Fabeltiere

Die indischen Mystiker glauben, man müsse, um mit vollkommener Klarheit im religiösen Sinn zu denken, zuerst jedes physische Verlangen ausschließen, sogar das Verlangen, weiterzuleben; ganz anders verhält es sich mit dem poetischen Denken, denn die Dichtung wurzelt in der Liebe, und die Liebe im Verlangen; das Verlangen aber in der Hoffnung auf weitere Existenz. Um aber mit vollkommener Klarheit im poetischen Sinn zu denken, muß man sich erst von allerlei intellektuellem Ballast befreien, darunter von allen dogmatischen, doktrinären Besitztümern: Die Mitgliedschaft in einer politischen Partei oder religiösen Sekte oder literarischen Schule deformiert den poetischen Sinn- sie führt sozusagen etwas Belangloses und Zerstörerisches in den magischen Kreis ein, den der Dichter mit einer Ebereschen-, Hasel- oder Weidengerte um sich zieht und in dem er sich für die dichterische Tat isoliert. Er muß um jeden Preis gesElischaftliche und geistige Unabhängigkeit erlangen, er muß lernen, sowohl mythisch wie rational zu denken und sich nie von den seltsam unzoologischen Tieren überraschen zu lassen, die in seinen magischen Kreis kommen. Sie kommen nicht, um zu erschrecken, sondern um sich befragen zu lassen.
Falls die Besucherin zum Beispiel eine Chimäre (»Ziege«) ist, wird der Dichter sie an ihrem Löwenkopf, ihrem Ziegenkörper und ihrem Schlangenschwanz als karisches Kalendertier erkennen - eine Abart der geflügelten Ziege, auf der, wie Clemens von Alexandria erzählt, Zeus in den Himmel aufflog. Die Chimaira war die Tochter Typhons, des zerstörenden Sturmgottes und der Echidne, einer winterlichen Schlangengöttin; die Hethiter hatten sie von den Karern übernommen, und sie schnitzten ihr Bildnis in eine Tempelfassade zu Karchemisch am Euphrates. Auch Kerberos, eine fälschlich als Hund bezeichnete Hündin, könnte im magischen Kreis erscheinen: ein sinnverwandtes Tier mit den üblichen drei Häuptern - Löwin, Luchsin und Sau. Der Luchs ist ein Herbsttier, von dem Gwion vermutlich in seinem Can Y Meirch spricht, wenngleich er vielleicht auch die Palug-Katze meint, die Katzen-Demeter von Anglesea: »Ich war eine Katze mit geflecktem Kopf auf einem gegabelten Baum.«
Das Einhorn mag dem Dichter Rätsel aufgeben. Aber das Einhorn aus Plinius' Erzählung - das im heraldischen Einhorn des britischen Königswappens verkörpert ist, nur daß dessen Horn eine gerade weiße Spirale ist - ist im Hinblick auf den Kalender gut zu verstehen: es steht ein für das Sonnenjahr des Boibel-Loth-Alphabets mit seinen fünf Jahreszeiten. Sein Horn steht an den Hundstagen im Zenit, und es ist ein Symbol der Macht. »Ich will dein Horn erhöhen.« Es steht ein für die Jahreszeit E, die dann beginnt; während der Hirschkopf für die Jahreszeit I steht, in der der Hirsch gejagt wurde; der Pferdekörper für die Jahreszeit A, zu deren Beginn das Oktoberpferd in Rom geopfert wurde; die Elefantenfüße für die Jahreszeit O, in der die Erde ihre größte Kraft hervorbringt; der Löwenschwanz (Ura) für die Jahreszeit U. Das Tier, von dem das Horn stammt, war ursprünglich wohl das Rhinozeros, das wohl ungeheuerlichste Tier der Welt - »und wer den Weg von Tom Rhinozeros kreuzt, tut etwas, das der Panther nicht wagt« - aber weil es so schwierig war, ein Rhinozeroshorn zu erlangen, gaben die Händler aus Plinius' Tagen die langen gebogenen Hörner des Spießbocks betrügerisch als »Hörner des Einhorns« aus. Plinius, der wie alle Römer Abscheu und Mißtrauen gegen Fabeltiere hegte und das Einhorn als echte zoologische Gattung bezeichnet, muß wohl ein solches Horn gesehen haben. In Britannien aber wurde das Horn des Narwals für das Horn des Einhorns gehalten, und zwar wegen seiner weißen Färbung und großen Härte und weil es in Form der Unsterblichkeitsspirale gebogen ist, auch weil der Gott des Jahres unter seinen verschiedenen Namen stets aus dem Meer kommt - wie Gwion in seinem Angar Cyvyndawd sagt: »Aus der Tiefe kam er in das Fleisch.«  Der Narwal heißt folglich das »Meereseinhorn«. Etliche britische Mythographen aber, wie der im frühen siebzehnten Jahrhundert schreibende Thomas Boreman, übernahmen Plinius' Vorstellung: »Sein Horn ist hart wie Eisen und rauh wie eine Feile, gebogen und geringelt wie ein flammendes Schwert; sehr gleichmäßig, scharf und überall schwarz, außer an der Spitze.« Eine interessante Spielart des Einhorns ist das Wildeseleinhorn, das Herodot als echte zoologische Gattung ansah: Der Wildesel ist das Tier Sets, dessen Jahresfünftel zu Mittsommer seinen Höhepunkt erreicht und dessen Horn somit erhöht ist. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß Ktesias, jener Historiker des fünften Jahrhunderts v. Chr., der als erster Grieche über das Einhorn berichtete, sein Horn - in dem Werk Indika - in den Farben weiß, schwarz und rot schildert. Dies aber sind, wie wir aus dem Rätsel vom Maulbeerbaum und vom Kalb ersehen, das wir am Schluß des vierten Kapitels von Suidas zitierten, die Farben der Mondgöttin, der der Gott des Jahres untertan war. Das Einhorn hatte wahrscheinlich eine räumliche wie zeitliche Bedeutung, wiewohl der Raum immer in die vier Viertel des Horizonts, nicht in fünf Fünftel unterteilt wurde. Das quadratische Kreuz, ob einfach oder als Hakenkreuz oder Kreuzchenkreuz ausgeschmückt, versinnbildlichte seit unvordenklicher Zeit das höchste Maß an Herrschergewalt. Im minoischen Kreta war es ein Symbol von zentraler Bedeutung, und nur die Göttin und ihr königlicher Sohn, der König, durften es führen. In Teilen Indiens - wo die Göttin Kali verehrt wird, deren Riten eng verwandt sind mit jenen der kretischen und pelasgischen Großen Göttin und die die mächtigste aus einer Pentade von Gottheiten: Schiva, Kali, Vishnu, Surya und der Elefantengott Ganesa ist (die ungefähr der ägyptischen Pentade: Osiris, Horus, Isis, Set und Nephthys entspricht) - hat die Zahl fünf eine definitiv räumliche Bedeutung. Wenn beim Krönungsritual eines indischen Königs der zelebrierende Priester den König im Rahmen einer Wiedergeburtszeremonie mit einem sakralen Mantel, der »Mutterschoß« genannt, bekleidete, gab er ihm fünf Würfel und sagte: »Du bist der Herr. Mögen diese deine fünf Weltgegenden dir zufallen.« Die fünf Gegenden sind die vier Himmelsrichtungen der Erde sowie der Zenit.
Das eine erhöhte Horn des Einhorns stellt also die »obere Erdachse« dar, die unmittelbar vom König bis hinauf zum Zenit reicht, bis zum heißesten Punkt, den die Sonne auf ihrer Bahn erreicht. In der ägyptischen Architektur ist das Horn des Einhorns der Obelisk. Dieser hat eine rechteckige Basis, die sich zu einer Pyramidenspitze verjüngt: darin drückt sich die Herrschaft über die vier Himmelsrichtungen der Welt und über den Zenit aus. In flacherer Form ist es die Pyramide, und diese drückte ursprünglich nicht die Herrschaft des Sonnengottes aus, der ja nie von Norden her scheint, sondern die der Drelfältigen Göttin, deren weißes Marmordreieck das Grab ihres königlichen Sohnes von allen Seiten umschließt.
Kali hat, wie ihr Gegenstück Minerva, die Fünf als heilige Zahl. So spricht ihr Mystiker, der Dichter Ram Prasad,  sie an, während sie wie rasend auf Schivas hingestrecktem Leib tanzt:

»Mein Herz ist fünf Lotosblüten. Du füge diese fünf zu einer, tanze und schwelle in meiner Seele.«

Er bezieht sich damit auf den Kult der fünf Gottheiten, die in Wahrheit allesamt Kali-Kulte sind. Wir erinnern uns, daß sowohl Dionysos wie die lo von Argos, die heilige Weiße Kuh, die schließlich zur Göttin Isis wurde, angeblich Indien besuchten.
In den dionysischen Mysterien war der hircocervus, der Ziegenhirsch, das Symbol der Auferstehung, der Hoffnung des Menschen auf Unsterblichkeit, und offensichtlich erhoben die hyperboreischen Druiden, als sie Thessalien besuchten, den Ziegenhirsch, der ja wiederum mit den Äpfeln in Verbindung steht, zu ihrem unsterblichen weißen Hirsch oder ihrer Hinde, der/die ja ebenfalls mit den Äpfeln in Verbindung stand. Denn der Apfelbaum, ut dicitur, ist der Unterstand der weißen Hindin. Und von diesem Ziegenhirsch hat das Einhorn der Heraldik und der mittelalterlichen Kunst manchmal seinen Bart. Doch bei den christlichen Mystikern verlieh das griechische Ziegen-Einhorn aus Daniels Vision diesem einst friedfertigen Tier einen gewissen kämpferischen Geist.
In Britannien und Frankreich wurde der weiße Hirsch bzw. die weiße Hindin nicht vom Einhorn verdrängt; er erhielt sich in den Überlieferungen des Volkes und fungierte in den mittelalterlichen Romanzen als Symbol des Mysteriums. König Richard II. erkor einen »weißen Hirsch im Dickicht« zu seinem Panier. Und so fand das Tier seinen Weg auf die Namensschilder britischer Wirtshäuser. Manchmal trug es ein Kreuz zwischen den Hörnern, und so war es dem Hl. Hubertus, dem Schutzpatron der Jäger erschienen, der es eine Woche ohne Unterlaß durch den dichten Wald gejagt hatte, und auch dem Hl. Julian, dem Hospitaler. Mithin haben das Einhorn der Wüste und der weiße Hirsch des Waldes die gleiche mystische Bedeutung; doch im Zuge der hermetischen Bewegung des frühen siebzehnten Jahrhunderts wurden sie als Sinnbilder für Geist und Seele unterschieden. Die Hermetiker waren Neoplatoniker, die ihren Philosophenrock mit Bruchstücken halbvergessener bardischer Überlieferung aufputzten. In dem Book of Lambspring, einem seltenen hermetischen Traktat, zeigt eine Gravierung einen Hirsch und ein Einhorn, die im Wald beieinanderstehen. Der Text dazu lautet:

»Die Weisen sagen, wahrlich, daß es zwei Tiere im Walde gibt. Das eine ruhmreich, schön und flink, ein großer starker Hirsch; das andere ein Einhorn ... Wenden wir die Parabel unserer Kunst an, so nennen wir den Wald den Leib ... Das Einhorn wird immer der Geist sein. Der Hirsch begehrt keinen anderen Namen als den der Seele ... Wer es vermöchte, sie durch die Kunst zu zähmen und zu beherrschen, sie zusammenzuführen und sie in den Wald und wieder hervor zu führen, darf mit füglichem Recht ein Meister genannt sein.«

Und dann mag dem Dichter ein namenloses Tier erscheinen, mit einem golden bekrönten Hirschkopf, einem Pferdekörper und einem Schlangenschwanz. Es stammt aus einem gälischen Gedicht, das Carmichael in Carmina Cadelica veröffentlichte, einem Dialog zwischen der Braut und ihrem ungenannten Sohn.

Braut: Schwarz die Stadt dort hüben,
    Schwarz die darinnen sind;
    Ich bin der Weiße Schwan,
    Die Königin aller.

Sohn: Ich will in Gottes Namen reisen
    In Hirschgestalt, in Pferdegestalt,
    In der Gestalt der Schlange, in der Gestalt des Königs;
    Mehr Macht wird bei mir sein als wie bei allen andern.

Der Sohn ist offenbar der Gott des abnehmenden Jahres, wie die Reihenfolge Hirsch, Pferd und Schlange beweist.
Oder es fliegt dem Dichter ein Phönix in seinen magischen Kreis. Der Phönix - an dessen Existenz die Römer buchstäblich glaubten, wohl deshalb, so meine ich, weil seine Besuche beim Tempel von On-Heliopolis so selten und so kurz waren, daß niemand seine Existenz widerlegen konnte - war ebenfalls ein Kalendertier.

Die Ägypter hatten nämlich kein Schaltjahr: jedes Jahr wurde der überständige Bruchteil des verstrichenen Jahres im Sinn aufgespart, bis schließlich nach 1460 Jahren - ein »sothisches Jahr« genannt - all die Bruchteile sich zu einem ganzen Jahr summierten und die Festtage, die sich im Lauf der Jahrhunderte immer weiter verschoben (was mit ähnlichen Unbequemlichkeiten verbunden war, wie etwa die Neuseeländer sie mit ihrem mittsommerlichen Weihnachten erleben), wieder an den Platz rückten, an den sie ursprünglich gehörten. Dann konnte ein ganzes Jahr in den Annalen eingeschoben werden, und dies war Anlaß zu großer Freude: So wurde offenbar in On-Heliopolis, dem bedeutendsten Sonnentempel Ägyptens, ein Adler mit bunt bemalten Schwingen in einem Nest aus Palmzweigen zusammen mit Würzkräutern lebendig verbrannt, um das große Ereignis zu feiern.
Der Adler repräsentierte den Sonnengott, und die Steineiche war der Großen Göttin, seiner Mutter, heilig; die Sonne hatte ihren großen Umlauf vollendet, und der alte Sonnenadler kehrte daher in sein Nest zurück, um ein neues Phönix-Zeitalter einzuleiten. Die Sage erzählt, daß aus der Asche des Phönix ein kleiner Wurm geboren wurde, der sich sofort in einen echten Phönix verwandelte. Dieser Wurm waren die sechs Stunden und etlichen Minuten, die am Ende des Phönix-Jahres immer noch übrigblieben: in vier Jahren addierten sie sich zu einem ganzen Tag, einem Phönix-Küken. Aus Herodots verworrenem Bericht über den Phönix geht anscheinend hervor, daß zu OnHellopolls immer ein heiliger Adler gehalten wurde, der, wenn er verendete, in einem runden Ei von Myrrhe einbalsamiert wurde, das ihn für die Ewigkeit konservierte; dann wurde ein neuer Adler geweiht. Vermutlich wurden diese Myrrhe-Eier dem abschließenden Holokaust beigegeben. Daß der Phönix von Arabien hergef logen kam, braucht nicht mehr zu bedeuten, als daß die Sonne - für die Ägypter - aus der Wüste Sinai aufstieg. Es ist eine Ironie, daß die frühen Christen weiterhin an einen echten Phönix glaubten, den sie zu einem auferstandenen Christus stilisierten lange nachdem der Phönix gestorben war. Denn Kaiser Augustus hatte ihn ungewollt umgebracht, als er im Jahr 30 v. Chr. den ägyptischen Kalender stabilisierte.[1]
Auch eine Meute hochbeiniger weißer Gabrielshunde mit roten Ohren und rosa Schnauzen könnte auf ihrer Hetzjagd nach einer ungetauften Seele in seinen Gesichtskreis einbrechen. Trotz ihrer gespenstischen Erscheinung und ihres schlimmen Leumunds im britischen Mythos sind sie ordentliche zoologische Tiere. Sie sind die altägyptischen Jagdhunde, wie auf Gemälden in den Grabkammern abgebildet, die, obwohl in Ägypten ausgestorben, auf der Insel Ibiza noch heute gezüchtet werden, wohin sie ursprünglich von karthagischen Kolonisten mitgebracht wurden. Möglicherweise wurde die Rasse gegen Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. auch in Britannien eingeführt- zusammen mit den blauen ägyptischen Perlen, die sich in den Gräbern der Ebene von Salisbury fanden. Sie sind größer und schneller als »Greyhounds« und verfolgen die Fährte nicht nur mit der Nase, sondern auch mit den Augen; sobald sie ein Wild erspähen, geben sie ähnlich jaulende Laute von sich, wie Wildgänse besonders Bernikelgänse - sie vernehmen lassen, wenn sie in der Nacht hoch über den Himmel fliegen: ein Geräusch, das im Norden und Westen Englands als Omen des nahenden Todes gilt. Anubis, der Gott der Einbalsamierer, der die Seele des Osiris in die Unterwelt geleitete, war ursprünglich ein schweifender Schakal, der aber schließlich als edler Jagdhund abgebildet wurde, wobei nur sein buschiger Schwanz an seine Zeit als Schakal erinnerte.
Oder der nächtliche Besucher könnte ein Cherub sein. Der Cherub, der im ersten Kapitel Hesekiel vorkommt, ist ebenso eindeutig ein Kalendertier. Er hat vier Körperteile, die die »vier Neujahre« der jüdischen Überlieferung darstellen: Löwe für den Frühling, Adler für den Sommer, Mann für den Herbst, das bedeutendste Neujahr; und Ochse für Winter, die jüdische Zeit des Pflügens. Diesen Cherub identifiziert Hesekiel als feuriges Rad, und es ist ebenso eindeutig das Rad des Sonnenjahres, wie der Gott, dem es dient, eindeutig die Sonne der Gerechtigkeit ist, eine Emanation des Alten der Zeiten.
Zudem ist jeder Cherub - es sind ihrer vier - ein Rad am Wagen dieses Gottes und rollt ohne »herumlenken« zu müssen nach allen vier Seiten geradeaus. Hesekiels Zusammenfassung: »und waren alle vier eines wie das andere, als wäre ein Rad im andern«, ist ja sprichwörtlich für seine Unvorstellbarkeit geworden. Ein einfacherer Sinn aber ergibt sich aus dem Kalender. Jedes Rad an dem Wagen Gottes ist der Jahreszyklus oder das Rad der fünf Jahreszeiten; und die Ankunft des Wagens leitete einen Zyklus oder ein Rad von vier Jahren ein. Tatsächlich dreht jedes Jahr sich in einem Rad von vier Jahren, von Anfang bis zu Ende der Zeiten: und der ewige Wagenlenker ist der Gott Israels.
Wenn Hesekiel in den Cherub-Rädern selbst die bewegende Kraft des Wagens erkennt, dann vermeidet er es, ein Engels-Roß zwischen die Deichseln stellen zu müssen: er erinnert sich daran, daß die von Pferden gezogenen Votivwagen, die König Manasse im Tempel von Jerusalem aufstellte, von dem guten König Josia als Idole entfernt worden waren. Hesekiels Adler aber sollte eigentlich ein Widder oder eine Ziege sein, und sein Mann eine menschengesichtige Feuerschlange mit Adlerschwingen für jedes dieser vier Wesen. Den Grund für diese falsche Darstellung werden wir noch im letzten Kapitel erfahren.
Die Farbe dieser strahlenden, himmelsgeborenen Cherubim war der apollonische Bernstein, wie die des Mannes, dem sie dienten. Sie mochten Gehilfen des hyperboreischen Apollon-Sonnengottes sein, dessen Sakraljuwel der Bernstein war. Zudem endete jede der Radspeichen in einem Kalbsfuß; und das goldene Kalb war das heilige Tier des Gottes, der, wie König Jerobeam glaubte, das Volk Israel aus Ägypten geführt hatte, wie es ja auch das heilige Tier des Gottes Dionysos war, des sich wandelnden Teils des unwandelbaren Apollon.
Diese offenbare Gleichsetzung Jahwes mit Apollon beunruhigte die Pharisäer, wenngleich sie nicht wagten, die Vision zu bezweifeln. Es ist überliefert, daß ein Schüler, der die Bedeutung von haschmal (= Bernstein; »haschmal« ist das neu-hebräische Wort für Elektrizität, während »Elektrizität« aus einem griechischen Wort für Bernstein abgeleitet ist) erkannte und unvorsichtigerweise darüber sprach, vom Blitz getroffen wurde (Haggada, 13.B). Aus diesem Grund durfte der Mischnasch zufolge nur der über die Ma'aseh Merkabah (»Werke des Wagens«) belehrt werden, der nicht nur weise, sondern auch imstande war, Wissen durch eigene Weisheit (»Gnosis«) abzuleiten, und bei dieser Unterweisung durfte sonst niemand anwesend sein. Und »derjenige, der von den Dingen spricht, die davor, dahinter, darüber und darunter sind, dem wäre besser, er wäre nie geboren«. Alles in allem hielt man es wohl für das Sicherste, die Merkabah ganz in Ruhe zu lassen, zumal prophezeit worden war, daß »in der Fülle der Zeit Hesekiel wiederkommen und Israel die Kammern der Merkabah erschließen« werde. (Cant. Rabbah, 1,4).
Es lehrten also nur wenige bekannte Rabbinen das Geheimnis, und sie unterwiesen nur ganz ausgewählte Schüler; unter ihnen Rabbi johanan ben Zadkal, Rabbi josua (zweiter Vorsitzender der Sanhedrin unter Gamaliel), Rabbi Akiba und Rabbi Nehunia. Rabbi Zera sagte, daß elf Kapitelüberschriften der Merkabah nicht mitgeteilt werden dürften, außer an jemanden, der Vorsteher einer Schule und von vorsichtigem Temperament wäre. Rabbi Ammi sagte, die Lehre dürfte nur jemandem anvertraut werden, der alle fünf Eigenschaften besitze, die in Jesaja 3,3, aufgezählt sind: Hauptleute über fünfzig und vornehme Leute, Räte und weise Werkleute und kluge Redner. So entwickelte sich der Glaube, daß die Aufdeckung des Geheimnisses der Merkabah das Erscheinen Jahwes bewirken würde. »Rabbi Johanan ben Zadkal ritt auf seinem Esel die Straße entlang, während sein Schüler Eleazar ben Arak hinter ihm ging. Sagte Rabbi Eleazar: ~Meister, belehrt mich über die Werke des Wagens.< Rabbi Johanan weigerte sich. Rabbi Eleazar sagte abermals: >Ist es mir erlaubt, in Eurer Gegenwart etwas zu wiederholen, was Ihr mich bereits gelehrt habt?< Rabbi Johanan stimmte zu, stieg aber von seinem Esel ab, hüllte sich in seinen Mantel und setzte sich auf einen Stein unter einen Olivenbaum. Er erklärte, es sei unziemlich, daß er reite, während sein Schüler ein so ehrfurchtgebletendes Geheimnis erörtere und während die Schechim (>die Helligkeit<) und die Malache haSchareth (>die Aufwartenden Engel<) sie begleiteten. Kaum hatte Rabbi Eleazar seine Ausführungen begonnen, fiel Feuer vom Himmel herab und schloß sie und das ganze Feld ein. Die Engel versammelten sich, um zu lauschen, wie die Söhne der Menschen sich versammeln, um an den Festlichkeiten einer Hochzeit teilzunehmen; und in den Terebinthenbäumen war ein Gesang: >Lobet den Herrn, von der Erde empor, ihr Drachen und alle Tiefen, fruchtbare Bäume und alle Zedern, lobet den Herrn!< Worauf ein Engel aus dem Feuer antwortete und sagte: >Dies sind die Werke des Wagens!< Als Eleazar geendigt hatte, stand Rabbi Johanan auf und küßte ihn auf die Stirn. Er sagte: >Gelobt sei der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, denn er hat unserem Vater Abraham einen weisen Sohn geschenkt, der über den Ruhm unseres Vaters im Himmel zu sprechen weiß.<«
Ähnliche Erfahrungen hatten Rabbi Jose-ha-Kohen und Rabbi Josua. Und Rabbi Ben Azzai saß einmal und meditierte über den Schriften, als plötzlich eine Flamme ihn einhüllte. Seine Schüler rannten zu Rabbi Akiba, der herbeikam und zu Azzai sagte: »Studiert Ihr die Geheimnisse der Merkabah?«
Doch die Juden hatten das Geheimnis nicht monopolisiert. Makrobios zufolge benannte das Orakel von Kolophon, einer der zwölf lonischen Städte in Kleinasien, die Natur des transzendentalen Gottes lao als vierfältig. Im Winter war er Hades oder Kronos; im Frühling Zeus; im Sommer Helios (die Sonne); im Herbst lao oder Dionysos. Diese Überlieferung war wohl Bestandteil der in unserem fünfzehnten Kapitel erwähnten Unterweisung, die Zyprian von Antiochien auf dem Olymp durch seine sieben Mystagogen erfuhr. lao wurde in der orphischen Religion auch als der vieräugige Phanes (von phaino, »Ich erscheine«) bezeichnet, der erstgeborene unter den Göttern. In dem orphischen Fragment 63 wird er mit vier goldenen Schwingen und mit den Köpfen von Widder, Stier, Schlange und Löwe geschildert. An seiner Seite waren Stierköpfe angebracht, um seine erste Natur zu bezeichnen, und er trug eine große Schlange als Kopfschmuck, der »jeglichem wilden Getier glich«.
Hier dürfen wir eine kühne Gleichsetzung des Cherubs mit dem kreisenden Rad vornehmen, das die Paradiese der keltischen Legende bewacht: denn laut Genesis  3,24 standen die Cherubim vor dem östlichen Tor Edens. Sie waren bewaffnet mit dem »wirbelnden Schwert Jahwes« - jenem, mit dem er (laut Jesaja 27, 1) den Drachen tötete, ähnlich wie Marduk den Tiamat getötet hatte - um jedermann vom Eintreten abzuhalten. Das Paradies, wie Hesekiel es uns beschreibt (Kap. 28,13-16), ist ein wohlbewässerter Garten am Fuß eines Hügels, den Helden wie etwa der König von Tyrus gelegentlich aufsuchen. Er glänzt mit köstlichen Edelsteinen und ist ein Ort der Pauken und Pfeifen. Gwion verlegt ihn, wie wir sahen, in das Tal Hebron. Die Seraphim oder »feurigen Schlangen«, mit denen die Cherubim Rechte und Pflichten teilen, sind offenbar nur ein anderer Ausdruck für die heiligen Spiralen, die als Warnung auf die Pforte der heiligen Umfriedung geschnitzt sind; die Cherubim, die sich ja von ihnen unterscheiden, waren vermutlich Swastikas oder Feuerräder.
Der König von Tyrus, den Hesekiel erwähnt, ist leicht als der kanopische Herakles wiederzuerkennen, ursprünglich ein ägäischer Sonnenheros, der als Melkarth, der Hauptgott von Tyrus, semitisiert wurde. Das Inselchen vor Tyrus war, so glaubt man, im zweiten Jahrtausend v. Chr. die wichtigste Zwischenstation der Seevölker bei ihrem Handel mit Syrien; ähnlich wie Pharos es bei ihrem Handel mit Ägypten war. Hesekiel, der von der ursprünglichen Verwandtschaft zwischen den Kulten des Melkarth und des Jahwe wußte, erklärte, daß es zwischen Jerusalem und Tyrus kein religiöses Einvernehmen mehr geben könne, wie noch in den Tagen Salomos und Hirams. König Hiram von Tyrus war wie Salomo, dem er an Weisheit gleichkam, ja ihn sogar noch übertraf, ein Priester des Melkarth, und nun gesteht Jahwe durch den Mund Hesekiels: »Du bist ein reinliches Siegel, voller Weisheit und über die Maßen schön.« Dem gegenwärtigen König von Tyrus aber wirft er die Sünde vor, behauptet zu haben, er sei ein Gott, der unsterbliche Melkarth, und die Strafe für diese Anmaßung ist der Tod. Dies ist eine indirekte Warnung an Hesekiels eigenen König Zedekia von Juda, einen Nachfahren Salomos, sich nicht durch den Tyrer zu ähnlicher Anmaßung verführen zu lassen und etwa zu behaupten, Jahwe zu sein. (Zedekia hört aber nicht auf die Warnung, und der »gemeine böse Fürst« stirbt blind und in Ketten zu Ribla, der Hauptstadt seiner kultischen Widersacher. Er war der letzte König von Juda.) Und so beklagt Hesekiel den Melkarth, weil er, trotz seiner ursprünglichen HeiIigkeit und Weisheit, wie Adam vom Cherub aus dem Paradies vertrieben wurde und jetzt zu Asche verbrannt werden müsse. Genau dies war natürlich Melkarths Schicksal: In der griechischen Sage zog er zum Apfelhain des Westens zum Garten der Hesperiden - mußte sich aber dem Herold Kopreus beugen und auf die Wonnen des Gartens verzichten; er endete auf dem Scheiterhaufen des Berges Oeta.
Die poetische Verbindung zwischen dem Cherub und der Verbrennung des Herakles Melkarth liegt darin, daß der Scheiterhaufen von einem Cherub entzündet wurde, und das heißt, durch das Herumwirbeln eines Feuerrades in der Form einer Swastika, das an einem Drill befestigt war. Diese Methode, mittels Drillen einer Eichenbohle Feuer zu machen, hat sich auf den schottischen Highlands bis ins achtzehnte Jahrhundert erhalten, allerdings nur beim Entzünden des Notfeuers von Beltane, dem wunderbare Kräfte zugeschrieben wurden. Als Drillstab wurde oft der Weißdorn genommen, das Holz der Keuschheit. James Frazer beschreibt in Der goldene Zweig ausführlich die Notfeuerzeremonie und weist nach, daß sie ursprünglich im Opfer eines Menschen gipfelte, der den Eichengott vertrat. In manchen schottischen Kirchspielen hieß das Opfer sogar »Baal«, was Melkarths üblicher Titel war.
Wir sehen also, daß Hesekiel ein Meister der zweideutigen Rede ist. Er macht aus dem Schicksal des Herakles ein Symbol für die nahende Zerstörung Tyrus' durch König Nebukadnezar von Babylon - zur Strafe für das Laster des Stolzes, der, seit die Stadt zu kommerziellem Wohlstand aufstieg, »mit der Menge deiner Ware und deiner Kaufmannschaft machtest du reich die Könige auf Erden« (Hes. 27,3 3) deren Herrscher korrumpierte.

Aber nicht alle mehrfach zusammengesetzten Tiere sind Kalendertiere. Die Sphinx zum Beispiel, mit dem Gesicht einer Frau, einem Löwenkörper und Adlerschwingen ist Ura oder die Göttin Urania, die über Luft und Erde herrscht und die ihre Herrschaft auf ihren Sohn, den König, überträgt; und der assyrische geflügelte Stier mit seinem Männerkopf ist das patriarchalische Gegenstück zur Sphinx. Es ist wahrscheinlich, daß eine ikonotropische Fehldeutung des assyrischen Flügelstieres für die merkwürdigen Details des Wahnsinns von König Nebukadnezar verantwortlich sind, wie das Buch Daniel sie schildert:
»Vater, was ist das?«
»Es ist eine alte Statue, mein Sohn, sie stellt den König Nebukadnezar dar, der vor mehr als dreihundert Jahren unsere Vorfahren in die Gefangenschaft führte, weil sie Gott den Herrn erzürnt hatten. Danach, so heißt es, verlor er für neunundvierzig Monate seinen Verstand und wanderte wie ein wildes Tier in seinen herrlichen Palastgärten umher.«
»Sah er wirklich so aus?«
»Nein, mein Sohn. Es ist eine symbolische Statue. Sie besagt, daß er etwas vom Wesen der Tiere hatte, von denen Körper und Glieder der Statue sind. «
»Dann fraß er also Gras wie ein Ochse und flatterte mit den Armen wie mit Flügeln und grub die Erde auf mit seinen Nägeln und blieb die ganze Nacht draußen im Regen und ließ sich nie seine Haare schneiden?«
»Gott hat noch seltsamere Weise, mein Sohn, sein Mißfallen zu zeigen.«
Die ägyptische Sphinx wurde maskulinisiert, wie der assyrische geflügelte Stier; denn der Pharaonenkult war patriarchalisch, wenngleich auch matrilinear. Doch die pelasgische Sphinx blieb weiblich. »Sphinx« bedeutet »Erdroß«, und auf etruskischen Keramiken ist sie meist abgebildet, wie sie Männer ergreift oder auf ihren hingestreckten Leibern steht, denn gänzlich offenbarte sie sich nur am Ende der Regierungszeit eines Königs, wenn sie seinen Atem erstickte. Nachdem sie als Beherrscherin des Jahres von Zeus und Apollon abgelöst war, führte diese künstlerische Konvention dazu, daß sie in Griechenland mit Krankheit und Tod assoziiert und als Tochter des Typhon bezeichnet wurde, dessen Atem der ungesunde Scirocco war. Apollons Anspruch, Beherrscher des Jahres zu sein, wurde unterstrichen durch die Sphinxen an seinem Thron zu Amyklai, wie auch der gleiche Anspruch des Zeus durch die Sphinxen an seinem olympischen Thron hervorgehoben wurde was als Trophäe seines Sieges als Typhon zu verstehen ist. Athene aber trug sie noch an ihrem Helm, denn sie war einst selbst eine Sphinx gewesen.

Es könnte auch ein Schwarm Sirenen auf Vogelschwingen in den magischen Kreis geflogen kommen. Nachdem ich schon im zwölften Kapitel zu vermuten wagte, »welchen Namen Achilles annahm, als er sich unter den Frauen verbarg - eine rätselhafte Frage zwar, doch nicht aller Vermutung bar«, drängt mich die poetische Inspiration, auch jene andere Frage zu beantworten, die Thomas Browne mit ihr verband: »Welches Lied sangen die Sirenen?« Die Sirenen (»Verwirrer«) waren eine Trias - vielleicht ursprünglich eine Enneade, denn Pausanias erzählt, daß sie einst vergeblich mit den neun Musen rivalisierten , und sie lebten auf einer Insel im lonischen Meer. Platon zufolge waren sie die Töchter des Phorkus (d. h. der Phorkis, der Sau-Demeter); andere meinen, sie wären Töchter der Kalliope oder einer anderen der Musen gewesen. Ovid und Hygin bringen sie mit dem sizilischen Mythos von Demeter und Persephone in Verbindung. Ihre Namen werden verschiedentlich als »Verfolgerin«, »Strahlendes Gesicht« und »Behexerin« genannt; oder als »Jungfrauengesicht«, »Schrille StiImme« und »Die Geweißte«. Ihre Flügel waren möglicherweise Eulenflügel, denn Hesych erwähnt eine Eulenart, die er »Sirenen« nennt, und wie Homer erzählt, hausten in Kalypsos erlenumgürteter Insel Ogygia neben den orakelkündenden Lachmöwen auch Eulen. Noch in klassischer Zeit war ihnen ein Tempel bei Surrentum geweiht.
Aus alledem ergibt sich, daß sie wohl ein Konvent von neun orgiastischen Mondpriesterinnen waren, Hüterinnen eines Insel-Orakelschreins. Ihr Lied, bestehend aus neun Strophen, läßt sich auch ohne Zuhilfenahme von Samuel Daniels beeindruckender Dichtung Ulysses and the Sirens rekonstruieren, und zwar nach dem Vorbild ähnlicher Lieder in der alt-Irischen Literatur: Zum Beispiel »The Sea God's Address to Bran«, in The Voyage of Bran, Son of Febal, und »Mider's Call to Befind«, in The Wooing of Etain. Beide Gedichte sind leicht christianisierte Versionen eines alten Themas, der Reise des Erlen- und Krähen-Heros Bran (Kronos) zu seiner Insel Elysium. Im ersten Gedicht ist der Sprecher ursprünglich wohl die Inselkönigin, nicht der Meergott. im zweiten haben Befind und Mider eindeutig die Rollen gewechselt, denn ursprünglich erging die Einladung von der Prinzessin an den Heros, nicht umgekehrt. Aus Homers Geschichte vom danaischen Odysseus und den Sirenen geht hervor, daß Odysseus (»der Wütende«, laut Homer) ein Titel des Kronos war und sich auf sein mit dem Farbstoff der Erle künstlich gerötetes Gesicht bezog. Die Geschichte, wonach Odysseus sich die Ohren mit Wachs verstopfte, um den Gesängen der Sirenen zu widerstehen, hat ihren Ursprung wahrscheinlich im späten dreizehnten Jahrhundert v. Chr., als ein Sakralkönig von Ithaka, Kronos' Stellvertreter, sich am Ende seiner Regierungszeit zu sterben weigerte. Dies würde auch erklären, warum er alle Freier um die Hand Penelopes tötete, nachdem er sich während der üblichen zeitweiligen Abdankung in Schmutz und Lumpen getarnt hatte.

Der Sirenen Willkommensgruß an Kronos
Kronos Odysseus, lenke dein Boot
Zur Silberinsel, wo wir singen:
Hier sollst du deine Zeit verbringen.

Durch einen dichten Erlenwald
Sehen wir klar, doch sind wir nicht zu sehen,
Versteckt in einem goldnen Nebel.

Unser Haar die Farbe von Gerstengarben,
Unsre Augen die Farbe von Drosseleiern,
Unsre Wangen wie Narzissen.

Hier blüht der wilde Apfel noch,
Zaunkönige spiel'n in Silberzweigen
Und prophezei'n dir wohl.

Nichts Böses, Rauhes find't sich hier.
Kronos Odysseus, lenk dein Boot
Durch diese milden Wasser.

Bei jeder von uns sollst du liegen,
Vergnügen dich auf jungem Gras,
Das deines Kommens harrt.

Kein Kummer, Trübnis, Krankheit oder Tod,
Stört unsre lange Ruhe;
Und kein Verrat, kein Neid.

Was sind, verglichen mit dem hier, die Ebenen
Von Elis, wo du einst als König herrschtest?
In Wahrheit eine Wildnis.

Dein Haupt erwartet eine Sternenkrone,
Ein Heldenmahl ist schon für dich bereit't,
Mit Schweinefleisch und Milch und Met.

Die Sirenen sind die Vögel der Rhiannon, die im Bran-Mythos zu Harlech sangen.
Wenn aber der Besucher des magischen Kreises die alte Nachtmahr ist...? Was daraus folgt, ist ein Gedicht, das ich in Prosa wiedergeben will: Falls die Besucherin die Nachtmahr ist, wird der Dichter sie an diesem Zeichen erkennen: sie wird als kleine, feurige Mähre erscheinen, nicht mehr als dreizehn Spannen hoch, von jener Rasse, die wir von den Elgin Marbles [2] her kennen: cremefarben, mit schlanken Gliedern, einem langen Schädel, blau schimmernden Augen, fliegender Mähne und wehendem Schweif. Ihre Neunfältigkeit werden neun Fohlen sein, die ihr gleichen, nur daß ihre Hufe von gewöhnlicher Form sind, während ihre eignen in fünf Zehen gespalten sind, wie jene von Julius Caesars Streitroß. Um ihren Hals hängt ein schimmernder Harnisch von der Art, die die Archäologen lunula oder Möndchen nennen: eine dünne Scheibe aus Wicklow-Gold, in Halbmondform ausgeschnitten, mit ausgreifenden und an den Enden gebogenen Hörnern, die hinter ihrem geschwungenen Hals mit einem Geflecht aus scharlachrotem und weißem Linnen zusammen gehalten sind. Von ihr sagt Gwion in seinem Song of the Horses, [3]   das irrtümlich in das Câd Goddeu (Zeilen 206-209) aufgenommen wurde und das eigentlich aus dem Mund der Göttin selbst kommen sollte:

Stattlich ist das gelbe Pferd,
Aber hundert Male besser
Ist mein cremefarbenes,
Flink wie eine Sturmmöwe...

Ihre Geschwindigkeit, wenn sie die Ohren anlegt, ist in der Tat wundersam; kein hochbeiniger Vollblüter auf Erden kann lange mit ihr Schritt halten und der Beweis dafür ist der erbärmliche Zustand, in dem von Hexen gerittene Pferde beim ersten Hahnenschrei in den Stallungen entdeckt wurden, aus denen sie für eine mitternächtliche Lustpartie entführt worden waren: mit fliegendem Schweiß, keuchend wie Blasebälge, mit blutenden Flanken und Schaum vor den Mäulern, beinah umsinkend.
Der Dichter möge sie als Rhiannon, als »Große Königin« ansprechen und sich vor der Unhöflichkeit Odins und St. Switholds hüten; er soll sie mit ebenso liebevollem Respekt begrüßen, wie Kemp Owyne in der Ballade ihn Laidley Worm erwies. Sie wird ihm mit lieblicher Gefälligkeit antworten und ihm die Runde ihrer Nester zeigen. Eine Frage, die ich selbst ihr gern stellen würde, ist eine persönliche: ob sie jemals sich selbst als menschliches Opfer dargebracht hat? Ihre einzige Antwort, glaube ich, würde ein lächelndes Kopfschütteln sein, das bedeutet: nicht eigentlich; denn Fälle von Ritualmord an Frauen sind selten im europäischen Mythos, und die meisten beziehen sich offenbar auf die Entweihung von Tempeln der Göttin durch die achäischen Einwanderer. Daß es wohl blutige Massaker und Vergewaltigungen an Priesterinnen gab, zeigen die tirynthischen Kämpfe des Herakles mit den Amazonen, ja mit Hera selbst (er verwundete sie an der Brust), und mit der neunköpfigen Hydra, einem Tier, das auf griechischen Vasen als riesige Krake mit Köpfen an den Enden aller Tentakeln abgebildet ist.

So oft er die Köpfe der Hydra abschlug, wuchsen sie nach, bis er die Stümpfe mit Feuer verschmorte: mit anderen Worten, die Angriffe der Achäer auf die Tempel, deren jeder von neun bewaffneten orgiastischen Priesterinnen behütet wurde, blieben erfolglos, bis die heiligen Haine niedergebrannt waren. Hydrias heißt eine Wasserpriesterin mit einer hydria, einem rituellen Wasserkessel; und die Krake war ein Fisch, der auf der Göttin gewidmeten Kunstwerken nicht nur im minoischen Kreta, sondern auch auf bretonischen Skulpturen aus der Bronzezeit zu sehen ist.
Sagen von Prinzessinnen, die, wie lphigenie oder Jephthas Tochter, aus religiösen Gründen geopfert wurden, beziehen sich auf die nachfolgende patriarchalische Epoche; und das Schicksal, das angeblich Andromeda, Hesione und all den anderen, gerade im rechten Augenblick von Heroen geretteten Prinzessinnen zugedacht war, geht wahrscheinlich auf einen ikonotrophischen Irrtum zurück. Die Prinzessin ist nicht als Opfer der Seeschlange oder des wilden Tieres bestimmt; sie wird von Bel, Marduk, Perseus oder Herakles nackt an die Meeresklippe gekettet, nachdem der Held das Ungeheuer besiegt hat, das in Wirklichkeit ihre Emanation ist. Doch das Tabu, eine Priesterin zu töten, wurde möglicherweise bei gewissen seltenen Anlässen theoretisch aufgehoben: zum Beispiel am Ende jedes Säkulums, alle hundert oder hundertzehn Jahre, wenn die Priesterin der Karmenta - wie Dionysios Periergetes berichtet - ihr Leben endete und der Kalender revidiert wurde.  Von diesem Tod erzählen offenbar die deutschen Volksmärchen von Dornröschen und Schneewittchen. In der ersten Geschichte werden zwölf weise Frauen zum Geburtstag der Prinzessin geladen; elf überschütten sie mit Segenswünschen, eine dreizehnte - ihr Name ist »Held« - die nicht eingeladen war, weil es nur zwölf goldene Teller im Palast gab, verwünscht sie und prophezeit, sie werde in ihrem fünfzehnten Jahr den Tod durch den Stich einer Spindel finden. Die zwölfte aber verwandelt diesen Tod in eine hundertjährige Trance, aus der der Prinz sie mit einem Kuß errettet, nachdem er durch eine unheimliche Dornenhecke eingedrungen ist, in der alle anderen umkamen. Aber die Dornen verwandeln sich, während er hindurchschreitet, in Rosen. Held ist das skandinavische Gegenstück zu Hera, von deren Name das Wort »Heros« abgeleitet ist, wie »Held« ja im Deutschen soviel wie »Heros« bedeutet. Der dreizehnte Monat ist der Todesmonat, der unter der Herrschaft der drei Schicksalsgöttinnen, Parzen oder spinnenden Nornen steht, also muß es eine Eibenspindel gewesen sein. Fünfzehn ist, wie wir sahen, eine Zahl der Vollkommenheit: drei mal fünf.
In der Geschichte vom Schneewittchen versucht eine eifersüchtige Stiefmutter, der ältere Aspekt der Göttin, die junge Prinzessin zu ermorden. Zuerst wird sie in den Wald geführt, wo sie getötet werden soll, aber der Jäger bringt statt dessen Lunge und Leber eines jungen wilden Ebers zum Beweis der Tat mit heim; ähnlich wurde, einer Sagenversion zufolge, in Aulis eine Hirschkuh anstelle lphigeniens geopfert. Dann versucht es die Stiefmutter, die ihr Gesicht schwärzt, um zu zeigen, daß sie die Todesgöttin ist, mit einem Zwangsgürtel, einem vergifteten Kamm und schließlich mit einem vergifteten Apfel; und Schneewittchen wird, als wäre sie tot, auf dem Gipfel eines bewaldeten Hügels in einen gläsernen Sarg gelegt. Aber sogleich wird sie vom Prinzen gerettet. Die sieben Zwerge, ihre Begleiter, Bearbeiter kostbarer Metalle, die sie vor den ersten Anschlägen auf ihr Leben gerettet hatten und an die Telchins erinnern, stehen womöglich für die sieben heiligen Bäume des Hains oder für die sieben Himmelskörper ein. Der Glassarg ist die bekannte gläserne Burg, nach der die Helden ziehen, um sich von der Göttin des Lebens-im-Tod bewirten zu lassen, und Kamm, Glas, Gürtel und Apfel, die in der Geschichte vorkommen, sind ihre wohlbekannten Requisiten; die Eule, der Rabe und die Taube, die sie betrauern, sind ihre heiligen Vögel. Solche Tötungen sind daher nur gespielt - denn die Göttin ist einfach unsterblich - und werden möglicherweise während der Schalttage oder -stunden am Ende des heiligen Säkulums mit dem Opfer eines jungen Schweines oder einer Hirschkuh inszeniert; dann aber ist das alljährliche Drama vollendet, während der verliebte Prinz sich, wie bekannt, gegen die asketischen Einschränkungen des Weißdorns auflehnt und im Eichenmonat endlich die Freiheit hat, zu tun, was ihm beliebt - im Monat der Heckenrose, da seine Braut freudig die halbgeschlossenen Augen aufschlägt und lächelt.

Texttyp

Studien