmal wieder wegzustecken und in materiellen Dingen sehr fair zu sein. Aber eigentlich, das wissen Sie selbst am allerbesten, liegt die Ursache des Konfliktes tiefer: Versuchen Sie, die Überstunden abzubauen, sagen Sie gesellschaftliche Verpflichtungen ab, lassen Sie sich von niemandem drein reden und verwöhnen Sie Ihr geschundenes Ego. Nur so werden Sie am Ende des Tages auch noch etwas an Ihre Kinder weiterzugeben haben.
Bei Ihren Schlichtungsbemühungen sind folgende Grundsätze zu beachten und weiterzuvermitteln:
- Streitereien sind unproduktiv. Wortgefechte bringen nur etwas, wenn beide Seiten zuhören.
- Wenn der Streit an sich wichtiger geworden ist als das ursprüngliche Streitobjekt, dann es an der er Zeit, ihn zu beenden. Wirkliche Grundsatzdiskussionen sind selten.
- Sehr wenige Gegenstände sind es wert, eine glückliche Beziehung dafür aufs Spiel zu setzen.
- Ein ehrenvoller Frieden ist immer möglich.