Vorwort

Ich mochte sie schon gern, als wir noch gar nicht miteinander reden konnten. Die Kopelews waren wenige Wochen zuvor zu einem Studienaufenthalt nach Köln gekommen. Lew hatte sich bereit erklärt, in der Stadtbibliothek aus seinen Erinnerungen zu lesen. An diesem Abend bin ich Raissa Orlowa zum ersten Mal begegnet. Sie saß vorne, in der ersten Reihe, auf ihrem Schoß lag eine Kopie des deutschen Manuskripts von Lew. Während er vorlas, las sie mit: den Kopf tief über das Papier gebeugt, sehr aufmerksam, sehr konzentriert die Gelegenheit benutzend, Deutsch zu lernen. Anschließend saßen wir dichtgedrängt in einem kleinen Raum der Bibliothek zusammen; jeder wollte etwas anderes von dem Gast aus Moskau wissen. Sie saß »hilflos, stumm und taub« dabei. Ihr Mann dolmetschte meine Frage nach Autorinnen in ihrem Land. Eindringlich und liebevoll sprach sie von Vera Panowa, Y. Grekowa und natürlich von der Achmatowa. An diesem Abend offenbarten sich mir ihre Beharrlichkeit und ihre Fähigkeit, Mittlerin zwischen ihrem Heimatland und uns zu sein.
Zu der Sympathie gesellte sich die Solidarität. Nur wenige Tage nach dem Abend in der Bibliothek, am 12. Januar 1981, kam für die Kopelews der Ausbürgerungsbescheid. Ich versuchte zu begreifen, was das bedeutete; ich bemühte mich, mir vorzustellen, wie es mir ergehen würde: im Alter, über Sechzig, abgeschnitten zu werden von der Familie, Freunden, dem Zuhause, in ein Land verschlagen, dessen Sprache man nicht spricht, dessen »Ordnung« man nicht kennt, vor sich einen Lebensabend in der Fremde, im Exil. Rann Arbeit Schmerz betäuben?
Irgendwann bot ich Raissa an, einige Essays über ihre Erfahrungen für den WDR zu schreiben. Sie bilden den Grundstock dieses Buches, ihres ersten in der Bundesrepublik. Beim Mittagessen in der WDR-Kantine, bei Abendessen, zu denen Lois und Gerd Ruge, die Nachbarn und Freunde von Kopelews, einluden, auf Spaziergängen lernte ich Raissa Orlowa näher kennen.
Wir gehören beide einer Generation sowie der Zunft berufstätiger, schreibender, emanzipierter Frauen an. Das verbindet. Wie für sie hat auch für mich Emanzipation nichts zu tun mit Männerfeindlichkeit - dazu lieben wir unsere Männer viel zu sehr und schätzen sehr die Freundschaft unserer Freunde. Doch will mir scheinen, daß sie überzeugender als ich Selbständigkeit des Denkens und des Urteils mit der Fähigkeit verbindet, da zu sein für ihren Mann, wain immer er sie braucht. Selten begegnet man so unabhängigen voneinander Abhängigen wie ikr und ihm, wie Lew und Raissa. Und noch etwas verbindet mich sehr eng mit Raissa: unser Glaube an den Internationalismus, an das Gemeinsame der Menschenein Glaube, eine immerwährende Hoffnung, die Solidarität mit Verfolgten überall, weltweit gebietet: mit Bürgerrechtlern in der UdSSR, Schwarzen in Südafrika, Gefolterten im Iran, Verschwundenen in Lateinamerika.
Viel habe ich aus diesem Buch gelernt. Gleich auf den ersten Seiten: diese Republik neu zu sehen; vieles, was mir ob seinerbaren Selbstverständlichkeit nicht mehr bemerkenswert erschien, mit ihren Augen zu betrachten: Vor unseren Geschäften stehen keine Schlangen, und innen werden Obst und Gemüse zu allen Jahreszeiten, auch im tiefsten Winter, feilgeboten. Wir wählen zwischen zwanzig, dreißig Käse-, Wurst-und Marmeladensorten, zwischen zwanzig, dreißig Ferienländern und zahlreichen mir unbekannten Automarken. Wir berüliren Knöpfe, und Türen öffnen sich, Fahrstühle schweben in Höhen und Tiefen, Computer zeigen Zuganschlüsse, Wechselkurse und das Wetter an. Wir rangieren Kleider, Schuhe, Wäsche aus und stellen sie in Plastiksäcken auf die Straße, um Platz für Neuanschaffungen, das noch Modernere, zu finden. Wir lesen Camus, Faulkner, Joyce, ohne einen Gedanken darauf zu verwenden, daß Millionen Menschen Werke der Weltliteratur bis heute vorenthalten werden. Wir demonstrieren und vergessen, die Mehrzahl aller Europäer darf das nicht. Raissa Orlowa aus der Moskauer Kras-noarmejskaja-Straße macht es uns bewußt: Was uns längst als das Banale oder doch Selbstverständliche erscheint - es ist das kaum Vergleichbare, die extreme Ausnahme auf dieser Welt.
Lächelnd habe ich entdeckt, daß jedoch auch meiner Freundin, wenngleich auf einem anderen Feld, der Sinn dafür verlorenging, was als selbstverständlich, was als das Besondere gilt. Bildung scheint für diese russische Amerikanistin ein so unentbehrliches Lebenszubehör zu sein, daß sie das Streben danach für eine natürliche menschliche Eigenschaft zu halten scheint. Es gehört zu den unbeabsichtigten Vorzügen ihres Buches, daß wir aus ihm lernen können, wie reich Bildung Menschen machen kann. Als wir in Russen Untermenschen sahen und sie vernichten wollten, las sie Thomas Mann und Heine. Gewiß geht es anderen Lesern so wie mir: am stärksten beeindruckt mich der Geist des Buches. Gebannt sind Haß und Feindschaft. Es waltet Toleranz.
Es macht mich sehr betroffen, wenn eine so auf Verständnis bedachte Frau wie die Autorin von der Ausländerfeindlichkeit berichtet, die dem Fremden hier begegnet, und sich auf ihre verhaltene Art darüber wundert, von wie vielen die Ausbrüche des Hasses stillschweigend hingenommen werden. Dabei wirkt dieser ohne Wenn und Aber ausgesprochene Vorwurf der Raissa Orlowa um so stärker, da die Verfasserin immer wieder ihre Fähigkeit beweist, fernab von jeglichem Schwarz-Weiß zu differenzieren, einzuschränken, alle Seiten eines Gegenstandes zu betrachten.
Aus einem Ostblockstaat, in dem der Plan regiert, nach hier verschlagen, registriert die kluge Russin mit Erstaunen, welche Rolle auch hier das Planen, und zwar bei den einzelnen Menschen, spielt. Sie vermißt das Unvorhergesehene, das nicht Eingeplante, kurzum Spontaneität.
Aus russischen Dissidentenzirkeln kommend, in denen jeder auf den anderen angewiesen ist, auf seinen Zuspruch, seine Stütze, auch auf seine Herzenswärme, registriert sie die Neigung vieler Menschen hier, Gefühle eher zu verbergen als zu zeigen, anderen Mißerfolge, Kümmernisse zu verschweigen, Emotionen einzuzwängen in Rituale oder durch Floskeln vorzutäuschen. Unfähig, Zärtlichkeit zu fühlen oder auszudrücken, sind viele Männer hier doch wohlhabend genug, das Handikap des Herzens hinter einem teuren Geschenk in Zelluloidpapier mit rosa Schleifen zu verbergen.
Doch während ich dabei bin, der Autorin zu versichern, wie sehr auch ich Ungezwungenheit, Herzlichkeit und Wärme im Umgang hier vermisse, ist sie schon in der Betrachtung von Kehrseiten versunken und sinniert darüber, welche Vorzüge Höflichkeitsformen im Umgang miteinander haben, wie Voneinander-Abstand-Halten das Miteinander auch erleichtern kann: »Unantastbarkeit des seelischen Territoriums - welch unschätzbares Recht des Menschen!« Ich rate Lesern, nicht zu früh zu applaudieren.
«Uns trennen Mauern von Vorurteilen, Abgründe von Nichtwissen», beklagt Raissa Orlowa-Kopelew. Wie können wir sie überwinden und näher zueinander kommen? Meine Freundin will über die Mauern und Abgründe hinweg Sendbotin zwischen unseren Welten sein, ihren Landsleuten unser Land, uns Rußland näherbringen. Wie können wir beweisen, sie verstanden, ihre Intentionen aufgenommen zu haben?
Indem wir ungleich mehr als bisher lesen: Puschkin und Paustowskij, die Gedichte der Achmatowa und Schalamows Erzählungen, Ajtmatow und das Lebenszeugnis der Jewgenija Ginsburg - kein Werk hat mich in den letzten Jahren mehr bewegt als dies. Die Wirklichkeit betrachtend, das Leben der Menschen in der UdSSR, hilft uns Raissa Orlowa zu begreifen, daß die groben Unterscheidungen zwischen Unterdrückern und den Unterdrückten, Funktionären, Mitmachern und Oppositionellen unzureichend sind: »Es ist so bequem, in einer Schwarz-Weiß-Welt zu leben... Die Wirklichkeit ist komplizierter. Und wie schwierig es auch ist, man muß sich dennoch unbedingt bemühen, Nuancen zu erkennen.«
Wie können wir beweisen, sie verstanden, ihre Intentionen aufgenommen zu haben? Indem wir uns auf die Nöte und Schmerzen der sowjetischen Menschen einlassen, endlich lernen, daß Ost-West-Entspannung und Versöhnung zwischen unseren Völkern nicht bedeuten, Menschen, die für Menschenrechte kämpfen, von uns aus hier im Stich zu lassen. Sie brauchen unsere Solidarität.

12. November 1983. Der dritte Jahrestag des Exils. Ein schmerzliches Datum für die Kopelews. In der Nacht haben sie nicht schlafen können, sie sind bedrückt und übermüdet. Am Tag zuvor hatten sie im Zug zwischen Köln und Stuttgart mit einem unverbesserlichen Nazi im Abteil gesessen. Es ist das erste Mal in den drei Jahren, daß die Kopelews auf einen solchen Deutschen treffen. Am späten Vormittag des 12. erreichen sie die Saulgauer Kleber-Post. Dort haben sich einstige Mitglieder der Gruppe 47 eingefunden, darunter Grass und Johnson, Baumgart und Hildesheimer, um den 75. Geburtstag des Gruppengründers Hans Werner Richter festlich zu begehen. Professor Hans Mayer hält den Festvortrag, spricht aus eigenem Erleben in den Nazijahren über das Elend des Exils. Ganze Nächte haben sich Raissa und ihr Mann in Moskau zusammen mit Freunden die Köpfe über diese Gruppe heißgeredet, über die Struktur der Gruppe diskutiert, ihre Treffen, die Autoren. Jetzt, zwanzig Jahre nach der ersten Einladung von Richter, sind sie selber da. Das bedeutet Hans Werner Richter und auch ihnen viel. Am nächsten Morgen, auf der gemeinsamen Heimreise nach Köln, denkt Raissa noch immer an die beiden vorangegangenen denkwürdigen Tage für sie und Lew zurück: »Wir begegneten beiden innerhalb von nur vierundzwanzig Stunden: jenen Deutschen, die uns immer fremd bleiben werden, und den anderen: Wahlverwandten, Freunden.«
Köln, im November 1983    
Carola Stern

Autor(en)

Texttyp

Vorwort