Das eine poetische Thema

Die Dichtung - und ich meine die Gesamtheit der Momente, aus der jeder neue Dichter seine Idee der Dichtung bezieht - hat sich über die Jahrhunderte hinweg entwickelt. Die Momente sind so zahlreich, mannigfaltig und widersprüchlich wie die der Liebe; wie aber »Liebe« ein Wort von so mächtigem Zauber ist, daß der wahre Liebende alle seine niedrigen und falschen Wortbedeutungen vergißt, so verhält es sich mit der Dichtung für den wahren Dichter.
Ursprünglich war der Dichter der Anführer einer Totemgesellschaft von religiösen Tänzern. Seine Verse - versus ist ein lateinisches griechischen Wort, das dem strophe entspricht und »eine Drehung« bedeutet - wurden um einen Altar oder in einem heiligen Kreis getanzt, und jeder Vers eröffnete eine neue Drehung oder Bewegung im Tanz. Das Wort »Ballade« ist gleichen Ursprungs: es ist ein Tanzgedicht, vom lateinischen ballare, tanzen, hergeleitet. Alle Totemgesellschaften des alten Europa standen unter der Herrschaft der Großen Göttin, der Herrin der Wilden Dinge; die Tänze waren je nach Jahreszeit verschieden und paßten in ein jährliches Muster, aus dem allmählich das eine große Thema der Dichtung hervorging: Leben, Tod und Auferstehung des Jahresgeistes, des Sohnes und Geliebten der Göttin.
An diesem Punkt werden wir fragen: »Ist denn das Christentum eine passende Religion für den Dichter? Und falls nein, gibt es eine Alternative?«
Europa ist offiziell seit sechzehnhundert Jahren christlich, und obwohl die drei Hauptzweige der Kirche zerstritten sind, behaupten doch alle, ihr göttliches Mandat von Jesus als Gott herzuleiten. Dies scheint auf den ersten Blick höchst unfair gegen Jesus, der eindeutig seine Göttlichkeit leugnete: »Warum nennst du mich Gott? Niemand ist Gott, außer dem Vater.« Und: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Sie sagten auch dem - von Hillel und seinen Pharisäerkollegen weiterentwickelten Mosaischen Gesetz den Gehorsam auf, das Jesus als wesentlich zum Heil ansah, und haben, während sie wohl den pharisäischen Ethik-Kodex beibehielten, alle alten heidnischen Feste ins Christentum aufgenommen, die an das »Thema« erinnern, und verehren Jesus als das »fleischgewordene Wort Gottes« im vorchristlichen gnostischen Sinne und als Sonne der Gerechtigkeit - als den gekreuzigten Menschengott des prähistorischen Paganismus.
Gleichwohl: auch wenn Jesus das Thema leugnete, einmal durch seine unbeirrte Treue zu dem einzigen Gott seiner Zeit, der jede Verbindung mit der Göttin abgeschnitten hatte, und zum andern, indem er der Frau und allen ihren Werken den Krieg erklärte, kann der christliche Kult dennoch historisch gerechtfertigt sein. Jesus stammte aus königlichem Geschlecht, wurde heimlich zum König Israels gekrönt, und zwar nach der alten, im 2. Psalm überlieferten Formel, die ihn zum Titularsohn des Sonnengottes erklärte, und verkündete, daß er der verheißene Messias sei.

In dem Versuch, eine paradoxe Prophezeiung des Zacharias zu erfüllen, bot er sich beim Letzten Abendmahl selbst als eucharistisches Opfer für sein Volk an und befahl Judas, die Vorbereitungen für seinen Tod zu beschleunigen. Schließlich wurde er gekreuzigt wie ein Ernte-Tammuz, nicht mit dem Schwert durchbohrt, wie es dem Messias verheißen war. Und nachdem Jahwes Fluch über die Gekreuzigten ihn von der Teilnahme am hebräischen Jenseits ausschloß, gibt es keinen Grund, warum er nicht als nichtjüdischer Gott verehrt werden sollte. Und tatsächlich haben viele Dichter und Heilige, uneingedenk seines kompromißlosen Judentums, ihn angebetet, als ob er ein neuer Tammuz, Dionysos, Zagreus, Orpheus, Herakles oder Osiris wäre.
ACHAIFA, OSSA, OURANIA, HESYCHIA und IACHEMA - die fünf Jahreszeitenstationen, die der Geist des Jahres im Kult des kanopischen Herakles durchlief - könnten wir in der Formel ausdrücken:

  • Er soll gefunden werden.
  • Er soll Wunder tun.
  • Er soll regieren.
  • Er soll ruhen.
  • Er soll scheiden.

Dieser Spruch, den Clemens von Alexandria aus dem Hebräer-Evangelium zitiert, ist anscheinend eine Anpassung der folgenden Formel an die Bedürfnisse der christlichen Mystiker:

  • Wer suchet, soll fortfahren, bis er findet.
  • Wenn er gefunden hat, soll er sich verwundern.
  • Wenn er sich verwundert hat, soll er regieren.
  • Wenn er regiert hat, soll er ruhen.

Da der Mystiker, indem er sich im Sakrament mit dem Sonnen-Zeus vereinigte, an seinem Triumph über den Tod teilhatte, wurde die fünfte Station ihm erlassen; Jesus wurde mit HESYCHIA (Ruhe), der vierten Station, gleichgesetzt, in der die Bäume ihre Blätter abwerfen und bis zu den ersten Frühlingsregungen ruhen. Eine Formel, die den prächristlichen Initlanden des Herakles von Mystagogen mitgeteilt wurde, lautete wahrscheinlich folgendermaßen:

  • Suchet den Herrn, den Geliebten der Großen Göttin.
  • Wenn er an Land geboren ist, werdet ihr ihn finden.
  • Wenn er große Taten vollbringt, sollt ihr euch verwundern.
  • Wenn er regiert, sollt ihr an seinem Ruhm teilhaben.
  • Wenn er ruht, sollt ihr Muße haben.
  • Wenn er scheidet, sollt ihr mit ihm gehen,
  • Zu der Insel des Westens, dem Paradies der Gesegneten.

In dem verlorengegangenen Hebräer-Evangelium kommt ein Satz vor, der von Origenes überliefert wurde:

»Da aber nahm meine Mutter, der Heilige Geist, mich beim Haar und trug mich auf
den großen Berg Tabor.«

Der Tabor war, wie wir sahen, das alte Zentrum des Mythos vom goldenen Kalb, und das goldene Kalb war Atabyrios, der Geist des Jahres und Sohn der Göttin lo, Hathor, Isis, Althäa, Debora oder wie immer wir sie nennen wollen. Der Zusammenhang zwischen dem gräcosyrischen Christentum und dem einen poetischen Thema war also im frühen zweiten Jahrhundert sehr eng - wenngleich das Hebräer-Evangelium später als häretisch verboten wurde, wahrscheinlich, weil es die Tür für eine Rückkehr zur orgiastischen Religion einen Spaltbreit offenließ. Heute ist das Christentum der einzige europäische Glaube von einiger Konsequenz. Das Judentum ist einzig Sache der Juden, und Ludendorffs zum Scheitern verurteilter Versuch einer Wiederbelebung der primitiven teutonischen Religion war lediglich eine Sache der deutschen Innenpolitik. Das gräco-romanische Heidentum war vor Ablauf des ersten Jahrtausends n. Chr. abgestorben, und das Heidentum Nordwesteuropas, das noch im frühen siebzehnten Jahrhundert lebendig war und sogar in Neuengland Wurzeln geschlagen hatte, wurde durch die puritanische Revolution ausgerottet. Der endgültige Sieg des Christentums stand fest, als Kaiser Konstantin es zur Staatsreligion der römischen Welt erhob. Dies tat er widerwillig, unter dem Druck seiner Armee, die sichj a aus den Massen rekrutierte, bei denen die Kirche mit ihrer offenen Haltung für Sünder und Ausgestoßene Anklang fand, und auch auf Drängen seines Geheimdienstes, der die Energie und Disziplin der kirchlichen Organisation bewunderte. Die asketische Doktrin, die ein Hauptelement des Urchristentums war, verlor nur allmählich an Macht, und erst im elften Jahrhundert geschah es, daß die einstige jungfräuliche Göttin Rhea - die Mutter des Zeus, die nunmehr mit der Mutter Jesu gleichgesetzt wurde allmählich wieder mit allen ihren Titeln und Attributen verehrt und als Himmelskönigin eingesetzt wurde; diese Restauration war erst im zwanzigsten Jahrhundert abgeschlossen, aber schon von Kaiser Zeno im fünften Jahrhundert vorweggenommen worden, der den Tempel der Rhea in Byzanz der Jungfrau Maria weihte.
Die puritanische Revolution war eine Reaktion gegen den Marienkult, der in manchen Gegenden Britanniens einen orgiastischen, verrückt-fröhlichen Charakter angenommen hatte. Obwohl die Puritaner ebenfalls der Lehre von der jungfräulichen Geburt anhingen, galt Maria ihnen als gänzlich menschliche Gestalt, deren religiöse Rolle mit ihrem Kindbett endete; und sie ächteten jegliche Riten oder Lehren der Kirche, die nicht vom Judentum, sondern vom Heidentum übernommen waren. Die lkonoklastische Leichtfertigkeit, die sündenschwere Düsternis und sabbatarische Trostlosigkeit, die mit dem Puritanismus einhergingen, schockierten die Katholiken namenlos. Sie verstanden es als Warnung, die sie veranlaßte, die festliche Seite ihres Kults noch mehr zu stärken statt abzuschwächen, an der Gebenedeiten Jungfrau als der Hauptquelle ihres religiösen Glücks festzuhalten und das orthodoxe Judentum Jesu möglichst wenig hervorzukehren. Obgleich die »Scheidung« von Glaube und Wahrheit, d. h. der Versuch, zu glauben, was man als historisch unwahr erkennt, von neueren Päpsten verurteilt wurde, wenden gebildete Katholiken in der Praxis ihre Augen von dem historischen Jesus und seiner Mutter Maria ab und richten sie fromm auf den Christus und die Gebenedeite Jungfrau: Sie sind es zufrieden, zu glauben, daß Jesus von sich selbst sprach, und nicht in Jahwes Namen prophezeite, als er sagte: »Ich bin der gute Hirte«, oder »Ich bin die Wahrheit«, und jedem, der an ihn glaubte, das ewige Leben verhieß. Gleichwohl haben sie ihr Haus schon lange geordnet; obwohl viele mittelalterliche Kleriker nicht nur eine Schwäche für den volkstümlichen Paganismus hatten, sondern ihn sogar aktiv begrüßten, sind die Himmelskönigin und ihr Sohn entschieden von allen orgiastischen Riten befreit, die einst ihnen zu Ehren aufgeführt wurden. Und obwohl der offizielle Glaube noch immer will, daß Jesus, wie Herakles, Orpheus und Theseus, zur Hölle hinabstieg, und obwohl die mystische Hochzeit des Lammes mit einer weißen Prinzessin die mit der Kirche gleichgesetzt wird - in jeder christlichen Konfession noch immer orthodoxes Dogma ist, ist die Geschichte von Samson und Dalila nicht in den Mythos aufgenommen, und der alte bocksfüßige Teufel, sein Todfeind, wird nicht mehr als sein Zwilling dargestellt. Die alte Religion war dualistisch: In einem Elfenbeinrelief aus dem vierzehnten Jahrhundert v. Chr., das in Ras Schamra auf gefunden wurde, ist die Göttin in minoischem Kostüm abgebildet, mit einer Garbe von drei Gerstenähren in jeder Hand, während sie ihre Gunst zwischen einem rotgesichtigen Widder zur Linken, dem Gott des zunehmenden Jahres, und einem Geißbock zu ihrer Rechten, dem Gott des abnehmenden Jahres, teilt. Der Geißbock meckert aufsässig, weil die Göttin den Kopf abwendet, und beharrt darauf, daß nun die Reihe an ihm sei. Im Christentum werden die Schafe immer den Böcken vorgezogen, und das Thema ist damit verstümmelt: die kirchliche Disziplin wird antipoetisch. Die grausame, kapriziöse, unbeständige Weiße Göttin und die milde, stetige, keusche Jungfrau sind unvereinbar miteinander, außer im Kontext der Heiligen Geburt.
Die Kluft, die heute Christentum und Dichtung trennt, ist tatsächlich die gleiche, die Judentum und Aschtarothkult nach der postexilischen religiösen Erneuerung trennte. Die verschiedenen Versuche der Clementiner, Collyridianer, Manichäer und anderer frühchristlicher Häretiker und der die Jungfrau verehrenden Palmer-Pilger und Troubadoure der Kreuzfahrerzeit, diese Kluft zu überbrücken, haben ihre Spuren auf Ritual und Doktrin der Kirche hinterlassen, waren aber stets von einer starken puritanischen Reaktion gefolgt. Es ist mittlerweile unmöglich geworden, die einst identischen Funktionen von Priester und Dichter zu vereinen, ohne der einen oder der anderen Berufung Gewalt anzutun, wie wir an den Werken jener Engländer sehen, die nach ihrer Ordination als Geistliche weiterhin sich der Dichtung verschrieben: Jolin Skelton, John Donne, William Crashaw, George Herbert, Robert Herrick, Jonathan Swift, George Crabbe, Charles Kingsley, Gerard Manley Hopkins. Der Dichter konnte nur dann seine unbeschwerte Kraft beibehalten, wenn er dem Priester die Tür wies. Etwa wenn Skelton zum Zeichen seiner Unabhängigkeit von der Kirchendisziplin den Musennamen » Kalliope« in Silber und Gold auf seine Soutane gestickt trug, oder wenn Herrick, um seine Treue zum poetischen Mythos zu beweisen, einem verhätschelten weißen Schwein Libationen von Gerstebier aus einem silbernen Kelch einflößte. Bei Donne, Crashaw und Hopkins wurde der Kampf zwischen Priester und Dichter auf hoher mystischer Ebene ausgefochten. Aber können wir Donnes Divine Poems, die nach dem Tode seiner einzigen Muse, Anne More, geschrieben wurden, seinen verliebten Songs and Sonnets an die Seite stellen? Oder können wir den selbstquälerischen Hopkins dafür loben, daß er seine poetischen Ekstasen demütig dem Beichtstuhl anvertraute?
Im ersten Kapitel sagte ich, man könne den Dichter gut danach beurteilen, wie genau er die Weiße Göttin porträtiert. Shakespeare kannte und fürchtete sie. Wir dürfen uns nicht durch die spielerische Albernheit der Liebespassagen in seinem Frühwerk Venus and Adonis irreführen lassen, auch nicht von dem ungeheuren mythographischen Kunterbunt in seinem Sommernachtstraum, wo Theseus als kecker elisabethanischer Ritter auftritt, wo die drei Parzen - die Schicksalsgöttin (die »Fates«, wovon das Wort »Fee« abgeleitet ist) - als launenhafte Elfen Peaseblossom (»Erbsenblüte«), Cobweb (»Spinnenweb«) und Mustard-seed (»Senfsamen«) herumtollen, wo Herakles als boshafter Robin Goodfellow seine Possen treibt, der Löwe mit der Festen Hand als Snug der Schreiner und, am allerungeheuerlichsten, der Wildesel Set Dionysos und die diamantenbestirnte Himmelskönigin als eselsohriger Trottel und flitterübersäte Titania auftreten. Ernsthafter zeichnet er sie in Macbeth als die Dreiige Hekate, die über dem Hexenkessel thront, denn ihr Geist ist es, der von Lady Macbeth Besitz ergreift und ihr einflüstert, König Duncan zu ermorden; oder als die strahlende und lüsterne Kleopatra, an deren Liebe Mark Anton zugrunde geht. Ihren letzten Auftritt in seinen Stücken gibt sie als die »verdammte Hexe Sycorax« in Tempest (»Der Sturm«). [1] Shakespeare in der Person des Prospero behauptet, sie mit seinen Zauberbüchern besiegt zu haben, ihre Macht gebrochen und ihren Sohn, das Monster Caliban, versklavt zu haben - aber erst, als er ihm unter der Maske der Freundlichkeit seine Geheimnisse entlockt hatte. Und doch kann er weder Calibans rechtlichen Anspruch auf die Insel, noch die ursprünglich blaue Farbe von Sycorax' Augen verheimlichen, obwohl »blauäugig« in der elisabethanischen Umgangssprache auch »die dunklen Ringe des Lasters um die Augen« bezeichnete. Sycorax, auf dessen Verbindung mit Cerridwen schon am Anfang des achten Kapitels hingewiesen wurde, kam zusammen mit Caliban in einem Boot auf die Insel, ähnlich wie Dana~ mit dem Kind Perseus aus Argos nach Seriphos gelangte; oder wie Leto mit dem ungeborenen Apollon nach Delos kam. Sie war eine Göttin, die die Macht besaß, den sichtbaren Mond zu kontrollieren und »Ebbe und Flut ihrem Befehl gehorchen zu lassen«. Shakespeare sagt, daß sie wegen ihrer Hexenkünste aus Argiers (war es in Wirklichkeit Argos?) verbannt wurde. Aber er läßt Caliban poetische Gerechtigkeit widerfahren und legt ihm die wahrhafteste Dichtung in den Mund:

Sei nicht in Angst! Die Insel ist voll Laut,
Voll Tön und süßer Lieder, die ergötzen,
Und niemand Schaden tun. Mir klimpern manchmal
Viel tausend helle Instrumente ums Ohr,
Und manchmal Stimmen, die mich, wenn ich auch
Nach langem Schlaf erst eben aufgewacht,
Zum Schlafen wieder bringen. Dann im Traume
War mir, als täten sich die Wolken auf,
Und zeigten Schätze, die auf mich herab
Sich schütten wollten, daß ich beim Erwachen -
aufs neu zu träumen - heulte.

Wir bemerken hier, daß die unlogische Zeitenfolge eine vollkommene Aufhebung der Zeit bewirkt. Donne verehrte die Weiße Göttin blindlings in der Person der Frau, die er zu seiner Muse erhob; so gänzlich unfähig war er, sich an ihre äußere Erscheinung zu erinnern, daß er von ihr nichts anderes zu berichten wußte, als das Bild seines eigenen, von Liebe verzehrten Auges, das sich in dem ihren spiegelte. In A Fever nennt er sie »die Seele der Welt«, denn wenn sie ihn verläßt, ist die Welt nur noch ihr Leichnam. Und:

Deine Schönheit und alles von dir
Steht unwandelbar im Firmament.

John Clare schrieb über sie: »Diese Träume einer schönen Erscheinung, einer weiblichen Gottheit, schenkten meiner Phantasie die sublimsten Vorstellungen von Schönheit; und nachdem ich die vorige Nacht mit eben dieser Erscheinung zusammengewesen, hinterließ die göttliche Dame ein so lebhaftes Bild von ihren Besuchen in meinem Schlaf, in meinem Traum von Träumen, daß ich nicht länger an ihrer Existenz zweifeln konnte. Ich schrieb sie nieder, um das Glück, an sie, meine Schutzgenie zu glauben, zu verlängern.«
Keats sah die Weiße Göttin als Belle Dame Sans Merci. Ihr Haar war lang, ihr Fuß war leicht und ihre Augen waren wild, aber Keats versetzte bezeichnenderweise die Lilie auf ihrer Stirn an die Stirnen ihrer Opfer und ließ den Ritter sie auf sein Streitroß setzen, statt daß er das ihre bestiege, wie Oisin das Streitroß der Niamh Goldhaar bestiegen hatte. So schrieb er auch mitleidig über Lamia, die Schlangengöttin, als ob sie ein bekümmertes Gretchen oder eine Griselda wäre.
Den Fall der Belle Dame Sans Merci müssen wir im Lichte des einen Themas ausführlicher untersuchen. Hier folgt das Gedicht in der Form, wie es zum erstenmal erschien (englisches Original auch hier im Anhang), mit ein paar scherzhaften Anmerkungen am Schluß, abgedruckt in einem offenen Brief an Keats' Bruder George in Amerika. Gestrichene Wörter sind nicht kursiv und in Klammern gesetzt:
»Mittwochabend [2]

LA BELLE DAME SANS MERCI
O was kann dich, Ritter in Waffen, schmerzen
Allein und bläßlich verweilend?
Das Riedgras ist am See verwelkt,
Und keine Vögel singen!
O was kann dich, Ritter in Waffen, schmerzen
So abgezehrt und jammervoll?
Des Eichkätzchens Kornspeicher ist voll
Die Ernte eingebracht.
Ich sehe eine (Todes-)Lilie auf deiner Stirn
Mit Angstschweiß und mit Fiebertau,
Auf deinen Wangen eine blasse Rose
Die rasch verwelkt -
Traf eine Dame auf den (wilden) Wiesen
Voll Schönheit, einer Feen Kind
Ihr Haar war lang, ihr Fuß war leicht
Und ihre Augen wild -
Machte ein Kränzel für ihr Haupt
Auch Armkettchen, einen duftenden Gürtel,
Sie blickt mich an, als ob sie liebte mich
Und seufzte süß -
Setzte sie auf mein schnelles Roß
Und sah sonst nichts, den ganzen Tag
An meiner Seiten beugt' sie sich und sang
Ein Feenlied -
Sie fand mir Wurzeln, schmackhaft süß
Und wilden Honig, Manna(Honig)tau,
Und in gar fremder Sprache sagte sie
Ich lieb dich wahr -
Sie führte mich zu ihrer Elfengrotte
Dort weinte sie (dort seufzte sie)
Und seufzte voller Leid,
Und dort verschloß ich ihre wilden Augen
Mit Küssen vier -
Dort wiegte sie mich in den Schlaf
Und dort träumt' ich, oh, wehe mir!
Den letzten Traum den ich geträumt
Auf kalten Hügels Rain.
Sah bleiche Könige und Fürsten
Und bleiche Krieger, totenbleich sie alle
Die schrie'n, La belle dame sans merci
Hat dich in ihrem Joch.
Sah ihre ausgezehrten Lippen in der Dunkelheit
(Alle Zittern)
Mit fürchterlicher Warnung (weit klaffend) klaffend weit,
Und ich erwachte, fand mich hier
An kalten Hügels Rain
Und darum säume (welke) ich allhier
Allein und bläßlich verweilend;
Wenngleich das Riedgras welkt am See
Und keine Vögel singen...

Warum vier Küsse - wirst du sagen - warum vier, weil ich das übereilte Drängen meiner Muse zügeln will - sie hätte wohl gern »zwanzig« gesagt, ohne gegen den Reim zu verstoßen , doch wir müssen, wie die Kritiker sagen, die Einbildungskraft mit Urteilskraft abkühlen. Ich war verpflichtet, eine Zahl zu wählen, die beiden Augen Gerechtigkeit widerfahren ließe, und um die Wahrheit zu sagen, glaube ich, daß je zwei vollauf genügen. Angenommen, ich hätte »sieben« gesagt, dann wären es je dreieinhalb gewesen - eine sehr unbeholfene Sache und für meinen Geschmack ziemlich ausgefallen - «
Der Kontext dieses Gedichts wird ausführlich in Sidney Colvins Life of Keats behandelt. Keats hatte eine - damals Chaucer zugeschriebene Übersetzung von Alain Cahrtiers La Belle Dame sans Merci gelesen, in der ein »Edelmann, der bei einer Edelfrau keine Gnade findet, vor Kummer stirbt«. In der Übersetzung stehen diese Zeilen:

Ich kam in ein frisches grünes Tal
Voll Blumen ... Reitend in leichtem Trab
Gedachte ich der Wonnen voll Verzweiflung
Mit großem Leid und Schmerz, dieweil ich war
Von allen Liebenden der Unglücklichste.

Auch noch andere Quellen der Ballade konnten festgestellt werden. In Spensers Faerie Queene (11,6) erblickt der Ritter Cymochiles, während er am Flußufer entlang wandert, die Zauberin Phaedria in einem Ruderboot. Er folgt ihrer Einladung, zu ihr ins Boot zu steigen, und sie haben eine kurzweilige Zeit miteinander. Sie singt, scherzt, schmückt sich mit Kränzen und legt sich frische Blumen um den Hals - zur großen, unerwarteten Freude des Ritters. Sie landen auf einer Insel inmitten des »Stillen Sees«, wo sie den » armen Knecht« in ein schattiges Tal führt, ihn, der seinen Kopf in ihren Schoß bettet, rasch in den Schlaf wiegt und ihn dann im Stich läßt. Ähnlich wurde in Malorys Morte d'Arthur (IV,I) der prophetische Dichter Merlin »betört und lechzte nach« der Zauberin Nimue. Sie lockte ihn in eine Grotte und ließ ihn dort eingemauert zurück.
Amy Lowell hat noch eine weitere Quelle des Gedichts in der Romanze Palmyrin of England auf gespürt, die Keats, wie wir wissen, begierig gelesen hat. Palmyrin ist wahnsinnig verliebt in eine gewisse Polinarda, die er gekränkt zu haben fürchtet, und sinnt unter Bäumen am Wasser seinem Kummer nach... »Und so stark kam ihn alsdann die Leidenschaft an, daß sein starkes Herz stillstand. Und derart war die Macht, die diese phantastischen Gedanken über ihn hatten, daß er mit dem Anschein eines Toten am Fuß der Weiden liegenblieb.« In einer anderen Episode erblickt Palmyrin »ein Fräulein, die auf einem weißen Zelter zu ihm geritten kommt. Ihr Haar ist über ihre Schultern gebreitet, und ihre Kleider scheinen schlimm in Unordnung; den ganzen Weg, den sie geritten kam, stieß sie viele Schreie und jämmerliche Klagen aus und erfüllte die Luft mit ihren Schrelen«. Sie war eine Botin der Zauberin Eutropa, ausgesandt, um ihn zu verlocken. Und am Schluß der Romanze findet sich eine Schilderung der Könige und Prinzen, die in einem Leichentempel auf der gefährlichen Insel einbalsamiert sind, was die »bleichen Könige und Fürsten« zu erklären scheint.
in der Belle Dame Sans Merci finden sich auch Reminiszenzen an Coleridges Kubla Khan mit seinen singenden Jungfrauen und dem poetischen Honigtau (»wilden Honig, Mannatau«, in Keats' Version) an eine Zeile von Wordsworth, »Ihre Augen sind wild«, und an eine andere, aus William Brownes Pastorals, »Laß keine Vögel singen ... « Doch die wichtigste Quelle ist wohl die Ballad of Thomas the Rhymer, von der Walter Scott gerade in Border Minstrelsy eine Version und Robert jamieson eine andere in seinen Popular Ballads veröffentlicht hatte. Darin wird Thomas von Erceldoune von der Königin des Elfenlandes auf ihr milchweißes Roß gehoben und in einen Garten entführt, wo sie ihn mit Brot und Wein labt, ihn in ihrem Schoß in den Schlaf wiegt und ihm die Gabe der dichterischen Schau verleiht; doch sie warnt ihn auch, daß es ihm bestimmt sein könne, als Sabbat-Opfer der Hölle dargebracht zu werden, wenn er der Straße folge, die »dort drüben auf frostiger Au« (oder am »kalten Hügelrain«) liegt.
Keats war damals vierundzwanzig Jahre alt und befand sich in einer kritischen Verfassung. Er hatte die Medizin um der Literatur willen aufgegeben, zweifelte aber immer mehr, ob er damit seinen Lebensunterhalt verdienen könne; zuletzt hatte eine »lähmende Trägheit« seine Arbeit erfaßt. Er hatte eine eifersüchtig besitzergreifende Leidenschaft für die »schöne und elegante, anmutige, alberne, modische und fremdartige... MINX«, Fanny Brawne, entwickelt. Sie fühlte sich offenbar durch seine Briefe geschmeichelt und war bereit, ihn zu ihrem Beau zu machen, aber ihre frivole Art bereitete ihm zunehmend Leiden; und dies um so mehr, als er nicht in der Lage war, ihr eine Heirat anzutragen oder zu verlangen, daß sie ihm treu bleibe. Die »Küsse vier« in dem Gedicht sind wohl eher autobiographisch gemeint, und nicht eine vom Reim diktierte Abwandlung der Balladenkonvention, »der Küsse drei«. Und anscheinend behandelte Fanny ihn aus Abscheu gegen sein herrisches Betragen oft erbarmungslos und machte sogar, wie er in einem Brief klagt, aus seinem Herzen »einen Fußball, indem sie mit Brown (seinem Freund) flirtete«. Die Belle Dame war also in einem Aspekt die elfengleiche Fanny Brawne, die er, bildlich gesprochen, vor sich in den Sattel seines Pegasos setzte; und es ist wohl wahr, daß sie seine Gedichte hinreichend bewunderte, um etliche in ihr Manuskriptbuch abzuschreiben.
Als Keats an seinen Bruder George schrieb, der in Not und weit fort von zu Hause war, gab er sich alle Mühe, sowohl die Stärke seiner Leidenschaft für Fanny als auch seinen bedenklichen Gesundheitszustand zu verheimlichen, der seine übrigen Kümmernisse noch vermehrte. Er befand sich nun im Frühstadium einer Schwindsucht, die er sich sechs Monate zuvor auf einem anstrengenden Fußmarsch durch Schottland zugezogen hatte, von dem er zurückkehrte, um seinen älteren Bruder Tom an der gleichen Krankheit sterben zu sehen. Als ehemaliger Medizinstudent wußte er, daß es noch keine Kur gegen die Krankheit gab. Er hatte die Lilie auf Toms Stirn gesehen, die hektische Rose auf seiner Wange, seine ausgemergelten Lippen, die in schrecklicher Warnung klafften, und hatte seine wilden, wilden Augen mit Münzen, nicht mit Küssen verschlossen.
In jenem Brief, der die Belle Dame sans Merci enthält, erwähnt Keats auch, er habe soeben Coleridge getroffen, der mit Green, einem seiner früheren Medizintutoren, an den Highgate Ponds spazierenging. Coleridges Bericht über die Begegnung ist uns erhalten geblieben. Demnach bat Keats, seine Hand drücken zu dürfen, er wollte die Erinnerung, an diese Begegnung mit sich nehmen, und als er gegangen war, sagte Coleridge zu Green: »In dieser Hand ist der Tod.« Er kennzeichnete es als »eine Hitze und eine Feuchtigkeit«, und »Fiebertau« ist Keats' eigene Beschreibung. In einem anderen Aspekt war die Belle Dame sans Merci also die Schwindsucht, deren Opfer ihn ermahnten, daß er nunmehr einer der ihren war. Obwohl es noch ein weiteres Jahr dauerte, bis er sein Todesurteil in Form einer heftigen Arterienblutung in den Lungen erhielt, muß Keats damals bereits erkannt haben, daß er, selbst wenn er finanziell in der Lage gewesen wäre, Fanny zu ernähren, sie ehrlicherweise nicht mehr bitten durfte, ihn zu heiraten; zumal die Schwindsucht durch eine Geschlechtskrankheit kompliziert wurde, die er sich zwei Jahre zuvor in Oxford zugezogen hatte, als er seinen Freund Balley am Divinity College besuchte. Mithin waren die Züge der Belle Dame schön - auf eine seltsam blasse, durchsichtige Art, wie es auch Fannys Züge waren, aber unheildrohend und höhnend. Sie repräsentierten das Leben, das er liebte - in seinen Briefen an Fanny verglich er sie mit dem Leben und der Liebe - und auch den Tod, den er fürchtete.

Diese Nachtmahrgestalt enthält noch ein drittes Element: den Geist der Dichtung. Keats' größter Trost in all seinen Schwierigkeiten, seine beherrschende Leidenschaft und die entscheidende Waffe, mit der er sich den Weg zu Fannys Liebe zu bahnen hoffte, war der dichterische Ehrgeiz. Doch die Dichtung erwies sich als ungnädige Dame. In seinem aufgewühlten Herzens- und Seelenzustand konnte er sich nicht ruhig hinsetzen, um die romantischen Epen zu schreiben, auf die er in Nachahmung Miltons seinen Ruhm zu gründen hoffte. Gerade hatte er die Arbeit an Hyperion abgebrochen, nachdem er zweieinhalb Bücher geschrieben hatte, und er vertraute seinem Freund Woodhouse an, daß er damit so sehr unzufrieden sei, daß er nicht weiterschreiben könne.
Daß die Belle Dame Liebe, Tod durch Schwindsucht (den modernen Aussatz) und Dichtung, alles in einem repräsentierte, bestätigt sich, wenn wir die Romanzen studieren, aus denen Keats sein Gedicht entwickelte. Er scheint eher intuitiv gespürt als historisch gewußt zu haben, daß sie alle auf dem gleichen alten Mythos beruhten. Die Königin von Elfenland aus Thomas the Rhymer war die mittelalterliche Nachfahrin der präkeltischen Weißen Göttin, die den Sakralkönig am Ende seiner siebenjährigen Herrschaft auf ihre Insel Elysium entführte, wo er ein Orakelheros wurde.

Die Geschichte von dem Propheten Merlin und der Zauberin Nimue ist gleichen Ursprungs; auch jene von Palmyrin und der Zauberin auf dem weißen Roß; und jene von Kymochiles und der Zauberin Phaidria. Sie war der Tod, aber sie gewährte den Opfern, die sie durch ihren Liebeszauber verführte, dichterische Unsterblichkeit.
Bemerkenswert ist der Fall von Thomas dem Reimer, alias Thomas von Erceldoune. Er war ein Dichter des frühen dreizehnten Jahrhunderts und behauptete, er habe poetische Einsicht durch die Königin von Elfland oder Elphame erfahren, die ihm plötzlich erschienen sei, als er an der Huntlie Bank lag, und ihn als Geliebten erwählte; und dies war der Grund, warum seine Prophezeiungen bei den Schotten so hohe Wertschätzung genossen. (sie waren, wie Thomas Chambers 1870 schrieb, »noch immer bei den Bauern weit verbreitet«.) Obwohl es nun auf den ersten Blick so scheint, als hätte Thomas lediglich den gälischen Mythos von Oisin und Niamh Goldhaar - deren Arthur-Variante die Romanze von Ogier dem Dänen [3] - und Morgan la Faye ist - entlehnt und auf sich selbst übertragen, was aber doch wohl nicht der Fall gewesen ist. Vielmehr scheint es sich so verhalten zu haben, daß er auf der Huntlie Bank nicht von einem Gespenst, sondern von einer lebendigen Frau angesprochen wurde, nämlich von der nominellen » Königin von Elphame«, der seinerzeitigen Inkarnation Hekates, der Göttin der Hexen. Sie brachte ihn dazu, dem Christentum abzuschwören, und führte ihn unter dem neuen Taufnamen »der Wahre Thomas« in den Hexenkult ein.
Wie wir aus den schottischen Hexenprozessen wissen, widerfuhr das gleiche Abenteuer drei oder vier Jahrhunderte später auch anderen vielversprechenden jungen Schotten. In Aberdeen zum Beispiel bekannte sich ein Andrew Man 1597 zu fleischlichem Umgang mit der Queen of Elphame, die »einen Bann in aller Schläue« ausübte und die, auf einem weißen Gaul reitend, gerade das alljährliche Herbsttreffen zu Binhill und Binlocht besucht hatte. »Sie ist sehr angenehm und erscheint alt und jung, wie es ihr gefällt. Sie macht jeden zum König, wie es ihr beliebt, und liegt bei jedem, der ihr gefällt.« (Alt und jung, natürlich, weil sie die Mondgöttin in ihren aufeinanderfolgenden Phasen repräsentierte.) Ähnlich wurde auch William Barton von Kirkliston der Geliebte einer späteren Königin, wie er bei seinem Prozeß 1655 gestand. Er schwor dem Christentum ab, erhielt den neuen Namen »Johannes der Täufer« und wurde mit dem Teufelsmal gezeichnet. Aber schon im dreizehnten Jahrhundert scheint die Opferung des Königs im siebenten oder sabbatinischen Jahr nicht mehr streng befolgt oder nur noch symbolisch ausgeführt worden zu sein: denn in jenem Garten, in den die Königin den Thomas von Erceldoune entführte, wurde er bei Todesstrafe verwarnt, keinen der dort wachsenden Äpfel zu pflücken - die traditionelle Speise der toten Orakelhelden.

Hätte Thomas davon gekostet, dann wäre er nicht am Leben geblieben, um seine Geschichte zu erzählen, und er hätte nicht seine »grünsamtenen Schuhe und Kleider von gleichem Stoff« behalten, die seine Livree als Günstling der Königin waren. Der Bericht über seine mystischen Erlebnisse entspricht allem, was wir von den Initiationszeremonien des Hexenkults wissen. Wie Ogier der Däne hatte auch er sie anfangs irrtümlich für die Jungfrau gehalten, ein verzeihlicher Irrtum, weil sie (laut dem Geständnis der Hexe Marion Grant von Aberdeen, einer Genossin des Andrew Man) von den Hexen als »unsere liebe Frau« angesprochen wurde und wie eine feine Dame auftrat, gekleidet in einen »weißen Prachtmantel«.
Keats macht in seinen Briefen an Fanny deutlich, daß er, um ihr Geliebter in einem so umfassenden Sinn zu werden, wie Thomas von Erceldoune es bei der Königin von Elphame war, mit Freuden das Mal empfangen und den Blutspakt unterzeichnet hätte, der seine Seele nachmals der Hölle überantwortete. Er war kein Christ. »Meine Religion ist die Liebe, und du bist ihre einzige Lehre«, schrieb er an sie. Doch Fanny war nicht die Frau, um die ihr angetragene Rolle zu spielen. Obwohl sie anfangs, ähnlich wie die Königin, der William Barton auf dem Weg zur Queen's Ferry begegnete, »zornig und sehr entzückt« zu sein vorgab, als er sie mit seinen Artigkeiten bedachte, und später Mitleid mit seinen Beschwernissen empfand, ja, ihn sogar bis zu einem gewissen Grad aufzuheitern suchte, ist doch klar, daß sie niemals »von ihm duldete zu tun, was christliche Ohren nicht vernehmen« durften.
Coleridge hatte in seinen besten Stücken ein strengeres poetisches Gewissen als Keats. Auch wenn der zweite Teil von Christabel die Mondmagie des ersten Lügen strafte, zeichnet er im Ancient Mariner mit seiner Schilderung der Frau, die im Geisterschiff mit dem Tod würfelt, ein so getreuliches Bild der Weißen Göttin, wie wir es bereits kennen:

Ihre Lippen waren rot, ihr Blick war frei.
Ihre Locken waren gelb wie Gold,
Ihre Haut war weiß wie Leprosie.
Die Nachtmahr Leben-im-Tod war sie,
Die kalt des Mannes Blut gerinnen läßt.

Auch anonyme englische Balladendichter feiern stets die Schönheit und die schreckliche Macht der Göttin. Tom O' Bedlam's Song ist unmittelbar von ihr inspiriert:

Der Mond ist meine stetige Herrin
Und die einsame Eule meine Gefährtin,
Der flammende Drache
Und die Nachtkrähe machen
Musik mir zum Jammer.

Das gilt auch von der Ballade Holy Land of Walsinghame:

Solch eine traf ich, guter Herr,
Solch engelsgleiches Angesicht,
Die wie eine Nymphe, wie eine Königin schien
In ihrem Gang, in ihrer Anmut.
Sie ließ mich hier allein,
So ganz allein, wie ungekannt,
Die einst mich führte mit zu sich
Und liebte mich als ihr eigen.

Holy Land of Walsinghame erinnert an die zärtliche Schilderung der Göttin in dem alt irischen Sickbed of Cuchulain, das Laegh nach seinem Besuch in der Festung der Sidhe spricht:

Es gibt eine Jungfrau in dem edlen Haus,
Sie übertrifft alle Frauen Irlands.
Sie tritt vor, mit gelbem Haar,
Schön und von mancherlei Gaben.
Ihre Rede mit jedem Mann in der Reihe
Ist schön, ist wundervoll,
Und einem jeden bricht das Herz
Vor Sehnsucht und Liebe zu ihr.

Denn obwohl sie nur liebt, um zu vernichten, vernichtet die Göttin nur, um zu erwecken.
Seltsam exakt ist Coleridges Hinweis auf die Lepra. Die weiße Farbe der Göttin war seit jeher zweideutig. In einem Sinn ist es das erfreuliche Weiß der Graupelgerste, des Frauenkörpers, der Milch oder des frischen Schnees; in einem anderen Sinn ist es das erschreckende Weiß einer Leiche oder eines Gespensts oder der Lepra. So etwa besteht das Dankopfer des Aussätzigen für seine Heilung (Leviticus 14,10), das er ursprünglich der Göttin-Mutter entrichtet, aus einem Scheffel Gerste. In dem Namen Alphito sind, wie wir sahen, diese beiden Bedeutungen vereinigt. Denn Alphos ist der weiße Aussatz, und zwar die fleckige Art, die das Gesicht angreift; und Alphiton ist Gerste; und Alphito hauste auf den Felsgipfeln von Nonakris im ewigen Schnee. Pausanias bringt die Lepra - das Wort bedeutet »Schuppigkeit«, ein Symptom der echten Lepra - mit der Stadt Lepreus in Verbindung, die am Fluß Alphelos in der Gegend von Triphylia (»Klee«) gelegen war, einer Aussätzigenkolonie, die von einer Göttin Leprea gegründet worden war; später stand sie unter dem Schutz des »Zeus von der weißen Pappel«, denn ein anderer Name für Aussatz ist leuke, was ebenfalls »weiße Pappel« bedeutet. Damit verknüpfen wir gleich mehrere lose Enden unserer Beweisführung.

Die weißen Kleeblüten, die überall aufblühen, wohin die Liebesgöttin Olwen tritt, kann man als »weiß wie die Lepra« bezeichnen. Und wir dürfen annehmen, daß die Blätter der weißen Pappel (sie ist der Herbstbaum des Beth-Luis-Nion), die noch heute im Tal des Styx wächst, ein Prophylaktikum gegen alle Formen von Aussatz waren: denn die lateinischen Wörter albus und albulus enthalten beide die Konnotation des griechischen alphos. Als Euander aus Arkadien nach Italien kam, brachte er den Flußnamen Alphelos mit: Albula war der alte Name des Tiber, obwohl sein gelbes Wasser eher den Namen »Xanthos« oder »Flavus« verdient hätte, wenn diese Auswanderung nicht unter dem Zeichen der Weißen Göttin gestanden hätte.
Die Priesterinnen der Weißen Göttin weißten sich in alten Zeiten wahrscheinlich ihre Gesichter mit Kalk, um so die weiße Scheibe des Mondes nachzuahmen. Möglich wäre auch, daß die Insel Samothrake, die für ihre Mysterien der Weißen Göttin berühmt war, ihren Namen von der schuppigen Lepra hat; denn wir wissen, daß samo soviel wie »weiß« bedeutet und daß das altgälische Wort für diese Art der Lepra Samothrusc war. Strabo liefert in seinen Georgica eine Begründung für diese Vermutung: er zitiert Artemidor, der schrieb, daß »es eine Insel in der Nähe Britanniens gibt, wo die gleichen Riten zu Ehren von Ceres und Persephone aufgeführt werden wie in Samothrake«.
Im Ancient Mariner heißt es, als die Nachtmahr des Lebens-im-Tode das Würfelspiel gewonnen hat:

»Das Spiel ist aus, ich hab' gewonnen, ich hab' gewonnen«,
Spricht sie und pfeift dreimal.

Sie pfeift dem magischen Wind, der nun das Leben des Seemanns rettet. Coleridge schreibt wundervoll exakt. Denn die Weiße Göttin war, wie wir erfahren haben, für die vier Kardinalwinde verantwortlich: der mythologisch bedeutsamste war der Nordwind, hinter dem sie ihre Sternenburg hatte, nicht weit von der Polarachse des Universums. Es war der gleiche Wind, der sich als Antwort auf Gwions letztes Rätsel in der Romance erhob und Elphin befreien half, und auch der Wind der - Hekataios zufolge - der hyperboreischen Priesterschaft Apollons ihren Namen gab. Zu Ehren der Weißen Göttin dreimal zu pfeifen war das traditionelle Mittel der Hexen, um den Wind zu beschwören; daher das sprichwörtlich unglückliche Omen einer »krähenden Henne und eines pfeifenden Mädchens«. »Ich will dir einen Wind geben« - »Und ich noch einen«..., sagen die Hexen in Macbeth. »Alle Windrichtungen, die bekannt, in des Schiffers Windrose.« Die Verbindung der Winde mit der Göttin zeigt sich auch in dem weitverbreiteten Volksglauben, daß nur Schweine und Ziegen (die ihr beide heilig waren) den Wind sehen könnten, sowie in dem Glauben, daß Stuten gedeckt werden könnten, indem sie lediglich ihr Hinterteil gegen den Wind stellen. Die früheste klassische Erwähnung dieses Glaubens hinsichtlich der Stuten findet sich in der Ilias, wo Boreas sich in die dreitausend Stuten des Dardaniers Erichthonios verliebt; er findet sie auf der Ebene vor Troja, wo sie weiden, und deckt zwölf von ihnen. Die Altphilologen begnügten sich damit, dies als bloße Allegorie auf die Schnelligkeit der zwölf von Boreas gezeugten Rosse zu verstehen. Aber der Mythos ist viel komplexer. Boreas hauste mit seinen drei Brüdern, den übrigen Kardinalwinden, in einer heiligen Höhle auf dem Berg Haimos in Thrakien, der natürlich nördlich von Troja liegt, aber auch in Athen verehrt wurde. Die Athener gaben ihm den Ehrentitel »Schwager«, und ihre altüberlieferte Verehrung für ihn steigerte sich erst recht, als er während der persischen Invasion Griechenlands plötzlich vom Haimos herabfuhr und den größten Teil von Xerxes-' Flotte vor Kap Sepias versenkte. Auf der berühmten geschnitzten Truhe von Kypselos wurde Boreas halb als Mensch, halb als Schlange dargestellt - zur Erinnerung daran, daß die Winde der Todesgöttin unterstanden und aus Orakelhöhlen im Erdboden hervorkamen. Die Abbildung zeigte ihn, wie er gerade die Nymphe Oreithyia, die Tochter eines anderen Erichthonios, [4] des ersten Königs von Athen, der dort die vierspännigen Streitwagen einführte, in seine Bergheimat in Thrakien entführte.
Dies gibt uns einen Hinweis auf die Herkunft des Nordwindkults. Die Stuten des Erechthonios waren in Wirklichkeit Boreas' eigene Stuten, denn Erechthonios war ebenfalls halb Mensch, halb Schlange. Erechthonios wurde als autochthon, d. h. als »aus der Erde entsprungen« aufgefaßt; er galt anfangs als Sohn der Athene und des Hephaistos, des Demiurgen, doch später, als die Athener auf Athenes unversehrte Jungfräulichkeit als einer Sache der staatsbürgerlichen Selbstachtung Wert legten, machten sie ihn zum Sohn des Hephaistos mit Ge, der Erdgöttin. Der Name der Nymphe, die er entführte, Oreithyia, bedeutet »sie, die auf dem Berge rast«, offensichtlich die Liebesgöttin der göttlichen Trias, in der Athene die Todesgöttin war. Dies erklärt, wieso Boreas ihr Schwager und auch der Schwager aller Athener war - deren alte Freundschaft mit der Boreas-Priesterschaft der Hyperboreer von Hekataios erwähnt wird. Da aber der Nordwind nicht rückwärts wehen kann, bezieht die Geschichte, wie Boreas die Nymphe Oreithyia gewaltsam nach Thrakien entführt, sich anscheinend auf die Ausbreitung des athenischen orgiastischen Kults der Dreifältigen Ziegengöttin und ihres Geliebten Erechthonios, alias Ophion, nach Thrakien - wo dieser Kult, wie auch im nahegelegenen Troja, an einen orgiastischen Kult der Dreifältigen Stutengöttin angepaßt wurde. Die zwölf heiligen Rosse des Boreas lieferten ihr drei vierspännige Streitwagen. Da aber Erechthonios kurz nach seiner Geburt in der Ägis der Athene - dem aus dem Fell der Göttin Amalthea gemachten Beutel - vor seinen Verfolgern Zuflucht nahm, muß er mit ihr aus Libyen gekommen sein. In Libyen hätte man ihn mehr geliebt als in Griechenland; den ganzen Sommer lang streichen dort frühmorgens erfrischende Nordwinde über die libysche Küste - daher bezeichnet Hesiod Boreas als einen Sohn des Astraios (»der Gestirnte«) und der Eos (»Morgendämmerung«). Daß portugiesische Stuten vom Zephyr befruchtet wurden - wie Varro, Plinius und Columella erzählen - ist offenbar ein Irrtum, bedingt durch die Lage Portugals im äußersten Westen. Der Philosoph Ptolemäus schreibt korrekterweise nur dem Planeten Zeus (Juppiter), der den Norden beherrscht, »befruchtende Winde« zu, und Boraios war einer der Titel des Zeus. [5] Lactantius, der Kirchenvater des späten dreizehnten Jahrhunderts, benutzt diese Befruchtung der Stuten als Analogie zur wundersamen Schwängerung der Jungfrau Maria durch den Heiligen Geist (wörtlich »Atem«): ein Vergleich, der zu seiner Zeit nicht als geschmacklos empfunden wurde.
Der Odyssee zufolge lag die Heimat der Winde, d. h. das Zentrum des Kults um Boreas und seine Brüder, nicht auf dem Berge Haimos, sondern auf einer äolischen Insel; möglicherweise war es die ägäische Insel Tenos, wo ein megalithischer Wagstein zu besichtigen war, der als von Herakles errichtetes Denkmal für Kalais und Zetes, die Heroensöhne von Boreas und Oreithyia galt. Der Boreas-Kult verbreitete sich von Athen nach Westen wie auch nach Norden - bekanntlich hingen auch die Thurer Italiens ihm an - und dürfte mit den griechischen Kolonisten nach Spanien gelangt sein. In spätklassischer Zeit glaubte man, Homers »äolische Insel« sei Lipari, die von den Äolern kolonisiert worden war; Lipari liegt passenderweise im Norden Siziliens, wo dieser Glaube ursprünglich entstanden war.
Ein nur leicht christianisiertes, heidnisches irisches Gedicht, abgedruckt 1855 in den Ossianic Societys Publications, Vol. 11, nennt die angeborenen Merkmale der vier Kardinalwinde. Es zeigt nicht nur die Verbindung der Winde mit dem Schicksal auf, sondern bezeichnet das Kind, das geboren wird, wenn der Nordwind weht, als eine Art Herakles.

Winde des Schicksals
Der Knabe, der geboren wird, wenn der Wind von Westen weht,
Er soll Kleidung erhalten, Nahrung soll er erhalten;
Er soll von seinem Herrn erhalten, sage ich,
Nicht mehr als Nahrung und Kleidung.

Der Knabe, der geboren wird, wenn der Wind von Norden weht,
Er soll Sieg erringen, aber soll Niederlage erdulden.
Er soll verwundet werden, andre soll er verwunden,
Bevor er aufsteigt in den Himmel der Engel.

Der Knabe, der geboren wird, wenn der Wind von Süden weht,
Er soll Honig haben, Früchte soll er haben,
In seinem Hause bewirten Bischöfe und vorzügliche Musikanten.

Beladen mit Gold ist der Wind aus dem Osten,
Der beste Wind unter all den vieren, die wehen;
Der Knabe, der geboren wird, wenn dieser Wind weht,
Mangel so er niemals kosten im Leben.

Wann immer ein Wind nicht weht
Über das Gras der Ebene oder das Heidekraut der Berge,
Wer immer dann geboren wird,
Ob Knabe oder Mädlein, ein Narr soll es sein.

An diesem Punkt können wir gleich mehrere offene Rätsel lösen. Falls die Athener in sehr primitiver Zeit den Nordwind anbeteten und den Kult aus Libyen mitgebracht hatten, dann waren die ursprünglichen Hyperboreer, die »Leute hinter dem Nordwind« - eine Priesterschaft im Dienst einer nördlichen Jenseitswelt - Libyer. Dies würde auch Pindars irrige Auffassung erklären, wonach Herakles den wilden Olivenbaum aus dem fernen Norden geholt hatte; tatsächlich holte er ihn aus dem Süden, vielleicht sogar aus dem ägyptischen Theben, wo er noch in Plinius' Tagen neben Eichen und Abakaten wuchs; und die »Gorgo«, die Perseus auf seiner Reise zu den Eselsopfer darbringenden Hyperboreern tötete, wäre dann die Göttin Neith aus dem südlichen Libyen. Dieser Herakles war nicht der bekannte Eichenheros, sondern ein anderer Herakles, der phallische Daumen, der Führer der fünf Daktylen, der - einer Überlieferung zufolge, die Pausanias in Elis aufspürte - eine solche Fülle von wilden Oliven aus Hyperborea mitbrachte, daß sie alle, nachdem er den Sieger des unter seinen Brüdern ausgetragenen Wettrennens bekrönt hatte, auf Haufen von frischen Olivenblättern schliefen. Pausanias nennt zwar die Namen der Wettläufer, sagt aber nicht, wer gewann. Aber es war offenbar Paionios, der Zeigefinger, der immer als erster ankommt, wenn man die Finger über den Tisch laufen läßt, denn pazan oder pazon war die Siegeshymne. Außerdem sagt Pausanias, daß Zeus bei dieser Gelegenheit mit Kronos rang und ihn besiegte; Zeus ist der Gott des Zeigefingers, und Kronos der Gott des Mittel- oder Narrenfingers. Der als zweiter ins Ziel gelaufene Daktyle war offenbar Epimedes, »er, der zu spät denkt«, der Narr. In dieser Reihenfolge erwähnt Pausanias die Namen: Herakles, Paionios, Epimedes, Jasios und Idas.
Der wilde Olivenbaum lieferte also die Krone für Paionios, den Zeigefinger. Das heißt, daß der Vokal des Zeigefingers, nämlich O, der im Beth-Luis-Nion durch Onn, den Stechginster ausgedrückt wird, im griechischen Baumalphabet durch den wilden Olivenbaum bezeichnet wurde. Dies erklärt auch die Verwendung der Olive beim Frühlingsfest der antiken Welt, das sich noch heute in Spanien, im »Ramos« (»Zweige«)-Fest erhalten hat. Und es erklärt auch die aus Olivenholz geschnitzte Keule des Herakles, denn die Sonne bewaffnete sich erstmals zur Zeit der Frühlingstagundnachtgleiche; und auch den Olivenzweig im Schnabel von Noas Taube, der das Austrocknen der Winterfluten unter der Frühlingssonne symbolisiert. Es erklärt auch den Namen Palonlos als Titel des Apollon Helios, des Gottes der jungen Sonne, den er allerdings von der Göttin Athene Paionia übernahm, die erstmals die Olive nach Athen gebracht hatte; und auch den Namen der Peonie, paionia, einer mediterranen Wildblume, die nur zur Zeit der Frühlingstagundnachtgleiche blüht und dann rasch ihre Blütenblätter verliert.

Spensers Weiße Göttin ist die »Lady of the Lake« aus der Arthursage, auch »die Weiße Schlange«, »Nimue« und »Viviane« genannt, die Rhys in seiner Arthurian Legend als Rhiannon identifiziert. Sie ist die Geliebte des Merlin (Merddin) und begräbt ihn verräterrischerweise in seiner Zauberhöhle, nachdem er ihr - ähnlich wie Llew Llaw der Blodeuwedd, oder Samson der Dalila, oder Kuroi der Blathnat - etliche seiner Geheimnisse offenbart hat. Doch im frühesten walisischen Dokument, dem Dialogue of Gwenddydd and Merddin, befiehlt sie ihm, »aus seinem Gefängnis hervorzukommen und ohne Furcht die Bücher der Inspiration zu öffen«. In diesem Dialog nennt sie ihn ihren »Zwillingsbruder«, was zeigt, daß sie Olwen ist; und sie wird auch als Gwenddydd wen adlam Cerddeu, »die Weiße Frau des Tages, Refugium der Gedichte« bezeichnet, was sie als die Muse Kardea Cerridwen erweist, die die cerddeu, »Gedichte« - im Griechischen Kerdela - inspiriert.
»Was ist Inspiration?« Diese Frage wird oft gestellt. Die Ableitung des Wortes gibt uns zwei zusammenhängende Antworten. »Inspiration« kann bedeuten, daß der Dichter berauschende Dämpfe aus einem Giftkessel einatmet - den Awen aus dem Kessel der Cerridwen, der wahrscheinlich eine Maische aus Gerste, Eicheln, Honig, Stierblut und heiligen Pflanzen wie Efeu, Nieswurz [6] und Lorbeer enthielt - oder aber schweflige Dämpfe aus einem unterirdischen Vulkanschlot, wie in Delphi, oder auch die Dämpfe, die in die Nase aufsteigen, wenn man Fliegenpilze kaut. Diese Dämpfe lösen eine paranoide Trance aus, in der die Zeit aufgehoben ist, obgleich der Verstand aktiv bleibt und seine prophetischen oder analeptischen Ahnungen in Versen mitteilen kann. Aber »Inspiration« kann auch bedeuten, daß dieser poetische Zustand eingeleitet wird, indem der Dichter in einem heiligen Hain auf den Wind, den Boten der Göttin Kardea, lauscht. So wurden poetische Orakel in einem heiligen Hain zu Dodona vernommen, und die prophetische Trance wurde meist bei den Schwarztauben-Presterinnen ausgelöst, die anfangs das Orakel beeinflußten, indem sie Eicheln kauten; edenfalls merkt ein Schollast zu Lukan an, daß diese Methode bei den gallischen Druiden üblich war. In Kanaan war die Akazie der wichtigste Orakelbaum - der »brennende Busch«, wie wir im fünfzehnten Kapitel sahen - und auch im I. Buch der Chronik 14,15 findet sich ein Hinweis auf diese Art der Inspiration:

»Wenn du dann wirst hören das Rauschen oben auf den Maulbeerbäumen
einhergehen, so fahre heraus zum Streit.«

Für »Maulbeerbäume« sollte es hier »Akazien« heißen. Jahwe selbst erschien in dem Wind, und der Kontext dieser Bibelstelle - Davids Feldzug gegen die Philister, von Gibeon nach Gaza - zeigt, daß er von Norden her wehte. Diese Geschichte stammt aus einer Zeit, als Jahwe noch nicht der transzendentale Gott war, sondern wie Boreas auf einem Berg hoch im Norden hauste; tatsächlich war er der Weiße Stier-Gott Baal Zephon (»Herr des Nordens«), der diesen Titel von seiner Göttin-Mutter Baaltis Zapuna übernommen hatte - ein Name, der durch eine Inschrift aus Gosen, wo der Stamm Joseph einst ansässig war, bestätigt ist. Die Kanaaniter verehrten ihn als König der nördlichen Jenseitswelt, und die Philister von Ekron hatten den Kult übernommen; er war ein Gott der Prophetie und Fruchtbarkeit. Ein anderer seiner Titel war Baal-Zebul, »der Herr der Burg (des Nordens)«, der dem Stamm Zebulon seinen Namen gab: dieser betete ihn auf dem Berg Tabor an. Als König Ahasia von Israel sein Orakel zu Ekron befragte (2. Könige 1,1-4) zog er sich einen Verweis des Propheten Elia zu, weil er nicht das einheimische israelitische Orakel konsultiert hatte, das sich wahrscheinlich auf dem Tabor befand. Ich vermute, daß dieser Baal-Zebul ein Herbst-Dionysos war, dessen Anhänger sich mit Amanita muscaria berauschten, die noch heute dort wächst; der biblische Name dieser Pilze ist »Ermrod« oder »Füchslein«. Zur Zeit Jesu, der ja des Umgangs mit dem Beelzebub beschuldigt wurde, waren die Königreiche von Israel und Philistia längst untergegangen und die Heiligtümer von Ekron und Tabor zerstört; und Baal-Zebul, dessen Funktionen auf den Erzengel Gabriel übergegangen waren, war zu einem bloßen Teufel herabgesunken, der höhnisch Baal-Zebub, »Herr der Fliegen«, genannt wurde. Doch die levitischen Schächter hielten noch immer das alte Ritual ein und kehrten bei der Opferhandlung den Kopf des Opfertiers nach Norden.
Die Akazie ist noch heute in der arabischen Wüste ein heiliger Baum, und jeder, der auch nur einen Zweig von ihr abbricht, muß innerhalb eines Jahres den Tod gewärtigen. Die geläufige klassische Ikone der Muse, die einem Dichter ins Ohr flüstert, bezieht sich auf die Inspiration aus den Baumwipfeln: die Muse ist die dryas (»Eichenfee«) oder melia (»Eschenfee«) oder mélia (»Quittenfee«) oder karyatide (»Nußfee«) oder hamadryade (allgemein »Baumfee«) oder heliokoniane (»Fee vom Berg Hellkon«, dessen Name von helike, der den Dichtern heiligen Weide, wie auch von dem Bach stammt, der ihn umwindet).
Heute gebrauchen die Dichter nur selten noch diese künstlichen Hilfsmittel zur Inspiration, obgleich das Rauschen des Windes in den Weiden oder in einer Waldung noch immer einen seltsam mächtigen Einfluß auf ihr Denken ausübt. Und »Inspiration« ist daher alles, was die poetische Trance auszulösen vermag. Doch eine große Schar von Scharlatanen oder Schwächlingen sucht beim automatischen Schreiben und beim Spiritismus Zuflucht. Die althebräische Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Prophetie - und »Prophetie« bedeutet inspirierte Dichtung, mit der meist, wenn auch nicht notwendig, zukünftige Ereignisse vorhergesagt werden - hat recht viel für sich. Wenn ein Prophet sich in Trance versetzte und nachher nicht mehr wußte, was er geplappert hatte, dann war dies illegitim; doch wenn er während der ganzen Trance und auch nachher im Besitz seiner kritischen Fähigkeiten blieb, so war es legitim. Seine Kräfte wurden durch den »Geist der Prophetie« verstärkt, so daß seine Worte ungeheure Erfahrungen in ein einziges poetisches Juwel zu kristallisieren vermochten; doch er blieb kraft der Gnade Gottes der erdverbundene Autor und Redaktor seiner Hervorbringungen. Das spiritistische Medium hingegen, dessen Seele zeitweilig »außer sich« ist, so daß dämonische Mächte und Gewalten seinen Körper besetzen und pfeifend aus seinem Mund sprechen können, war kein Prophet und wurde »aus der Gemeinde verstoßen«, wenn man ihm nachweisen konnte, daß er sich absichtlich in Trance versetzt hatte. Diese Ächtung wurde wahrscheinlich auch auf das automatische Schreiben ausgedehnt.

Texttyp

Studien