Zum Entwurf weiblicher Helden
in der Literatur von Männern und Frauen
Der Überdruß an der Opferrolle und entsprechenden Erfahrungen von Frauen hat in jüngster Zeit eine emphatische Suche nach Heldinnen in Geschichte und Mythologie und z.T. phantastische Entwürfe weiblicher Helden in der Literatur hervorgebracht. Um der Frage nachzugehen, ob diese Entwürfe als Beitrag für eine feministische Utopie gelten können, möchte ich hier darstellen, auf welche literaturhistorischen Voraussetzungen solche Versuche treffen, d.h. welche Tradition Frauen als Heldinnen und Opfer in der Literatur von Männern haben, welche Opfer Frauen erbracht haben, um eine aktive Rolle in der literarischen Produktion zu übernehmen und wie Schriftstellerinnen mit den Opfern, die Frauen in der sozialen Realität erbringen, umgehen, wenn sie sich aufmachen, in ihrer Literatur Heldinnen zu imaginieren.
1. Die Bedeutung von 'Held' und 'Opfer' im Wörterbuch des Patriarchats
Zunächst muß ich die Begriffe 'Held(in)' und 'Opfer' nach ihrer Bedeutung im literarischen und im geschichtlichen Handlungskontext unterscheiden.
Das Wort 'Held' meint zweierlei, nämlich Hauptperson bzw. Mittelpunkt eines Dramas oder epischen Werkes, aber auch heldenhafte bzw. heroische Person. Die erste Bedeutung kann rein formal gemeint sein, in der zweiten ist immer eine (meist positive) Bewertung enthalten. Der Sprachgebrauch vom Helden als literarische Hauptperson ist jüngeren Datums. Im fachwissenschaftlichen Jargon der Literaturwissenschaft und -kritik ist die Rede von Helden als Hauptperson eines Romans, einer Erzählung oder Fabel bzw. Handlung eines Textes heute eingebürgert. Selten ist dabei an einen Heros im alten Sinne des Wortes gedacht, häufiger ist eine ganz unheroische Figur, oft sogar ein ausgesprochener Antiheld oder negativer Held damit gemeint. Der Wortgebrauch vom Helden als Mittelpunkt bzw. Hauptperson geht in das 18. Jahrhundert zurück und ist an die Genese des bürgerlichen Helden in der Literatur und an die Entwicklung entsprechender Genres gebunden. Mit dem Übergang vom Tathelden zum Seelen-, Bildungs- oder Gesinnungshelden wird der Heldenbegriff für das bürgerliche Individuum übernommen und in der reduzierten, formalen Bedeutung eingeführt. Von einer Heldm ist in diesem Sinne nur ausnahmsweise - als Sonderform - die Rede, obwohl eine recht erhebliche Anzahl der Hauptpersonen bürgerlicher Literatur Frauengestalten sind.[1]
Im zweiten, nicht formal-literarischen Sprachgebrauch schwingt bei der Rede vom Helden immer ein Bedeutungsgehalt mit, der sich aus dem Handlungskontext, in dem eine Person als Held tituliert wird, auf diese überträgt. Grob zu unterscheiden sind dabei erstens kämpferische bzw. militärische Aktionsfelder, zweitens historische und soziale Zusammenhänge und drittens mythische und religiöse Rollen. In jedem Falle exponiert sich der Held durch Taten oder hervorragende Eigenschaften vor den übrigen. Er zeichnet sich als kämpfender Held durch Mut und Tatendrang aus, wird als Führer oder Star von der Masse geehrt und bewundert oder als Herrscher bzw. Heiliger von der Gefolgschaft vergöttert. Er ist in seiner Stellung und in seinen Fähigkeiten bzw. Eigenschaften hervorragend, d.h. von der Menge positiv unterschieden.
Die Frage nach dem Geschlecht des Helden scheint sich zu erübrigen: der Held ist selbstverständlich männlich. Bei der Sammlung von Wortfeldern, in denen das Wort 'Held' auftaucht,[2] gewinnt man den Eindruck, daß es Helden ohne Zahl gäbe. Auf der Suche nach weiblichen Helden allerdings schweigt das Synonymenwörterbuch - mit der Ausnahme von lediglich zwei, dazu noch unvollständigen, dafür um so sprechenderen Hinweisen. Vom Register verweist 'die Heldin' auf das Wortfeld 'Ehre/ Ruhm', ohne allerdings dort noch einmal aufzutauchen. Und im Wortfeld 'Unschuld', auf das u.a. vom Wort 'Held' im Register verwiesen wird, findet sich eine explizit weibliche Bedeutung - nämlich 'jungfräulich'.
Ganz anders fällt das Resultat bei der Zusammenstellung von Bedeutungen für das 'Opfer' aus. Da trifft man auf viele Bezeichnungen für Frauen. Diese semantische Probe illustriert, daß das Paar Held - Opfer im Lexikon des Patriarchats in die lange Reihe der Gegensatzpaare gehört, welche die Verabredungen über die Geschlechterdichotomie bereithalten, wie aktiv - passiv, stark - schwach, Geist - Körper, Intellekt - Emotionalität, Ordnung - Chaos, Bestimmtes - Unbestimmtes, und die im Dualismus von Mann und Frau ihr gemeinsames Thema finden.
Das 'Opfer' kennt im alltäglichen Sprachgebrauch viele Bedeutungen. Ein Opfer kann das Objekt ritueller oder affektiver Zerstörung bzw. Tötung sein, es kann Objekt eines Mißlingens oder von Vergeltung, Strafe, aber auch Gabe sein.. Immer ist es Objekt. Ein Opfer er-leidet, und zwar tätliche oder symbolische, körperliche oder moralische Beeinträchtigungen. Es fällt nicht schwer, bei dieser Aufzählung weibliche Funktionen und Personen zu assoziieren.
'Opfer' und 'Held' sind als Wörter aber nicht primär aufeinander bezogen. 'Opfer' steht nicht nur im Gegensatz zu 'Held', sondern hat noch weitere Gegenüber, z.B. Richter, Täter oder Sieger. Das gleiche gilt für den Helden, den man, je nach Bedeutungskontext, der Masse, dem Feigling, dem Verlierer gegenüberstellen kann. Aus diesem Nachdenken über die Sprache lassen sich einige Fragen ableiten, die nicht ohne historischen Sinn sind. So z.B. ob und zu welchen Teilen der Held auch Täter gegenüber dem Opfer ist, oder etwa ob das Opfer als Verlierer aus einem Kampf mit dem Helden hervorgegangen ist. Auffällig ist, daß der Held scheinbar autonom betrachtet werden kann, weil in ihm der Vorgang des Exponierens nicht mehr sichtbar sein muß, während über das Opfer meist nachgedacht wird im Zusammenhang mit der Frage nach der Ursache/dem Urheber [3] des (Er) Leidens.
Auf der Ebene literaturwissenschaftlicher Terminologie gibt es für das Opfer keine Entsprechung zum Helden im Sinne von Hauptfigur. Das Opfer nämlich, sobald es in den Mittelpunkt eines Textes tritt, entpuppt sich als Held. Dies ist einer der möglichen Wege für Opfer, trotz ihrer erleidenden Position exponiert zu werden. Wenn Opfer zu Helden der Literatur werden, wird ihrem Leiden ein anderer Sinn als das bloße, passive Erdulden zugeordnet. Ihre Gabe, ihr Erleiden oder ihr Tod erhalten eine andere, meist höhere Bedeutung. Diese moralische Wirkungsästhetik des Opfers führt zu so widersinnigen Wortschöpfungen wie Opfersinn, -wille, -mut oder gar Opferfreude. Das sind Vorstufen zu einer Synthese von Opfer und Held (im doppelten Sinne von Hautpfigur und heroisch) im Märtyrer bzw. in der Märtyrer;'«.[4] In dieser Verschmelzung des Gegensatzes erhält das Opfer einen eigentümlichen Zauber, weshalb Märtyrer-Typen in mythischer, ideologischer und poetischer Phantasietätigkeit eine besondere Rolle spielen.
Nach dieser begrifflichen Klärung läßt sich die Betrachtung männlicher und weiblicher Hauptfiguren in der Literatur danach unterscheiden, ob es sich um Opfer-Helden oder heroische Helden handelt, welche Bedeutung der jeweiligen Rolle beigemessen wird und welche Funktion dies in der Konstituierung der kulturellen Ordnung hat. Um den ideologischen, sozialkritischen, mythischen oder utopischen Gehalt der Helden und Heldinnen zu bestimmen, muß deren Status in der Literatur im Verhältnis zu den sozialhistorischen Lebenszusammenhängen von Männern und Frauen gesehen werden. Ich konzentriere mich im folgenden auf typische Entwürfe weiblicher Helden in der Literatur von Männern und Frauen.
2. Das Leben opfern oder als Opfernde leben
In dem reichen Repertoire der Frauenbilder in der bürgerlichen Literatur, die der männlichen Phantasie entstammen, fallen zwei Variationen auf, die sich in ihrem Schicksal voneinander unterscheiden, letztlich aber nur in unterschiedlicher Weise ihr Leben opfern. Es gibt die Frauenfiguren, die Großes leisten oder verkörpern, aber dieses mit ihrem Tod bezahlen. Und es gibt Frauenfiguren, die als Gebende, als Opfernde überleben.
Seit dem 18. Jahrhundert häufen sich Werke, die einen Frauennamen zum Titel haben oder in denen Frauen im Mittelpunkt stehen.[5] An ihnen fällt zweierlei auf: einerseits, daß die Frauen, entgegen ihrer sozialen Unterordnung im Leben, in der Kunst eine hervorragende Rolle spielen, andererseits, daß die imaginierten Frauen sehr selten das Ende der literarischen Handlung überleben und häufig eines unnatürlichen Todes sterben. Dieses Massensterben von Frauen im Rahmen literarischer Fiktion ist nun nicht einfach als Konsequenz der Gattung zu erklären, die sie bevölkern, des Dramas.[6] Umgekehrt ist zu fragen: warum gerade für das dramatische Fach seinen Autoren weibliche Figuren besonders geeignet zu sein scheinen. Eine Fülle von Einzelinterpretationen von Frauenbildern [7] läßt die Verallgemeinerung zu, daß in den Entwürfen von Frauenfiguren weniger eine Bearbeitung realer Lebenserfahrungen und -probleme enthalten ist, daß sie viel eher als Projektionsobjekte für die Wünsche, Ängste und Ideen ihrer männlichen Verfasser fungieren.
In den literarischen Texten kommt dieser Umstand darin zum Ausdruck, daß die weiblichen Figuren häufig merkwürdig unlebendig wirken, daß sie nicht als gestaltete Charaktere, sondern als personifizierte Ideen zu betrachten sind. Mit der Veränderung der Topoi bürgerlicher Programmatik und Moral verändern sich auch die Frauentypen. In der Geburts- und Sternstunde bürgerlicher Poesie, in der zweiten Hälfte des 18. und im beginnenden 19. Jahrhundert, wird ein Typ entworfen und vielfach variiert: 'die Unschuld'.
Mit ihr ist der Prototyp weiblicher Helden geschaffen; andere Frauenbilder bleiben - als Abweichung, z.B. als mißratene Unschuld, als vergeistigte Unschuld (d.h. 'schöne Seele'), oder als Gegensatz, nämlich sündige bzw. schuldige Frau - auf dieses Urbild bürgerlicher Weiblichkeitsidee bezogen. Sein Schicksal eignet sich vorzüglich für die Imagination großer Leidens- und Heldentaten. Vor allem die Probe auf die Tugend der Unschuld und die damit zusammenhängenden Verwicklungen erhöhen die dramatische (bzw. epische) Spannung - aber auch den Wert der letztlich doch erreichten oder aber in der Verfehlung dennoch als Ziel propagierten Tugendhaftigkeit. Als Märtyrerin überführt 'die Unschuld' sich, nachdem sie vom Pfad der Tugend - sei es in Gedanken oder Taten - abgewichen ist, nicht selten durch den eigenen Tod in den Zustand der Tugendhaftigkeit zurück. Daß die Variante der 'schönen Seele' weniger Verbreitung gefunden hat, mag nicht zuletzt daran liegen, daß ihre Schicksalswege, da ihre Tugendhaftigkeit über jeden Zweifel erhaben scheint, weniger Möglichkeiten zur Inszenierung von Versuchungen und deren Überwindung zulassen.
'Die Unschuld' als geopferte Heldin leistet Großes und bezahlt das mit ihrem Tod, oder aber in ihrem Tod selbst liegt ihre heroische Tat. »Johanna von Orleans« z.B. agiert als Erretterin, die ihr Vaterland erlöst und - in der Überwindung sinnlicher Versuchungen - als Märtyrerin in der Schlacht stirbt. »Judith« kämpft weniger amazonenhaft im Bett des Holofernes und opfert sich ihrer Ehre, nachdem sie als Heldin umjubelt wurde. Ihre Heldentat, die Liebesnacht mit Holofernes und dessen Tötung, die ihr Volk zum militärischen Sieg nutzen konnte, bedeutet das Opfer ihrer Reinheit, die wiederum nur durch das Opfer ihres Lebens wiederhergestellt werden kann. Bei »Emilia Galotti« legt der Vater Hand an, der seine Tochter erdolcht, um ihre Unschuld vor dem Zugriff des Fürsten zu bewahren. Von solcher Bevormundung hat »Maria Magdalene« sich emanzipiert. Die ertränkt sich selbst, um den Vater vor der Schande einer Tochter zu bewahren, die ein Kind von einem Mann empfangen hat, der sie nun nicht heiraten will.
Die Aktionsebenen sind unterschiedlich, doch das eigentliche Kampffeld ist der Körper der Frau; und das Bedeutungsfeld, von dem das Frauen-Opfer seinen Sinn erhält, ist der bürgerliche Diskurs über die Tugendhaftigkeit des Weibes.
Die Tugendheldin hat bzw. ringt um die Erfüllung aller Qualitäten, welche das Bürgertum für seine weibliche Hälfte reserviert hat. Im Sinne bürgerlicher Aufklärung realisiert sie stellvertretend die behauptete sittliche Überlegenheit des Bürgers über den Adel, mit welcher dem historischen Emanzipationsanspruch des Bourgeois moralisches Gewicht verliehen werden soll [8] und die nebenbei übrigens dem Citoyen, seinem leiblichem und seelischen Wohlbefinden, nicht schlecht bekommt. Dies allerdings nur, wenn sie überlebt.
Und es gibt überlebende Gestalten unter den 'unschuldigen' Frauenfiguren, z.B. Kleists »Käthchen« oder Goethes »Dorothea«, beides Figuren, die als Gebende überleben, die ihr Leben als Aufopferung gestalten. Beide werden durch Heirat belohnt bzw. umgekehrt durch ihre Gabe, d.h. ihr selbstloses Verhalten, der Heirat für würdig befunden. In ihnen ist die Idealisierung und Verlebendigung des bürgerlichen Frauenbildes ohne heroische Umschweife gestaltet. In ihnen ist die opfernde Frau zur Heldin gemacht. Sie ist duldsam, anpassungsfähig, hingebungsvoll, einfühlsam, zuverlässig, sanft und treu - überhaupt herzlich gut. Als Lohn ihrer Gabe erhält sie das Bewußtsein ihrer moralischen Überlegenheit - und die materielle Sicherheit einer Ehe.
Diese Spielart des Frauen-Opfers, die Opfernde als Heldin, ist vorbildhaft, ihre Gestaltung trägt pädagogische Züge, während die geopferte Heldin ihr im Symbolwert des Schicksals überlegen ist. Deren Existenz ist mit dem Ende der heroischen Phase der bürgerlichen Literatur nicht beendet, wie ein Beispiel aus dem 'Jungen Deutschland' zeigen soll.
Während die realen Zeitgenossinnen »Wallys« massenweise den profanen Tod im Kindbett, durch Überarbeitung oder schlechte Ernährung fanden, erhält der Selbstmord Wallys den Zauber philosophischer Relevanz - und die Philosophie ihres Schöpfers die Weihe durch ein geopfertes Frauenleben. »Wally, die Zweiflerin« tötet sich, nachdem sie das religionskritische Manifest eines Freundes gelesen hat - und verkörpert damit - wiederum stellvertretend - Gesellschaftskritik und Emanzipationsbegriff ihres Autors. Gutzkow, der mit seinem Roman dem bürgerlichen Tugendbegriff widersprechen will, bleibt in seinem Gegenentwurf - der »Emanzipation des Fleisches« am Körper der Frau - dem Grundmodell des bürgerlichen Frauenbildes, der geopferten Heldin, verpflichtet.
Ihre überlebende Schwester, die Opfernde als Heldin, deren literarische Existenz auf Dauer Langeweile zu verbreiten droht, verdankt ihr Weiterleben in der Literaturgeschichte der Imagination psychischer und physischer Verfeinerungen ihres Opfers. An der Hysterikerin, der 'femme fragile' und anderen Verkörperungen des 'schwachen Geschlechts' ist der Symbolgehalt der Gabe verdichtet; die Krankheit oder Schädigung ist das Zeichen am Körper der opfernden Frau, die als Heldin poetische Würdigung erlangt.
Beide Wege, auf denen Frauenfiguren in der Literatur ihr Leben opfern, dienen dem Ziel, den Bestand männlicher Kultur zu garantieren. Der Tod bzw. die Gabe der Frau in der Literatur sichert den Ausschluß der Frau bei der Konstituierung der kulturellen Ordnung. Beide sind Ausdruck und Symbol für die Rolle der Frau als Gebender, in der sie dennoch Bestandteil dieser Ordnung ist.
In den männlichen Strategien zur Überwindung des Mangels und der Entfremdung spielt die Imagination von Frauenbildern eine zentrale Rolle. Sehnsüchte, die in der so geordneten Wirklichkeit nicht zu befriedigen sind, werden auf das 'Andere' - das 'Weibliche' - projiziert, und das sich dem männlichen Zugriff entziehende Andere der Frau wird in der Figur eingefangen und gebändigt. Solche Bilder sind faszinierend und bedrohlich zugleich, deshalb müssen ihre Schöpfer sie töten, um wieder ruhig schlafen bzw. ihrem Tagwerk nachgehen zu können. Der Autor opfert sein Geschöpf - und vollzieht an ihm die Strafe für den Ausbruch in die 'unweibliche' Grandiosität.
Helene Cixous deutet die Todesdrohung, die derartige Geschichten für Frauen beinhalten, als Gebot zu schweigen.[9] Da die Frau in Ermangelung des Mangels aus der symbolischen Ordnung ausgeschlossen ist, d.h. da für sie die Kastrationsdrohung nicht als Einweisung in das phänische Gesetz des Vaters wirksam ist, wird sie durch die Todesdrohung an ihren Ort unter dem Gesetz des Vaters verwiesen.
Unabhängig von dem je unterschiedlichen konkreten moralischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Programm lassen sich viele Frauenfiguren in der bürgerlichen Literatur als eine Variante des Frauenopfers entziffern. Gattungspezifische Konsequenzen für die Gestaltung eines weiblichen Helden wirken sich auf die Wahl der Variante aus. So ist die geopferte Heldin im Drama häufiger anzutreffen, während die Opfernde als Heldin mehr Begabung für das epische Genre hat. Aber der Bildungs- und Entwicklungsroman, der zur gleichen Zeit wie das 'bürgerliche Trauerspiel' bei den Schriftstellern bürgerlicher Literatur beliebt wird, und der der Darstellung individueller Entwicklung im gesellschaftlichen Umfeld gewidmet ist, bleibt männlichen 'Helden' vorbehalten.
3. Die Opfernde als Heldin in der Literatur von Frauen
Frauen, die als Schreibende das ihnen auferlegte Schweigen durchbrachen, haben zunächst beim Entwurf weiblicher Hauptfiguren die männlichen Frauenbilder weitgehend nachgeahmt. Die Verletzung des Schweigegebotes durch den Akt der Publikation wurde in den Anfängen der veröffentlichten Frauenliteratur weitgehend durch eine Anpassung an männliche Weiblichkeitsmuster in der Fiktion bezahlt. Es ist ohne weitere Erklärung plausibel, daß sich schreibende Frauen beim Entwurf weiblicher Helden [10] - vor die Wahl gestellt - für die Überlebensmöglichkeit entschieden. Die Opfernde bzw. Gebende als Heldin ist lange Zeit Favoritin in den Romanen, die Frauen selber geschrieben haben. Nicht nur die vorbildhaft leidenden Frauenbilder aus der Literatur männlicher Hand, auch die sozialen Erfahrungen von Frauen prägen das Bild der Gebenden in der Frauenliteratur, während die Imagination heroischer Heldinnen nur als utopischer Entwurf in der Überschreitung realer Grenzen denkbar wäre. Das leidende Weib, das trotz schwerer Schicksalsschläge an seiner Tugendhaftigkeit und Güte festhält, oder aber die Tugendhafte, die durch (häusliches) Glück belohnt wird, das sind die beiden Wege, auf die weibliche Autoren ihre Heldinnen schicken.
»Möchten meine Töchter so denken, so handeln lernen, wie Sophie Sternheim! Möchte mich der Himmel die Glückseligkeit erfahren lassen... alle Eigenschaften des Geistes und Herzens, welche ich in diesem schönen moralischen Bilde liebe, dereinst in diesen liebenswürdigen Geschöpfen ausgedrückt zu sehen«,[11] wünscht sich der Herausgeber Wieland in seinem Vorwort zu dem ersten Erfolgsroman einer Autorin in Deutschland, zu Sophie von La Roches »Fräulein von Sternheim« (1771). Aber nicht nur der männliche Förderer, auch weibliche Leserinnen ergötzen sich an dem Prototyp einer unschuldig leidenden, moralisch empfindenden, mit wohltätiger Tugend begabten Frau, wie die Reaktion Caroline Flachslands belegt: »Mein ganzes Ideal von einem Frauenzimmer! sanft, zärtlich, wohlthätig, stolz und tugendhaft und betrogen.«[12]
»Madam Leidens«, wie sich die Sternheim nach erlittenem Betrug selbst bezeichnet, betrachtet ihr Schicksal als weibliche Bestimmung: »'Ich will itzt dem Vergnügen der Lady Summers alles, was mich angeht, aufopfern.' - 'Ich besorge nur, Sie opfern sich selbst dabei auf, sagte der Lord. - 'Fürchten Sie nichts', antwortete ich, 'das Schicksal hat mich zum Leiden bestimmt; es wird mich dazu erhalten.'«[13]
Als sei die lebenslange Aufopferung eine Bedingung, die an die Überlebensmöglichkeit geknüpft ist, bewegt die Heldin sich in den gesteckten Grenzen und vollzieht so die Anerkennung der männlichen Gesetze für die Frau. Der Leidensweg der Sternheim - von Verwandten an einen Fürsten als Mätresse verkuppelt, von einem englischen Mylord entführt und Opfer eines Heiratsschwindels, später verschleppt und gefangen gehalten - enthält genügend dramatische Elemente als Stoff für ein 'bürgerliches Trauerspiel'. Aber die Geschwätzigkeit, mit der die Autorin ihre Heldin in Briefen ihr Schicksal als ihre ureigenste Bestimmung besprechen läßt, hat einen eigenen Sinn. Es ist die literarische Initiation einer Autorin in die Spielregeln der kulturellen Ordnung, das Erlernen der dort herrschenden Symbole. Die Schülerin übertrifft ihren Meister, denn keinem Mann kann es gelingen, die Frau als Gebende so anschaulich und in ihrer inneren Entwicklung so lebendig zu beschreiben. Das verinnerlichte Frauenbild, das Schriftstellerinnen in ihrer eigenen Literatur zur Darstellung bringen, ist hier nicht mehr nur Vorbild, sondern Identifikationsangebot für weibliche Leser. Ausbrüche aus diesem System werden anfangs seltener auf dem Wege formaler Gleichberechtigung - der Konstituierung heroischer weiblicher Helden neben bzw. anstelle der männlichen Helden - in der Literatur gewagt. Häufiger sind Schreibweisen aus dem Repertoire der 'Listen der Ohnmacht', mit denen unmerklich und subversiv die vorgegebenen Rollenmuster verlassen werden. Alleinstehende oder um ihr eigenes Glück besorgte Frauenfiguren gibt es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in der deutschen Frauenliteratur nur selten. Und selbst dann bezieht sich die Suche des eigenen Glücks meistens auf die Ehe, oder aber außerfamiliäre soziale Wohltätigkeit gibt die Legtitimation dafür ab, daß Frauen alleine leben. Verkaufs- und Publikumserfolge aber erzielten die Romane, deren Heldin sich im bekannten Metier hervortrat.
Auch Wilhelmine Karoline Wobesers Erfolgsroman, der schon im Titel »Elise oder das Weib, wie es seyn sollte« (1795) - die Einhaltung des geltenden Musters verspricht, beschreibt die Frau als Gebende.[14] Sie entsagt dem Geliebten, heiratet einen Ungeliebten, unterwirft sich den Wünschen der Familie und des Mannes, erträgt seine Untreue ..., aber:
»Aufrichtig war ihr Bestreben, eine stets gleich heitere Laune zu erhalten; nie sähe Wallenheim auf ihrem Gesicht die Spur von Thränen, welche sie oft in der Einsamkeit vergoß.«[15]
Das Buch, das schon im sechsten Jahr nach Erscheinen die sechste Auflage erlebte, demonstriert und propagiert das Seelenkunststück einer lächelnden Anpassungsleistung. Zur Frau, die sich aufopfert, gehört als Mann der bürgerliche Held. In einer Ergänzung des Textes, »Robert oder der Mann, wie er seyn sollte«, heißt es über ihn:
»daß gerade jene bürgerlichen Verhältnisse, in wiefern sie ihn zum Handeln bestimmen, einen Haupttheil seiner Charakterisitik ausmachen müssen.«[16]
In diesem bürgerlichen Paar Elise und Robert ist die Rollenverteilung von Gabe und Tat im Lot: die Opfernde und der Held als Helden. Die eigene Emanzipation haben schreibende Frauen häufg mit dem Verzicht auf die Emanzipation ihrer Heldinnen bezahlt.
Daß diese Figuren häufiger überleben als ihre von Männern geschaffenen Leidensgenossinnen verdanken sie einer Beschränkung ihrer Handlungen auf das 'häusliche Glück'.[17] Als gänzlich unglückliche Opfer werden solche Frauen beschrieben, die nicht einmal dieses »Glück« erreichen. Deren Unglück trägt zum Teil belehrende Züge und dient der Moral, daß ein Leben im Muster männlicher Heldenrollen für Frauen nicht nachahmenswert sei. So heißt es etwa als Resümee des Lebensweges einer verratenen und verlassenen Schauspielerin, Opfer eines unsittlichen Lebemannes, am Ende von Luise Mühlbachs »Die Künstlerin«, dem dritten Teil eines vierteiligen Romans (1839), der aus der Rolle fallende Biographien von Frauen entwirft:
»Emilie liebte nie wieder! - Sie hatte den Glauben verloren, und unter den Triumphen, unter den Huldigungen ihrer Verehrer blieb ihr Herz kalt. Sie lebte nur ihrer Kunst, und bald trug Fama ihren Namen Jurch ganz Europa. Was ihr die Liebe versagte, das suchte sie beim Ruhme - Befriedigung, - sie fand sie nicht. Denn nur im stillen, häuslichen Wirkungskreis findet das Weib Glück und Frieden, - überschreitet sie diesen, so hat sie ihre Bestimmung verfehlt und wird nimmer glücklich sein.«[18]
Und ähnlich programmatisch lautet die Moral des vierten Teils, »die Fürstin« :
»Ihre Tugenden sind die eines Engels, ihre Fehler sind das Ergebnis ihres Schicksals. Ach, das Weib wird nicht oft glücklich durch Ruhm, nicht auf dem Throne, nicht durch Glanz und Pracht, - nur in bescheidenem Kreise und an dem Herzen des Mannes, der sie liebt und achtet, nur inden Armen ihrer Kinder giebt es für das Weib Glück und Befriedigung. - «[19]
Mit diesen Schlußfolgerungen wird ein heroischer Lebensweg für Frauen explizit verworfen. Es handelt sich um eine offensive Absicherung des Modells der gebenden Frau als Gattin und Mutter im Entwurf eines abschreckenden Beispieles. Daß diese Romane in ihrer Haltung gegenüber dem Ausbruch aus der Rolle nicht eindeutig sind, habe ich an anderer Stelle erörtert.[20] Dennoch dienen sie der Reproduktion des bürgerlichen Frauenbildes. Immer häufiger allerdings werden die männlichen Partner dieser Frauen-Opfer als Täter beschrieben. Die Unsittlichkeit, Skrupellosigkeit und Untreue gegenüber Frauen wird zu einem wichtigen Leitmotiv in den Texten von Frauen, in welchen sie in die Gestaltung der Opfernden als Heldin eigene Erfahrungen einbringen. Nicht selten wird die Täterschaft der Männer aus deren Begehren motiviert, aus dem Wunsch nach Größe und Leidenschaft in der Frau, die sie in den herzlich guten, duldsamen und aufopferungsvoll liebenden Exemplaren nicht finden. Das Ungenügen des Mannes an dem von ihm selbst geschaffenen Bild der Frau, das die Dialektik des gespaltenen Frauenbildes in Ehefrau und Geliebte, in die nahe aufopfernde und die meist unerreichbare, sinnliche Frau, hervorbringt, ist implizit als Thema in vielen Texten von Frauen enthalten. Am deutlichsten bringt dies Louise Aston in ihrem Roman »Lydia« (1848) zur Sprache, in dem sie den Mann als Schöpfer und Töter seines Frauenbildes gestaltet.
4. Die Fallen im Entwurf heroischer Heldinnen
Der Entwurf heroischer Frauenfiguren ist für weibliche Autoren offenbar besonders schwierig, ohne dabei der Versuchung und dem Zauber der schöneren Hälfte der männlichen Frauenbilder zu erliegen. Der Wunsch, die Enge des weiblichen Lebenszusammenhanges zu überschreiten und die Fesseln der Gefangenschaft im Modell der opfernden bzw. gebenden Frau zu sprengen, führt allzu leicht auf das Glatteis eines neuen - nun von Frauen selbst geschaffenen - Mythos. In jüngster Zeit hat die Sehnsucht nach grandiosen und mächtigen Frauen, die aus einem Überdruß an der Opferrolle erklärlich ist, Frauen auf die Suche nach Vorbildern vergangener Zeit geführt. In der Rekonstruktion matriarchalischer Geschichte wird dabei allerdings vorschnell von der Existenz matriarchalischer Mythologie auf das Vorhandensein matristischer Gesellschaften geschlossen. Heide Göttner-Abendroth beispielsweise, die Frauengestalten patriarchalischer Kultur als transformierte und deformierte Frauenbilder matriarchalischen Ursprungs deutet, geht von einer reinen Abbildtheorie aus; sie schließt von den Zeugnissen matriarchaler Religionen auf eine analog strukturierte Realität. Die Göttin vergangener matriarchaler Religion dient ihr als »utopische Leitidee«.[21] Ohne die Funktion von Heldinnen überhaupt zu befragen, ohne aus der Mythologisierung, Überhöhung und Vergötterung der Frau in der langen Geschichte des Patriarchats Mißtrauen, Fragen und methodische Überlegungen abzuleiten, wird die Göttin schlicht zum Vorbild weiblicher Utopie deklariert.
Die Sehnsucht nach heroischen Frauen ist aber nicht erst in der 'Neuen Frauenbewegung' entstanden. Es gibt in der Geschichte der Frauenliteratur einige Erfahrungen mit Versuchen, die Opferrolle abzustreifen, wenn auch wenige.
Als Entwurf einer heroischen weiblichen Hauptfigur ist Alice in Louise Astons Roman »Revolution und Conterrevolution« (1849) zu betrachten.[22] Die Autorin schöpft ihre Ideen für diesen Roman aus den unmittelbaren politischen und persönlichen Erfahrungen der 48er Revolution. Die Revolution wird als Aufbruch erlebt, der ein anderes Frauenleben vorstellbar werden läßt. Im Unterschied zu anderen Heldinnen ist Alice in ihrer Emanzipation weiter als ihre Autorin. Während Louise Aston selbst als Krankenschwester am Schleswig-Holstein-Feldzug teilnahm, eine politische Zeitschrift herausgab und Kontakte zu linken Theoretikern unterhielt, kämpft ihre Heldin auf den Barrikaden, ist Präsidentin eines konspirativen politischen Klubs und Freischärlerin. Die Fabel, die die historischen Ereignisse radikalisiert, bearbeitet reale Erfahrungen zur konkreten Utopie. Im Entwurf einer heroischen Heldin allerdings, einer individuellen Utopie befreiter Weiblichkeit, wird der Text z.T. phantastisch und gestaltet mit der omnipotenten Frau einen neuen Mythos. Die Schwächen und Gefühle, die die Autorin ihrer Figur zugesteht, wirken als Brüche in der Darstellung, weil sie über weite Strecken der Handlung völlig ausgeblendet bleiben müssen.
Einen ganz anderen Versuch, den Entwurf eines Kollektivs weiblicher Heldinnen, unternahm 1915 Charlotte Perkins Gilman. Ihre Utopie eines Frauenlandes ist vorbildlich und in der Problematik exemplarisch für viele nachfolgende Phantasien und Vorstellungen.[23] Der Roman »Herland«[24] ist offensichtlich die Umsetzung einer Idee. Die Autorin erfindet außerhalb der Grenzen dieser Gesellschaft einen reinen Frauenstaat und geht dabei mit ihrer Phantasie bis ins Detail einer andersgearteten gesellschaftlichen Produktions- und Verkehrsform, die nicht auf der Dichotomie von männlich-weiblich basiert. In den Dialogen einiger männlicher Besucher dieses Frauenlandes mit einigen seiner Bewohnerinnen entwickelt die Autorin eine differenzierte feministische Analyse partriarchalischer Strukturen. So wird beispielsweise die 'Mütterlichkeit' als eine Ideologie entlarvt, welche als Reduktion der Frau auf die Funktion der Mutter mit einer einhergehenden Überhöhung dieser Rolle funktioniert. Die Darstellungsweise ihrer Patriarchatskritik besteht darin, daß sie aus der Perspektive des Gegenentwurfes - mit dem Blick der »Herland«-Bewohnerinnen - die Normen, Enrichtungen und die Lebensweise der bestehenden Gesellschaft betrachtet; die Irritation der als naiv gestalteten Dialogpartnerinnen führt zu einer fundamentalen Infragestellung des Patriarchats.
Doch im Versuch, eine Frauengesellschaft in der Fiktion zu konkretisieren, die Vorstellung einer männerlosen Gesellschaft zu Ende zu phantasieren, werden auch die Probleme und Mängel einer solchen Utopie deutlich. Indem die Autorin die Literatur als Experimentierfeld sozialer Phantasie benutzt, können feministische Ideen entfaltet und erprobt werden. Wie so oft in der Utopie reiner Frauengesellschaften folgen problematische Momente aus der Gretchenfrage solcher Vorstellungen, nämlich aus der Lösung des Problems, wie Frauen ohne Männer Mütter werden können, um den Fortbestand des Frauenlandes zu sichern. Die Heldinnen von »Herland« haben die Fähigkeit einer empfängnislosen Schwangerschaft entwickelt und in ihrer 2000 Jahre alten Kultur ein System kollektiver Mutterschaft in einer hochentwickelten, friedlichen Zivilisation geschaffen. Diesem fast paradiesischen kollektiven Leben haben die Frauen allerdings ihr Begehren geopfert: Es gibt keine individuellen Wünsche, und es gibt keine Sexualität - und somit auch keine Aggressionen. Die Charaktere der »Herland«-Bewohnerinnen nähern sich damit tendenziell wieder dem Modell der duldsamen, hilfsbereiten, guten Frau - der Gebenden.
Die beiden Beispiele sollten illustrieren, wie fatal der Zirkel zwischen Opfer und Heldin ist und wie schwierig es ist, Alternativen zu den von Männern geschaffenen Varianten - der geopferten Heldin und der Opfernden als Heldin - zu finden. M.E. folgt daraus als Konsequenz die notwendige Überwindung des Mythos heroischer Frauen, die fällige Zerstörung und Entzauberung des Helden begriffes überhaupt.
So wie Frauen begriffen haben, daß die geltenden Begriffe von Kultur, Politik und auch Widerstand männliche sind, unbrauchbar für weibliches Leben und Phantasieren, sollten sie auch die Suche nach Heldinnen aufgeben. Weibliche Gegenentwürfe sind zu sehr befangen in der Orientierung am männlichen Vorbild, an dessen scheinbarer Großartigkeit, Macht und seiner hervorragenden Rolle. Der Abschaffung hierarchischen Denkens muß die Vorstellung von einer Heldin geopfert werden. Dies ist kein Plädoyer für die Freudlosigkeit, den Verzicht, die Bescheidenheit, auch nicht für eine Reduktion auf 'weibliche Natur', sondern für die Ent-Täuschung verlockender Bilder, welche von den Erfahrungen und Bedürfnissen von Frauen hier und jetzt absehen. Frauenliteratur, die weibliche Erfahrungen aus der Gewalt patriarchalischer Normen befreien will, die bemüht ist, den Blick der Frauen von der männlichen Brille zu erlösen, die versucht, eine weibliche Perspektive zu gestalten und Wahrnehmungsweisen zu entwickeln, die Frauen nicht in Abhängigkeit vom Mann definieren - das kann nur eine Literatur der nicht heroischen Utopien sein, eine Literatur, die irritiert, provoziert und sich das Recht eigener Wertungen nimmt, oder auch eine nachdenkliche Literatur, die den eigenen Anteil von Frauen an ihrer Opferrolle, die Verinnerlichung der Gebenden, erforscht. Voraussetzung solcher Literatur ist die Zerstörung des Helden bzw. daß die Suche nach Helden(innen) aufgegeben wird.
Christa Reinig hat mit ihrem Roman »Entmannung« eine solche Zerstörung betrieben. »Die Geschichte Ottos und seiner vier Frauen«[25] enthält die Demontage eines männlichen Helden und den Verzicht auf den Entwurf weiblicher Heldinnen. Auf diesem Wege wird der Männlichkeitswahn emanzipierter Frauen ebenso destruiert wie die Orientierung an der Weiblichkeit als Strategie männlicher Selbstkritik.
»Ich selbst prüfe an mir, was an 'Männlichkeitswahn' ich von mir abtun kann«,[26] kommentiert die Autorin ihre Absicht. Die Neigung zur Nachahmung männlicher 'Größe' im Emanzipationsversuch vieler Frauen wird im Entwurf eines männlichen Helden experimentell erprobt und verworfen. Aus dem Stoff weiblicher Erfahrungen lassen sich keine Heldinnen entwerfen. Die vier Frauenfiguren des Romans sind deshalb ziemlich unheroische, aber typische Lebensentwurfe heutiger Frauen: Doris, die eine berufliche Karriere macht; Menni von der Leyden (bzw. Klytemnestra), die Hausfrau und Mutter; Thea, die geteilte Frau, teils käuflich, teils autonom; und Xenia, die ihre Fabrikarbeit aufgibt und von den kleinen Fluchten träumt. Ihre Schicksale führen die vier Frauen durch realistische Stationen weiblicher Biographien:
»Irrenhaus, Krankenhaus, Zuchthaus. Das ist der Dreisatz der Weiber-Weltformel.«[27]
In all diesen Schicksalen spielen männliche Täter eine Rolle. In der Konzentration um die männliche Hauptfigur Otto Kyra wird diese Täterschaft in der Fabel entwickelt und führt zum Programm der »Entmannung« als Zerstörung des männlichen Prinzips und des Helden. Der Roman handelt nicht von der Tötung eines Mannes, wie aufgeschreckte Rezensenten befürchteten und dabei den Text gründlich falsch verstanden haben; sondern Otto, zu Beginn strahlender, im Beruf und bei Frauen erfolgreicher Held, wird im Verlaufe der Handlung immer weiter aus seiner Heldenrolle entlassen.
Der Held selbst macht es sich mit seiner »Entmannung« zu einfach. Otto nimmt sich, nachdem er die patriarchalische Gewalt, die vom Manne ausgeht, gesehen hat, vor, sich »in ein Weib zu verwandeln«.[28] Bei diesem Versuch stößt er notwendigerweise auf die schlechte Realität seiner weiblichen Vorbilder, anstatt auf die Utopie einer autonomen Frau. Statt sich mit seiner eigenen Männlichkeit kritisch auseinanderzusetzen, entscheidet er sich für eine Oberflächenkosmetik, für eine Verweiblichung - und macht sich weiter am Leid der Frauen schuldig, denn er handelt als Mann.
Die »Entmannung« wird so als unerledigtes Programm entworfen und als Demontage eines männlichen Helden gestaltet, die zugleich eine Absage an die Verweiblichung, d.h. die äußerlich bleibende Geschlechtsumwandlung, des Helden enthält. Im Rahmen dieses Schreibkonzeptes wird eine Fülle von Vorstellungen über Männliches und Weibliches, die dem Alltagswissen, mythologischen, biologischen, literarischen und psychoanalytischen Werturteilen entspringen, auf den Kopf gestellt, ironisch irritiert oder wörtlich genommen und ad absurdum geführt.
Infsofern kann der Roman als poetisches Pendant zu der hier beabsichtigten Kritik am Entwurf weiblicher Helden - sei es als Opfer, sei es als Heroine - gelesen werden. Ein bloßer Rollentausch des Personals führt in der Literatur genau so wenig weiter wie in der Geschichte.
Ich danke Susan Cocalis für Anregungen und Kritik bei der Durchsicht dieses Beitrages.