Ich habe im ersten Teil dieser Darstellung behauptet, daß die in der alten walisischen und irischen Dichtung häufigen Sätze mit »Ich bin« und »Ich war« allesamt Varianten des gleichen Kalenderthemas sind. Betrachten wir zum Beispiel das »Lied von Amergin« (oder »Amorgen«), das angeblich vom Hauptbarden der milanesischen Eindringlinge gesungen wurde, als er im Jahr 2736 der Welt (1268 v. Chr.) seinen Fuß auf irischen Boden setzte. Unglücklicherweise ist die uns erhalten gebliebene Version nur eine Übersetzung der alten gälischen Fassung in die irische Umgangssprache. Macalister nennt es eine »phantheistische Konzeption eines Universums, wo Gottheit allenthalben allmächtig ist«, und vermutet, daß es ein liturgischer Hymnus von ähnlich weiter Verbreitung wie etwa die Anfangskapitel des Korans oder des Apostolischen Glaubensbekenntnisses war. Er schreibt: »Dachte Cäsar etwa an diese Hymne, oder war ihm von ihrem Inhalt erzählt worden, als er schrieb: >Die Druiden lehren von den Sternen und ihren Bewegungen, von der Welt, der Größe der Länder, der Naturphilosophie und vom Wesen der Götter?<« Er bemerkt, daß das gleiche Stück »in verstümmelter Form« dem Kind-Barden Taliesin in den Mund gelegt wird, wenn er von seinen Verwandlungen in früheren Existenzen erzählt. John Rhys wies in seinen Hibbert Lectures darauf hin, daß viele der »Ich war«-Sätze Gwions keine »wirkliche Verwandlung« bedeuten, »sondern bloße Ähnlichkeit, mittels einer primitiven Prädikatbildung, ohne Einschiebung einer Silbe, die dem Wort >wie< entspräche.«
Amergins Lied beginnt mit dreizehn Aussagen, die mit Glossen aus dem Mittelalter versehen sind. Auf die dreizehn Aussagen folgen sechs Fragen, ebenfalls mit Glossen versehen. Auf diese folgt in John Mac-Neills Version ein envoi . e, mit dem der Druide das Seevolk anweist, den Dichter der heiligen Hügelfestung zu beschwören, ihnen ein Gedicht zu schenken. Er selbst will dem Dichter den notwendigen Stoff liefern, und gemeinsam werden sie eine Zauberformel ersinnen.
Amergins Lied | |
Gott spricht und sagt: | Glossen: |
Ich bin ein Wind des Meeres | für Tiefe |
Ich bin eine Welle des Meeres | für Gewicht |
Ich bin ein Geräusch des Meeres | für Schrecken |
Ich bin ein Ochse von sieben Schlachten oder Ich bin ein Hirsch von sieben Enden |
für Kraft |
Ich bin ein Greif auf einer Klippe oder Ich bin ein Falke auf einer Klippe |
für Gewandtheit |
Ich bin eine Träne der Sonne »ein Tautropfen« | für Klarheit |
Ich bin eine Fee zwischen Blumen | |
Ich bin ein Eber | für Heldenmut |
Ich bin ein Lachs in einem Teich | »die Teiche des Wissens« |
Ich bin ein See auf einer Ebene | für Ausdehnung |
Ich bin ein Berg der Dichtung | »und des Wissens« |
Ich bin ein kriegführender Speer | |
Ich bin ein Gott, der Feuer für ein Haupt macht oder Ich bin ein Gott, der Rauch von einem heiligen Feuer für ein Haupt macht |
(d.h. Inspiration schenkt: Macalister) »um damit zu töten« |
1. Wer glättet die Schroffheit der Berge? |
Wer außer mir wird jede Frage lösen? |
2. Wer außer mir weiß, wo die Sonne untergehen soll? | |
3. Wer ahnt die Phasen des Mondes? | |
4. Wer holt die Rinder aus dem Hause Tethra und scheidet sie? ) |
(d. h. »die Fische«; Macalister; d. h. »die Sterne«; MacNeill |
5. Über wen lächeln die Rinder Tethras? 6. Wer formt Waffen von Berg zu Berg? |
»Welle zu Welle, Buchstabe zu Buchstabe, Punkt zu Punkt« |
Ruft an, Volk des Meeres, ruft an den Dichter, daß er eine Zauberformel
für euch komponiere.
Denn ich, der Druide, der Buchstaben in Ogham faßt,
Ich, der die Kämpfenden trennt,
Ich werde zur Hügelfestung der Sidhe ziehen, um einen geschickten Dichter
zu suchen, damit wir gemeinsam Beschwörungen ersinnen.
Ich bin der Wind des Meeres.
Tethra war der König des Untermeer-Landes, aus dem das Volk des Meeres, wie später angenommen wurde, gekommen war. Er ist möglicherweise eine Maskulinisierung von Thetys, der pelasgischen Meeresgöttin, auch als Thetis bekannt, die der Achäer Peleus mit fürstlichem Gepränge zu lolcus in Thessalien heiratete. Die Sidhe werden heute gemeinhin als Feen angesehen: aber in der früh-Irischen Dichtung treten sie als wirkliches Volk auf - ein hoch kultiviertes, aussterbendes Volk von Kriegern und Dichtern, die in Hügelfestungen oder Palisadenburgen lebten, von denen New Grange on the Boyne das berühmteste ist. Alle hatten sie blaue Augen, blasse Gesichter und langes, lockiges blondes Haar. Die Männer trugen weiße Schilde und waren in militärischen Einheiten zu fünfzig Mann organisiert. Sie wurden von zwei jungfräulich geborenen Königen regiert und lebten in sexueller Promiskuität, jedoch »ohne Scham und Tadel«.
Tatsächlich waren es Pikten (»Tätowierte«), und alles, was wir über sie erfahren, entspricht dem Bericht Xeonophons in seiner Anabasis über die ursprünglichen Mosynöcher (»Holzburgbewohner«) von der Schwarzmeerküste. Die Mosynöcher waren kunstvoll tätowiert, trugen lange Speere und efeublattförmige Schilde aus weißer Stierhaut, sie waren Waldbewohner und führten den Sexualakt öffentlich aus. Sie lebten in Palisadenburgen, von denen sie ihren Namen hatten, und bewohnten in Xenophons Zeit das Territorium, das die früh griechische Sage den matriarchalischen Amazonen zuschrieb. Die »blauen Augen« der Sidhe verstehe ich als ineinander greifende blaue Ringe, die sie sich um die Augen tätowieren ließen und für die die Thraker in klassischer Zeit bekannt waren. Auch ihre »Blässe« war vielleicht künstlich eine »weiße Kriegsbemalung« von Kreide oder Gipspulver zu Ehren der Weißen Göttin war bei den orphischen Initiationsriten üblich, wie wir aus einer Szene aus den Wolken des Aristophanes wissen, wo Sokrates den Strepsiades anweist.
Slieve Mis ist ein Berg in der Grafschaft Kerry.
»Von sieben Enden« bedeutet wahrscheinlich sieben Geweihenden, insgesamt vierzehn: was einen »königlichen Hirsch« ergibt. Aber als königlich wird auch ein zwölfendiger Hirsch genannt, und nachdem ein Hirsch sieben Jahre alt werden muß, bevor sein Geweih zwölf Enden ansetzt, dürfte »sieben Schlachten« sich auf sieben Jahre beziehen.
Es ist sehr unwahrscheinlich, daß dieses Gedicht dazu bestimmt war, allen und jedem seine esoterische Bedeutung zu offenbaren; es dürfte »verschlüsselt« sein, wie Gwion alle seine Dichtungen aus Gründen der Sicherheit verschlüsselte. Stellen wir aber die Reihenfolge der Aussagen um, und zwar in Form eines dreizehnmonatigen Kalenders nach Art des Beth Luis Nion, wobei uns zustatten kommt, was wir über die mythische Bedeutung jedes Buchstaben-Monats erfahren haben, so ergibt sich:
Gott spricht und sagt: | Bäume des Monats | |||
24. Dez.-20. Jan. | B | Ich bin ein Hirsch von sieben Enden, oder ein Ochse von sieben Schlachten | Birke | Beth |
21. Jan.-17.Febr. | L | Ich bin eine weite Flut auf einer Ebene | Eberesche | Luis (Vogelbeere) |
18. Febr.-17.März | N | Ich bin ein Wind über den tiefen Wassern | Esche | Nion |
18. März - 04. Apr |
F | Ich bin eine leuchtende Träne der Sonne | Erle | Fearn |
15. April- 12. Mai |
S | Ich bin ein Falke auf einer Klippe | Weide | Saille |
13. Mai-09. Juni | H | Ich bin eine Fee zwischen Blumen | Weißdorn | Uath |
10. Juni-07. Juli | D | Ich bin ein Gott, der das Haupt mit Rauch entzündet | Eiche | Duir |
08. Juli- 04. August |
T | Ich bin ein kriegführender Speer | Steineiche | Tinne |
05. Aug.-01.Sept. | C | Ich bin ein Lachs im Teich | Haselstrauch | Coll |
02. Sept.- 29. Sept. |
M | Ich bin ein Berg der Dichtung | Wein | Muin |
30. Sept.- 27. Okt. |
G | Ich bin ein unbarmherziger Eber | Efeu | Gort |
28. Okt.-24. Nov. | NG | Ich bin ein drohendes Geräusch des Meeres | Schilf | Ngetal |
25. Nov.-22. Dez. | R | Ich bin eine Welle des Meeres | Holunder | Ruis |
23. Dez. | Wer außer mir kennt die Geheimnisse der unbehauenen Dolmen? |
Die Richtigkeit dieser Anordnung ist kaum zu bezweifeln. B ist der Herakles-Hirsch (oder wilde Stier), der das Jahr eröffnet. Die sieben Schlachten (oder sieben Enden seines Geweihs) sind die voraus- und zurückliegenden Monate: denn Beth ist der siebente Monat nach Duir, dem Eichenmonat, und der siebente Monat, von Beth an gerechnet, ist wiederum Duir. Der »Boibalos« des Herakles-Zaubers, von dem im Boibel-Loth die Rede ist, war ein Antilopenbulle. Der orphische »Ochse von sieben Schlachten« wird in Plutarchs Isis und Osiris erwähnt, wo er schildert, wie zur Wintersonnwende die goldene Kuh der Isis, eingehüllt in schwarze Tüchter, siebenmal um den Schrein des Osiris getragen wird, den Plutarch mit Dionysos gleichsetzt. »Der Umgang wird >Die Suche nach Osiris< genannt, denn im Winter sehnt die Göttin sich nach dem Wasser der Sonne, und sie geht siebenmal im Kreis, weil die Sonne im siebenten Monat ihre Bahn von der Winter- zur Sommersonnwende vollendet.« Plutarch rechnet offenbar in Monaten zu 28, nicht zu 30 Tagen, denn sonst wäre die Sonnenbahn nach sechs Monaten vollendet.
L ist Fill-Dyke, der Februar, die Jahreszeit der Überschwemmungen.
N liegt im Frühmärz, der »wie ein Löwe kommt«, mit Winden, die die Fluten trocknen.
F erklärt sich aus der Stimmung des bekannten mittelalterlichen Liedes:
Er kam gar so leis'
Wo seine Mutter war,
Wie Tau im April
Der auf das Gras fällt.
Denn dies ist der wahre Anfang des heiligen Jahres, wenn Hirsch und Wildrind ihre Kälber werfen und wenn das bei den Mittsommer-Orgien gezeugte Kind Herakles geboren wird. Bis dahin segelte er in seinem Weidenkorb-Boot über die Fluten. Jetzt liegt er glitzernd im Gras.
S ist der Monat, da die Vögel nisten. In Gwions Cann y Merich (»Lied der Pferde«) kommt eine unterbrochene Folge von »Ich war«-Wendungen als Einschaltung vor. Eine von ihnen lautet: »Ich war ein Kranich auf einer Mauer, ein wundersamer Anblick. « Der Kranich war dem delischen Apollon und noch vor Apollon dem Sonnenheros Theseus geweiht. Er findet sich auch als Triade in einem gallischen Basrelief in Paris und in einem anderen in Tréves, in Verbindung mit dem Gott Esus und einem Stier. Kranich, Falke oder Geier? Das ist eine bedeutsame Frage, denn von der Antwort hängt die Herkunft des Gedichts ab. Der Falke war, falls nicht der königliche Falke des ägyptischen Horus, wahrscheinlich der dem Nordwind Boreas heilige Milan; in der griechischen Sage trugen seine thrakischen Söhne Kalais und Zetes ihm zu Ehren Milanfedern und hatten die Macht, sich in Milane zu verwandeln. Diese beiden Vögel sind in der ägyptischen Hieroglyphe für Nordwind, die einen Falken darstellt, mythologisch verbunden. Im Walisischen heißt das Wort barcut, und im Iranischen barqut, was Plinius' Vermutung (Naturgeschichte, 30,13) stützt, daß ein starker Zusammenhang zwischen dem persischen und dem britischen Sonnenkult bestanden habe. Ein anderes Zeichen enger Verwandtschaft ist, daß Mithras, der persische Sonnengott, dessen Geburtstag zur Wintersonnwende gefeiert wurde, als Stier von sieben Schlachten verehrt wurde: wobei seine Initianden sieben Grade durchlaufen mußten, bevor ihnen das Zeichen »erprobte Krieger des Mithras« auf die Stirn gedrückt wurde. Der Mithraskult war bei den römischen Legionären der Kaiserzeit sehr populär, aber sie gelangten nie nach Irland, und das Lied Amergins ist erwiesenermaßen viel früheren Datums als die claudinische Invasion Britanniens. Der Geier war vermutlich der dem Osiris heilige Greifgeier, ein Vogel, der auch bei den etruskischen Auguren hohe Achtung genoß und eine weitere Flügelspanne als der Goldadler hat. Im Lied Mosis, Deut. 32,11, wird Jahwe mit diesem Vogel verglichen, was wiederum ein Beweis dafür ist, daß »Unreinheit« nach dem levitischen Gesetz Heiligkeit, nicht Verworfenheit bedeutet. Der heraldische Greif ist ein Löwe mit Schwingen und Klauen des Greifgeiers und repräsentiert den Sonnengott als König von Erde und Luft. Das übliche walisische Wort für Falke ist Gwalch, verwandt mit dem lateinischen falco, Falke, und die Hofbarden verglichen ihre königlichen Schutzherren stets mit diesem Vogel. Die mythischen Namen Gwalchmai (»Mai-Falke«); Gwalchaved (»Sommer-Falke«), besser bekannt als Sir Galahad; und Gwalchgwyn (»weißer Falke«), besser bekannt als Sir Gawain, sind womöglich im Blick auf diese Kalenderformel zu verstehen.
H, in der zweiten Maihälfte beginnend, ist die Blütezeit und steht unter der Herrschaft des Weißdorns oder Maibaums. Erwähnt wurde bereits 0lwen, die Tochter des Weißdorn Riesen. Ihr Haar war gelb wie Besenginster, ihre Finger bleich wie Waldanemonen, ihre Wangen von der Farbe der Rosen, und aus ihren Fußspuren erblühte weißer Klee - und zwar Klee, um zu zeigen, daß sie der sommerliche Aspekt der alten Dreifältigen Göttin war. Dieses Merkmal verlieh ihr den Namen Olwen - »Sie von der Weißen Spur«. Der Klee wurde übrigens von den walisischen Barden wegen seiner Schönheit über alle Maßen gepriesen. Homer nennt ihn »Lotus« und erwähnt ihn als reichhaltiges Pferdefutter.
D steht unter der Herrschaft der Mittsommer-Eiche. Die Bedeutung liegt, glaube ich, darin, daß der schmerzhafte Rauch grünen Eichholzes die Tänzer inspiriert, die zwischen den in der Mittsommernacht entzündeten Zwillings-Opferfeuern tanzen. Vergleiche den Song of the Forest Trees:
Wildester Wärmespender unter allen Hölzern ist die grüne Eiche;
Ihr entkommt keiner unverletzt.
Liebe zu ihr macht den Kopf schmerzen,
Ihre ätzenden Kohlen machen die Augen wund.
T ist der Speer-Monat, der Monat des Häuptling-Stellvertreters; der bardische Buchstabe T war wie eine Hellebarde geformt. C ist der Nußmonat. Der Lachs war und ist noch heute der König der Flußfische, und die Schwierigkeit, ihn zu fangen, ist er erst einmal in einen Tümpel getrieben, macht ihn zu einem sinnreichen Emblem der philosophischen Abgeschiedenheit. So verbarg sich Loki, der skandinavische Gott der Klugheit, vor seinen Göttergefährten in einem Teich und konnte nur mit einem besonderen, von ihm selbst ersonnenen Netz aus dem Teich gezogen werden. Die Verbindung des Lachses mit Nüssen und Weisheit wurde bereits erläutert.
M ist der Anfangsbuchstabe Minervas, der römischen Göttin der Weisheit und Erfinderin der Zahlen; von Mnemosyne, der Mutter der griechischen Musen; und der Musen selbst; sowie der Moiren oder Schicksalsgöttinnen, denen von manchen Mythenforschern die erste Erfindung des Alphabets zugeschrieben wird. Der Weinstock, der höchste Baum des Dionysos, wird überall mit dichterischer Inspiration in Verbindung gebracht. Wein ist das dem Dichter angemessene Getränk, wie Ben Johnson wußte, als er darum bat, ihm seinen Preis als poeta laureatus in Südwein auszuzahlen. Der kleinmütige Colley Cibber bat um Barzahlung anstatt Wein, und seither war kein Laureat mehr Dichter genug, um zu der alten Auszahlungsweise zurückzukehren.
G, der Efeumonat, ist auch der Monat des Ebers. Der ägyptische Sonnengott Set tötet, als Eber verkleidet, Osiris vom Efeu, den Geliebten der Göttin Isis. Der griechische Sonnengott Apollon tötet, als Eber verkleidet, Adonis oder den syrischen Tammuz, den Geliebten der Göttin Aphrodite. Finn Mac Col, als Eber verkleidet, tötet Diarmuid, den Geliebten der irischen Göttin Grainne (Greine). Ein unbekannter Gott, verkleidet als Eber, tötet den arkadischen König Ankalos, einen Anbeter der Königin Artemis, in seinem Weinberg zu Tegea, und dem Nestorschen Gannat Busam (»Garten der Freuden«) zufolge wurde der kretische Zeus auf ähnliche Art getötet. Der Oktober war die Zeit der Jagd auf den Eber, und er war auch die Jahreszeit, in der die efeubekränzten Bassariden ihre Orgien hielten. Der Eber ist das Tier des Todes, und der Herbst (englisch: »fall«) des Jahres beginnt mit dem Eber-Monat.
NG ist der Monat, in dem das schreckliche Brüllen der Brecher und das Rasseln der Kieselsteine an der Atlantikküste das Herz mit Furcht erfüllt und der Wind schaurig durch die schilfbestandenen Flußbetten pfeift. In England galt das Brüllen des Meeres als Ankündigung des Todes eines Königs. Die gleiche Mahnung enthielt auch der schrille Schrei der Kreischeule. Die Eulen schreien am lautesten in den Mondnächten des November, dann bleiben sie bis Februar still. Diese Gewohnheit macht sie, zusammen mit ihrem lautlosen Flug, dem Aasgeruch ihrer Nester, ihrem Verzehr von Mäusen und ihren im Dunkel leuchtenden Augen zu Boten der Todesgöttin Hekate oder Athene oder Persephone: von der sie - als höchster Quelle der Prophetie - ihren Ruf der Weisheit haben.
R ist der Monat, in dem das Meer wieder Wellen zeigt, das Ende des Jahres und der feuchte Anfang eines neuen. Eine Welle auf dem Meer ist in der irischen und walisischen Dichtung ein »See-Hirsch«: mithin beginnt und endet das Jahr mit dem weißen Rehbock. In der irischen Legende kämpfen Jahresgötter wie Cuchulain und Fionn mit Schwert und Speer gegen die Wellen.
Der entsprechende Text in der Romance of Taliesin ist eher verworren als verstümmelt.
- B - Ich war ein wilder Stier und ein gelber Bock.
- L - Ich war ein Boot auf dem Meer.
- N - Ich floh ungestüm ... auf der Gischt des Wassers.
- F - Ich war ein Tropfen in der Luft.
- S - Ich reiste als ein Adler.
- H - Gott schuf mich aus Blüten.
- D - Ich war ein Baumstumpf auf einer Schaufel.
- T - Ich flog als Speerspitze des Kummers zu denen, die sich Kummer wünschen.
- C - Ich war ein blauer Lachs. M Ich war eine gefleckte Schlange auf einem Hügel.
- G - Ich floh als ein borstiger Eber, in einer Schlucht gesehen.
- NG - Ich war eine Welle, die sich am Strande brach.
- R - Auf einer grenzenlosen See wurde ich ausgesetzt.
Der Schlüssel zur Anordnung dieses Alphabets liegt in Amergins Hinweis auf die Dolmen; es ist ein Alphabet, das sich am besten erklären läßt, wenn man es als ein Dolmen von Konsonanten mit einer Schwelle von Vokalen aufbaut. Die Dolmen sind in der Sage von der Flucht Grainnes und Diarmulds vor Finn Mac Cool eng mit dem Kalender verbunden. Die Flucht dauerte ein Jahr und einen Tag, und die Liebenden betteten sich jede Nacht neben einen neuen Dolmen. In Cork, Kerry, Limerick, Tipperary und im Westen werden zahlreiche »Betten von Diarmuld und Grainne« gezeigt, jedes durch einen Dolmen bezeichnet. Mithin dient dieses Dolmen-Alphabet auch als Kalender, wobei eine Säule für den Frühling, die andere für den Herbst, der First für den Sommer und die Schwelle für den Neujahrstag steht. Also:
Wir erkennen sofort den Hinweis auf S als Falke oder Greif auf der Klippe; und auf M als den Berg der Dichtung oder Inspiration - ein Berg, der in den Todesbuchstaben R und I wurzelt und vom C der Weisheit überragt wird. Wir können den Text des ersten Teils von Amergins Lied also wie folgt erweitern:
Gott spricht und sagt:
Ich bin ein Hirsch von sieben Enden.
Über die überflutete Welt
Werde ich getragen vom Wind.
Ich steige herab in Tränen wie Tau, ich liege glitzernd,
Ich fliege erhaben wie ein Greif zu meinem Nest auf der Klippe,
Ich blühe inmitten der lieblichsten Blumen,
Ich bin ein Blitz und zugleich die Eiche, die er zerschmettert.
Ich ermutige die Lanzenmänner,
Ich lehre die Räte ihre Weisheit,
Ich inspiriere die Dichter,
Ich streife durch die Hügel wie ein lechzender Eber,
Ich brülle wie die Wintersee,
Ich kehre wieder wie die weichende Woge.
Aber wer außer mir kann die Geheimnisse der unbehauenen Dolmen
entschlüsseln?
Denn falls das Gedicht wirklich aus zwei Strophen besteht, jede aus zwei Triaden gebildet und mit einer einzelnen autoritativen Aussage endend, dann ist das erste »Wer außer mir« (das den anderen fünf nicht entspricht) der Schluß der zweiten Strophe und wird vom Neujahrs Gott gesprochen. Dieses Kind wird durch die heilige Schwelle des Dolmen, die zentrale Trias von Vokalen dargestellt, nämlich O U E. Aber man muß die Buchstabenfolge 0 U E rückwärts, im Sinn der Sonne lesen, damit sie sinnvoll wird. Es ist der heilige Name des Dionysos, EUO, der im Englischen meist »EVOE« geschrieben wird.
Es ist klar, daß mit »Gott« wiederum der himmlische Herakles gemeint ist und daß es eher dem Kind-Dichter Taliesin zukommt, dieses Gedicht zu sprechen, als Amergin, dem Führer der Milesier, falls nicht Amergin als Sprachrohr des Herakles spricht.
Es ist ein Geheimnis um die Zeile »Ich bin eine leuchtende Träne der Sonne«, denn Deorgreine, »Sonnenträne«, ist der Name von Niamh of the Golden Hair, der lieblichen Göttin, die im Mythos von Laegraire mac Crimthainne vorkommt. Der himmlische Herakles wird, sobald er in den Monat F, den Monat von Brans Erle eintritt, eine Jungfrau. Dies erinnert an die Geschichte von Sonnenheroen wie Achilles[1], Herakles oder Dionysos, die einige Zeit als Mädchen verkleidet in den Frauenräumen eines Palastes lebten und den Spinnrocken bedienten.
Es erklärt auch den Satz »Ich war eine Jungfrau«, in einer dem Amergin-Zyklus entsprechenden Folge von Gedichten, die dem im fünften Jahrhundert v. Chr. lebenden Philosophen Empedokles zugeschrieben wird. Der Sinn ist, daß die Sonne noch für die Hälfte dieses Monats unter weiblicher Obhut steht - in Kreta wurden Knaben, die noch nicht alt genug waren, um Waffen zu tragen, skotioi genannt, Angehörige der Frauenräume - dann aber erhält der Knabe, wie Achilles, Waffen und fliegt königlich davon, wie ein Greif oder ein Falke zu seinem Horst.
Warum aber ein Dolmen? Ein Dolmen ist eine Grabkammer, ein »Schoß der Erde«, bestehend aus einer steinernen Deckplatte, getragen von zwei oder mehr aufrechten Steinplatten, worin ein toter Heros in kauernder Haltung - wie ein Fötus im Uterus begraben liegt und seine Wiedergeburt erwartet. In der Spiral-Burg (Korridor-Grab) ist der Eingang zur inneren Kammer immer eng und niedrig und versinnbildlicht so den Eingang zum Uterus. In Melanesien aber dienen Dolmen (laut W. H. R. Rivers) als heilige Türen, durch die der Initiand eines Totem-Clans in einer Wiedergeburtszeremonie kriechen muß; falls sie, was plausibel erscheint, im alten Britannien dem gleichen Zweck dienten, dann erzählt Gwion von den Stadien seiner früheren Existenz und verkündet zugleich die Stadien seiner zukünftigen Existenz. Auf dem Berg Slieve Mis gibt es eine regelmäßige Reihe von Dolmen. Sie stehen zwischen zwei Baetylen mit Ogham-Inschriften, die nach der Überlieferung der angeblich dort begrabenen milesischen Göttin Scota heilig sind; oder aber, nach einem von Borlase in seinem Werk Dolmens of Ireland gesicherten Bericht: »Bera, eine von Spanien gekommene Königin.« Aber Bera und Scota scheinen die gleiche Gestalt zu sein, denn die Milesier kamen von Spanien. Bera ist auch noch als die Hexe von Bera bekannt.
Die fünf verbliebenen Fragen entsprechen fünf Vokalen, aber diese werden nicht von der fünffachen Göttin des weißen Efeublattes gesprochen, wie man annehmen sollte. Sie stehen offenbar an Stelle eines anderen, ursprünglichen Textes, der von Geburt, Initiation, Liebe, Ruhe und Tod handelt, und sind wohl einer späteren Periode des Bardentums zuzurechnen. Tatsächlich entsprechen sie recht genau dem Einschub im ersten Abschnitt des aus dem zehnten Jahrhundert stammenden, irischen Saltair Na Rann, bei dem es sich um eine christianisierte Version eines heidnischen Epigramms zu handeln scheint.
Für jeden Tag fünf Punkte des Wissens
Sind erforderlich für jeden verständigen Menschen -
Für jeden, der ohne Anschein von Prahlerei
Im heiligen Orden ist.
Der Tag des Sonnenmonats; die Epoche des Mondes;
Der Stand der Meeresflut, ohne Fehl;
Der Tag der Woche; der Kalender der Feste der vollkommenen Heiligen
In rechter Klarheit, mit ihren Schwankungen.
Für »vollkommene Heilige« lese man »gesegnete Gottheiten«, und es bedarf keiner weiteren Abwandlung. Vergleiche dies mit Amergins
Wer außer mir weiß, wo die Sonne untergehen wird?
Wer ahnt die Epochen des Mondes?
Wer holt die Rinder aus dem Hause Tethra und scheidet sie?
Über wen lächeln die Rinder des Tethra?
Wer formt die Waffen von Berg zu Berg, von Welle zu Welle,
von Buchstabe zu Buchstabe, von Punkt zu Punkt?
Die ersten beiden Fragen in Amergins Lied, nämlich nach dem Tag des Sonnenmonats und nach den Epochen des Mondes, koinzidieren mit den ersten beiden Punkten des Wissens im Saltair: »Wer weiß, wann die Sonne untergehen soll?« heißt hier: »Wer weiß die Zahl der hellen Stunden an jedem einzelnen Tag des Jahres?« - ein Problem, das vom Autor des Buches Henoch in detaillierter Ausführlichkeit behandelt wird - und »Wer weiß an jedem einzelnen Tag, wie lange der jeweilige Sonnenmonat, in den er fällt, dauern wird?«
Die dritte Frage lautet-. »Wer holt die Rinder des Tethra (die Himmelskörper) aus dem Ozean und stellt jedes an seinen angemessenen Platz?« Dies setzt die Kenntnis der fünf Planeten Mars, Merkur, Juppiter, Venus und Saturn voraus, denen in der babylonischen Astronomie neben Sonne und Mond die Tage der Woche zugewiesen wurden und nach denen diese in allen europäischen Sprachen noch immer benannt sind. Es entspricht also dem »Tag der Woche«.
Die vierte Frage bedeutet, wie der Glossarist erklärt, »Wer hat Glück beim Fischen?« Dies entspricht dem »Stand der Meeresflut«; denn ein Fischer, der nicht weiß, welche Flut er zu erwarten hat, wird beim Fischen kein Glück haben.
Die fünfte Frage bedeutet, im Licht ihrer Glosse gelesen: »Wer ordnet den Kalender, von der steigenden Woge B bis zur zurückweichenden Woge R; von einem Kalendermonat zum nächsten; von einer Jahreszeit zur folgenden?« (Die drei Jahreszeiten Frühling, Sommer und Herbst sind durch Punkte oder Winkel des Dolmen getrennt.) So entspricht sie dem »Kalender der Feste der vollkommenen Heiligen«. Eine andere Version des Gedichts, die sich im Book of Leacan und im Book of the O'Clerys findet, lautet, in der richtigen Reihenfolge wiederhergestellt, wie folgt: (Die Glossen sind in beiden Büchern ähnlich, wenngleich diejenigen O'Clerys weitschweifiger sind.)
- B - Ich bin sieben Bataillone, oder Ich bin ein Bulle an Kraft - für Stärke
- L - Ich bin eine Flut auf einer Ebene - für Ausdehnung
- N - Ich bin ein Wind auf dem Meer - für Tiefe
- F - Ich bin ein Strahl der Sonne - für Reinheit
- S - Ich bin ein Raubvogel auf einer Klippe - für Schläge
- H - Ich bin ein listiger Navigator -
- D - Ich bin Götter mit der Macht der Verwandlung -
Ich bin ein Gott, ein Druide und ein Mann,
der aus magischem Rauch Feuer macht zur Zerstörung aller,
und der auf Berggipfeln Zauberei treibt - T - Ich bin ein Riese mit einem scharfen Schwert,
der ein Heer niederschlägt - um Rache zu nehmen - C - Ich bin ein Lachs in einem Flußteich - für Schnelligkeit
- M - Ich bin ein geschickter Künstler - für Kraft
- G - Ich bin ein wilder Eber - für Kraft von häuptlingsgleicher Würde
- NG -Ich bin ein Brüllen des Meeres - für Schrecken
- R - Ich bin eine Welle des Meeres - für Macht
Dies scheint eine spätere Version zu sein, denn dem T-Monat ist ein Schwert, nicht der traditionelle Speer zugeordnet; und der ursprüngliche Wortlaut der D-Zeile wird in einer Glosse wiedergegeben; »Wer außer ich weiß die Geheimnisse des unbehauenen Dolmen?« ist ausgelassen. Eine weitere wichtige Veränderung ist, daß der H-Monat nicht durch Blumen, sondern durch Navigation umschrieben wird. Der 14. Mai bezeichnete im alten Irland den Anfang der Hochseefischerei, es war die Zeit, da die Äquinoktial-Stürme nachließen und man in einem mit Stierhaut bespannten Kanu sicher in See stechen konnte; doch die asketische Bedeutung des Weißdorns erinnert an den Bann, der es verbot, Frauen auf einen Fischzug mitzunehmen. Die Zusätze zu dem Gedicht zeigen, noch deutlicher als Macalisters Text, daß es als Zauberformel für einen erfolgreichen Fischzug im Fluß und im Meer bewahrt wurde; und der Druide wurde von den Fischern dafür bezahlt, daß er es aufsagte und dem Wasser Rache mit dem Speer androhte, falls ein Kanu verloren gehen sollte:
Wohin sollen wir gehen? Sollen wir im Tal oder auf dem Gipfel debattieren?
Wo sollen wir wohnen? In welch edlerem Land als der Insel des Sonnenuntergangs?
Wo anders sollen wir in Frieden umherziehen, auf fruchtbarerem Boden?
Wer außer mir kann euch dahin führen, wo der Bach am klarsten fließt oder fällt?
Wer außer mir kann euch die Phase des Mondes sagen?
Wer außer mir kann euch Tethras Rinder aus den Tiefen des Meeres holen?
Wer außer mir kann Tethras Rinder zur Küste führen?
Wer kann die Hügel, Berge oder Vorgebirge versetzen, wie ich es kann?
Ich bin ein schlauer Dichter, der auf Ansuchen der Seefahrer Prophezeiungen beschwört.
Speere sollen geführt werden als Rache für den Verlust von Schiffen. Ich singe Lob, ich verheiße Sieg.
Mein Gedicht beschließend, verlange ich weitere Vergünstigungen, und ich werde sie erhalten.
Das ursprüngliche fünfzeilige Gegenstück zu dem Gedicht könnte wie folgt lauten:
A - Ich bin der Schoß jeder Höhle,
O - Ich bin die Flamme auf jedem Hügel,
U - Ich bin die Königin Bienenstock
E - Ich bin der Schild für jedes Haupt,
I - Ich bin das Grab für jede Hoffnung.
Wie oder warum dieses Alphabet von dreizehn Konsonanten dem Alphabet von fünfzehn Konsonanten weichen mußte, ist eine andere Frage, deren Lösung wir näher kommen, wenn wir die Sagen um das griechische und das lateinische Alphabet untersuchen.
Die Tatsache, daß die erste Zeile von Amergins Lied in den Varianten »Hirsch von sieben Enden« und »Ochse von sieben Schlachten« erhalten ist, weist darauf hin, daß im Irland der Bronzezeit - wie in Kreta und Griechenland - sowohl Hirsch als Stier der Großen Göttin heilig waren. Im minoischen Kreta setzte sich der Stier als Minotaurus, »Stier-Minos«, durch, aber es gab auch einen Minelaphos, »Hirsch-Minos«, der im Kult der Mondgöttin Britomart verehrt wurde, sowie einen Minotragos, einen »Ziegen-Minos«-Kult. Die in den Gräbern von New Grange gefundenen Geweihe beweisen, daß der Hirsch das königliche Tier der irischen Danaer war, und der Hirsch spielt auch eine wichtige Rolle im irischen Mythos: eine Begebenheit in The Cattle Raid of Cuailgne, die Bestandteil der Cuchulain-Sage ist, beweist, daß eine Zunft von Hirsch-Priestern, »Fair Lucky Harps« genannt, zu Assaroe in Donegal ihr Zentrum hatte. Oisin wurde von der Hirschgöttin Sadb geboren und hatte am Ende seines Lebens, als er sich auf das Elfenroß von Niamh of the Golden Hair setzte und unter den Klagen der Fenier nach ihrem Inselparadies davon preschte, eine Vision: ein hornloses Hirschkalb, das von den rotohrigen weißen Hunden der Hölle über die Wasser des Meeres verfolgt wurde. Das Hirschkalb war er selbst. Dazu gibt es eine Parallele in der Romance of Pwyll Prince of Dyfed: Pwyll geht auf die Jagd und begegnet Arawn, dem König von Annwn, der auf einem bleichen Roß sitzt und mit seinen weißen, rotohrigen Hunden einen Hirsch verfolgt. Als Belohnung für Pwylls Ritterlichkeit erlaubt Arawn ihm, obwohl er ihn nach Annwn hinab schickt - der Hirsch ist Pwylls Seele -, dort an seiner Stelle zu regieren. Eine weitere Parallele findet sich in der Romance of Math the Son of Mathonwy: Llew Llaw erblickt in der Begleitung der treulosen Blodeuwedd einen Hirsch, der zu Tode gehetzt wird: es ist seine Seele, und beinahe unmittelbar darauf wird er von ihrem Geliebten Gronw getötet. Das Schicksal des gehörnten Königs - wofür Cernunnos, »der Gehörnte« von Gallien ein vertrautes Beispiel ist - kommt indem früh-griechischen Mythos von Aktaion vor, den Artemis in einen Hirsch verwandelte und mit ihren Hunden zu Tode hetzte. Dies geschah bei ihrer anodos, ihrer jährlichen Wiederkehr, da sie ihre Jungfräulichkeit erneuerte, indem sie nackt in einer heiligen Quelle badete; wonach sie einen neuen Liebhaber nahm.
Die irische Garbh Ogh mit ihrer Hundemeute war die gleiche Göttin: ihre Nahrung waren Wildbret und Adlerbrust. Dieser alte Mythos vom betrogenen Hirschkönig hat sich seltsamerweise in der britischen wie in der kontinentalen Vorstellung erhalten, daß dem Hahnrei ein Paar Hörner aufgesetzt werden. Die am ersten Mai getragenen Hirschmasken von Abbot's Bromley in Staffordshire sind mit den Hirschmasken von Syrakus im alten Sizilien verwandt, und einem epischen Fragment zufolge, das im übrigen von Dionysos handelt, wurde einer der Maskenläufer, als Aktaion-Hirsch verkleidet, ursprünglich erlegt und verzehrt. Im lykäischen Bezirk von Arkadien hatte der gleiche Brauch, einen in Hirschfelle gekleideten Mann zu jagen und zu verzehren, sich bis in Pausanias' Zeiten erhalten, obgleich diese Jagd als Bestrafung für Vergehen erklärt wurde. Aus Sardinien haben wir die bronzezeitliche Figur eines Hirsch-Menschen mit Hörnern, die dem belaubten Geäst einer Eiche ähneln, mit einem kurzen Schwanz, mit einem Pfeil in der einen Hand und einem Bogen, der in eine sich ringelnde Schlange ausläuft, in der anderen. Sein Mund und seine Augen drücken einen verständlichen Schrecken aus, denn die Schlange ist der Tod. Daß der Hirsch zum elysischen Orakelkult gehörte, beweist auch die Geschichte vom Besuch des Trojaners Brut auf der Insel Leogrecia, wo ihm das Mondorakel offenbart wurde, während er auf der frisch abgezogenen Haut eines weißen Hirsches schläft, dessen Blut über einem Opferfeuer vergossen worden war.
Der Hirsch-Kult ist viel älter als der kretische Minelaphos: wir sehen ihn auf paläolithischen Wandmalereien in den spanischen Höhlen von Altamira und in der Caverne des Trois Fréres in Ari√©ges in den französischen Pyrenäen; deren Entstehung liegt wenigstens 20000 Jahre v. Chr. Die Malereien von Altamira sind das Werk der Aurignac-Menschen, die Zeugnisse ihres Ritus auch in den Höhlen von Domboshawa und noch an einer anderen Stelle im Süden Rhodesiens hinterlassen haben. In Domboshawa zeigt ein »Buschmann«-Gemälde, das unzählige Figuren enthält, den Tod eines Königs, der eine Antilopenmaske trägt und eng verschnürt ist; während er mit ausgebreiteten Armen und einem angehobenen Knie stirbt, ejakuliert er, und sein Samen scheint einen Getreidehaufen hervorzubringen. Eine alte Priesterin, die nackt neben einem Kessel liegt, ahmt in Gebärden seinen Todeskampf nach, oder vielleicht verursacht sie ihn auch durch sympathetische Magie. Nicht weit davon entfernt tanzen junge Priesterinnen bei einem Flüßchen, daneben Berge von Feldfrüchten und aufgestapelten Körben, und mit Früchten beladene Tiere werden beiseite geführt; und ein riesiger Bisonbulle wird von einer Priesterin in Begleitung einer aufgerichteten Pythonschlange beschwichtigt.
Offenbar waren in Domboshawa der Hirsch-und der Stierkult miteinander kombiniert; wahrscheinlich aber war der Hirsch das königlichere Tier, denn der sterbende König ist besonders hervorgehoben. Auch bei den Aurignac-Menschen waren die beiden Kulte kombiniert. Eine Höhlenmalerei in der Dordogne zeigt einen Stiermenschen, der tanzt und ein wie ein Bogen geformtes Musikinstrument spielt. Der Minotragos-Ziegenkult auf Kreta war anscheinend eine Zwischenstufe zwischen den Kulten des Minelaphos und des Minotauros. Amalthea, die Amme des kretischen Zeus, war eine Ziege. Die Göttin Athene trug eine ägis (Schild aus Ziegenhaut), von der es hieß, sie sei aus Amaltheas Fell gefertigt, das ihr Vater Zeus einst als schützenden Mantel getragen hatte. Die Göttin Libya erschien Jason an den Ufern des Triton-Sees, Athenes Geburtsort, als die Argo dort gestrandet war, in dreifacher Gestalt und in ein Ziegenfell gekleidet; dadurch identifizierte sie sich mit Äga, der Schwester von Helike (»Weidenzweig«) und Tochter eines Königs von Kreta - mit Äga, der menschlichen Doppelgängerin der Geiß Amalthea; und mit Athene selbst. Die Überlieferung, wonach Athene aus Libyen stammte, wird auch durch einen Vergleich zwischen griechischen und römischen Methoden der Wahrsagerei gestützt. In Libyen beginnt das Jahr im Herbst mit dem Winterregen und mit der Ankunft der Vögel aus dem Norden; in Nordeuropa und am Schwarzen Meer aber beginnt es im Frühling mit der Ankunft der Vögel aus dem Süden.
In den meisten griechischen Stadtstaaten begann das Jahr im Herbst, und die griechischen Auguren blickten nach Norden, wenn sie die Vögel beobachteten, vermutlich weil sie ihre Tradition vom Geburtsort Athenes, der Schutzgöttin der Wahrsagerei herleiteten. Die römischen Auguren dagegen blickten nach Süden, vermutlich weil die Dardaner, deren patrizische Nachfahren in der frühen römischen Republik einzig zum Wahrsagen befugt waren, vom Schwarzen Meer gekommen waren, wo die Vögel im Frühjahr aus Palästina und Syrien eintreffen. Das römische Jahr begann im Frühling.
Der Ziegengott Dionysos oder Pan war in Palästina eine mächtige Gottheit. Vielleicht war er über Ägypten nach Libyen gekommen, oder er hatte den nördlichen Umweg über Kreta, Thrakien, Kleinasien und Syrien genommen. Der Sündenbock des Versöhnungsfestes war ein morganatisches Opfer, das ihm unter dem Namen Azazel dar gebracht wurde, und die Quellgrotte des Jordan war ihm als dem Baal Gad, dem Ziegenkönig und eponymen Vorfahren des Stammes Gad geweiht. Das in Deuteronomium 14 ausgesprochene Verbot, ein Zicklein in der Milch seiner Mutter zu sieden, ist nur dann rätselhaft, wenn man es gefühlsmäßig auffaßt; es ist eindeutig in dem ernsten Ton des übrigen Kapitels geschrieben, das mit einem Verbot der Selbstverstümmelung bei Begräbnissen anhebt, und richtet sich gegen einen eucharistischen Ritus, der von der Priesterschaft Jahwes nicht mehr geduldet wurde. Der Schlüssel findet sich in der bekannten orphischen Formel, »Wie ein Zicklein bin ich in die Milch gefallen«, die ein Erkennungswort der Initianden war, wenn sie den Hades erreichten und von den Wächtern der Toten auf gerufen wurden. Sie waren eins geworden mit dem Kitz, d. h. dem unsterblichen Dionysos - ursprünglich der kretische Zagreus oder Zeus - indem sie gemeinsam sein Fleisch verzehrten und mit seiner Mutter, der Ziegengöttin, in deren Milch sie im Kessel gesotten worden waren. [2] Ein Hymnus über die Geburt des Gottes, wie er auf einer der kürzlich bei Ras Schamra entdeckten Tafeln festgehalten ist, enthält ein ausdrückliches Verbot, ein Kitz in der Milch seiner Mutter zu sieden.
Dieses im Deuteronomium ausgesprochene Verbot erklärt den schillernden und offenbar künstlichen Mythos von Esau, Jakob, Rebekka und der Segnung Isaaks, der in Genesis 27 eingeschaltet ist, um die Usurpation priesterlicher und königlicher Privilegien, die einst den Edomiten gehörten, durch den Stamm Jakobs zu rechtfertigen. Das religiöse Bild, das diesen Mythos ikonotropisch [3] stützen sollte, sollte anscheinend den zeremoniellen Verzehr eines Zickleins illustrieren, womit Azazel verherrlicht wurde. Da sehen wir zwei Zelebranten in Masken aus Ziegenfell neben einem Siedekessel, und über ihnen thront die Priesterin (Rebekka); der eine (Esau) trägt Bogen und Köcher, der andere (Jakob) wird durch den alten Führer der Bruderschaft (Isaak) in die Mysterien eingeführt; letzterer flüstert ihm die Geheimformel ins Ohr, segnet ihn und erhält von ihm ein Stück des Zickleins zum Verzehr. Wahrscheinlich gehörte zu dieser Zeremonie auch eine gespielte Schlachtung und Auferweckung des Initianden, was jenen Abschnitt am Ende des Kapitels erklären könnte, wo Esau in mörderischer Absicht Jakob verfolgt, Rebekka die Führung übernimmt und die orgiastischen »Töchter Heths« in kretischem Kostüm dabeistehen. Die zwei Kitze sind wahrscheinlich ein Irrtum: wir sehen zweimal das gleiche Kitz, einmal wie es seiner Mutter weggenommen wird, und dann, wie es in den Milchkessel geworfen wird.
Der orphische Autor Nonnus erklärt den kretischen Übergang vom Ziegen- zum Stieropfer, wenn er berichtet, daß Zagreus oder Dionysos ein gehörntes Kind war, das für einen Tag den Thron des Zeus einnahm. Die Titanen rissen es in Stücke und verzehrten es, nachdem es in rasender Folge seine Gestalt gewechselt hatte: als Zeus im Rock aus Ziegenfell, als Kronos beim Regenmachen, als inspirierter Jüngling, als Löwe, als Pferd, als gehörnte Schlange, als Tiger, als Stier. Und als Stier schließlich verzehrten es die Titanen. Auch der persische Mithras wurde in Form eines Stiers verzehrt.
Anscheinend gab es auch in Irland vor der Ankunft der Danaer mit Milesier einen Ziegenkult, denn in einem Kapitel aus dem Book of the Dun Cow werden »Ziegenköpfe«, als eine Art Dämonen, mit den leprechanoi, den Pygmäen, und mit den Fomoriern, den Ureinwohnern Afrikas, in Verbindung gebracht.[4] Doch zur Zeit Cuchulains, des Helden von Ulster, dessen Tod im zweiten Jahrhundert n. Chr. überliefert ist, war der königliche Stierkult bereits fest verwurzelt. Sein Schicksal war an das eines braunen Stierkalbes - Sohn des berühmten braunen Stiers der Königin Maeve - gebunden. Als Cuchulain zum erstenmal der Schicksalsgöttin Morrigan begegnete, warnte sie ihn, er würde nur so lange am Leben bleiben, wie das Kalb noch ein Jährling sei. Die zentrale Episode der Cuchulain-Saga ist der Krieg der Stiere, der zwischen den Heeren Maeves und ihres Gemahls, des Königs Ailell, infolge eines müßigen Streits um zwei Stiere ausgefochten wurde. Am Schluß tötet der braune Stier, Cuchulains anderes Selbst, seinen Rivalen, den Weißgehörnten, der, weil er sich zu edel wähnt, um einer Frau zu dienen, Maeves Herde verläßt und sich Ailells Herde anschließt; dann wird er vor Stolz wahnsinnig, rennt gegen einen Felsen und verspritzt sein Gehirn. Sein Kalb folgt ihm nach, und Cuchulain stirbt.
Auch in Wales war der Stierkult schon früh etabliert. In einer walisischen Dialogdichtung, enthalten im Black Book of Carmarthen, schildert Gwyddno Garanhir, der Vater Elphins, den Helden Gwyn als »einen Kampfstier, rasch bereit, eine umkämpfte Menge zu zerstreuen«; und Kampfstier« ist hier, wie auch in späteren Gedichten, anscheinend keine schmeichelhafte Metapher, sondern ein sakraler Titel, ähnlich wie »Falke« und »Adler«.
Die Dichtung The War of the Bulls enthält ein gutes Beispiel für die komplizierte Sprache des Mythos: der Braune Stier und der Weißgehörnte waren in Wirklichkeit königliche Schweinehirten, die die Macht besaßen, ihre Gestalt zu verändern. Anscheinend bekleideten die Schweinehirten in alten Zeiten einen ganz anderen Stand, als wir aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn schließen könnten: ein Schweinehirt war ursprünglich ein Priester im Dienste der Todesgöttin, deren heiliges Tier das Schwein war.[5] The War of the Bulls wird eingeleitet durch die Proceedings of the Grand Bardic Academy, eine im siebenten Jahrhundert entstandene Satire, auf die Habgier und Arroganz der herrschenden Bardenkaste, verfaßt anscheinend von einem Angehörigen einer früheren Orakelbruderschaft, die mit dem Aufstieg des Christentums aus ihrer Stellung verdrängt worden war. Die Hauptfigur ist hier Marvan, der königliche Schweinehirt im Dienst des Königs Guaire von Connaught; wir dürfen ihn mit Morvran (>schwarzer Rabe<), dem Sohn der weißen Sau-Göttin Cerridwen gleichsetzen, der uns in der ähnlich gearteten walisischen Satire The Romance of Taliesin als Afagddu wieder begegnet. Als Rache für den Verlust eines magischen weißen Ebers, der sein Arzt, Musiker und Botschafter zugleich war und den zu schlachten die herrschenden Barden Guaire überredet hatten, fordert er sie zu einem Wettstreit geistreicher Einfälle, bei dem er sie schmählich zum Schweigen bringt; Seanchan Torpest, der Vorsitzer der Akademie, spricht ihn als »Größten Propheten des Himmels und der Erde« an. In der Romance of Branwen findet sich ein Hinweis darauf, daß die Schweinehirten des irischen Königs Matholwch Zauberer waren und die Macht besaßen, die Zukunft vorauszusagen. Und dieser Hinweis findet eine Erläuterung in der Trias 5 6, die dem Magier Coll ap Collfrwr, einem der »Drei Mächtigen Schweinehirten der Insel Britannia«, die Einführung des Weizens und der Gerste in Britannien zuschreibt. Dies aber war in Wirklichkeit nicht sein Verdienst. Der Name der weißen Sau, die er zu Dallwr in Cornwall hütete und die Wales mit Korn, Bienen und ihren eigenen Ferkeln beschenkte, war Hen Wen, »die Alte Weiße«. Ihr Geschenk an Maes Gwenith (»Weizenfeld«) in Gwent bestand aus drei Weizenkörnern und drei Bienen. Natürlich war es die Göttin Cerridwen in Tiergestalt. (Diese Geschichte ist in drei Gruppen von Triaden enthalten, die in der Myvyrian Archaiology abgedruckt sind.)
Die unangenehme Seite ihres Charakters zeigte sich an dem Geschenk, das sie dem Volk von Arvon machte: einer jungen Wildkatze, die sich zu einer der drei Plagen von Anglesea auswuchs - der »Palug Cat«. Cerridwen ist also eine Sau-Göttin wie auch eine Katzen-Göttin. Dies verbindet sie mit dem Katze-als-Korn-Geist, der sich laut James Frazer in den Erntefesten im Norden und Nordosten Deutschlands und in weiten Teilen Frankreichs erhalten hat, sowie mit dem Ungeheuer Chapalu der französischen Arthursage.
Es gab auch in Irland einen Katzenkult. Eine »schlanke schwarze Katze, die behaglich auf einem Stuhl aus Altsilber ruht«, besaß einen Orakeltempel in einer Höhle in Connaught bei Clogh-mag-righ-cat, heute Clough, bevor St. Patrick dorthin kam.
Diese Katze gab Fragestellern, die sie zu täuschen versuchten, sehr grobe Antworten, und anscheinend war sie ein irisches Gegenstück zur ägyptischen Katzengöttin Pascht. Die ägyptischen Katzen waren schlank, schwarz und langbeinig und hatten einen kleinen Kopf. Ein weiterer Mittelpunkt des irischen Katzenkults war Knowth, eine Begräbnisstätte in der Grafschaft Meath, etwa aus der gleichen Zeit datierend wie New Grange. In den Proceedings of the Grand Bardic Academy heißt es, die Grabkammer von Knowth sei einst die Wohnstatt der Königskatze Irusan gewesen, die so groß wie ein Pflugochse war und einst Seanchan Torpest, den Hohen Ollave von Irland, zur Strafe für eine von ihm gedichtete Satire auf ihrem Rücken entführt hatte. Hygin setzt in seiner Poetic Astronomy Pascht mit der Weißen Göttin gleich und berichtet, daß die Götter, als Typhon plötzlich in Griechenland auftauchte - es bleibt allerdings unklar, ob er damit eine Invasion oder einen Vulkanausbruch meint, wie jenen, der den größten Teil der Insel Thera vernichtete - in Tiergestalt verkleidet flüchteten: »Merkur als Ibis, Apollon als Kranich, ein thrakischer Vogel, Diana als Katze.«
Das Geschenk der Alten Weißen Sau an das Volk von Rhiwgyverthwch war ein Wolfswelpe, der ebenfalls Berühmtheit erlangte. Der Wolf-als-Korn-Geist hat sich etwa in den gleichen Gegenden erhalten wie der Katze-als-Korn-Geist; und auf der Insel Rügen wird die Frau, die die letzte Erntegarbe bindet, »die Wölfin« genannt, und sie muß die Hausherrin und die Haushälterin beißen, die sie mit einem großen Stück Fleisch beschwichtigen. Folglich war Cerridwen, ähnlich wie Artemis, auch eine Wolfsgöttin. Es scheint, daß sie zwischen 2500 und 2000 V. Chr. mit den langschädeligen Ackerbauern der Neueren Steinzeit aus Nordafrika nach Britannien gelangte. Warum aber Katze, Schwein und Wolf als der Mondgöttin besonders heilig galten, ist nicht schwer zu erraten. Die Wölfe heulen den Mond an und nähren sich von Kadavern, ihre Augen leuchten in der Dunkelheit, und sie streifen durch Berg und Wald. Auch Katzenaugen leuchten im Dunkel, sie nähren sich von Mäusen (dem Symbol der Pest), sie kopulieren in aller Off enheit und laufen unhörbar herum, sie sind fruchtbar, fressen aber ihre eigenen Jungen, und ihre Farbe wechselt, wie die des Mondes, von Weiß über Rötlich bis Schwarz. Auch die Färbung der Schweine variiert zwischen Weiß, Rötlich und Schwarz, auch sie fressen das Fleisch von Kadavern, sie sind fruchtbar, aber fressen ihre Jungen, und ihre Stoßzähne sind halbmondförmig gebogen.