War das alles?

Das letzte Baby

Stellen Sie sich eine Gruppe von Freundinnen vor, alle in der Nachbarschaft. Sie hatten alle ihr erstes Baby ungefähr um die gleiche Zeit, saßen beim Kaffee zusammen und tauschten Erfahrungen über Muttermilch und erste Zähne aus. Dann kam eine nach der anderen mit der zweiten Schwangerschaft. Die Geschwister waren da. Die Kinder wurden größer, gingen gegenseitig zu den Geburtstagsfeiern, besuchten zusammen den Kindergarten und waren später in derselben Klasse. Alles ganz normal: die klassische Familie mit zwei Kindern. Alle hatten genug Platz in ihrem Auto, ausreichend Sicherheitsgurte, genügend Etagenbetten, wenn die Nachbarskinder über Nacht bleiben wollten. Die Mütter bekamen allmählich wieder die Figur zurück. Dann, eines schicksalträchtigen Tages, gähnte eine der Mütter, lehnte Kaffee und Alkohol ab und verabschiedete sich früh am Abend: »Nun, ja, warum sage ich es euch nicht gleich ... also, wißt ihr ...« Bestürzung, Klatsch, Neid. Eine Unruhe machte sich in der Gruppe breit, die Ehemänner rutschten unruhig auf ihren Plätzen und blickten verstohlen zur Seite. Nicht schwangere Mütter sahen mit Mißmut, daß ihre jüngsten Kinder so schnell in die Höhe schossen, schlank und groß wurden.
Die Zeit der Windeln und des Laufstalls war vorbei. Die Mütter machten einen Umweg zu der Entbindungsstation des Krankenhauses, sahen zu den Fenstern hinauf und überlegten sich, wie es wohl sein würde, noch einmal dort zu liegen, dickbauchig, nervös und aufgeregt, um ein paar Tage später mit einem neuen Erdenbürger in den Armen wieder nach Hause zu gehen. Die Frauen, die ein schönes Geburtserlebnis hatten und sich mit den Vorgängen zuvor intensiv beschäftigt hatten, waren bekümmert, daß all die wunderbaren Vorrichtungen in ihrem Körper - Eier, Eileiter, Gebärmutter - noch da waren, aber nie mehr zum Einsatz kommen und statt dessen in klimakterischer Nutzlosigkeit dahinwelken sollten. Sollte dieser warme, gemütliche Schoß, der noch so perfekt in Schuß war und nur zwei sorgsame Vorbesitzer hatte, nie mehr einen Mieter aufnehmen? Diese Brüste nie mehr ein Baby stillen? Und was war mit den Babysachen, der Rassel, dem Laufstall, dem Buggy... sollte da nicht auch einmal eine Entscheidung getroffen werden? Die Geschichte kann so und so ausgehen. Wahrscheinlich überwanden die meisten ihre wehmütige Phase und gaben sich damit zufrieden, das neue Baby der Freundin zu herzen. Einige Frauen folgten ihrem Beispiel und machten sich daran, ihren lang gehegten Geheimplan, mehr Kinder zu haben, in die Tat umzusetzen. Wenn sie das taten, mußten sie bemerken, daß die Gesellschaft heute eine Familie mit vier oder fünf Kindern eher schief ansieht, es quasi als perverse Zügellosigkeit betrachtet.
Freunde, die zuvor häufig und gerne zwei Erwachsene und zwei Kinder zu sich einluden, schrecken jetzt vor so vielen Personen zurück und brechen den Kontakt ab. Die vielköpfige Familie selbst wird die Freuden der Gemeinsamkeit genießen können, den engen Zusammenhalt und die Tatsache, daß immer jemand da ist, der das neue Baby schaukelt. Was ich damit sagen will?  Weil das zwanzigste Jahrhundert uns mehr medizinische Möglichkeiten als je zuvor gegeben hat, können sich Ehepaare, anders als unsere Großmütter, viel länger die Frage stellen: »War das mein letztes Baby?« Es ist eine erstaunlich schmerzliche Frage. Abgesehen von der Sehnsucht, noch einmal ein kleines Wesen mit Daunenflaum auf dem Kopf in den Armen zu wiegen, noch einmal das erste Lächeln zu erkennen, noch ehe es eines ist, noch einmal zwei stramme Beinchen strampeln zu sehen, haben viele von uns ein ungutes Gefühl dabei, unsere Familie künstlich zu begrenzen. Das ungute Gefühl verstärkt sich noch dazu mit der Anzahl der Kinder. Zwar mag es einsichtig, praktisch und absolut vernünftig sein, einen Schlußstrich zu ziehen, wenn es Ihre Finanzen, Ihre Lebensumstände und Ihre Wohnverhältnisse gebieten, aber Vernunft ist eben doch nicht alles. Haben Sie einmal einen so engen Kontakt mit elementaren Lebenskräften gehabt, wie ihn eine Mutter bei der Geburt ihres Kindes hat, dann verliert der gesunde Menschenverstand etwas von seiner Anziehungskraft. Wir haben neues Leben in uns gespürt, haben uns seinetwegen geängstigt, haben es geschützt, uns danach gesehnt, es schließlich schmerzhaft triumphierend auf die Welt gebracht und an unseren Brüsten gesäugt. Wir haben es auf ganz unvernünftige Weise geliebt. Sehen Sie sich einmal eine blasse Mutter und einen Vater an, die vor einem armseligen Würmchen in einem Brutkasten stehen und sich nichts so sehr wünschen, wie daß es am Leben bleiben möge, selbst wenn es behindert wäre. Sie werden zugeben" daß das mit berechnendem Kalkül wenig zu tun hat.
Auch wenn wir Witze über Entbindungsstationen reißen und uns über die ewigen Windeln und die nächtliche Ruhestörung beklagen, so haben wir doch nie die insgeheime Ehrfurcht vor dem Geburtserlebnis abgelegt. Nie werden wir jemals wieder etwas Bedeutsameres erleben. Ein entschlossenes »Nein« zu einem weiteren Kind ist in gewisser Hinsicht sicher sehr vernünftig. Auf einer anderen, nur halb bewußten Ebene ist es hingegen eine Ungeheuerlichkeit gegen die Natur. Außerdem steckt in jedem von uns ein gutes Stück Peter Pan. Schließlich schließen wir mit einem wichtigen Kapitel unseres Lebens ab, wenn wir keine »jungen Mütter« mehr sind, wenn wir unsere Kinder groß werden und zur Schule gehen lassen, wenn wir Töpfchen, Kinderstuhl und Strampelhosen weggeben. Das Leben mit neugeborenen Babys und atemberaubend schnell wachsenden, verrückten Kleinkindern war eine aufregende, ermüdende Reise, manchmal monoton, manchmal angsterfüllt, aber immer wundervoll. Etwa so wie eine Atlantiküberquerung oder die Erschließung eines undurchdringlichen Regenwaldes. Und wie immer, wenn eine große Reise zu Ende geht, überkommt uns ein Gefühl der Traurigkeit und des Verlustes - und die Erkenntnis, daß wir älter geworden sind. Das Leben mit größer werdenden Kindern ist in vieler Hinsicht, im Gefühlsbereich und intellektuell gesehen, viel anspruchsvoller. Dieses ganze Buch handelt von diesen Ansprüchen, und es war schwieriger und mühsamer zu schreiben als das erste Buch über Babys. Ihre Kinder werden groß, und Sie müssen das akzeptieren. Die Versuchung, noch ein Baby zu haben, das mit Milch, Liebe und ein bißchen Knuddeln zufrieden ist, kann ein Fluchtversuch sein. Nicht alle Eltern mit mehreren Kindern sind so, aber einige vernachlässigen ihre älteren Kinder und konzentrieren sich ausschließlich auf das neue Baby. Es gibt Leute, die schreiben seit ewigen Zeiten an einem Roman und sind nie über das erste Kapitel hinausgekommen. Manche Frauen schieben ihre kleinen Kinder quasi als Entschuldigung vor. Wie sagte doch eine Frau, als ihr jüngster zwei wurde: »jetzt wird's kritisch. Entweder muß ich jetzt wieder schwanger oder wieder schlank werden.«
Einigen Frauen graut es auch davor, an einen stumpfsinnigen Arbeitsplatz zurückzukehren, nachdem sie ihren Haushalt perfekt organisiert und Spaß an der Arbeit haben. Aber sie haben ohne die Entschuldigung, ein kleines Kind zu haben, nicht den Mut, zu Hause zu bleiben. Und einige denken so wie Mrs. Victoria Gillick, die katholische Kämpferin gegen Geburtenkontrolle, die einmal in einem Interview etwas gesagt hat, was mir nie mehr aus dem Kopf gehen wird. Sie sprach von ihren zwölf Kindern. (Ich habe neun davon kennen gelernt. Was immer man von ihr halten mag, auf ihre Kinder können sie und ihr Mann Gordon stolz sein.) Mrs. Gillick erklärte, eine Familie zu haben sei wie eine Party zu geben. Entweder kann man eine wohl geordnete Einladung zum Essen geben mit perfekt gedecktem Tisch und Einladungen, bei denen »um Antwort gebeten« wird. Oder man kann einfach sein Haus allen öffnen, alle willkommen heißen, die auftauchen, und den Abend genießen. Nennen Sie es verantwortungslos, wenn Sie wollen, eine Einstellung, für Armut und sozialen Abstieg geradezu prädestiniert.
Als Lebensphilosophie kann man dieser Einstellung die Würde jedoch nicht absprechen. Die Idee, die Familie als ein großes Fest zu sehen, zu dem der liebe Gott oder das Schicksal die Gäste schickt, hat was für sich. Wenn Sie selbst aus einer großen, verrückten Familie kommen, liegt Ihnen die Vorstellung wahrscheinlich noch näher. Mindestens zwei meiner Brüder, so wurde mir versichert, waren nicht geplant, aber der Gedanke einer Welt ohne die beiden erfüllt mich mit Entsetzen. Wie viele verpaßte Chancen, wie viele nicht gemachte Witze, wie viele nicht gespielte Hauskonzerte! Wie viele nie geborene Neffen und Nichten. Wenn ich jetzt einen Schlußstrich ziehe - operativ, chemisch oder wie auch immer - wie viele wunderbare menschliche Geschöpfe lauern da ungeboren im Nichts. Sie hatten nicht einmal eine Chance. Romantische, gluckige Gefühlsduselei, sagen Sie? Wie steht's mit der Überbevölkerung? Mit den Kosten für die Ausbildung? Es gibt ein Dutzend gute Gründe, die Familie klein zu halten, und nur ein sehr vages ungutes Gefühl oder eine sehr persönliche Vorliebe, es nicht zu tun. Aber können Sie allen Ernstes leugnen, daß Sie selbst auch schon einmal dieses Verlangen verspürten? Und wenn es doch da war, haben Sie es dann rasch verdrängt, so getan, als wäre nichts gewesen, und rasch ein paar wohl geordnete Kommentare von sich gegeben wie »... freue mich schon, wieder mehr Zeit für mich zu haben«. Und nachdem Sie das gesagt hatten, erfüllte Sie da nicht zumindest eine Zeit lang eine gewisse Traurigkeit?
Begegnen Sie nicht jedem nach Milch und Vertrauen duftenden Baby mit ein wenig Wehmut, vor allem, wenn Sie an die streitbare Rasselbande denken, die zu Hause auf Sie wartet? Ist Ihre Antwort ein klares NEIN, dann muß man Sie beglückwünschen. Ihr seelisches Gleichgewicht ist in einem besseren Zustand als das der meisten Frauen - zumindest besser als meines. Aber warum sollten Sie es andererseits verleugnen, wenn Sie diese seltsame, kosmische Traurigkeit erfüllt, die Frauen verspüren, die - aus welchen Gründen auch immer - sich entschlossen haben, keine Kinder mehr zu bekommen. Leiden Sie nicht alleine vor sich hin! Verdonnern Sie sich nicht zu Jubel, Trubel, Heiterkeit! Sprechen Sie über dieses Gefühl, schwelgen Sie darin, und wenn Ihr Mai-in eine finanzielle Misere heraufziehen sieht, dann erklären Sie ihm, daß Sie ihn damit nicht unter Druck setzen wollen, sondern einfach Trauerarbeit leisten müssen, für etwas, das nicht sein kann und wird. Man empfiehlt uns dringlichst, doch jede noch so ausgefallene sexuelle Phantasie auszuleben.
Die Sehnsucht nach einem weiteren Geburtserlebnis sollen wir dagegen einfach unter den Tisch kehren. Wie absurd! Also geben Sie sich der bitter süßen Mischung aus Erinnerung und Sehnsucht hin, und fragen Sie sich, wie dieses andere Baby das Phantom, das nie gezeugte Baby - wohl ausgesehen hätte. Trauern Sie, wenn Ihnen danach zumute ist. Eine Frau, die gerne ein Kind haben möchte, auch wenn sie schon sechs hat, ist nichts Ungewöhnliches, Abartiges oder Unnatürliches. Das ist nur das Leben, das versucht, herauszukommen. Sie können es verdrängen, aber nicht seine Kraft verleugnen. Der andere Weg aus dein Dilemma ist natürlich, Vorsicht, Spirale und Pille in den Wind zu schreiben und doch noch ein Baby zu bekommen. Aber das ist eine andere Geschichte.