Einleitung

Dieses Buch entstand aus Hoffnung und Verzweiflung. Es entstand aus dem unbezwinglichen Bedürfnis, meinen Verwandten in der Heimat mitzuteilen, was ich in den zweieinhalb Jahren meines Lebens in einer fremden Welt gesehen, gehört, erfahren und gedacht habe; aus dem Bedürfnis, mitzuteilen - wenn auch nur zum Teil -, was ich in einem langen Leben in Moskau gesehen, erfahren, gedacht habe.
Am 12. November 1980 kamen wir in Deutschland an. Am 13. schrieb ich meinen ersten Brief nach Hause. Seitdem schreibe ich ständig. Es sind persönliche Briefe, jeder ist nur an den Adressaten gerichtet. Aber ohne sie gäbe es dieses Buch nicht.
Man hat mich in der Bundesrepublik und später auch in anderen Ländern oft gefragt, wie ich mich in dieser Welt hier fühle, was mir gefällt und was nicht; was mir vertraut und was mir fremd ist. Ob das hier Gesehene und Erfahrene übereinstimmt mit den Vorstellungen, die ich aus Filmen, Büchern, Bildern und aus Erzählungen von Ausländern gewonnen hatte. Wieweit entspricht der reale »Westen« meinen bisherigen Vorstellungen? Manche Fragen konnte ich beantworten, auf sehr viele fand ich keine Antwort.
Wir sind Exilierte - die einen aus freiem Willen, die anderen durch den Willen des Schicksals. In bizarrer Weise - unvereinbar und doch untrennbar - begegnen sich in uns jene Welt, die wir verließen (oder die uns ausstieß), und jene Welt, die uns aufnahm. Vielleicht trübt diese besondere Kombination von Erinnerungen und Eindrücken nicht den Blick, sondern hilft mir sogar, das zu sehen, was diejenigen, die nur in einer Welt leben, nicht sehen können?
Manchmal scheint mir, daß ich einiges vermitteln konnte, daß man auf das hörte, was ich zu erzählen habe. Aber unvergleichlich viel öfter durchdringt mich das Bewußtsein des Unausdrückbaren und der Nichtübertragbarkeit von Erfahrungen. Es klafft ein unüberbrückbarer Abgrund. Ich versuche, meine Verzweiflung zu bezwingen, versuche - wenn auch nur in bescheidenem Maße - etwas von der Lebensweise im Westen nach Rußland zu vermitteln und umgekehrt ein wenig von unseren Erfahrungen in eine den Menschen im Westen verständliche Sprache zu übertragen.
Ich widme dieses Buch Verwandten und Freunden, denen ich trotz räumlicher Trennung, trotz Grenzen und Verordnungen untrennbar verbunden bin.
Ich widme es den Freunden im Westen, die mir halfen, neu zu beginnen.
Ich widme es - wie alles - Lew Kopelew.