1.4 Sexualität: Mythos und Wirklichkeit
Meine Frage nach dem Bedeutendsten einer Beziehung mit einem Mann bewirkte bei vielen Frauen Hinweise auf das Andere im Mann, das Andere, das mit dem Kribbeln, dem Funken, und letztendlich mit der potentiellen oder gelebten Sexualität zwischen Mann und Frau korrespondiert. Sexualität ist somit augenscheinlich die primäre Konstituante der Mann-Frau-Beziehung. Mit Antworten, die das Bedeutendste am Miteinander-Reden und Sich-Verstehen festzumachen suchten, gab ich mich nicht zufrieden, indem ich betonte, dies sei auch und gerade mit Freundinnen möglich, während es für Freundschaften mit Männern offenbar nicht ausreichend sei. Auf mein Nachhaken hin blieb dann immer nur das Eine, die Sexualität.
* Frau J (41, Sekretärin, geschieden): »was sollte es sonst wieder sein, ich komme eigentlich dann immer nur auf das zurück, das macht ja auch wohl den Unterschied aus.«
* Dies gilt auch für Frau G (33, Hausfrau, verheiratet): »im Grunde existiert in meiner Vorstellung eben hauptsächlich diese Verbindung Sexualität und Mann.«
* Frau N (29, Sekretärin) trennte sich von ihrem Mann und ließ sich scheiden, »es war nichts mehr da, was für mich wichtig wäre, daß ich verliebt wäre .. vom Reden her und vom Charakter her ja, find ich meinen Mann ideal für mich, als Freund, so wie das heute ist ... er ist, glaub ich, der einzige Mensch auf der Welt, mit dem ich heute noch alles bereden könnte.«
Das Reden, der Charakter, »die Menschlichkeit« (Frau E), von den Frauen so oft als Begründung für die Anziehung herangezogen, ist, wie hier sehr deutlich wird, bei weitem nicht ausreichend. Die Trennung ist durch eine nicht mehr gelebte oder gewünschte Sexualität vollzogen, ebenso wie ein >Seitensprung< von fast allen Frauen durch sexuelle Aktivität definiert wird.
Da der Sexualität offenbar eine so hervorragende Rolle als sozialer und individueller Verknüpfungsträger zwischen Mann und Frau zukommt, stellt sich die Frage, ob in der Sexualität, im Gegensatz zu sonstigen Erfahrungen der Frauen mit Männern, eine Kongruenz zwischen abstrakten Erwartungen und realem Erleben gewährleistet ist.
Gewinnt die Sexualität also gerade deshalb eine derartige Bedeutung im Bewußtsein der Frauen, weil sie der Bereich ist, in dem die so oft nicht erfüllten Wünsche der Frauen befriedigt werden, Wünsche, die sich ganz speziell auf den Mann richten und nur durch ihn, nicht durch Frauen, Befriedigung erfahren können? So brachte ich die obige Frage auf den Punkt, auf den mich die Frauen gebracht hatten: »Was ist für Sie das Bedeutendste an der Sexualität mit einem Mann?«
Den meisten Frauen erschien diese Frage tautologisch, weil sie eben nur diese Sexualität kennen bzw. nur die körperliche Beziehung zwischen Mann und Frau überhaupt als >Sexualität< begreifen. In ihren Schilderungen zeigt sich, daß sie sexuelle Befriedigung durch den spezifischen Mann-Frau-Bezug, nämlich den Koitus erwarten.
Nur die wenigsten erreichen diese Befriedigung. Ohne zärtliche Zuwendung bleiben sie unbefriedigt. Diese aber definiert nicht die Mann-Frau-Beziehung und wird nicht selten von den Männern ausgespart.
So reicht Frauen das, was sie selbstverständlich bekommen und erwarten, real nicht aus, es kann nicht ausreichen, obwohl es das Eigentliche des Mann-Frau-Bezuges - auf den Punkt gebracht - definiert und unabdingbar für Frauen das ist, was aus dem Eigentlichen des Mann-Frau-Bezuges herausfällt.
Es handelt sich hier nicht so sehr um das Problem unterschiedlicher Bedürfnisse von Frauen und Männern, sondern wir stoßen auf die immer wieder auftauchende und oben beschriebene Diskrepanz zwischen Bildern vom Mann und vom Männlichen gegenüber konkreten sinnlichen Erfahrungen mit ihm. Wie Frauen gerade mit dem so sehr gehuldigten 'Anderen' primär enttäuschende Erfahrungen machen, bleibt der Koitus als sexueller - und letztendlich eigentlicher - Bezug zwischen Mann und Frau unbefriedigend.
Diese spezifische Widersprüchlichkeit zwischen Erwartungen an den Mann und nur an ihn, Erleben und Enttäuschung mit ihm, verdeutlicht ein längerer Gesprächsauszug mit Frau E (26, Studentin, ledig). Die Diskrepanzen, die in den meisten der Interviews auftauchen, treten hier sehr plastisch hervor, weil Frau E bereit ist für eine offene Reflexion ihrer Situation.
* Frau E: ... aber jetzt meine Beziehung zu Frauen . da sprachen wir ja drüber, die ist eben auf soner freundschaftlichen Ebene
Frage: was fehlt da im Vergleich zu einer Beziehung mit einem Mann?
Frau E:.. ..
Frage: ganz allgemein, ist da was anders für Dich?
Frau E: ich wollte gerade erst Erotik sagen, . und dann ist mir eingefallen, daß ich also Männer auch nicht sehr erotisch finde, ich finde immer nur Situationen erotisch, es ist also nicht so, daß ich auf irgendwie, ich finde sowas schön, aber nicht so .
Frage: den Mann an sich, wenn Du ihn siehst?
Frau E: Ja, dann krieg ich nicht ne Spannung das ist also nicht richtig, bei Frauen das ist nicht das, was fehlt, sondern wahrscheinlich diese Situation . denn ich laß es auch ja nicht zu!, daß solche Situationen überhaupt entstehen, wenn Rita auf mich zukommt und mich küßt, dann ist das ne andere Situation, als wenn Hans auf mich zukommt und mich küßt, für mich gefühlsmäßig
Frage: außer, weil ihr ne feste Beziehung habt, ist es trotzdem noch was anderes?
Frau E: ..
Frage: sagen wir, irgendein anderer Mann kommt und gibt Dir einen Kuß, den Du gut kennst, der vielleicht was von Dir will, und die Rita würde auf Dich zu kommen, ist das was anderes?
Frau E: sicherlich, weil ich ja weiß, daß Rita nichts von mir will (Lachen)
Frage: nur das Wissen darum?
Frau E: weißt Du, mein Bewußtsein, genau, das ist wichtig!
Frage: es ist also keine Frage des Gefühls, sondern des Bewußtseins?
Frau E: nee! genau!!
Frau E: daß, wenn ich mit Frauen zusammen komme, mit Rita auch, daß ich das einfach jetzt schon immer tue . Gefühle abblocken
Frage: wenn Du Dich auf Frauen einlassen würdest wie auf Männer, glaubst Du, daß da andere Dinge laufen würden?
Frau E: ja, das glaub ich wohl, ich glaube, daß die Sexualität auch anders ist.
Frage: was verstehst Du unter Sexualität?
Frau E: .. .. ja, vielleicht muß ich das anders sagen, ich meine jetzt nicht . ehm . Beziehung, Sexualität ist für mich auch Beziehung, aber . was ich jetzt meine, ist die Form
Frage: die Technik?
Frau E: Ja genau, Technik und auch . das Gefühl dabei, ja, ich mein, Technik ist sicher auch ganz anders ..
Frage: weil kein Koitus möglich ist?
Frau E: Ja, genau! ja, das ist ja ein unheimlich gravierender Unterschied aber, . finde ich.
Frage: findest Du?
Frau E: Ja! aber das hat, rein technisch, nicht jetzt von der Sexualität her, für mich ist Sexualität mehr, eben überwiegend Zärtlichkeit, nicht dieser Koitus, .. das ist, ja das ist .. sehr unwichtig für Frauen an sich, finde ich
Frage: von der Physiologie her, oder von Deiner Erfahrung?
Frau E: Ja, ja, klar, ich mein, eigene Erfahrungen hab ich .
Frage: inwiefern ist er unwichtig, wenn er andererseits so gravierend ist?
Frau E: nein!! ich meine nicht immer unwichtig, grundsätzlich unwichtig, sondern innerhalb der Sexualität, .
Frage: in dem Ablauf?
Frau E: Ja, ich finde Zärtlichkeit wichtiger . für Frauen allgemein auch, glaube ich, ist das so
Frage: von der Körperausstattung her?
Frau E: Ja, und dann kommen wir nämlich wieder zur Technik, weil ich meine, wenn Frauen Frauen werden meines Erachtens nur . erleb ich selber, nur zum Orgasmus gebracht . durch ehm . also nicht durch den Koitus, sondern durch Zärtlichkeit ... wenn die Zärtlichkeit stimmt, dann brauch ich im Grunde keinen Koitus, also, das zeigt, das führt für meine Begriffe eine heterosexuelle Beziehung überhaupt ad absurdum
Frage: trotzdem hast Du Angst vor einer homosexuellen Beziehung?
Frau E: weil das nicht normal ist!, ich sagte ja eben, weil ich die Schwierigkeiten haben weil ich Angst vor den Schwierigkeiten habe
Frage: in den Beziehungen mit Männern war Zärtlichkeit, also das, was Du brauchst nicht so drin?
Frau E: Ja, unbedingt, und das ist ja auch ein Punkt, daß ich mir eben bei Frauen das unheimlich gut vorstellen kann, weil die eben . genau wissen, was die wollen und das auch sich gegenseitig sicherlich . besser erklären können und so, als man das mit Männern kann, weil die einen ganz anderen Mechanismus haben, auch ne ganz andere Technik! die empfinden völlig anders! für meine Begriffe ist das, ist das überhaupt irre geregelt, von der Natur her
Frage: was?
Frau E: daß Männer so völlig andere
Frage: erogene Zonen haben?
Frau E: Ja, das, und auch das Geschlechtsteil, daß das so völlig anders ist . irgendwie und daß die ganz anders reagieren, viel schneller und daß das nicht viel besser koordiniert ist, aufeinander abgestimmt
Frage: ist das zu widersprüchlich?
Frau E: Ja, irgendwo ist von Natur aus, sind die beiden . so gegensätzlich gearbeitet, daß man diese gefühlsmäßige Sexualität eigentlich gar nicht . hat! dabei: die ist eigentlich nur künstlich dazugemacht . obwohl das (Lacher) das Wichtigste ist, nur diese ganzen Techniken, die sind einfach zum Kinderkriegen
Frage: das ist nicht Sexualität?
Frau E: Ja, genau, und trotzdem ist dieser Ablauf! für mich ein Teil der Sexualität, also ich meine jetzt nicht nur, die ganze Technik, das ist auch Sexualität für mich und das Gefühl, was dabei entsteht, und überhaupt die Beziehung, . ich kann das auch nicht so genau definieren ...
Frage: was ist für Dich das Bedeutendste an einer Beziehung mit einem Mann?
Frau E: .. .. .. ..
Frage: In Abgrenzung zu einer Freundinnenbeziehung?
Frau E: .. ..
Frage: warum bist Du mit einem Mann zusammen?
Frau E: .. (Lachen) das ist eben die Frage, also (Lachen) weil sich das so ergeben hat, könnt ich sagen, oder weil ich . so erzogen worden bin, nee ich kann da nichts zu sagen, da gibts keine Antwort drauf, . ich kann sagen Menschlichkeit, was ein Quatsch ist, das kann ich bei ner Frau genauso finden, . ich wollte das erst sagen, bevor Du sagtest, in Abgrenzung zur Frau, ich meine damit was ein Mensch
Frage: nee, ich mein jetzt >Mann<!
Frau E: nee, das kann ich nicht beantworten, da gibt es nichts, .. es gibt nichts Bedeutendstes an einem Mann in Abgrenzung zu einer Frau
Frage: andere Frauen wissen da manchmal Antworten drauf
Frau E: ... was können die denn sagen!? ... Männlichkeit! können die sagen ... ja, aber das ist doch nicht existent, . ich meine, überhaupt, in meiner Beziehung ist es nicht existent deswegen, also, das könnt ich schon mal nicht sagen, es ist schon teilweise existent, aber das find ich nicht bedeutsam, . was könnt ich noch sagen, das Aussehen, die erotische Ausstrahlung, kann ich auch nicht sagen (Lachen), also im Grunde ist das bei mir wirklich der Charakter, Menschlichkeit
Frage: was ja Frauen auch haben!
Frau E: alles, was ich vorhin schon erzählt habe, wie die Beziehung zwischen uns ist, aber das kann man alles auf Frauen auch beziehen, ..
Frage: welchen Stellenwert hat die Sexualität in Deiner Beziehung?
Frau E. ... ja, die Sexualität, die ich vorhin beschrieben habe, denn wenn ich Sexualität höre, dann fällt mir immer nur Zärtlichkeit ein, das ist für mich einfach das Wichtigste und das ist sehr wichtig für mich
Frage: ist es auch befriedigend?
Frau E: nein, nicht unbedingt, . also manchmal meistens nicht
Frage: aus welchem Grund?
Frau E: weil ich mehr brauche eigentlich als ich kriege, weißt Du, es ist auch immer mit Hans so, der ist wirklich bemüht, aber es kommt dann immer wieder, es kommen Zeiten, wo es dann nicht kommt, wo ich mehr brauche, ich müßte das dann immer wieder sagen, und immer auf ihn zugehen ... er meint, er braucht genau, mindestens genausoviel und wir haben da schon unheimlich lange drüber gesprochen ... aber meistens ist das so lethargisch und dann wart ich immer so und versuch auch was zu machen, aber und das, wenn das mehrmals vorkommt, dann sind bei mir eben ist dieser, die Zärtlichkeit eben unbefriedigt, dieses Bedürfnis ...
Frage: was zieht Dich an der Sexualität mit Männern an?
Frau E: ... phh, kannst mich genausogut fragen, was zieht mich an der Sexualität an, .. denn ich kann Dir also wirklich nicht sagen, daß ich .. auf Penis stehe, denn das wär das Einzige, alles andere kannst Du, wenn Du das wieder in Gegen-, ich, klar, wenn Du das wieder in Bezug auf die Frau siehst, ich komm dann auch wieder auf die Zärtlichkeit, und
Frage: die Du von Männern aber nicht unbedingt bekommst, oder?
Frau E: ja, das ist richtig, aber das ist trotzdem das, was mich anzieht, . ist auch klar, ich meine, von Frauen krieg ichs sowieso nicht, weil ichs nicht kriegen darf .. ... ...
Auch und gerade im sexuellen Bereich tut sich eine Kluft auf zwischen Bildern und Erwartungen einerseits und real-sinnlichem Erleben andererseits. Die große Bedeutung der Sexualität liegt nicht in ihren bedürfnisbefriedigenden Möglichkeiten. Im Gegenteil, die Enttäuschung, der Wunsch nach mehr zärtlicher Zuwendung wird auch in diesem Gespräch deutlich. Sie ist inzwischen durch immer neue, großangelegte Untersuchungen hinreichend belegt.[11]
Wichtig ist auch hier der Realitätsverlust. Zu entdecken sind zwei unterschiedliche Ebenen von >Sexualität<: Sexualität einmal als sinnliche Erfahrung und zum anderen Sexualität als Träger der Erwartungen, des Mythos vom Mann.
So wird die Schwierigkeit Frau E's begreifbar, mir klarzumachen, was sie meint. Sie vermischt für sich ganz offensichtlich diese beiden Ebenen. So kann sie sehr anschaulich beschreiben, welche Probleme sie bzgl. ihres Zärtlichkeitsbedürfnisses mit ihrem Freund hat, wie sie sie bereden, bzw. sich wenig verständigen können. Auf einer anderen Ebene aber ist sie sehr sprachlos und - sagt sie etwas - verwickelt sich schnell in Widersprüche. Der Koitus ist »unheimlich gravierend« aber zugleich »sehr unwichtig«; zwischen Mann und Frau ist es »diese Situation«, die den Umgang mit einem Mann anders macht als mit einer Frau etc.. Was sie wirklich sagen will, kann sie kaum in Worte fassen.
An einer Stelle wird dies für sie jedoch deutlicher: sie erkennt, daß es ihr Bewußtsein, ihr Wissen um Möglichkeiten ist, das den Kontakt zu Männern so grundlegend anders gestaltet als zu Frauen.
Damit wird die zweite Ebene gut sichtbar: der Bezug zwischen ihr und dem Mann besteht aus Bildern, gelernten Erwartungen, abstrakten Wünschen nach einem Erfüllt-Werden. Dies ist die Ebene des Mythos. Sie hat mit dem realen Erleben von Sexualität sehr wenig zu tun.Deshalb müssen wir sie getrennt sehen.
Im Gegenteil, diese Erfahrung, die beschriebenen Wünsche und Unzufriedenheiten bzgl. der Zärtlichkeit laufen den hoffnungsvollen Erwartungen geradezu und immer neu entgegen. Aber auch im sexuellen Bereich dringen diese Enttäuschungen kaum ins Bewußtsein der Frauen. Durch ihre Verleugnung bauen sich die Bilder zu Mythen auf. Frau E bringt dies auf den Punkt: die Zärtlichkeit, die sie vom Mann nicht bekommt, ist trotzdem das, was sie anzieht. Das Bild wird nicht der Wirklichkeit angepaßt, das reale Erleben verschwindet vielmehr hinter dem Mythos, bis es völlig vergessen ist. In den fehlenden Worten drückt sich die Unmöglichkeit aus, die eigene Realität wirklich zu begreifen.
Das immer neue Vergessen der Wirklichkeit ist ein typischer >Realitätsbezug< vieler Frauen. Je unbefriedigender die Erfahrungen, umso mehr Mythen werden produziert. Aber auch: je weniger die eigene Realität selbst strukturiert, Leerräume gefüllt werden, umso unbefriedigendere Erfahrungen machen die Frauen. Der Mythos vom Mann baut sich zu einer Übermacht auf. Die Bilder, das normierte Bewußtsein formen die Realität und lassen sie damit nicht mehr erfahrbar werden.
Ab und an indessen blitzt die Kluft, diese grundlegende Inkongruenz auf. Den Frauen selbst aber bleibt sie unsichtbar.
Frau C (41, Hausfrau, verheiratet) über Karnevalserlebnisse: »... da fing das dann aber auch wieder an, so mit Küßchen geben ... mich stößt das dann immer wieder so ab ... früher ist das immer so in den Kreisen, in denen ich aufgewachsen bin, da war das einfach Sünde, .. und das ist so fest bei mir drin, für mich ist das irgendwie was Heiliges, ..
Sexualität in der Spannung zwischen »Sünde« und »Heiligem« deutlich wird hier, daß entscheidend nicht die bloße Verbindung Sexualität und Mann ist, sondern das Bestimmtsein, die Bestimmung für einen, den Mann. Mit jedem anderen Mann ist Sexualität Sünde. Es ist die Realität, die andere Ebene, die sich dann zu deutlich meldet. Sie würde auch das Erleben von Unerfülltheit herausfordern. Der Koitus ereignet sich mehr als psychisches, denn als physisches Erlebnis.
Die Mütter warnen ihre Töchter vor dem bösen Fremden, der ihnen etwas antut, fachen indessen das Warten auf den Einen an. Realität wird transponiert auf eine Ebene der Bilder, Bilder um Hoffnung und Ängste, mit Zuschreibungen von Gut und Böse. Mit dem Einen, für den sie bestimmt sind, sind die Frauen bereit, Sexualität zu leben. Wobei sie mehr die Erfüllung ihrer Bestimmung als die Sexualität genießen. Frau B (56, Angestellte, ledig) ist
»Sexualität ein ganz hoher Wert«,
den »rohen Sexualakt«
indessen verabscheut sie. Das letztere ist faßbar, jede(r) weiß, was gemeint ist. Was aber ist diese idealisierte Sexualität? Es ist alles andere als Realität, sondern vielmehr das Ideal der Verschmelzung mit dem, wofür eine Frau bestimmt ist, durch den sie ihren Wert als Frau und damit als Mensch erhält. In der Sexualität symbolisiert sich auf geradezu mystische Weise die soziale Wertsetzung der Frau durch den Mann. Reden, Verständnis, Freundschaften, all das andere ist nicht ausreichend, meist nicht einmal erreichbar. Die Normalität weiblichen Lebens besteht auch heute noch in der Mythologisierung des Mannes durch Verleugnung der Wirklichkeit, mit dem Ziel, jemand zu sein, Wert zu erlangen.
Diese Frauen leben integriert, die zwei Ebenen klaffen für sie nicht auseinander. Sie pflegen ihre Bilder, ohne ein Bewußtsein über die Krankheit ihrer Wirklichkeit zu besitzen.
Doch die Kluft wird zunehmend thematisiert. Einige Frauen beginnen nachzudenken und veranlassen andere, dies auch zu tun.
Frau E weiß um die Widersinnigkeit ihrer Worte, ja ihrer Gefühle. Sie begreift in unserem Gespräch die Selbstverständlichkeit der Heterosexualität für sich als Frau als Absurdität, weil das, was sie erwartet - schaut sie mit offenen Augen in ihre Wirklichkeit gar nicht existent ist. Sie muß es sich immer neu erkämpfen, »künstlich dazumachen«.
Frauen, die ihrem Frausein, sich selbst, der Frauenbewegung und damit anderen Frauen sehr nahe stehen, erleben zunehmend die Schizophrenie ihrer Realität, indem sie die Inkongruenz der beiden Ebenen spüren. Da sie selbständiger und autonomer leben oder leben wollen, reklamieren sie immer weniger die Suche nach Kraft und Schutz durch den Mann als ihr Ziel. Und da ihr Alltag überwiegend in Leben und Arbeiten mit Frauen besteht, tritt ihnen deutlicher als anderen Frauen vor Augen, daß es nur die Sexualität sein kann, die sie an Männer oder an einen Mann bindet, und noch mehr: durch ihre Gespräche wird diesen Frauen zunehmend erfahrbar, daß diese Sexualität auf ihre eigenen weiblichen Wünsche bezogen, unbefriedigend ist und meist auch unbefriedigend bleiben muß.[12] Das Erleben dieser Diskrepanzen ist sehr quälend, umso mehr, als sie nicht durch einen bloßen Willensakt aufzulösen sind. Die Werthaftigkeit des Mannes, die Abhängigkeit von der Wertsetzung durch ihn ist zu tief und zu früh auch in diesen Frauen verankert, als daß sie ihr durch vermehrtes Wissen um ihre Situation einfach entweichen könnten.
Es handelt sich eben nicht nur um sexuelle Bezüge, sondern um existentielle und soziale Wertsetzungen. Erst nach einem langwierigen, komplizierten Zurückführen in die Realität zur Möglichkeit, sich wirklich zu erleben, ist die Entscheidung für oder gegen ein weiteres Leben mit dem Mann möglich und sinnvoll. Wichtig ist zu verstehen, daß es sich tatsächlich nicht in erster Linie um die Veränderung von Gefühlen, sondern um einen diffizilen, die Persönlichkeit verändernden Bewußtseinsprozeß handelt, der erst bestimmte Gefühle zuläßt oder erkennbar macht.
Eine Möglichkeit, mit der schizoiden Situation umzugehen, ist das getrennte Leben auf beiden Ebenen, d.h. die Abspaltung des sexuellen von allen anderen, oft auch den emotionalen Erlebnisbereichen. Folge davon ist jedoch immer ein sehr labiles psychisches Gleichgewicht. Von den von mir befragten Frauen rechne ich Frau A, E, L, P und Q und mit Abstrichen Frau B und G in diese Gruppe. Es sind alles Frauen, die in ihrem Alltag Selbstbestimmung, Selbstbewußtsein und Selbständigkeit erleben. Solange es ihnen gelingt, diese Bereiche und den der Sexualität auseinanderzuhalten, bleibt das zwar aufgespaltene, aber dennoch integrierte Selbsterleben gewährleistet. Sie sehen ihre Autonomie durch die Sexualität mit einem Mann nicht gefährdet, entweder, weil sie die Autonomie in diesem Bereich - und nur in diesem Bereich - gar nicht wünschen - die Abspaltung also par excellence funktioniert - oder weil sie selbstbestinmte Sexualität versuchen zu leben.
Letzteres trifft auf Frau A, E, G und B zu. Probleme treten in Ansätzen bei Frau Q und sehr krass bei Frau L auf, und zwar mit einer Problematik, die auch Frau M, K und T kennen.
* Frau K (26, Dipl.Päd., ledig) formuliert ganz allgemein: »ich glaube, daß ich mich in Bezug auf Männer selber nicht so richtig fühlen könnte, wie in Bezug auf Frauen.«
* Frau M (34, Kolleg, ledig) meint ähnliches: »mit ner sexuellen Beziehung zu nem Mann wär auch wieder son bestimmtes Verhalten verbunden, und da hätt ich einfach keinen Bock drauf.«
* Frau T (31, Sachbearbeiterin, ledig): »wahrscheinlich, weil ich denke, wenn ich jetzt mit dem Mann schlafe, daß ich dann mich auch irgendwo aufgebe ... daß ich das Gefühl habe, der Mann hat mich dann irgendwie in der Hand in dem Moment.«
Alle drei Frauen sind den Weg in Frauenbeziehungen einschließlich der Sexualität, gegangen. Gerade bei Frau T ist interessant, daß sie Sexualität mit Männern als von ihrer Person, ihrem sonstigen Erleben, völlig abgespalten erfährt, während sie Sexualität mit Frauen gerade - und darauf legt sie Wert - als in ihre Gesamtpersönlichkeit, mit Wünschen nach Emotionalität, Nähe, Zärtlichkeit etc. integriert erlebt. Hier wird somit einmal mehr deutlich, daß eine große Spanne klafft zwischen realer Bedürfnisbefriedigung und den symbolischen Implikationen von Sexualität mit ihren spezifischen Erwartungen und Ängsten. Viel mehr als mit konkreter Sinnlichkeit ist die Sexualität zwischen Mann und Frau verknüpft mit dieser Trägerfunktion von Wert und Zuschreibung, von Positionsbestimmungen.
Sobald die Abspaltung des sexuellen Erlebens von der übrigen Persönlichkeit in dieser Situation für eine Frau nicht mehr gelingt, empfindet sie die ganze hochsensible Spannung ihrer schizoiden Realität. Der Mythos elektrisiert sich quasi an der Wirklichkeitserfahrung. An diesem Punkt werden Frauen oft frigide, sie verschließen vor der die Bilder, d.h. auch ihre persönliche Integrität, bedrohenden Realität die Augen. Indem sie sich sexuell verweigern, ertragen sie das, was einen Großteil ihrer Geschlechtsgenossinnen durch Bewußtlosigkeit unbeeindruckt leben läßt. Frigidität ist damit ein Ausdruck der Normalität in ihrer Bewußtheit. Ich möchte dieses Erleben exemplarisch an einem Gesprächsauszug mit Frau L (26, Studienrätin, ledig) veranschaulichen. Sie erzählt, wie sie als Mädchen im Biologieunterricht die Fortpflanzung an der Tafel erklären sollte:
* Frau L: ich konnte das alles sehr objektiv und neutral und emotionslos darstellen
Frage: ist das auch heute noch so?
Frau L: ja, kann ich
Frage: läßt Du die Gefühle beiseite?
Frau L: ja, wohl hauptsächlich auf die Sexualität bezogen
Frage: wieso?
Frau L: irgendwie hat das natürlich damit zu tun, daß ich ja, daß ich mich gegenüber Männern, häufig .. .. entblößt, glaub ich, empfinde, und diese Sache prägt, glaub ich, das ganze Verhältnis zur Sexualität ... ich glaube, ich stehe hinter einem sexuellen Verhältnis mit einem Mann nicht voll dahinter ... der W. sagte mal .. du läßt dich einfach nicht fallen, und das stimmt auch ... ich hab irgendwie das Bedürfnis und auch das Ziel, darüberzustehen
Frage: Was bedeutet Dir das Darüberstehen?
Frau L: daß ich sexuelle Lust, die ich früher mal gehabt habe, in Bezug auf Männer, ... nicht aufkommen hab lassen, daß ich die also versuchte zu unterdrücken ... heute erleb ich das automatisch ... heute ist es so, ... daß ... meine ganzen körperlichen Regungen überhaupt nicht reagieren mehr.
Frage: hast Du Angst davor?
Frau L: weiß ich nicht .. ich hab Angst vor ich glaube, vor einem Bruch in meiner Person die Sexualität, die ich bisher gehabt habe mit Männern .. ist für mich .. ein Bruch mit meiner .. nee, andersrum, mein Leben ist ein Bruch mit meiner Frauenrolle, aber in der Sexualität ... ist das nicht nehm ich diese Frauenrolle vollkommen ein wie ich öffentlich mich verhalte ist völlig anders wie ich mich in der Sexualität einem Mann gegenüber verhalte .. diesen Bruch, den halt ich eigentlich nicht aus .. den halt ich in meinem Selbstbewußtsein nicht aus.
Frage: die Frauenrolle wird in der Sexualität gefordert?
Frau L: zum Teil ... wenn es nicht gefordert wird, merke ich, daß ich, haltlos werde, daß ich mich nicht mehr zu verhalten weiß, überhaupt nicht mehr. ich bin eigentlich durch die männliche Sexualität ziemlich fixiert auf sowas wie .. den sexuellen Höhepunkt bei Männern; meinen eigenen sexuellen Höhepunkt hab ich bei Männern, glaub ich nie erlebt.
Frage: aber die Sexualität mit Dir selbst ist befriedigend?
Frau L: ... ja, aber es ist ne Sexualität mit mir erlebt, es ist keine mit einem anderen Menschen erlebte Sexualität.
Frage: bei der Selbstbefriedigung kannst Du Dich also fallenlassen?
Frau L: ja, kann ich, allerdings läuft das aber bei mir sehr stark mit Phantasien zusammen, .. die .. auch wieder von dieser typischen weiblichen Rolle geprägt sind ... und ich im Grunde auch nicht weiß, wie ich da rauskomme, manchmal wird das so schlimm, daß ich im Grunde mit keinem Mann mehr klar komme, die können mich einfach nicht verstehen.
Frage: inwiefern verstehen die Dich nicht?
Frau L: die denken, ich würde mich verweigern.
Frage: tust Du das nicht auch?
Frau L: eigentlich nicht, von meinem Selbstbewußtsein aus nicht, aber ich kann nicht.
Frage: und wie ist das in der Sexualität mit Dir selbst?
Frau L: in dem Moment ist ja Sexualität nicht gesellschaftlich ... ist ja ne gewisse Autarkie vorhanden, ich kann also sagen, gut, mit meinen Phantasien lebe ich ... das ist vollkommen kontrollierbar, von dem, was ich mir zumuten kann und was ich mir zutraue.
im Grunde ist es auch so, daß der H mich selbst befriedigen kann, das stört mich also nicht, ne gemeinsame Sexualität hab ich nicht .. zumindest daß ich den Körper eines Mannes überhaupt mal mitkriege, das brauch ich beim H überhaupt nicht.
Frage: Du hast eine Zeitlang keinen Koitus gemacht, wieso?
Frau L: weil ich eigentlich meine ganze verdrängte Lust mit Koitus zusammenbesetzt hatte, als Ideal ... ich bin in meiner ganzen Sexualität bisher unheimlich auf Koitus fixiert gewesen ... es ist bei mir eine historisch entstandene Mystifizierung des Orgasmus und des Koitus...
Frage: ist für Dich die genitale Sexualität oder die Zärtlichkeit wichtiger?
Frau L: für mich ist sicher die genitale Sexualität wichtiger, weil sie für mich problembeladener ist....
mich würde interessieren, inwieweit Frauen tatsächlich in der Lage sind, .. ob das, bei einem Koitus einen Orgasmus zu kriegen, ob das vorgemacht ist, ob das Illusion ist, die man realisiert in seinem Kopf oder ob das sinnliche Erfahrung ist.
Frage: durch wen hast Du in Deinem Leben überwiegend Enttäuschungen erlebt, durch Männer oder durch Frauen?
Frau L: natürlich durch Männer, klar Aber ich hab ja auch mit Frauen nicht geschlafen.
1.5. Die sozial-sexuelle Dimension der Heterosexualität
So, wie die Sexualität für Frauen Hoffen auf Verschmelzung, Verstehen und Nähe mit dem Mann verkörpert, repräsentiert sie umgekehrt alle Ängste und Empfindlichkeiten.[13] Eine Frau, die sich auf den Mann einläßt, wird dies gerade auch in der Sexualität tun. Steht sie jedoch selbst für sich im Mittelpunkt, lebt sie ich- und autonomieorientiert, ist es immer und gerade auch die Sexualität, die diese Position gefährdet. Es ist jedoch nicht Sexualität und hier wird die Grenzziehung zwischen den beiden Ebenen wichtig im Sinne konkret erlebter Sinnlichkeit, die die Ängste bei den Frauen auslöst. Diese konkrete Körperlichkeit ist vielmehr der Träger sozialer Rollenzuschreibungen und Wertmuster. Der Bezug der Frau auf den Mann ist immer ein geschlechtlicher, nicht nur im biologischen, sondern viel einschneidender im rollenspezifischen Sinne. Da die Geschlechtsrollen hierarchisch nach Machtbefugnissen und Werthaftigkeit ausgelegt sind, ist Sexualität sehr eng mit Herrschaft, Verfügbarkeit, Gewalt und Ohnmachtsgefühlen verknüpft. »Männer mit niedrigem Selbstwertgefühl betrachten die Frauen viel häufiger nur als Sexualobjekt im Gegensatz zu Männern mit hoher Selbstachtung.« (KON 1979, S. 178, zu VAVRIK/ JURICH, S. 1521. Hier scheint die Angst der Männer vor einer engen, gleichwertigen Partnerbeziehung, vor dem Verlust ihrer Vorrangstellung, auf. Auch Maslow fand "that sexual behavior and attitudes were much more closely related to dominance feeling than to sheer sexual drive in our subjects.« (MASLOW 1942, S. 243)
Die Sexualität in ihrer gewachsenen Funktion ist quasi Kristallisationspunkt der Mann-Frau-Beziehung mit allen Wünschen nach Verständnis, Nähe und Tiefe, aber auch Ängsten vor Enge, Ohnmacht, Identitätsverlust. Verweigerung der Sexualität ist für nicht wenige Frauen die Verteidigung ihrer mühsam errungenen Autonomieanteile im Alltag. Sie sind durch die sexuelle Beziehung mit einem Mann bedroht, nicht, weil seine Körperlichkeit unbedingt gewalttätig wäre - hier kann er sehr einfühlsam sein - sondern weil diese Körperlichkeit den Mann an sich, das Männliche, in seiner realen sozialen Macht auf die ungebrochenste Weise symbolisiert.
In je höherem Maße Frauen auf Projektionen angewiesen sind, umso stärker wird die Sexualität als Medium dieser Wünsche fungieren. Diese Frauen werden sich auch sexuell auf den Mann einlassen, nicht, weil sie die konkret-sinnliche Berührung durch einen Mann, den Koitus, letztendlich also den Penis, vorziehen, sondern weil dieser bestimmte Mann immer auch das Versprechen auf Er-Füllung in sich trägt. Der Koitus als Auffüllung der Vagina durch den Penis, eine Auffüllung, die die Frau nach gängiger Anschauung erst vervollständigt, ist ein perfektes Symbol des sozialen und existentiell psychischen Rollenverhältnisses.[14] Die projezierend mythologisierenden Frauen gehen in ihrem Bezug zur Sexualität fast gänzlich in deren symbolischen Übertragungswert auf und unter, d.h. ihr real-sinnlich körperliches Erleben ist immer schon vorgeformt durch die Bilder, die sie in diesen Akt projezieren. So wird der Koitus in erster Linie zur psychisch-existentiellen Er-Füllung, mehr denn zur physischen Befriedigung.[15]
Nur mit dem Koitus, den allein ein Mann gewähren kann, fühlt sich eine Frau vollständig. Vollständig nicht in einem oberflächlichen Rollenverständnis, sondern als Gefühl der Beseitigung eines existentiellen, sozialen und personellen Mangels. Orale, manuelle und andere Techniken sind nicht deshalb für viele Frauen nicht praktizierbar, weil sie unbefriedigend wären. Sie produzieren vielmehr ein Erleben von Ekel und Abstoßung, die als Abwehr einer Angst begriffen werden müssen, am Ende un-erfüllt, unvollständig zurückzubleiben. Diese Zurückweisung einer scheinbar bloßen Technik ist auf derselben Ebene zu verstehen, wie die Bedrohung durch Feministinnen und lesbische Frauen, die bis zur Ausschließlichkeit mit Frauen leben, und damit die beängstigende Erinnerung an die eigene Unvollständigkeit, die eigene Unfähigkeit, hervorrufen, ohne den Mann, das Männliche, nicht leben zu können. Jede Berührung des eigenen existentiellen Mangels muß vermieden werden.
Es ist also wichtig zu begreifen, daß viele Frauen nicht oder kaum in der Lage sind, Sexualität als realen, körperlichen Bezug zum Mann zu erleben, sondern daß dieser fast gänzlich überlappt ist durch das Bild vom Mann als Er-Füller ihrer Existenz.
Dieser Verlust an Realitätserfahrung bezieht sich nicht nur auf die Sexualität, sondern auf sehr viele Bereiche im Alltag. Sexualität als Punkt auf den alles zu bringen ist, gewinnt eine solch inmense Bedeutung nicht aus realem Erleben, sondern als primäre Beziehungsinstanz des Mannes zur Frau.
Sexuelle Wünsche auch der Männer resultieren kaum aus konkreter Befriedigung, sondern aus der komplementären Erwartung einer Er-Füllung spezifischer Funktionen durch die Frau. So wie die Frau vermeintlich nur durch den Mann und das Männliche Wert erhält, meint der Mann seine Männlichkeit, Werthaftigkeit, nur durch ihre Wertsetzung durch ihn immer neu herstellen zu können.
Es ist ein fataler, un-sinnlicher, funktionaler Bezug der Geschlechter aufeinander, der letztendlich Unbehagen, Leere und Trauer zurückläßt. Wenn der Mann sich nach dem Sex mürrisch auf die Seite dreht, verdrängt er hiermit nur die traurige Erkenntnis, wieder nicht Erfüllung und echte Nähe erfahren zu haben. Es ist dieselbe Trauer, in der sich Männer zurückgelassen fühlen, befinden sie sich plötzlich in einer reinen Männergruppe mit dem Anspruch auf intimen Austausch. Schnell wird diese Trauer Übertüncht mit zotigen Witzen, Gesprächen über Arbeit, Militär oder eben über Frauen. Der existentielle Mangel trifft demnach auch den Mann. Seine Rolle in diesem tragischen Spiel ist der Versuch der Ich-Setzung durch Verleihung männlicher Wertschätzung an eine Frau, meist egal, an welche. Die Hauptsache ist, es ist eine Frau, die deutlich macht, dessen zu bedürfen. Macht sie ihm dies nicht deutlich, wird er es ihr zu verdeutlichen versuchen. Selbst- und frauenbezogene Frauen lösen bei diesen Männern Ängste aus, die den heroischen Vorstoß provozieren, der Frau zu zeigen, daß auch sie seiner männlichen Wertschätzung bedarf, daß sie ansonsten leer zurückbleibt, oder besser: nicht existiert, ein Nichts ist. Dies ist das normale Denken über Frauen ohne Männer. Soziale Beziehungen korrespondieren mit individuellen Ängsten und Abwehrbemühungen, so wie die Verdrängung von Ängsten nicht zu Übersehende soziale Machtbekundungen produziert.[16]
Der durch gelernte Bilder geprägte Bezug zwischen Mann und Frau ist alles andere als ein Bezug von Nähe, Verstehen und Zuwendung. Er verhindert geradezu die Realisierung dieser Werte, aber auch das Bewußtwerden der Misere. Mann und Frau treten in ein existentielles Verhältnis, das eine personelle Nähe und Tiefe vermeiden helfen soll, um sie nicht auf die bedrohliche Erkenntnis, ihre Leerräume in Wahrheit nur autonom auffüllen zu können, zurückzuwerfen. Der Sexualität kommt bei diesem Spiel die Funktion zu, die Mythen perfekt auf sich zu vereinigen, sie zu verknüpfen, immer neu zu verdrängen und damit Bewußtlosigkeit zu garantieren. Deshalb auch hat die Sexualität eine so ungeheure Bedeutung. Unser Alltag ist nahezu bis in den letzten Winkel sexualisiert,[17] geradezu durchtränkt von Sexualität. Und alle Bereiche saugen sich immer mehr voll mit Sexualität, mit dem Wünschen nach sinnlich erfahrbarer befriedigender personeller Sexualität, die indessen fortlaufend verstellt wird durch ihre eigene abstrakte Trägerfunktion. Dieser Vorgang produziert immer neue Reize, gerade indem er Erleben von Individualität ununterbrochen verhindert. Und je mehr die Frauen sich auf ihre realen Identitätsbedürfnisse besinnen, sich um Unabhängigkeit, Selbst-Auffüllung bemühen, umso mehr muß das Mittel ihrer Verhinderung eingesetzt werden.
Die zunehmende Sexualisierung unseres Alltags ist Ausdruck eines Rückzugsgefechtes des herrschenden Systems, das bemüht ist, die Chance eines Zurückholens zu wahren. Da Sexualität am perfektesten den existentiellen und Rollenbezug zwischen Mann und Frau symbolisiert, richten sich alle Hoffnungen auf ihre Fähigkeit, die sich verweigernden Frauen wieder auf die eingefahrene Schiene zu bringen.[18]
Je mehr der Sexualität diese soziale Funktion zugewiesen ist, umso mehr wird sie im individuellpersonellen Rahmen nichts als Funktion sein, umso schmerzlicher werden die Menschen jedoch Nähe und Tiefe vermissen, die sie sich gerade von der Sexualität erhofft hatten, umso eher aber stoßen einige Frauen irgendwann auf ihre reale Unzufriedenheit mit der Sexualität, deren Befriedigung sie auf der ganz anderen Ebene, der konkret-sinnlichen erwarten. Die Artikulierung ihres Unbehagens aber verstärkt wiederum den Funktionswert von Sexualität. Es ist ein teuflischer Kreislauf, den Frauen oft nur, wie Frau L oder T, durch Verweigerung des sexuellen Bezugs zu einem Mann durchbrechen können.
Die Allgegenwärtigkeit der Sexualität ist nur eine neue Art der Verdrängung. Es ist die Angst vor ihren konkret-sinnlichen Implikationen, vor einer wirklichen Gleichwertigkeit und Nähe, die durch den funktionalen Einsatz von Sexualität immer neu verhindert wird. Einzelne Frauen verweigern die Sexualität als ganze, weil sie kaum noch mehr als Funktionsträger ist. Diese Verweigerung ist eine höchst vernünftige Reaktion des Unbewußten auf ein Spiel, das ohnehin - durch die spezifische Realitätsverarbeitung dieser Frauen kein real befriedigendes Erleben von Sexualität gewährleistet. Diese Frauen verweigern also nicht das Lusterleben, sie verwehren sich vielmehr gegen die normal erforderte Lust durch Anerkennung ihrer existentiellen Abhängigkeit. Es ist eine Reaktion der Selbsterhaltung. Dieser Verweigerung ist jedoch nicht durch Lehren von mehr Zärtlichkeit, insbesondere auf Seiten des Mannes nachzukommen, wie die herkömmliche Sexualtherapie es versucht. Es geht um viel mehr als um die Unterschiedlichkeit männlicher und weiblicher sexueller Bedürfnisse. Das Problem für eine sich verweigernde Frau liegt gerade nicht primär auf der körperlich-sinnlichen, sondern auf der medialen Ebene der Sexualität und es handelt sich nicht nur um die Angst, durch den Mann ihrer eigentlichen Selbständigkeit beraubt zu werden, sondern ausgelöst werden hier auch Ängste, wirklich uneingeschränkt autonom agieren zu müssen - ohne Abstriche auch in der Sexualität ein vollständiges Ich zu bleiben bzw. zu werden.
Auch Vergewaltigungsphantasien, die gerade bei den autonomeren Frauen nicht selten sind, repräsentieren Wünsche, sich einfach einmal fallenzulassen, hinzugeben, ohne sich allerdings aufzugeben; loszulassen, ohne in den eigenen Leerraum zu stürzen. Dies ist indessen nicht eine individuell, sondern eine sozial induzierte Unmöglichkeit: solange es das Normale für Frauen ist, Bilder angeboten zu bekommen, die auf Er-Füllung einzig durch den Mann ausgerichtet sind, kann eine Frau sich kaum fallen lassen, ohne von der sozial-funktionalen Zielsetzung der Sexualität - dies gilt jedoch auch für andere Alltagsbereiche - eingeholt zu werden. Die Angst vor dem vollständigen Ich-Verlust ist keine individuelle Hysterie, sondern dieser Verlust, die soziale und individuelle Verfügung des Mannes über die Frau, ist Realität bzw. Vollendung realer Bilder.
Die Verweigerung von Frauen in der Sexualität ist umso bedeutsamer, je mehr Bedeutung der Sexualität als Träger sozialer Hierarchien real zukommt. Immer ist der Entzug aus der Unterordnung gemeint.
Meist hat die Verweigerung einen Rollenbruch in anderen Lebensbereichen schon zur Ursache. Notwendig ist, daß sie sie zumindest zur Folge hat. Ist Sexualität zwar der Kristallisationspunkt sozialer Machtverhältnisse, so ist sie immer nur ihr Repräsentant. Die Frauen müssen diese Verhältnisse also auch in anderen Bereichen transzendieren, zu sich finden, sich vervollständigen. Erst dann ist möglich, was eigentlich alle intendieren, Frauen wie Männer: der real-sinnliche Bezug aufeinander, der wirkliche Nähe und Tiefe gewährleistet, nicht zuletzt in der Sexualität. Es ist der langwierige Weg zurück in die Realität bei Zerstörung der Mythen und Bilder, insbesondere aber deren Grundlagen, der eigenen Unvollständigkeit.
Nicht wenigen Frauen macht der Schritt in diese Realität immense Angst, beinhaltet er doch die Forderung nach existentieller Veränderung. So flüchten sich Fraueh zunehmend - oft je näher sie der Einsicht in die Notwendigkeit einer Veränderung kommen - in das, was einem Großteil der Männer schon immer heilig war, in die Promiskuität. »Was Renate in die außerehelichen Betten trieb, ist leicht erklärbar: Das Gefühl, ein Niemand zu sein, sollte verdrängt werden durch das Gefühl, begehrt zu sein. Sie hatte eine Glücksdroge entdeckt, die rauschhafte Zustände hervorrief und ihr die Wirklichkeit wohltuend vom Leib hielt.« (KOLB 1980, S. 154) Das Paradoxe eines solchen Handelns ist, daß diese Menschen durch die zunehmende und immer neue Funktionalisierung von Sexualität den real-sinnlichen Bezug, eine wirkliche Erfahrung von Nähe, suchen. Der mediale Einsatz von Sexualität unterläuft jedoch geradezu diese Möglichkeit. Aufgrund des gelernten Repräsentanzwertes von Sexualität ist die Einsicht in diese Situation aber behindert, wodurch ein Strudel entsteht, in den jeder Süchtige gerät.
Auch Alkoholiker beispielsweise versuchen immer neu, sich selbst und Realität zu erfahren durch die Krücke Alkohol. Sie fühlen sich und sind weit entfernt von der Realität, ebenso wie die mythologisierenden Frauen. Sie können und wollen Realität jedoch nicht wirklich erfahren, da sie beängstigend und ich-fordernd ist. So wie der Alkohol beim Alkoholiker suggeriert die Sexualität bei den Sexualsüchtigen immer neu eine vermeintliche Nähe zur Realität, eine fundamentale Er-Füllung von Ich-Leerräumen, wo in Wirklichkeit die Sexualität diese Leerräume wie eine Wolke nur durchweht, um sich ebenso schnell wieder zu verflüchtigen.
Das normale Verhältnis der Frau zur Sexualität ist das der Abhängigkeit, weil Sexualität die hierarchische Verknotung mit dem Mann symbolisiert: so wie jede Abhängigkeit von einer Droge die Gefahr einer Sucht in sich birgt, ist die Promiskuität als Sexualitätssucht nur der extreme Ausdruck normal-weiblicher Realität, eine Realisierung, die bisher zwar noch wenig erfordert und erlaubt war, die indessen ihre Anhängerinnen findet. Sie geben dieses Handeln zudem nicht selten als sexuelle Befreiung aus. Eine wirkliche Befreiung aber ist nicht der Schritt von der Abhängigkeit in die Sucht, sondern heraus aus der Abhängigkeit.
Eine tendenziell autonome Frau ist in der Lage, freie Entscheidungen auch im Bereich der Sexualität zu treffen, zu wählen, wann sie was mit wem macht. Sexualität ist dann ein realsinnliches Erlebnis, situationsund personenbezogen, integriert in das Gesamterleben der Frau, relativ unbeeinflußt von Bildern und Mythen. Erst dann ist Sexualität das Tüpfelchen auf dem I einer Beziehung, nicht unausweichlich und notwendig, aber umso schöner und begehrenswerter. Hat Sexualität ihren medialen Charakter verloren, wird sie als Konstituante einer Beziehung überflüssig insofern, als der real-personelle Bezug der Partner aufeinander eine Bindung auch ohne Körperlichkeit garantiert, jedoch gerade durch diese reale Nähe und Tiefe der Beziehung die Körperlichkeit ganz natürlich - eben nicht funktional - gewünscht wird und dazugehört. Sexuelles Handeln bleibt freien Bedürfnissen überlassen und fungiert nicht als das Eigentliche einer Beziehung zwischen Mann und Frau.
Eine von Shere Hite interviewte Frau beschreibt ihre Sehnsucht in dieser Richtung:
»In der besten aller möglichen Welten wäre Sexualität eine Möglichkeit, einander nahe zu sein, miteinander zu kommunizieren und wäre bar jeder Verbindung mit Schmerz, Erniedrigung, Sadismus, Schuldgefühlen usw.. Ich glaube nicht, daß das unbedingt heißen müßte, daß wir alle sexuelle Erlebnisse mit mehreren Menschen hätten oder daß ich zum Beispiel herumlaufe und mit allen unseren männlichen Bekannten ins Bett steigen würde. Es würde mir vielleicht sogar die Nähe und Zuneigung ermöglichen, die ich brauche, ohne daß es unausweichlich zum Geschlechtsverkehr führte. Vielleicht würden wir, wenn wir zu mehreren Menschen eine Beziehung hätten, die auch körperliche Zuneigung und Berührung mit einschließt, allgemein in einer viel wärmeren, gefühlsmäßigeren Atmosphäre leben; wir hätten dann nicht mehr zwangsläufig das Gefühl, daß jeder Kontakt in Richtung Geschlechtsverkehr zielt - ein warnender und doch irgendwie gebietender Finger (...), so daß man sich nicht frei fühlt, Schritt A zu gehen, wenn man nicht auch bereit ist, Schritt B, C, D usw. zu machen.« (HITE 1979, S. 293)
Diese Beschreibung des Idealzustandes kann dazu dienen, sich der zwei Ebenen von Sexualität im persönlichen Erleben und sozialen Umgang bewußt zu bleiben. Sie gibt aber auch Hinweise auf Frauen, die Sexualität schon heute in Annäherung an diese Möglichkeit leben. In meiner Befragung rechne ich Frau F, G, M, O und R hierzu. Es wird deutlich, daß Sexualität bei ihnen viel mehr im realen Erleben als in symbolischen Repräsentanzen besteht.[19] Aber auch die sonstigen Alltagsbezüge dieser Frauen sind viel realitätsorientierter als die der projezierend-mythologisierenden Frauen. Sie stehen mit beiden Beinen auf der Erde, wenn die anderen Frauen - auf ihrem einen Bein - eines existentiellen Haltes bedürfen, wobei der Sexualität die Funktion einer Krücke zukommt.