Geschlechtertausch als literarisches Thema*
- (* Das Zitat stammt aus dem Divan-Gedicht »Gingo Biloba« von Goethe)
Adam und Eva.
Was durch eine Revolution bewirkt wurde,
muß durch eine Revolution aufgehoben werden.
Novalis
I
Anfang der 70er Jahre forderte der Hinstorff-Verlag, ein kleiner, aber renommierter DDR-Verlag, Autorinnen und Autoren auf, Geschichten zum Thema Geschlechtsverwandlung/Geschlechtertausch zu schreiben.[1]
Das Ergebnis dieser auf den ersten Blick etwas befremdlichen Auftragsarbeit war ein Sammelband, [2]der 8 Texte enthielt, 4 von Frauen und 4 vonMännern, darunter von so prominenten DDR-Autorinnen und Autorenwie Sarah Kirsch, die inzwischen in Westdeutschland lebt, Christa Wolfund Günter de Bruyn.[3] Die abgedruckten Geschichten nun sind je nachTemperament und Standort des Verfassers bzw. der Verfasserin sehr unterschiedlich. Mal verwandelt nur eine Person ihr Geschlecht, mal verwandeln sich Mann und Frau, mal ist die Geschichte eingebettet in die Normalität des DDR-Alltags, in die die plötzliche und unvermutete Verwandlung wie »Ein Blitz aus heiterm Himmel« schlägt - das ist der Titel der Erzählung von Sarah Kirsch -, mal spielt die Geschichte in der Zukunft, in der \die Geschlechtsumwandlung als wissenschaftliches Experiment durchgeführt wird, und mal werden Matriarchats- bzw. Hexenvorstellungen aktualisiert. Entstanden sind auf diese Weise Geschichten, die höchst aufregend und anregend sind und denen man ihren ursprünglichen Auftrags-Charakter nicht mehr anmerkt. Alle Geschichten entwickeln aus dem zunächst spielerisch anmutenden Einfall des Geschlechtertauschs eine fundamentale Kritik an der Unterdrückung der Frau und dem patriarchalischen Herrschaftsgestus des Mannes. Sie entwerfen darüber hinaus zumTeil utopische Bilder eines Lebens, in dem die Polarisierung von männlich und weiblich und die Festschreibung der Rollen märchenhaft-phantastisch aufgehoben werden. In Irmtraut Morgners Geschichte »Gute Botschaft der Valeska«, die sie später in ihren Roman »Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz« eingearbeitet hat,[4] geht der Wunsch der Wissenschaftlerin Valeska, ein Mann zu sein, plötzlich wie im Märchen in Erfüllung. Angeödet von ihrem Frauenalltag sagt sie: »Man müßte ein Mann sein« (S.35), und schon verwandelt sie sich in einen Mann. Auf ihre körperliche Veränderung reagiert Valeska nicht so sehr mit Erstaunen als mit Amüsement »angesichts des Gewächses, worauf Legionen von Mythen und Machttheorien gründeten« (S.38). Ihr fehlt, wie Irmtraut Morgner schreibt, »die entsprechende Rollenerziehung für den ernsten, selbstbewundernden Blick in die Mitte: das Vorurteil« (S.39). Die physischen Unterschiede erschienen ihr geringfügig im Vergleich zu den kulturellen: »Valeska hatte das geahnt. Aber sie hatte das nicht genau wissen wollen.« (S.39) Als eine Art von Zwitterwesen mit männlichem Körper, aber unter Beibehaltung weiblichen Empfindens, macht Valeska verschiedene erotische Erfahrungen mit Frauen, die für sie nun das andere Geschlecht sind. Diese verlaufen für beide Seiten befriedigender als normale hetero-sexuelle Kontakte, weil Valeska auch als Mann Sensibilität, Einfühlungsvermögen und Solidarität mit Frauen hat. Trotzdem ist Valeska nicht glücklich, weil sie sich als gespaltenes Wesen empfindet.
»Das Mannsein nützt mir ... wenig, wenn mir nicht auch meine Vergangenheit samt Rollenerziehung weggezaubert ist. Eine Frau mit männlicher Vergangenheit müßte man sein!« (S.60)
Sie kehrt zu ihrem Mann zurück, der sie - so verändert, wie sie ist - akzeptiert. Sie leben weiterhin zusammen und haben sogar sexuelle Beziehungen zueinander, die freilich nur dadurch möglich werden, daß Valeska eine entscheidende Konzession macht: »Um die landläufigen moralischen Vorstellungen nicht zu verletzen, legte Valeska übrigens die männliche Körperform während des Beischlafs vorübergehend ab. Indem sie einen Eßlöffel Baldriantinktur schluckte und sich für einen Augenblick konzentriert als aus einer männlichen Rippe gefertigt vorstellte. Rudolf liebte den penetranten Geruch aus unerotischen Gründen. Er hoffte jedesmal, daß Valeska den weiblichen Zustand anschließend noch eine Weile beibehielte. Weil er sich mal von der jetzt selbstverständlichen Gerechtigkeit bei der Verteilung häuslicher Pflichten erholen wollte. Vielleicht schlief er so häufig mit Valeska, weil er sich so sehr nach Erholung sehnte. Valeska entsprach seinem Wunsch bisher nicht.« (S.62/63) Valeska hat sich verändert. Sie hat ihre enge weibliche Rolle verlassen und männliche Verhaltens- und Denkweisen dazu gewonnen. Aber auch ihr Mann Rudolf hat sich verändert. Er akzeptiert Valeska als gleichberechtigten Partner, aber nur solange sie Mann ist. Im Unterbewußtsein sehnt er sich wieder nach der alten RoEenverteilung zurück, weil diese ja so bequem für ihn ist. Valeska kommt diesen Wünschen zwar nicht nach, verhält sich aber außerordentlich vorsichtig und behutsam. Sie nimmt Rücksicht auf ihren Mann, seine Gefühle und die herrschenden Normen. Sie ist für eine Politik der kleinen Schritte, nicht für den fundamentalen Umsturz der Geschlechterbeziehung. Ihre Lehre ist, wie sie selbst sagt, pragmatisch: Die Frauen haben ihrer Meinung nach - und das ist auch die Meinung der Autorin -, die Möglichkeit, die Menschheit zu retten, indem sie vorsichtig, diplomatisch die Geschlechterbeziehung reformieren, indem sie ihre enge, vorgezeichnete Frauenrolle verlassen, gesellschaftliche Aufgaben übernehmen und weibliche Vernunft überall dort zur Wirkung bringen, wo bisher männliche Irrationalität geherrscht hat. Ganz explizit spielt die Autorin am Schluß der Erzählung auf die Gefahr »einer Selbstvernichtung der Menschheit« (S.63) an, wenn die gesellschaftliche Entwicklung weiterhin in den Händen der Männer bleibt.
Irmtraut Morgners Hoffnung richtet sich auf die Frauen, die ihrer Meinung nach gerade aufgrund traditionell für weiblich gehaltener Eigenschaften wie Sensibilität, Mitleidsfähigkeit etc. alle die Voraussetzungen mitbringen, die für eine friedliche Entwicklung der Menschheit notwendig sind, wenn sie gewisse als männlich geltende Eigenschaften und Verhaltensweisen wie Aktivität, Durchsetzungsvermögen, Selbstbewußtsein etc. annehmen. Dann werden die Männer - so die unausgesprochene Hoffnung Irmtraut Morgners -, die sie im »Trobadora«-Roman in immer neuen erzählerischen Variationen entfaltet, sich ebenfalls verändern, nicht nur in den privaten Beziehungen, sondern auch in ihrem Selbstverständnis als Männer. Die »Vermännlichung« der Frauen und die »Verweiblichung« der Männer, das ist die Utopie, die hinter der auf den ersten Blick anspruchslosen, witzig-ironischen Erzählung von Irmtraut Morgner steht.
Sehr viel weniger hoffnungsfroh ist die Erzählung »Blitz aus heiterm Himmel« von Sarah Kirsch. Die utopischen Elemente sind hier bitterböse, ironisch eingefärbt.[5] Die Heldin Katharina, die sich plötzlich in einen Mann verwandelt und den Namen Max annimmt, gewinnt nach einer kurzen Irritation über ihren neuen Körper, Spaß an ihrer neuen männlichen Identität. Zusätzlich zu ihrer biologischen Verwandlung nimmt sie neue Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen an, guckt Fußballspiele an, repariert Autos, kurz, sie genießt die neuen Möglichkeiten und Privilegien als Mann. Zu ihrem ehemaligen Freund Albert entwickelt sich eine neue Form der Beziehung, sie wird zum gleichgestellten, gleichberechtigten Partner. Albert übernimmt selbstverständlich seinen Anteil an der Hausarbeit, er tut unaufgefordert alle die Dinge, um die Katharina ihn, als sie noch Frau war, immer vergeblich gebeten hatte. Über ihr gemeinsames Leben heißt es lakonisch im Text:
»Sie schnitten Zwiebeln und pellten Kartoffeln. Albert trug unaufgefordert den Mülleimer runter; Max verteilte die Bratkartoffeln auf zwei Teller und stellte eine Tüte Milch auf den Tisch. Albert riß sie auf und goß die Milch in einen gepunkteten bauchigen Krug. 'Wir waschen zusammen ab', sagte er. Sie aßen und hörten Radio, wuschen wirklich ab.« (S.21) Bitter konstatiert Max: »Jetzt, wo ich selbern Kerl bin, jetz kriekich die Ehmannzipatzjon.« (S.21)
Die Idylle am Schluß der Erzählung trügt. Das kumpelhafte Zusammenleben von Max und Albert macht deutlich: Ein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen Mann und Frau ist nicht möglich, die Geschlechterproblematik ist nur lösbar, wenn die Polarität zur Gleichgeschlechtlichkeit aufgelöst wird, die heterosexuelle Beziehung in eine homosexuelle umgewandelt wird. Ähnlich bitter ist auch das Resümee von Christa Wolf über die Beziehung der Geschlechter zueinander. Christa Wolfs Erzählung »Selbstversuch« ist ein Traktat zu einem Protokoll, so heißt es im Untertitel der Erählung, das eine Wissenschaftlerin zu dem an ihr vollzogenen Experiment einer Geschlechtsumwandlung schreibt. Die Geschichte spielt im Jahre 1992, also in der nahen Zukunft, und enthält viele Elemente von Science Fiction. Wissenschaftlern ist es gelungen, ein Medikament zu entwickeln, das Frauen in Männer verwandeln und wieder in Frauen zurückverwandeln kann. In einen Mann mit Namen Anders verwandelt, macht die ehemalige Frau zwei wichtige Entdeckungen. Sie gewinnt Einblick in die Mechanismen der patriarchalischen Gesellschaft und lernt den Zynismus der Männer und die Hohlheit männlicher Wissenschaft zu durchschauen. Anders als die Heldin bei Sarah Kirsch, paßt sie sich jedoch nichtan die neue Männerrolle an und läßt sich nicht zum Komplizen oder Kumpel machen, sondern die Frau in ihr bleibt lebendig und registriert wie einSeismograph die Unterdrückung und die Ungerechtigkeit in der Männergesellschaft, ja die Wissenschaftlerin, die sich bis dahin völlig den Normender sie umgebenden Gesellschaft angepaßt hatte, gewinnt erstmals ein Bewußtsein davon, daß sie in einer Männerwelt lebt. Darüber hinaus macht sie noch eine weitere wichtige Erfahrung. Sie entdeckt das Geheimnis derMännerwelt: Sie findet heraus, daß hinter der Fassade von Wissenschaftlichkeit, Machtgebaren, Rationalität, Fakten- und Zahlenfetischismus sichMänner verbergen, die, wie es im Text heißt, nicht lieben können, denenalso das abhanden gekommen ist, was einen wesentlichen Anteil des Menschen ausmacht, nämlich Sensibilität, Phantasie und Erotik. Krampfhaft versuchen die Männer diese Defekte zu verbergen und empfinden dieFrauen dabei als eine Gefährdung, weil diese sich nicht vollständig in ihreausgeklügelten Regelsysteme einpassen lassen, sich zumindest ihre Sehnsüchte nach Liebe und Zärtlichkeit erhalten haben.
So entpuppt sich die Erzählung von Christa Wolf beim genaueren Lesen als eine Geschichte über die Liebe zwischen Mann und Frau. Die Wissenschaftlerin, die in der Erzählung namenlos bleibt, läßt sich nur deshalb auf das Experiment ein, weil sie den Professor liebt und hofft, auf diese Weise seine Anerkennung zu gewinnen. Der Professor verwandelt seine Assistentin vor allem deshalb in einen Mann, weil er sich als Mann gefährdet sieht und sich vor seinen eigenen Gefühlen und Wünschen nach Liebe fürchtet. Als der Wissenschaftlerin diese Zusammenhänge im Verlaufe des Experiments klar werden, bricht sie den Versuch ab und verwandelt sich wieder zurück in eine Frau. Sie hat die Lebensfeindlichkeit des Experiments durchschaut. Das, was ihr ehemals als Krönung des wissenschaftlichen Fortschritts und als Lösung der Frauenproblematik erschien, nämlich wenn Frauen wie Männer werden, sieht sie jetzt als barbarischen Ausdruck einer pervertierten Männerwelt. Sie weiß über sich und den Professor Bescheid und schlägt selbstbewußt ein neues Experiment vor, nämlich, gemeinsam den Versuch zu machen zu lieben, der Annäherung und Verschmelzung der Geschlechter also nicht länger auszuweichen, sondern sie bewußt anzustreben. Mit diesem Vorschlag eröffnet Christa Wolf am Ende der Erzählung eine vage Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft von Mann und Frau, die freilich nicht mehr ausphantasiert wird, sondern als Aufgabe im Bereich der Zukunft angesiedelt ist.
Zum Abschluß der kurzen Vorstellung einiger Erzählungen aus dem Sammelband zum Geschlechtertausch will ich noch auf die Geschichte eines Mannes eingehen. In der Erzählung »Geschlechtertausch« erzählt Günter de Bruyn die Geschichte einer doppelten Verwandlung. Karl und Anna leben als Ehepaar in einer harmonischen Partnerschaft, die sie so eng und symbiotisch wie möglich gestalten möchten. Ihr gemeinsamer Stoßseufzer »Ach, war ich die Frau, ach, war ich der Mann« (S.198), ist ein Wunsch nach weiterer Annäherung. Wie im Märchen, wo man auch nur ganz intensiv etwas wünschen muß, geht ihr Stoßseufzer in Erfüllung, bringt die beiden aber nicht näher zusammen, sondern entfernt sie voneinander. Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Entwicklung Karls, der zur Karla geworden ist. Anna, jetzt Adam, taucht erst am Schluß der Erzählung wieder auf, da sie der Erzähler wegen einer Krankheit im Krankenhaus verschwinden läßt.
De Bruyn zeichnet mit sehr feiner Beobachtungsgabe die Stationen nach, die aus Karl schließlich endgültig Karla machen. Karl fühlt sich nämlich am Anfang der Erzählung - ungeachtet seiner Verwandlung - weiterhin als Mann, er wird aber von seiner Umgebung als Frau behandelt und rutscht unmerklich zuerst, dann immer deutlicher in die ihm aufgezwungene Frauenrolle hinein. Im Büro muß er die Blumenpflege, das Kaffeekochen und das Geschirrspülen übernehmen, da er als Frau von den Sekretärinnen nicht mehr bedient wird. Bei einer Arbeitssitzung erscheint es ihm schließlich schon selbstverständlich, daß er den Kaffee einschenkt.
Er muß erleben, daß er als Diskussionspartner nicht mehr gefragt ist.
»Als aber die sachlichen Erörterungen von zwanglosem Geplauder abgelöst wurden, merkte ich schnell, daß die fünf Männer am Tisch mein vieles Reden als unpassend empfanden. Gab ich Meinungen zur politischen Lage Ausdruck, ging man feinfühlig darüber hinweg.« (S.208)
Karl bleibt nichts weiter übrig, als die neue Rolle zu akzeptieren. Sein Selbstbewußtsein kann er nun nicht mehr aus seinem Intellekt und Witz beziehen, sondern ihm bleibt nur noch der Rückzug auf seine Wirkung auf die Männer. »Ich war schon so weit, daß ich die Frage nach meiner Wirkung auf Männer für eine nach meinem Wert oder Unwert hielt. Aber es kam noch schlimmer mit mir. Ich begann nämlich, nach dem neuen Maßstab meine Sympathien zu messen. Männer, die ich gleichgültig ließ, verloren in meinen Augen an Wert, solche, denen ich gefiel, gewannen. Auf die oberste Stufe aber rückte, wer mich verehrte oder begehrte.« (S.209)
Den psychischen Mechanismus, der hier am Wirken ist, durchschaut Karl sehr genau, kann sich ihm aber trotzdem nicht entziehen: »Antriebskraft dieses Mechanismus war der Hunger nach Anerkennung. Zur Zeit meines Männerdaseins war der vorwiegend in der täglichen Arbeit, im Gespräch, in Diskussionen gestillt worden. Jetzt war mein Wissen und meine Fähigkeit, ihm Ausdruck zu geben und es anzuwenden, zwar nicht geringer geworden, aber es galt weniger, es hatte an Gewicht verloren, man fragte weniger danach, vielmehr dagegen nach Fehlendem, das früher nie als fehlend erkannt worden war.« (S.209)
Je uninteressanter Karl als Gesprächspartner für Männer wird, desto interessanter wird er als erotisches Objekt. Er muß all die demütigenden Erfahrungen machen, die für viele Sekretärinnen wohl einschlägig sind. Karl kann damit freilich anders umgehen, da er die Tricks der Männer kennt, sich selbst noch als Mann fühlt und, wie de Bruyn kritisch anmerkt, ihm als Frau das Entscheidende fehlt: »Die Liebe zur Widerwärtigkeit der Männer« (S.214).
Gänzlich unerträglich wird Karl die Frauenrolle als eine große internationale Konferenz stattfindet, auf der er als Spezialist einen Vortrag halten will. Nicht genug damit, daß ihm das Referat von seinem Chef um die kritischen Passagen gekürzt wird, weil sich Kritik für eine Frau angeblich nicht ziemt, das Referat selbst wird als wissenschaftlicher Beitrag nicht ernst genommen. Karl erhält zwar Beifall, wird aber der Diskussion nicht für wert befunden. Als er sich empört - der Mann in ihm lehnt sich gegen die Behandlung auf - zu Wort meldet und mit Kraft und Aggressivität seine Thesen vertritt, breitet sich eine peinliche Stille aus. »Der Gewaltakt, mit dem ich das Pult erobert hatte, die Lautstärke, die Vehemenz meines Angriffs ..., das Unmelodische meiner Stimme, mein sich überschlagender Eifer - das alles hätte der gute Geschmack einem Mann vielleicht gerade noch durchgehen lassen, einer Frau mußte man es übelnehmen, auch wenn man eigentlich zu ihrer Partei gehörte, ihre Meinung teilte, ihr beizustehen gewillt war.« (S.219) Dem Chef gelingt es, durch sein geschicktes Eingreifen einen Eklat zu verhindern. Er lobt scheinheilig die Engagiertheit, das Selbstbewußtsein und die Polemik des Vortrags, preist in der Vortragenden die Vertreterin einer neuen emanzipierten Frauengeneration, beruhigt das Publikum aber mit der Bemerkung, daß es sich bei der polemischen Schärfe des Vortrags nur »um die notwendigen Begleiterscheinungen einer großen Sache, der Frauenemanzipation, um eine der sogenannten Kinderkrankheiten« (S.219) handele.
»Durch die mußte man hindurch, dann würde die Frau so sein wie das Gesetz einer fortschrittlichen Männerherrschaft es befiehlt: so ökonomisch nutzbringend, so souverän, so allseitig interessiert und gebildet wie der Mann, zusätzlich aber noch ausgestattet mit Grazie, Mütterlichkeit, Sanftmut, Liebreiz, Charme, Koketterie, Schönheit - kurz: mit all dem, was den Mann seit jeher an ihr erfreut.« (S.219)
Klar, daß daraufhin Karl für den Rest der Tagung völlig verstummt. Dafür wird er dann als »Sonnenschein der Konferenz« (S.220) gefeiert.
Verständlich auch, daß Karl nach all diesen deprimierenden Erfahrungen mit der Frauenrolle nichts sehnlicher wünscht, als wieder ein Mann zu sein. Gierig greift er nach der Möglichkeit einer Rückverwandlung, die ihm von den Ärzten eröffnet wird. Da aber muß Karl nun eine weitere deprimierende Erfahrung machen. Seine Frau Anna hat sich inzwischen so sehr an ihre neue Identität als Adam gewöhnt und genießt die Privilegien ihrer neuen Rolle so, daß sie keine Lust mehr verspürt, zur Frau zu werden. Zusammen mit einer Krankenschwester, mit der sie sich inzwischen angefreundet hat, beginnt sie ein neues Leben und läßt ihren Mann zurück. Ironisch empfiehlt ihm die Krankenschwester, »um die Vollendung der Frauenrechte zu kämpfen« (S.223) und fragt anzüglich: »Hat sich denn Adam als Anna jemals darüber beklagt, eine Frau zu sein? (...) Und tue ich es?« (S.223)
Spätestens hier merkt man, daß es sich bei de Bruyns Erzählung um eine sarkastische Kritik am sogenannten Realen Sozialismus handelt. Das, was nach offizieller DDR-Auffassung längst gelöst ist, nämlich die Gleichberechtigung der Frau, wartet noch immer auf Realisierung. Wir haben wenig Grund, darauf mit Häme zu reagieren: Sieh da, in der DDR, im gelobten Land der Frauenemanzipation, ist es mit der Gleichberechtigung auch nicht so weit her. Ganz im Gegenteil. Es ist ziemlich deprimierend, wie sich Erfahrungen von Frauen in der DDR mit unseren Erfahrungen hier in der BRD decken. Zwar ist die Gleichberechtigung formal in der DDR viel weiter vorangetrieben - so sind die Frauen in den vorgestellten Erzählungen wohl nicht zufällig alle berufstätig, der Typ der Nur-Hausfrau kommt gar nicht vor -, aber das grundlegende Problem, nämlich die Beziehung der Geschlechter zueinander und die patriarchalische Grundstruktur der Gesellschaft, ist in Ost und West vergleichbar, und es ist trotz allen unbestreitbaren Fortschritten auf dem Gebiet der Frauenemanzipation immer noch nicht gelöst.[7] Darauf weisen meiner Meinung nach nicht nur die kritischen Ausführungen in den vorgestellten Erzählungen hin, sondern vor allem das Phantasieren über das Thema Geschlechtertausch. In ihm drückt sich eine uralte Menschheitsutopie aus. Nämlich die, nach einer Aufhebung der zerstörerischen Polarität zwischen den Geschlechtern.
II
Schon in der griechischen Mythologie findet sich das Motiv des Geschlechtertauschs in vielfältigen Variationen. Ich greife davon eine heraus.
In Platons »Gastmahl« berichtet der Komödiendichter Aristophanes von der Existenz dreier Geschlechter. Ursprünglich gab es Männer und Frauen und, das ist in unserem Zusammenhang besonders interessant, doppelgeschlechtliche Wesen, deren Gestalt rund war, »so daß Rücken und Brust im Kreise herumgingen. Und vier Hände hatte jeder und Schenkel ebensoviel wie Hände, und zwei Angesichter auf einem kreisrunden Halse einander genau ähnlich, und einen gemeinschaftlichen Kopf für beide einander gegenüberstehende Angesichter, und vier Ohren, auch zweifache Schamteile, und alles übrige, wie es sich hieraus ein jeder weiter ausdenken kann.«[8] Die Götter sind auf diese harmonischen und kraftvollen Menschen neidisch und Zeus trennt deshalb das »Mannweiblich« in zwei Hälften, »wie man Früchte zerschneidet«.[9] Damit ist die ursprüngliche Einheit zerstört, der ehemalige Paradieszustand ist auf diese Weise unwiederbringlich verloren, das Unglück und die Sehnsucht sind in das menschliche Leben getreten.
»Nachdem nun die Gestalt entzweigeschnitten war, sehnte sich jedes nach seiner andern Hälfte, und so kamen sie zusammen, umfaßten sich mit den Armen und schlangen sich ineinander, und über dem Begehren zusammenzuwachsen starben sie aus Hunger und sonstiger Fahrlässigkeit, weil sie nichts getrennt voneinander tun wollten.« (S. 222)
Zeus hat Mitleid mit den Menschen. Er verlegt die Schamteile nach vorne, »denn vorher trugen sie auch diese nach außen und erzeugten nicht eines in dem andern, sondern in die Erde wie die Zikaden« (ebd.). Durch diese Veränderung wird das »Erzeugen ineinander« (ebd.) möglich und die Menschen können, jedenfalls für eine kurze Zeit, ihre Entzweiung in der Umarmung und sexuellen Begegnung vergessen. »Von so langem her also ist die Liebe zueinander den Menschen angeboren, um die ursprüngliche Natur wiederherzustellen und versucht aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen.« (ebd.)
Was sich in dieser Vorstellung ausdrückt, ist die tiefe Sehnsucht nach Überwindung eines Antagonismus und nach Wiederherstellung eines ursprünglichen paradiesischen Zustandes der Eingeschlechtüchkeit. Aristophanes nun meinte, daß dieser paradiesische Zustand vorübergehend in der Liebe zwischen Mann und Frau wiederhergestellt werden könnte,[10] nachfolgende Generationen haben nicht mehr so optimistisch darüber gedacht, weil sie die zerstörerischen Auswirkungen dieses Antagonismus am eigenen Leibe erlebt und dessen gesellschaftliche Verfestigung im patriarchalischen System beobachtet haben.
Der Wunsch nach Aufhebung des Antagonismus ist aber im Verlauf der Geschichte nie ganz verschwunden. Verständlicherweise ist er in erster Linie immer wieder bei Frauen laut geworden, weil sie ja die offensichtlichsten Opfer dieses Antagonismus geworden sind und ihre Lebens- und Glücksmöglichkeiten durch die Rollenverteilung und durch die Aufwertung der Männlichkeit und die Abwertung von Weiblichkeit im patriarchalischen System entscheidend eingeschränkt sahen. - Ich kann unmöglich in diesem kurzen Vortrag entwickeln, in welchen historischen Phasen und warum und auf welche Weise Geschlechtertauschphantasien aufgetreten sind, obwohl dies eine sehr reizvolle Aufgabe wäre, die meines Wissens noch niemand unternommen hat.[11]
Eine zusätzliche Schwierigkeit ergibt sich daraus, daß sich in den literarischen Zeugnissen die Phantasien über Geschlechtertausch überschneiden mit Matriarchats- bzw. Amazonenvorstellungen und zum Teil übergehen in Entwürfe eines androgynen Menschheitstypus. All diesen Vorstellungen gemeinsam ist der spielerische Entwurf einer neuen Ordnung der Geschlechter. Trotz der unbestreitbaren Gemeinsamkeiten halte ich es für sinnvoll, zwischen Geschlechtertauschphantasien, Androgynitätsidealen und Matriarchats- und Amazonenvorstellungen zu unterscheiden, zum einen aus dem praktischen Grund, weil das Material sonst fast unübersehbar wird, zum anderen, weil sich in diesen Phantasien eine sehr unterschiedliche Perspektive, Radikalität und Konsequenz im Umgang mit dem Problem der Geschlechterpolarität ausdrückt.
Geschlechtertauschphantasien sind, wenn man sie mit weit ausgeführten Matriarchatsentwürfen vergleicht, gleichsam Vorformen und Vorstufen, in denen eine gemeinsame Perspektive für das Zusammenleben von Mann und Frau intentional immer noch enthalten ist, während diese in positiv gemeinten Matriarchatsentwüfen zum Teil zu Gunsten einer freien Entwicklung von Weiblichkeit unter Verzicht auf Männer aufgegeben ist. Geschlechtertauschphantasien enthalten in erster Linie erst einmal Kritik an den bestehenden Geschlechtsrollen, indem sie diese spielerisch durchbrechen, darüber hinaus schimmern in ihnen aber utopische Vorstellungen eines neuen Lebens auf, die gespeist werden von den sehr viel radikaleren und weitreichenderen Androgynitäts- und Matriarchatsphantasien. Die Übergänge sind also fließend und daher werde ich auch die Grenzen nicht zu eng ziehen, damit die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Vorstellungsbereichen nicht verloren gehen.
Beschränken will ich mich auf zwei Epochen, die mir besonders wichtig und ergiebig für das Thema Geschlechtertausch zu sein scheinen. Die Romantik und zum anderen die jüngste Gegenwart, wo das Thema Geschlechtertausch, beeinflußt durch die neuere Frauenbewegung, eine neue Aktualität gewonnen hat.
III
Die Romantik als eine Oppositionsbewegung gegen verfestigte aufklärerische und klassische Positionen hat, wie die jüngste Forschung immer stärker herausgearbeitet hat, die bis dahin verdrängten Bereiche des Unbewußten und Triebhaften entdeckt und ist dabei auf das gestörte Verhältnis der Geschlechter zueinander gestoßen. Während klassische Autoren, wie zum Beispiel Schiller, die traditionelle Rollenverteilung, die sie durch die Französische Revolution und die einsetzende Industrialisierung gefährdet sahen - am Ende des 18. Jahrhunderts gab es erstmals so etwas wie eine Bewegung von Frauen,[12] - bemüht waren, die Rollen wieder festzuschreiben,[13] haben die Romantiker die zerstörerischen Auswirkungen bürgerlicher Liebe und Ehe auf beide Geschlechter in immer neuen Variationen thematisiert - sei es E.T.A. Hoffmann, bei dem der Künstler an der bürgerlichen Liebesauffassung zerbricht, sei es Tieck, Novalis oder Wackenroder, in deren Texten die Sehnsucht nach unentgrenzter Liebe an den bürgerlichen Verhältnissen zuschanden geht.
Im persönlichen Leben, aber auch in der Dichtung, haben sie nach AIternativen im Zusammenleben der Geschlechter gesucht. Das berühmteste Beispiel ist Schlegels »Lucinde«.[14] Schlegels Roman ist eine Männerphantasie über das Wesen von Mann und Frau und über die Liebe. Er ist lange Zeit als ein Roman gelesen worden, in dem ein Programm zur Emanzipation der Frau verkündet wird, in dem ein androgyner Geschlechtscharakter als Lösung der Geschlechterproblematik entworfen und in dem eine befreite Sexualität poetisch vorweggenommen wird. Stützen tun sich solche Einschätzungen vor allem auf den Rollentausch zwischen Julius und Lucinde, wo die Liebenden miteinander wetteifern, ob ihr die »schonende Heftigkeit des Mannes« oder ihm die »anziehende Hingebung des Weibes« besser gelänge. Zitiert ist in diesem Zusammenhang immer wieder dieSelbstinterpretation von Schlegel: »Ich sehe hier eine wunderbare, sinnreich bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit.« (S.12) Der Text aber bleibt weit hinter diesem anspruchsvollen Programm zurück. Wenn man sich nämlich die Geschlechtertauschszene ein wenig genauer im Textzusammenhang ansieht, erkennt man, daß damit nicht ein die Gesellschaft sprengendes soziales Experiment gemeint ist, sondern eine scherzhafte Umkehr der Rollen im Liebesspiel, um, wie es im Text heißt, die »verzehrende Gluth in Scherzen zu lindern und zu kühlen« (ebd.). An diesen scherzhaften Rollentausch knüpft übrigens der vorhin zitierte Günter de Bruyn ironisch an, wenn er den Stoßseufzer der beiden Liebenden »Ach, wär ich die Frau, /ach, wär ich der Mann« in Erfüllung gehen läßt und genüßlich ausmalt, wenn aus dem Scherz Ernst wird. Schlegels Postulat von der »Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur ganzen Menschheit« jedenfalls ist nur eine verallgemeinernde Reflexion, die durch den Gang der Handlung nicht bestätigt wird. Tatsächlich geht es in dem Text in erster Linie um die Vollendung des Mannes. So heißt es wohl nicht zufällig an späterer Stelle im Text, daß in »ihm [nämlich dem Manne] die Menschheit vollendet« sei (S.23). Hinter Schlegels angeblich androgynem Menschenideal verbirgt sich die alte Dichotomisierung in männlich und weiblich. Den Männern wird Entwicklungsmöglichkeit, unendliche Progression, wie Schlegel sagt, zugestanden, die Frauen sind bereits »schöne Natur«. - Die Idealisierung der Frau zum vollkommenen Wesen trägt ein Janusgesicht. Schlegel überwindet zwar die gängige Aufspaltung der Frau in Geliebte und Ehefrau, indem er in Lucinde einen Frauentyp schafft, in dem Sinnlichkeit und Verstand, Liebe und Freundschaft sich harmonisch verbinden, aber die Frau wird nur in ihrer Funktion für die männliche Entwicklung gesehen.
Schlegels Text ist also nicht der Emanzipationsroman, als der er immer wieder angepriesen worden ist. Das heißt aber nicht, daß ich ihn belanglos im Zusammenhang unseres Themas finde. Ganz im Gegenteil. Ich glaube, daß die Geschlechtertauschphantasie, die die Zeitgenossen Schlegels so erregt und zu wütenden moralisierenden Angriffen auf den Autor geführt hat, nicht zufällig ist. Das Phantasieren über die Aufhebung der Geschlechtergrenzen ist nämlich ein zentrales Motiv am Ende des 18. Jahrhunderts.[15]
Gegen die Verfestigung der Geschlechtscharaktere bei Schiller, Humboldt und anderen, in denen politische und persönliche Ängste ausagiert wurden (»Da werden Weiber zu Hyänen«), regte sich vielfältiger Widerstand, von Seiten der Frauen und auch von Seiten der Männer. Frauen, wie die Günderode, Karoline und Bettine, die wir als Romantikerinnen zu bezeichnen gewohnt sind, hielten sich nicht an die engen Grenzen, die ihnen gesetzt wurden. Sie stießen entweder in traditionelle männliche Bereiche vor, wie zum Beispiel die Günderode als Dichterin, oder aber sie phantasierten zumindest auf dem Papier über die Formen eines neuen befreiten Lebens. In diesen Phantasien spielt der Geschlechtertausch eine große Rolle, weil die Frauen erkannten, daß die vielfältigen Einschränkungen, denen sie unterworfen waren, in erster Linie davon rührten, daß sie Frauen waren. So klagt Bettine 1804 in einem Brief an ihre Freundin, die Günderode:
»So viel Lebenskraft und Mut zu haben und keine Mittel, ihn anzuwenden! (...) Mir überwältigt diese rastlose Begier nach Wirken die Seele und bin doch nur ein einfältig Mädchen, deren Bestimmung ganz anders ist.... Ich kann mir selbst kaum denken, wie unglücklich mich das machen wird, nie in ein Verhältnis zu kommen, worinnen ich meiner Kraft gemäß wirken kann.«[16]
Bettine äußert wiederholt den Wunsch, ein Mann zu sein, zusammen mit der Freundin zu reisen, fremde Länder zu sehen. Das kann sie freilich nur in der Phantasie realisieren und auch nur, wenn sie sich als Mann verkleidet. Von Kleists Schwester Ulrike, die nach Meinung ihres Bruders eine Art Zwitterwesen war, »eine weibliche Heldenseele, die von ihrem Geschlechte nichts hat, als die Hüften«,[17] wissen wir, daß sie als Mann verkleidet mit ihrem Bruder gereist ist und für diesen Ausbruch aus der normalen Frauenrolle teuer bezahlen mußte. Nicht nur die Gesellschaft war schockiert, auch der Bruder schwankte zwischen Faszination und Abwehr. In seinem Drama »Penthesilea« hat er Ulrike in ihrer Mischung von Männlichkeit und Weiblichkeit zu gestalten versucht und zugleich ein Bild seiner eigenen Wünsche und Ängste gegeben. Penthesilea, die Amazonenkönigin, geht bei Kleist freilich zugrunde, die Umkehrung der Rollen, die in der Liebesbegegnung zwischen Penthesilea und Achill ausphantasiert wird - hier die kämpferische Amazone Penthesilea und dort der sich ergebende, hingebende Achill -, funktioniert nicht, kann nicht funktionieren, weil damit die Grundfesten bürgerlicher Gesellschaft tangiert werden. »Weiber weiblich, Männer männlich« - so läßt Fontane am Ende des Jahrhunderts seine Heldin Effi die gesellschaftlich Konvention nachplappern,[18] die sich am Anfang des Jahrhunderts ausgebildet und ideologisch verfestigt hatte.
Bettine, Ulrike, Penthesilea - reale Frauen vermischen sich mit ihren literarischen Bildern. Daß Kleists »Penthesilea« nicht nur Verarbeitung einer ganz persönlichen Problematik ist, zeigt eine Briefstelle der Günderode, die an Penthesilea und Ulrike zugleich erinnert. Die Günderode schreibt 1801 an eine Freundin:
»Schon oft hatte ich den unweiblichen Wunsch mich in ein wildes Schlachtgetümmel zu werfen, zu sterben. Warum ward ich kein Mann! Ich habe keinen Sinn für weibliche Tugenden, für Weiberglükseeligkeit. Nur das Wilde Grose, Glänzende gefällt mir. Es ist ein unseliges aber unverbesserliches Misverhältnis in meiner Seele; ...ich bin ein Weib und habe Begierden wie ein Mann, ohne Männerkraft. Darum bin ich so wechselnd, und so uneins mit mir.«[19]
Der Wunsch nach Vertauschung der Rollen ist aber nicht nur auf Frauen beschränkt. Auf Schlegels nicht ganz ernst gemeinte Rollentauschgeschichte in der »Lucinde« habe ich schon hingewiesen. Nicht weniger wichtig in diesem Zusammenhang erscheinen mir Äußerungen Schleiermachers und Kleists. Schleiermacher, der in seinen »Vertrauten Briefen zu Schlegels Lucinde« den Roman gegen die wütenden Angriffe aufgebrachter Kritiker sehr fein- und scharfsinnig verteidigt hatte, schreibt in einem Brief: »Wenn ich je mit einem Wunsche spiele, so ist es mit dem, eine Frau zu sein«[20] und erklärt sich diesen Wunsch, der in der Forschung entweder rücksichtsvoll übergangen oder aber zu einer »unbedachte(n) Äußerung« abgeschwächt wird,[21] mit seiner Veranlagung,
»daß ich mich immer genauer an Frauen anschließen werde, als an Männer; denn es ist vieles in meinem Gemüth, was diese selten verstehen«.[22]
Auf dem Hintergrund solcher Äußerungen, die sich übrigens beliebig vermehren ließen, lassen sich meines Erachtens auch die transsexuellen Phantasien von Kleist, die sich in Briefen und Werken gleichermaßen finden, nicht nur als Ausdruck latenter homosexueller Neigungen deuten, sondern als Ausdruck einer tiefgehenden Geschlechterdiffusion, die für die gesamte Zeit symptomatisch ist. Wohl nicht zufällig entstehen in dieser Zeit auch zwei neue Frauentypen: Die Kindfrau, in der die Weiblichkeit noch unentwickelt schlummert, und das knabenhafte Mädchen, für das die Mignon aus »Wilhelm Meister« vorbildhaft geworden ist. Diese Geschlechterdiffusion verweist meines Erachtens auf die fundamentale Unzufriedenheit einer ganzen Generation mit den sich verfestigenden Geschlechterrollen.
Viele Männer konnten sich nicht mehr identisch mit einer Rolle erleben, die von ihnen die Umsetzung kapitalistischer Akkumulationsmechanismen in ihr privates Leben verlangte. Die Anpassung an die sich ausbildende bürgerliche Ordnung forderte von ihnen Härte, Selbstdisziplin und Rationalität und Verzicht auf Sensibilität und Emotionalität. Diese Eigenschaften wurden den Frauen zugeordnet und zu ihrem biologischen und ontologischen Wesen erklärt. Die Auswirkungen dieser Aufspaltung in Aktivität und Passivität, Härte und Weichheit, Rationalität und Emotionalität auf die verschiedenen Geschlechter, erleben wir noch täglich am eigenen Leibe und wissen, welche zerstörerischen Auswirkungen sie insbesondere für Frauen gehabt haben.
Die Auswirkungen waren aber für Männer nicht weniger gravierend. Noch in der Empfindsamkeit und im Sturm und Drang - also nur einige Jahrzehnte zuvor - wurde ihnen Emotionalität, Zärtlichkeit und Leidenschaftlichkeit nicht nur zugestanden, sondern sogar abverlangt. Die Literatur jener Zeit ist bevölkert von Männern, die sich am Busen des Freundes oder der Freundin ausweinen und sich durch Literatur und Theater zu Tränen rühren lassen. Gegen Ende des Jahrhunderts war dieser Männertypus plötzlich nicht mehr gefragt. Er entsprach nicht mehr den neuen ökonomischen und gesellschaftlichen Erfordernissen. Das, was bislang als Teil männlicher Identität gegolten hatte, galt nun als »weibisch« und wurde als homosexuell verdächtigt und diskriminiert. Die Literatur jener Zeit legt Zeugnis davon ab, wie schwer auch den Männern die Übernahme der neuen Rolle gefallen und wie schwer ihnen der Prozeß der Verdrängung sogenannter weiblicher Anteile geworden ist. In den transsexuellen Phantasien vom Geschlechtertausch kommen meines Erachtens die geheimen und offenen Widerstände gegen die neuen Rollenaufteilungen zum Ausdruck. Sie verstummen auch in den folgenden Jahrhunderten nie ganz, werden aber, da sich das bürgerlich-kapitalistische System wirtschaftlich, politisch und ideologisch durchsetzt, in den Untergrund abgedrängt, zu perversen Phantasien abgestempelt und schließlich nur noch von solchen Schriftstellern und Schriftstellerinnen thematisiert, die sich auf Grund ihrer eigenen unkonventionellen Rollenentwicklung eine Sensibilität für die zerstörerischen Auswirkungen der Dichotomisierung zwischen den Geschlechtern bewahrt haben.
IV
In diesem Zusammenhang wichtig erscheinen mir die Bücher »Herland« von Charlotte Perkins Gilman und »Orlando« von Virginia Woolf. Charlotte Perkins Gilman, die zu den frühen, lange vergessenen Feministinnen in den USA gehört, schrieb »Herland« 1915 und veröffentlichte den Roman in Fortsetzungen in der von ihr herausgegebenen feministischen Zeitschrift »The Forerunner«. Erst 1979 erschien in den USA eine Buchausgabe und führte zur Wiederentdeckung einer wichtigen Autorin und Theoretikerin des modernen Feminismus.[23]
»Herland« ist eine Matriarchatsphantasie. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände - Kriege und Naturkatastrophen - werden in Herland alle Männer ausgerottet und zudem das Land von der umgebenden Zivilisation vollständig abgeschnitten. Übrig bleibt nur eine kleine Gruppe junger Mädchen, die, anstatt zu verzweifeln, ihr Leben tatkräftig in die Hand nehmen und schließlich durch Parthogenese ein neues Volk von Frauen begründen. Der von ihnen aufgebaute Staat ist ein Muster an Gerechtigkeit, Frieden und Naturverbundenheit, in dem die Menschheitsprobleme - Hunger, Krankheit und Überbevölkerung - in humaner Weise gelöst sind. Die in Herland lebenden Frauen unterscheiden sich völlig von den sogenannten normalen Frauen, wie sie im Patriarchat leben. Es sind schöne, starke, gesunde und freie Frauen, die keinerlei traditionelle feminine Eigenschaften mehr haben. Auf der anderen Seite haben sie auf Grund ihrer parthogenetischen Herkunft in ihrer mehr als zweitausendjährigen Geschichte auch alle sogenannten männlichen Eigenschaften ausgeschaltet. Die als Forscher in Herland eingedrungenen drei Männer werden durch die Konfrontation mit den Frauen von Herland in ihrer Auffassung von Weiblichkeit und Männlichkeit tief verunsichert und in ihrem patriarchalischen Überlegenheitsgestus grundlegend erschüttert. Geblieben ist den Frauen von Herland eine Neugier auf das andere Geschlecht und - trotz aller nur zu berechtigten Ängste vor dem zerstörerischen Zugriff der männlichen Zivilisation - der Wunsch, ihre erzwungene Isolation zu verlassen und freundschaftliche Beziehungen zum Rest der Welt und zu den Männern aufzunehmen. Die Hochzeit zwischen den drei Forschern und den drei Frauen von Herland am Ende des Romans läßt viele Fragen offen. Wird Herland langfristig an der Vermischung von Männlich und Weiblich zugrunde gehen, wird es kolonialisiert und in seiner Eigenart zerstört werden oder wird es gelingen, zwischen Männern und Frauen Beziehungen zu entwickeln, die aus der Geschichte des Frauenlandes lernen und auf einem neuen Verständnis von Männlichkeit und Weiblichkeit aufbauen?
Nicht weniger phantastisch als »Herland« ist der Roman »Orlando« von Virginia Woolf. In »Orlando« (1928), der fiktiven Biographie ihrer Freundin Vita Sackville-West, entwirft Virginia Woolf das phantastische Bild eines Wesens, das die Beschränkungen der Zeit und des Geschlechts hinter sich läßt.[24] Am Anfang des Romans lernen wir Orlando als einen jungen, kraftvollen und zugleich empfindsamen jungen Adligen der Elisabethanischen Epoche kennen, der erfahrungshungrig und abenteuerlustig ist und dem die Grenzen des eigenen Geschlechts bald zu eng werden. Auf wunderbare Weise in eine Frau verwandelt, erschließt sich Orlando in seiner neuen weiblichen Identität neue Räume und damit Lebens- und Lustmöglichkeiten. In nur ca. 35 Jahren durchmißt er einen Zeitraum von über 350 Jahren und lebt spielerisch eine Vielzahl von Ichs aus. Mit der Figur des Orlando sprengt Virginia Woolf die festgelegten Grenzen der Geschlechter, übt Kritik an der Einseitigkeit der traditionellen Rollen und entwirft die Vision eines Wesens, in dem Männliches und Weibliches sich vermischen. Daß eine solche Mischung so phantastisch nicht ist, sondern zur Realität vieler Menschen gehört, war Virginia Woolf auf Grund ihres eigenen Lebens und das vieler ihrer Freunde sehr wohl bewußt. In »Orlando« kommentiert sie die Geschlechtsumwandlung ihres Helden mit den Worten: »So verschieden die Geschlechter auch sind - sie mischen sich. In jedem Menschen vollzieht sich ein Schwanken zwischen dem einen Geschlecht und dem anderen, und oft bewahrt nur die Kleidung das männliche oder weibliche Aussehen, während darunter das Geschlecht das gerade Gegenteil dessen ist, was die Oberfläche anzeigt. Von den Verwicklungen und Verwirrungen, welche daraus entstehen, hat jeder Mensch sein Teil Erfahrung gehabt.«[25]
Im Roman vollzieht sich die Geschlechtsumwandlung harmonisch und wird mit viel Witz und Heiterkeit ausphantasiert, wohl nicht zuletzt deshalb, weil Virginia Woolf durch einen genialen Kunstgriff das, was sie als Mischung zwischen Männlich und Weiblich bezeichnet, als zeitliche Abfolge auf einen fiktiven Zeitraum von 350 Jahren ausdehnt und damit seines skandalösen Charakters entkleidet. Im Gegensatz dazu ist eine solche Vermischung von Weiblich und Männlich im realen Leben eher problematisch, wie man am Schicksal Virginia Woolfs sehr eindrucksvoll studieren kann.[26]
Für mich ist der Text von Virginia Woolf, ähnlich wie der von Charlotte Perkins Gilman, Ausdruck einer ganz persönlichen Betroffenheit und Befindlichkeit der Autorin. Er steht merkwürdig isoliert zwischen den älteren Texten der Romantik und den neueren Phantasien über das Thema Geschlechtertausch. Er ist, ähnlich wie »Herland«, Nachläufer, Vorläufer und Verbindungsglied zugleich.
V.
Auch die neueren Texte, auf die ich jetzt abschließend eingehen will, sind aus einer Betroffenheit heraus entstanden, aber man merkt ihnen doch an, daß sie mit dem Rückhalt der neueren Frauenbewegung geschrieben sind und eine Zeitstimmung und allgemeine Erfahrungen einer ganzen Generation von Frauen ausdrücken. So ist der 1977 veröffentlichte Roman »Die Töchter Egalias« von der norwegischen Autorin Gerd Brantenberg ein sehr offensiver Text über die Umkehrung der Rollen, der ohne die neuere Frauenbewegung nicht denkbar ist.[27]
In Egalia - einem utopischen Staat der Zukunft, nach dem Untergang des Patriarchats - haben die Frauen die Macht auf Grund der Tatsache, daß sie gebären können und das Prinzip des Lebens verkörpern. Menstruation und Geburt haben einen großen Stellenwert in Egalia und werden mit großen Festlichkeiten begangen. Die Frauen tun alle die Dinge mit größter Selbstverständlichkeit, die im Patriarchat die Männer zu tun gewohnt sind. Sie sind sexuell aktiv, sie bestimmen die Richtlinien der großen Politik ebenso wie die des Lebens zu Hause. Die Männer haben - bis auf Geburt und Stillen - die Rolle der Frauen übernommen. Sie sind ökonomisch, sexuell und emotional völlig abhängig von den Frauen. Sie sind zuständig für die Erziehung der Kinder, die ihnen gleich nach der Geburt übergeben werden. Sie machen den Haushalt und sie müssen versuchen, den Frauen zu gefallen. Dafür begehen sie alle die Torheiten, die bei uns zulande die Frauen machen. Sie verbringen Stunden um Stunden beim Friseur und dem Kosmetiker, sie schmücken sich und legen besonderes Gewicht auf die modische Auswahl ihres PH, eines Pimmelhalters, den in Egalia alle Männer tragen müssen. Bis in die kleinsten Details funktioniert das Leben in Egalia sozusagen seitenverkehrt: So werden in Egalia die Männer sogar von Frauen vergewaltigt. Ich erspare mir, die Geschichte dieses Staates in allen Einzelheiten zu erzählen. Hier nur so viel: In Egalia entsteht eine militante Männerbewegung, die gegen die Unterdrückung der Männer kämpft, die spektakuläre Aktionen, wie zum Beispiel die Verbrennung der PHs, veranstaltet, die aber letztlich wohl doch erfolglos bleiben wird, weil die Frauen die Macht fest in den Händen halten. Ob der Ausgang der Geschichte zugleich eine unfreiwillige(?), pessimistische Sicht auf den Erfolg der heutigen Frauenbewegung enthält, möchte ich hier offen lassen. Auf jeden Fall stimmt das Buch nachdenklich, es ist eine Kritik auf das Patriarchat gleichermaßen wie auf das Matriarchat, wenn dieses einfach nur die Rollen verkehrt. Ich habe das Buch über weite Strecken mit Amüsement gelesen, im ganzen ist es mir aber zu angestrengt, zu gewollt, der Grundeinfall - die Verkehrung der Rollen - wird meiner Meinung nach überstrapaziert und verliert dadurch an Witz und Schlagkraft.
Besser als solche einfachen Umkehrungen der Rollen haben mir Texte gefallen, in denen utopische Gegenwelten entworfen, die Rollen in Frage gestellt und aufgebrochen werden. Das geschieht vor allem in neueren Science Fiction-Romanen, ursprünglich eine Domäne männlicher Autoren, in denen zunehmend auch Frauen erfolgreich werden.[28] In den letzten Monaten habe ich so verschiedenartige Texte wie »Das Geheimnis des Mandelplaneten« von Francoise d'Eaubonne, »Planet der Frauen« von Joanna Russ, »Die Matriarchen von Isis« von Marion Zimmer Bradley und »Winterplanet« von Ursula K. LeGuin gelesen, wobei diese Texte nur ein kleiner Ausschnitt aus einer Fülle von utopischem Material sind, das noch der Aufarbeitung harrt.[29]
All diesen Texten gemeinsam ist die Suche nach einem Verständnis von Weiblichkeit und Männlichkeit jenseits patriarchalischer Festlegungen. In diesem Zusammenhang werden sehr unterschiedliche Phantasien entwickelt, mal beziehen sich die Autorinnen auf Amazonenmythen, mal auf Matriarchatsphantasien.
Zu den schwierigsten und ambitioniertesten Texten gehört das Buch von Francoise d'Eaubonne, das in der Reihe »neue frau« erschienen ist und damit zugleich einen Anspruch signalisiert. Francoise d'Eaubonne ist Feministin und hat verschiedene literarische und wissenschaftliche Werke veröffentlicht. Ich kenne von ihr unter anderem eine größere Arbeit über Amazonen, die leider nicht ins Deutsche übersetzt ist.[30] Ihr »Geheimnis des Mandelplaneten« ist ein sehr poetischer Versuch über Weiblichkeit, voll von Anspielungen auf weibliche Geschichte und historische und mythologische Zusammenhänge. Die Geschichte spielt in einer fernen Zukunft, in der die Männer ausgerottet sind und die Frauen herrschen. Eine <Expedition von Frauen landet auf dem Mandelplaneten, um diesen noch junerforschten Himmelskörper zu erkunden. Mit dieser Exposition verbleibt die Autorin noch ganz im klassischen Genre, das jedoch bald verlassen wird. Der Planet entzieht sich dem gewohnten wissenschaftlichen Zugriff, die Frauen werden konfrontiert mit einer Landschaft, die voller geheimnisvollen Lebens ist. Bei der Erforschung der Höhlen und Schlündeund bei der Untersuchung der Erhebungen und Berge stoßen die Frauenauf ihre eigene verschüttete Geschichte. Das lebendige Zusammenwirkenvon weiblichen und männlichen Kräften, das sich in der pulsierendenLandschaft ausdrückt, löst Erinnerungen und Sehnsüchte bei den Frauenaus. Die Reise auf den fernen Planeten wird zu einer Reise zu sich selbstund den eigenen unbewußten Wünschen. Der Roman ist schwierig zu lesen, auch deshalb, weil er traditionelle Science Fiction Erwartungen nach Action und Spannung enttäuscht - aber er entfaltet eine große poetische Kraft, wenn man sich auf ihn einläßt.
Ähnliches gilt auch für den Roman »Winterplanet« von Ursula K. LeGuin.[31] Er spielt auf einem Planeten, der von einer humanoiden Rasse bewohnt wird. Es gibt dort jedoch nicht zwei Geschlechter, sondern ein androgynes Geschlecht, die Gethenianer. Diese treten einmal im Jahr in eine sexuell erregbare und aktive Phase ein und werden zu Geschlechtswesen. Dabei ist es nicht vorauszusehen, ob sie weibliche oder männliche primäre und sekundäre Sexualorgane ausbilden, ob sie die Rolle des Mannes oder der Frau bei der Paarung übernehmen. Findet eine Empfängnis statt, behält die Frau die weibliche Form und Funktion so lange, bis das Kind abgestillt ist, danach wird sie wieder zum perfekten Androgynen. Durch die zeitweilige geschlechtliche Verwandlung wird eine physiologische Gewohnheit nicht etabliert, so daß es möglich ist, daß die Mutter von mehreren Kindern zugleich Vater von weiteren Abkömmlingen sein kann. Das hat weitreichende Konsequenzen für die Gesellschaft, die ich hier nur andeuten kann. Ich zitiere aus dem Bericht einer Forscherin über die gethianische Gesellschaft: »Der Sexualität wird Raum gegeben, reichlich Raum, aber sozusagen ein separater Raum. Die Gesellschaft von Gethen ist in ihren alltäglichen Funktionen und in ihrer Kontinuität frei von Konflikten, die ihren Ursprung in der Sexualität haben. (...) Jeder kann alles machen. (...) Die Tatsache, daß jedermann zwischen siebzehn und fünfunddreißig Jahren in die Lage geraten kann ..., 'ans Kindbett gefesselt zu sein', bedeutet, daß hier kein Mensch so gründlich 'gefesselt' ist wie es die Frauen anderswo gemeinhin sind - sowohl in physiologischer als auch in psychischer Hinsicht. Lasten und Privilegien sind ziemlich gleichmäßig verteilt; jedermann hat das gleiche Risiko einzugehen und kann die gleiche Wahl treffen. Daher ist allerdings auch niemand ganz so frei, wie es die Männer anderswo gemeinhin sind. (...) Ein Kind hat weder zur Mutter noch zum Vater psycho-sexuelle Beziehungen. Auf Winter gibt es bezeichnenderweise keine Oedipus-Sage. (...) Es gibt keinen unfreiwilligen Geschlechtsverkehr, keine Vergewaltigung. (...) Eine Einteilung der Menschheit in stärkere und schwächere Hälfte, in Beschützer und Beschützte, in Beherrschende und Beherrschte, in Eigentümei1 und Eigentum, in Aktive und Passive existiert nicht. Man kann sogar feststellen, daß die Tendenz zum Dualismus, die das Denken der Menschen so beherrscht, auf Winter weit weniger stark ausgeprägt ist. (...) Unser gesamtes Schema der sozio-se-xuellen Verhaltensweisen gilt hier nicht.«[32] Zu den wichtigsten Auswirkungen der Androgynität gehört zweifellos die Ausrottung des Krieges. Die Gethenianer sind eine friedliche Rasse, die zwar den Konkurrenzkampf kennt und in Ausnahmefällen auch tötet, aber ein organisiertes Morden in großem Maßstab, wie es in Kriegen geschieht, gibt es bei ihnen nicht.
Trotzdem ist der Planet der Androgynen kein Paradies. Das liegt nicht nur an den schwierigen Lebensbedingungen auf dem Planeten, auf dem ewiger Winter herrscht, sondern auch an der konsequenten Durchführung dieser Androgynitätsphantasie, die unserem traditionellen Denken über Weiblich und Männlich keinen Raum mehr gibt und zumindest auf mich trotz allem Phantasiereichtum und trotz aller grundsätzlichen Sympathien, die ich solchen Phantasien entgegenbringe, doch etwas prosaisch gewirkt hat. In dieser Utopie sind zwar alle negativen Elemente von einseitiger, verabsolutierter Weiblichkeit und Männlichkeit getilgt, zugleich aber auch der mögliche Reichtum, der aus einer Zweigeschlechtlichkeit entstehen kann und von dem der Mandelplanet in seiner ständigen Verschmelzung von vaginalen und phänischen Strukturen kündet.
Paradiese entwerfen auch die beiden anderen Science Fiction Romane von Joanna Russ [33] und Marion Zimmer Bradley [34] nicht. Wohl aber bieten sie viel Stoff zum Nachdenken über die Ungerechtigkeit der Rollenverteilung und über mögliche Alternativen zum Patriarchat. Beide Romaneentwerfen Bilder einer zukünftigen Gesellschaft, in der Frauen herrschen,in der die Männer entweder ausgerottet sind oder aber die traditionellenRollen von Frauen übernommen haben. Beide Romane sind überzeugendin ihrer Kritik an der herrschenden Unterdrückung der Frauen, die angebotenen Matriarchatsphantasien jedoch sind sehr ambivalent und werdenauch von den Autorinnen so gesehen. Entweder beruhen die Frauenstaaten auf Mord und Totschlag oder aber sie gründen sich auf die Unterdrückung der einen Hälfte der Menschheit. Sie reproduzieren also entweder bereits in ihrer Entstehung oder aber in ihrer Durchführung Strukturen, die wir aus dem Patriarchat kennen und ablehnen.
VI.
Sollen wir also auf solche Utopien verzichten? Ich denke, nein, die Rückbesinnung auf die alten Amazonenmythen, die phantasierende Vergegenwärtigung in mythischem Dunkel versunkener matriarchalischer Kulturen, die spielerische Vertauschung der Geschlechtsrollen und der Entwurf eines neuen, androgynen Menschentypus hat nicht nur sein poetisches Recht, sondern hat wie jedes utopische Denken auch eine emanzipatorische Kraft, wenn es zu einem Denken über mögliche Veränderungen führt. Utopien sind ja niemals Patentrezepte für eine bessere Zukunft, sondern bestenfalls Markierungen und Wegweiser dorthin. Gerade die Frauenbewegung heute braucht, wie jede politische Bewegung, wenn sie nicht steril werden will, utopisches Denken, in dem die kollektiven Sehnsüchte nach einem gerechteren und glücklicheren Leben eine greifbare Gestalt annehmen, zugleich aber auch kollektive Ängste thematisiert werden können. Die historische Aufarbeitung der Unterdrückung der Frauen in der Geschichte und ihres Widerstandes und die Suche nach einer verschütteten Weiblichkeit muß ergänzt werden durch utopische Entwürfe von Weiblichkeit und Männlichkeit und ihres Verhältnisses zueinander. In der Verbindung von historischer Suche und utopischem Entwurf scheint mir die eigentliche Chance für die heutige Frauenbewegung zu liegen, sich nicht nur in der Kritik am Patriarchat zu erschöpfen, sondern positive Bilder eines befreiten Lebens zu entwerfen, die nicht nur die Köpfe bewegen, sondern auch gesellschaftliche Kräfte zur Veränderung freisetzen.