Trainerstunden: Früh übt sich...

Sarah Ferguson, die Herzogin von York, wurde bereits im zarten Alter von zwei Jahren auf ein Pferd gesetzt. Mit drei konnte sie schwimmen, mit vier stand sie auf Skiern. Manche Kinder spielen mit drei Jahren schon Geige nach der Suzuki-Methode, andere manövrieren mit fünf Jahren ein kleines Segelboot. Wer es im Tennis oder beim Motorradfahren zu etwas bringen will, sollte schon mit vier anfangen und sich ein Beispiel nehmen an den kräftigen, kleinen Vorschulkindern in weißen Leinenpyjamas, die ihren Gegner gekonnt auf die Judomatte schleudern. So, und nun alle miteinander im Chor: Na und? Was soll's? Wenn Sie sich an diesem Aufschrei mit Inbrunst beteiligt haben, dann können Sie getrost zum nächsten Kapitel weiterblättern. Ihr kerniges Selbstbewußtsein als Eltern ist durch nichts zu erschüttern. Sind sie hingegen - wie die meisten von uns - beim ersten Abschnitt dieses Kapitels nervös auf Ihrem Stuhl hin- und her gerutscht und haben dabei Ihren Kindern draußen zugesehen, wie sie sich mit Plastikschwertern bekämpfen und unkontrolliert Steine gegen die Mauer werfen, dann müssen Sie sich mit diesem Thema eingehend befassen. Viele Eltern lassen sich von gesellschaftlichen Zwängen unter Druck setzen und melden Ihre Kinder bei zahllosen Kursen und Trainerstunden an, genauso wie Besitzer von alten Rostlauben verbissen weiter weiße Ralleystreifen aufkleben und chromblitzende, schnittige Spoiler kaufen. »Ach«, heißt es dann im Gespräch zwischen zwei Müttern, »Nicky ist ganz verrückt nach den Tennisstunden, aber natürlich bringt Taekwondo viel mehr als Training für die Skisaison, und ich glaube, es ist auch eine ausgezeichnete Konzentrationsübung für sein Cellospiel.« Prompt schlägt die andere Mutter zurück. »Nun, Samantha nimmt es mit dem Schwimmen sehr genau. Und mit den Suzukistunden am Mittwoch und Gymnastikunterricht am Donnerstag befürchte ich fast, daß das Reiten ein wenig zu kurz kommt. Sie will schließlich im Winter an einer Jagd teilnehmen. « Nicky und Samantha sind vier beziehungsweise fünf Jahre alt, und ihre Eltern sollten sich schämen.
In einigen Jahren werden diese beiden überforderten Knirpse Opfer eines Syndroms sein, das Lehrer in guten Wohngegenden immer häufiger beobachten. Ein Lehrer erzählte mir einmal: »Ich habe Kinder in meiner Klasse, die vor Müdigkeit kaum noch die Augen offen halten können, und das sind keineswegs die, die besonders viel zu Hause helfen müssen, sondern die, die jeden Nachmittag etwas anderes vorhaben. Mittelstandsopfer! « Ehrgeizige Eltern, die ihre Kinder auf Leistungssport trimmen, sind kein Sonderfall. Sportmediziner stellen mit Besorgnis fest, daß schon zehnjährige Eiskunstläufer oder Turner körperliche Wracks sind. Ich sehe durchaus eine, wenn auch weniger sichtbare, Parallele bei Kindern, die von den vielen außerschulischen Aktivitäten völlig überlastet sind, im Grunde genommen ganz normale Kinder, aber einfach übermüdet und aus der Bahn geworfen.
Kinder, die es verlernt haben, sich mit sich selbst zu beschäftigen, die es verlernt haben, herumzualbern, sich zu verkleiden und sich zusammen mit anderen phantasievollen Kindern Spiele auszudenken. Kinder, die in Gruppen besondere Kunstfertigkeit beigebracht bekommen, werden konkurrenzbewußt und entwickeln mit erschreckender Schnelligkeit Gefallen an Hackordnungen. Der oder die »Beste« wird auch entsprechend eingeordnet und behandelt. Kinder, die einfach nur miteinander spielen, haben ein anderes System. In einer freien, ungezwungenen Atmosphäre trägt jedes Kind sein besonderes Talent bei. »Matthew kann toll Maschinen zeichnen, und ich denke mir immer aus, was man mit diesen Maschinen machen kann. Rose kann affenflink ein Seil hinauf klettern, aber nur, weil Sally die besten Knoten machen kann.« Welche Kindergruppe wird nun mehr in der Gemeinschaft lernen und wahrscheinlich glücklicher sein? Also atmen Sie tief durch, und sprechen Sie mir das erste Gebot nach: Mit sechs Jahren anzufangen, ist immer noch früh genug. Bei vielem können Sie auch noch ein oder zwei Jahre zuwarten, und alle besonderen Fertigkeiten - selbst Sportarten, die nach besonderen Regeln gespielt werden - haben ohnehin noch Zeit. Natürlich gibt es Ausnahmen zu der Sechs-Jahre-Regel, ganz natürliche Ausnahmen. Kinder, die in der Schweiz oder in Skandinavien aufwachsen, werden auf Skier gestellt, sobald sie laufen können. Pferdenarren setzen ihre Kinder auf Ponies, sobald sie aufrecht sitzen können. Seglerfamilien drücken ihren Sprößlingen ganz selbstverständlich die Ruderpinne in die Hand, und Kinder von Familien, die glückliche Besitzer eines Swimmingpools sind, können meist schon sehr früh wie die Fische schwimmen. Aber diese Eltern tun das nicht, weil dies besonders wünschenswert oder pädagogisch wertvoll wäre. Der Schnee und das dicke, alte Pony und das Boot sind eben nun mal da. Und die Kinder machen es einfach den Eltern nach, so wie sie sich Autos aus Schachteln basteln. Verdächtig wird es erst, wenn das Erlernen dieser besonderen Fähigkeiten Teil eines sozialen Ehrgeizes wird oder des ach so modernen Drucks auf den Eltern, ihr Kind unaufhörlich und mit Gewalt »weiterentwickeln« zu müssen. Es ist, als stünden sie permanent unter dem Zwang, den Wert Ihres Kindes zu erhöhen, indem sie ihm »erwachsene Fertigkeiten« eindrillen. Nach einer jahrelangen Gewissenserforschung habe ich einige unbequeme Fragen zusammengestellt, die ich Ihnen hiermit besonders ans Herz lege:

  • Will mein Kind das wirklich? Hat es jemals auch nur die leiseste Neigung oder auch nur das geringste Interesse gezeigt - ein Pferd gestreichelt, ein Spielzeugboot gebaut, verzückt klassischer Musik zugehört, getanzt, seit es gehen konnte.
  • Ist es möglich, daß ich insgeheim wieder vier Jahre alt bin und mir einen Kinderwunsch erfüllen möchte?
  • Habe ich die entsprechende Sportart vielleicht gar ausgewählt, weil sie gerade »in« ist, vielleicht bei den oberen Zehntausend?
  • Habe ich mich dazu entschlossen, weil unser Nachbarsohn das auch macht und angeblich letzten Monat eine Bronzemedaille gewonnen hat?
  • Oder möchte ich einfach einmal jeden Mittwoch eine Stunde meine Ruhe haben und habe deshalb meinen eigenen Wunsch als »pädagogisch besonders wertvoll« getarnt? Haben Sie ehrlich geantwortet? Dann können Sie auch richtig entscheiden. Dazu noch Erfahrungen von verschiedenen Müttern:

SCHWIMMUNTERRICHT:

Eindeutig eine gute Sache. Kann das Kind jedoch erst einmal gut über und unter Wasser schwimmen, verliert es unter Umständen das Interesse am offiziellen Unterricht und blödelt lieber mit seinen Geschwistern herum. Vervollständigen Sie Ihre Hausapotheke mit Mitteln gegen Warzen und Fußpilz.

REITSTUNDEN:

Wenn das Kind nicht unbedingt ganz wild darauf ist, dann brechen Sie den Versuch sofort ab. Für unwillige Amateure ist die Sache zu teuer und zu gefährlich. Keine Sorge: Das in die Ausrüstung investierte Geld können Sie wieder rein holen, wenn Sie die Sachen verkaufen.

SKIKURS:

Funktioniert genauso. Manche Kinder sind begeistert, andere finden es schrecklich. Es bricht dem Kind kein Zacken aus der Krone, wenn es zum Schlitten zurückkehrt.

SEGELKURS:

Siehe oben. Kaufen Sie dem Kind einen wasserdichten Overall, ehe es losgeht. Ein nasses, frierendes Kind kann sich nicht konzentrieren. Ich persönlich würde niemals einen Segelkurs für ein Kind vorschlagen, wenn es nicht selber ausdrücklich danach verlangt. Warum? Ich segle selbst, bin neununddreißig und finde es manchmal immer noch schrecklich.

EISLAUFEN, MOTOCROSS, TENNIS

und andere Sportarten: Wenn es in dem entsprechenden Club keine kostenlosen Probestunden gibt, vergessen Sie es.

MUSIKUNTERRICHT:

Hier läuft's anders. Anfangs weitermachen, auch wenn das Kind einmal nicht will. Oft gibt es nach mehreren Monaten einen Durchbruch. Ist das nicht der Fall, dann drängen Sie nicht weiter, sondern nehmen Sie das Kind statt dessen in ein paar gute Konzerte mit. Braucht die Welt nicht ebenso wie Musiker auch die Konzertbesucher?

THEATERGRUPPEN:

Gehen Sie mindestens zweimal als Zuschauer hin, ehe Sie Ihr Kind anmelden. Es gibt einige hochnäsige Geldmacher, die Theaterunterricht für Vierjährige anbieten - absolute Zeitverschwendung. Andererseits gibt es einige ausgezeichnete, wirklich traumhafte Theatergruppen.

BALLETTSTUNDEN:

Sehr gut für die Disziplin, als Koordinationstraining und als Übung, um »bei der Stange zu bleiben«. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund haben Kinder, die aus der Ballettstunde kommen, immer schlechte Laune und stoßen nach ihren Müttern. Wahrscheinlich hat das damit zu tun, daß die Anspannung des disziplinierten Verhaltens endlich nachläßt. Wenn Sie blaue Schienbeine nicht mögen, sollten Sie darauf bestehen, daß Ihr Kind die Ballettschuhe an behält, bis sich die Anspannung löst.