Warum rufen die Dichter die Muse an?
Milton faßt in den ersten Zeilen seines Paradise Lost kurz die klassische Tradition zusammen und verkündet seine Absicht, sie als Christ zu transzendieren:
Singe, himmlische Muse, die du, auf heimlichen Gipfeln
Des Oreb oder des Sinai, einst inspiriertest
Jenen Hirten, der einstmals dem erwählten Samen kundgetan,
Wie am Anfang Himmel und Erden sich
Aus dem Chaos erhoben: Oder, falls der Berg Sion
Dich mehr entzückt, und Siloas Bach, der strömte rasch
Vor dem Orakel Gottes: Dann also
Ruf ich deine Hilfe an zu meinem kühnen Lied,
Das wohl den mittlern Flug verschmähend sich erheben will
Über den Äonidischen Berg, nach Dingen strebend,
Die nie versucht wurden in Prosa oder Reim.
Der Äonidische Berg ist der Helikon in Boötien, ein etliche Meilen östlich vom Parnaß gelegener Berg, der in klassischer Zeit als »Sitz der Musen« bekannt war. Das Adjektiv »äonidisch« ist eine Anspielung auf eine denkwürdige Zeile aus Vergils Georgica:
Aonio rediens deducam vertice Musas,
gesprochen von Apollon, dem Gott der Dichtung, der in Vergils Zeit auch als Sonnengott galt. Die Zeile heißt zu deutsch: »Bei meiner Rückkehr werde ich die Musen vom Gipfel des Berges Helikon herabführen.« Apollon spielt damit auf die Verpflanzung des Musen-Kults von Askra, einer Stadt auf den Vorbergen des Helikon, nach Delphi auf dem Parnaß an, einer Stadt, die ein ihm selbst heiliger Ort geworden war. Auf dem Helikon entsprang die Quelle Hippokrene, »Pferdebrunnen«, die die Form eines Hufeisens hatte. Es ging die Sage, daß sie vom Huf des Rosses Pegasos ausgestampft worden war, dessen Name »von den Wasserquellen« bedeutet. Die Dichter, so heißt es, trinken aus der Hippokrene, um Inspiration zu erlangen. Daher John Skeltons Zeilen (Against Garnesche):
Ich gab ihm von geheimer Quelle
Des Helikons kristall'nes Wasser. (...)
Wir dürfen wohl annehmen, daß die Brunnen Hippokrene und Aganippe ursprünglich vom mondförmigen Huf der Leukippe (»Weiße Mähre«), der Pferdeköpfigen Mutter selbst ausgestampft worden waren und daß die Geschichte, wonach Bellerophon, der Sohn des Poseidon, den Pegasos meisterte und danach die dreigestaltige Chimaira tötete, in Wirklichkeit von der Eroberung des Tempels der Göttin durch die Achäer erzählt.
Tatsächlich hieß Pegasos ursprünglich Aganippe. Aganos ist ein homerisches Adjektiv, angewandt auf die Pfeile der Artemis und des Apollon, und es bedeutet »einen gnädigen Tod gebend«; also könnte Aganippe bedeuten: »Die Mähre, die gnädig vernichtet«. Diese Vermutung wird bestärkt durch die griechische Sage von der Verfolgung der Gerste-Mutter Demeter durch den achäischen Gott Poseidon. Um seiner Zudringlichkeit zu entgehen, tarnte Demeter sich als Stute und verbarg sich zwischen den Pferden des Arkadiers Onkios, doch Poseidon verwandelte sich in einen Hengst und deckte sie; ihr Zorn über diesen Frevel soll erklären, warum ihre Statue zu Onkeum sie als Demeter Erinnys - die Furie Äì zeigt.
Demeter als Stuten-Göttin wurde auch bei den gallischen Kelten unter dem Namen Epona oder »Die Drei Eponae« verehrt, und in Giraldus Cambrensis' Topography of Ireland findet sich ein merkwürdiger Bericht, der beweist, daß Reste dieses Kults sich in Irland bis ins zwölfte Jahrhundert erhalten haben. Er handelt von der Krönung eines irischen Duodezfürsten zu Tyrconnell, als deren Auftakt seine symbolische Wiedergeburt von einer weißen Stute aufgeführt wurde. Er kroch nackt auf allen Vieren zu ihr hin, als ob er ihr Fohlen wäre; sie wurde daraufhin geschlachtet, und die Teile wurden in einem Kessel gekocht. Er selbst stieg in den Kessel und begann die Brühe zu schlürfen und das Fleisch zu essen. Danach stellte er sich auf einen Krönungsstein, und es wurde ihm ein gerades weißes Szepter überreicht, dann wurde er dreimal von links nach rechts und dreimal von rechts nach links gedreht - »zu Ehren der Dreiheit«. Ursprünglich zweifellos zu Ehren der Dreifältigen Weißen Göttin.
Das Pferd oder Pony war in Britannien seit prähistorischen Zeiten ein heiliges Tier, nicht erst seit der Einführung der stärkeren asiatischen Rasse in der Bronzezeit. Die einzige menschliche Darstellung in der britannischen Kunst der älteren Steinzeit, soweit diese sich erhalten hat, ist die aus Knochen geschnitzte Figur eines Mannes, der eine Pferdemaske trägt; sie wurde in der Pin-hole-Höhle in Derbyshire aufgefunden: ein ferner Vorfahr der Steckenpferdmasken des englischen »Christmas Play«. Die Sachsen und Dänen verehrten das Pferd nicht minder als ihre keltischen Vorgänger, und das Tabu gegen den Verzehr von Pferdefleisch hat sich in England als starker physischer Abscheu erhalten - trotz der angestrengten Versuche, im zweiten Weltkrieg den Hippophagismus populär zu machen; doch bei den Britanniern der Bronzezeit muß das Tabu beim alljährlich im Oktober begangenen Pferde-Fest aufgehoben worden sein, ähnlich wie bei den Lateinern. In Dänemark hatte sich das ekstatische, drei Tage währende Pferde-Fest, von der Kirche geächtet, bei der heidnischen Leibeigenenklasse erhalten; eine ausführliche Schilderung bietet Johannes Jensen in seinem Buch Der Fall des Königs. Er erzählt, daß der Priester zuerst Schüsseln voll Pferdeblut nach Süden und Osten versprengte - was das Pferd als Inkarnation des Sonnenjahrgeistes, als Sohn der Stuten-Göttin ausweist.
In der Romance of Psyll, Prince of Dyfed tritt die Göttin als Rhiannon, die Mutter des Pryderi auf. Rhiannon ist eine entstellte Form von Rigantona (»Große Königin«), und Dyfed bestand damals aus dem größten Teil von Carmarthen und ganz Pembrokeshire und umfaßte auch das Gebiet von St. David's; sein Mittelpunkt hieß »The Dark Gate« (»Das dunkle Tor«), ein Eingang zur Unterwelt. Als Pwyll (»Klugheit«) Rhiannon erstmals erblickt und sich in sie verliebt, verfolgt er sie auf seinem schnellsten Roß, kann sie aber nicht gewinnen. In der ursprünglichen Geschichte nahm sie offenbar die Gestalt einer weißen Stute an. Als sie sich schließlich von ihm überwältigen läßt und bereit ist, ihn zwölf Monate danach zu heiraten, gebiert sie ihm einen Sohn, der später Pryderi (»Angst«) heißen wird, der jedoch bei der Geburt verschwindet. Und ihre Jungfrauen beschuldigen sie fälschlich, ihn verschlungen zu haben und beschmieren ihr Gesicht mit dem Blut junger Hunde. Als Buße wird ihr auferlegt, wie eine Stute an einem Pferdepflock draußen vor Pwylls Palast zu stehen, immer bereit, seine Gäste auf dem Rücken zu tragen. [1] Das Leben ihres Sohnes Pryderi ist eng mit einem magischen Fohlen verbunden, das vor einer Harpye gerettet worden war; alle früheren Fohlen dieser Stute waren in der Walpurgisnacht entführt und nie wieder gesehen worden.
Pryderi, ein Göttliches Kind von jenem Typ, der - wie Llew Llaw oder Zeus oder Romulus - seiner Mutter weggenommen wird, erhält später, wie üblich, von ihr einen Namen und Waffen, besteigt das mythische Roß und wird schließlich ein Fürst der Toten. Rhiannon wird also als Stuten-Göttin gesehen, aber sie ist auch eine Musen-Göttin, denn die Sirenen, die in den Triads und auch in der Romance of Branwen auftreten und mit wunderbar süßen Stimmen singen, heißen »die Vögel der Rhiannon«. Die Geschichte mit den Welpen erinnert an die römische Sitte, im Frühling rote Welpen zu opfern, um den schädlichen Einfluß des Hundssterns auf die Getreidesaat abzuwehren; das Opfer war eigentlich der Gerste-Mutter zugedacht, deren Begleiter der Hundsstern war. Rhiannon ist tatsächlich die Stute-Demeter, eine Nachfolgerin der Sau-Demeter Cerridwen. Daß die Stute-Demeter wie die Sau-Demeter Kinder verschlang, ist durch den Mythos von der orchomenanischen Leukippe (»Weiße Stute«) belegt, die zusammen mit ihren zwei Schwestern verrückt wurde und ihren Sohn Hippasos »Fohlen«) verschlang; sowie durch den von Pausanias überlieferten Mythos, daß Rhea, als sie Poseidon gebar, ihrem Geliebten Kronos ein Fohlen zu essen gab - anstelle des Kindes, das sie heimlich in die Obhut der Hirten vom arkadischen Arne gegeben hatte.
Der Berg Helikon war nicht der früheste Sitz der Musen-Göttinnen, wie auch ihr Titel »Die Pierischen« zeigt; das Wort »Muse« wird heute gemeinhin aus der Wurzel mont abgeleitet, die Berg bedeutet. Ihr Kult war in der heroischen Epoche im Verlauf einer Wanderung böotischer Völkerschaften vom Berg Pieri, in Nord-Thessalien, dorthin gebracht worden. Um aber die verpflanzten Musen auf dem Helikon heimisch zu machen und um die alte Magie zu bewahren, benannten die Böotier die geographischen Merkmale des Berges - die Quellen, die Gipfel und Grotten - nach den entsprechenden Merkmalen des Pieria. Die Musen waren damals drei an der Zahl, eine untrennbare Trinität, was auch die Katholiken des Mittelalters anerkannten, als sie die Kirche ihrer heiligen Trinität auf dem Gelände des verfallenen Schreins der Helikonischen Musen erbauten. Die entsprechenden Namen der drei Gestalten waren Meditation, Erinnerung, und Gesang. Die Verehrung der Musen auf dem Helikon (und vermutlich auch auf dem Pieria) ging einher mit beschwörenden Verfluchungen und beschwörenden Segnungen; der Helikon war berühmt für seine medizinisch wirksamen Kräuter, die diese Beschwörungen unterstützten - besonders die neunblättrige schwarze Nieswurz, mit deren Hilfe Melampos in Lusi die Töchter des Proteus hellte, und die Wahnsinn auslösen oder hellen konnte und eine ähnliche stimulierende Wirkung auf das Herz hatte wie Digitalis (Fingerhut). Der Berg war auch berühmt für seine erotischen Fruchtbarkeitstänze um eine Steinherme zu Tespiae, einer an seinem Fuß gelegenen Stadt, denen sich die weiblichen Eingeweihten der Musen hingaben. Spencer bezeichnet die Musen als »Jungfrauen vom Helikon«; er hätte sie auch »Hexen« nennen können, denn die Hexen seiner Zeit verehrten die gleiche Weiße Göttin - die in Macbeth Hekate heißt - sie führten an ihren Sabbaten die gleichen Fruchtbarkeitstänze auf und waren ähnlich bewandert in der beschwörenden Magie und in der Kenntnis der Heilpflanzen.
Die Musenpriesterinnen des Helikon benutzten vermutlich zwei Produkte des Pferdes, um ihre Ekstasen zu steigern: den schleimigen Scheidenausfluß einer Stute und die schwarze Membran, oder hippomanes, abgeschnitten von der Stirn eines neugeborenen Hengstfohlens, die die Stute (laut Aristoteles) oft frißt, um dadurch ihre Mutterliebe zu steigern. In der Aeneis tat Dido diesen hippomanes in ihren Liebestrank.
Skelton schildert in seinem Garland of laurell die Dreifältige Göttin in ihren drei Aspekten als Göttin des Himmels, der Erde und der Unterwelt:
Diana im Laub, so grün,
Luna, die so strahlend schien,
Persephone in der Höllen.
Als Göttin der Unterwelt war sie für Geburt, Wachstum und Tod zuständig. Als Göttin der Erde war sie für die drei Jahreszeiten Frühling, Sommer und Winter zuständig: sie belebte Bäume und Pflanzen und regierte alle lebenden Geschöpfe. Als Göttin des Himmels war sie der Mond in seinen drei Phasen, Neumond, Vollmond und abnehmender Mond. Dies erklärt, warum sie von einer Triade oft zu einer Enneade erweitert wurde. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß die Dreifältige Göttin, wie sie z. B. zu Stymphalos verehrt wurde, eine Personifizierung der primitiven Frau war - der Frau als Schöpferin und Zerstörerin. Als Neumond oder Frühling war sie das Mädchen; als Vollmond oder Sommer war sie die Frau; als Altmond oder Winter war sie die alte Vettel.
In einem gallo-römischen »allée couverte«-Grab bei Tressé, in der Nähe von St. Malo in der Bretagne sind zwei Paar Mädchenbrüste aus einem aufrechten Megalith gehauen, zwei mütterliche Brüste aus einem anderen; die Spitze einer dritten Megalithsäule ist abgebrochen, aber V. C. C. Collum, der das Grab freilegte, meint, daß sie ein drittes Paar bildete - wahrscheinlich die geschrumpften Brüste der alten Vettel. Ein sehr interessanter Fund aus dem gleichen Grab, das durch eine Bronzemünze des Domitian auf das Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr. zu datieren ist, war eine Feuerstein-Pfeilspitze in der üblichen Weidenblattform mit einer eingravierten Verzierung von Halbmonden. Die Weide war, wie wir sahen, dem Mond heilig, und im Beth-Luis-Nion ist sie Saille, der Buchstabe S. Das primitivste Zeichen für den griechischen Buchstaben S ist ein c, das aus der kretischen Linearschrift übernommen war. Arthur Evans zeigt auf einer Tabelle in seinem Werk Palace of Minos, wie die kretischen Zeichen sich Allmählich aus Ideogrammen entwickelten, und er erklärt das Zeichen C als abnehmenden Mond - die Mondgöttin als alte Vettel. Die Pfeilspitze, die in dieser Form in der römischen Bretagne damals schon gänzlich außer Gebrauch war und nur noch rituellen Zwecken diente, etwa wie heute das Staatsschwert der Königin oder der Krummstab des Bischofs, war wohl eine Opfergabe an die Dritte Person der weiblichen Trinität. [2] V. C. C. Collum machte sich die Mühe, die Holzkohlenreste analysieren zu lassen, die sich unter den Säulen fanden - anscheinend Überreste des Scheiterhaufens, auf dem der Tote verbrannt worden war. Es war verkohltes Weiden-, Eichen- und Haselholz, ein Ausdruck der Sequenz: Verzauberung, Königtum, Weisheit.
In Europa gab es anfangs keine männlichen Götter gleichen Alters wie die Göttin, die es an Prestige oder Macht mit ihr hätten aufnehmen können, aber sie hatte einen Geliebten, der abwechselnd die wohltätige Schlange der Weisheit und der wohltätige Stern des Lebens, ihr Sohn war. Der Sohn inkarnierte sich in den männlichen Dämonen der verschiedenen von ihr beherrschten Totem-Gesellschaften, die bei den ihr zu Ehren aufgeführten erotischen Tänzen mitwirkten. Die Schlange, inkarniert in den heiligen Schlangen, die die Geister der Toten waren, sandte die Winde aus. Der Sohn, der auch den Namen Luzifer oder Phosphoros (»Lichtbringer«) führte, weil er als Abendstern dem Licht des Mondes vorauseilte, wurde alljährlich wiedergeboren, wuchs mit dem Fortschreiten des Jahres heran, vernichtete die Schlange und gewann die Liebe der Göttin. Ihre Liebe vernichtete ihn, doch aus seiner Asche wurde eine neue Schlange geboren, die zu Ostern das glain - das rote Ei - legte, das die Göttin verzehrte. So daß der Sohn abermals als ihr Kind geboren wurde. Osiris war ein Stern-Sohn, auch wenn er sich nach seinem Tod wie eine Schlange um die Welt ringelte, und wenn sein fünfzig Meter langer Phallus in der Prozession herumgetragen wurde, strahlte an dessen Spitze ein goldener Stern; dies besagte, daß er als das Kind Horus wiedergeboren war, als Sohn der Isis, die seine Braut und seine Vernichterin gewesen und jetzt abermals seine Mutter war. Ihre absolute Macht erwies sich an einem alljährlichen Holokaust, das ihr zu Ehren als »der Frau von den Wilden Tieren« veranstaltet wurde und bei dem der Totemvogel oder das Totemtier jeder dieser Gesellschaften lebendig verbrannt wurde.
Die bekannteste lkone der ägäischen Religion war daher eine Mondfrau, ein Sternensohn und eine weiße, gefleckte Schlange, unter einem Obstbaum gruppiert - Artemis, Herakles und Erichtheus. Sternsohn und Schlange liegen im Kampf; einer löst den anderen in der Gunst der Mondfrau ab, wie der Sommer auf den Winter und der Winter auf den Sommer folgt; wie der Tod auf die Geburt und die Geburt auf den Tod folgt. Die Sonne wird im Jahreslauf schwächer oder stärker, die Äste der Bäume sind bald mit Früchten behangen, bald nackt, aber das Licht des Mondes ist unabänderlich. Er (sie) ist unparteilich: zerstört oder schafft mit gleicher Leidenschaft. Der Konflikt zwischen den Zwillingen erfährt in der Romance of Kilhwych and Olwen eine überraschende Wendung: Gwyn (»weiß«) und sein Rivale Gwythur ap Greidawl (»Viktor, der Sohn des Versengenden«) führten ewig Krieg miteinander um Creiddylad (alias Cordelia), die Tochter des Llud (alias Llyr alias Lear alias Nudd alias Nuada alias Nodens), wobei sie diese einander abwechselnd entführten, bis die Sache vor König Arthur gebracht wurde. Er traf die ironische Entscheidung, daß Creiddylad wieder zu ihrem Vater gebracht werden sollte und daß die Zwillinge »bis zum jüngsten Tag an jedem ersten Mai um sie kämpfen sollten«, wobei derjenige, der zuletzt Sieger blieb, sie für immer behalten durfte.
Bis dahin gibt es noch keine Väter, denn die Schlange ist ebensowenig Vater des Stern-Sohnes, wie dieser Vater der Schlange ist. Sie sind Zwillinge, und hier kommen wir wieder zum einen poetischen Thema zurück. Der Dichter identifiziert sich mit dem Sternensohn, sein verhaßter Rivale ist die Schlange; nur wenn er als Satiriker schreibt, spielt er die Schlange. Die Dreifältige Muse ist die Frau in ihrer göttlichen Eigenschaft: die Verzauberin des Dichters, das einzige Thema seiner Lieder. Wir dürfen nicht vergessen, daß Apollon selbst einst alljährliches Opfer der Schlange war; denn Pythagoras schnitzte auf seinen Grabstein zu Delphi eine Inschrift, die seinen Tod im Kampf mit der lokalen Python schilderte - der Python, die er der Sage zufolge stets getötet haben sollte. Der Stern-Sohn und die Schlange sind zu dieser Zeit noch immer bloße Dämonen, und in Kreta wird die Göttin nicht einmal mit dem Göttlichen Kind in den Armen abgebildet. Sie ist die Mutter aller Dinge. Ihre Söhne und Geliebten haben nur kraft ihrer Gnade an der heiligen Essenz teil.
Die revolutionäre Institution der Vaterschaft, die aus dem Osten nach Europa importiert wurde, brachte die Institution der individuellen Ehe mit sich. Bislang hatte es nur Gruppenehen aller weiblichen Mitglieder einer bestimmten Totem-Gesellschaft mit allen männlichen Mitgliedern einer anderen gegeben; die mütterliche Herkunft jedes Kindes stand fest, doch seine Herkunft väterlicherseits war zweifelhaft und auch gleichgültig. Sobald diese Revolution eingetreten war, änderte sich der Gesellschaftliche Status der Frau: der Mann übernahm viele der sakralen Praktiken, von denen sein Geschlecht ihn bislang ausgeschlossen hatte, und erklärte sich schließlich zum Haupt des Haushalts, obgleich der Besitz noch immer weitgehend von der Mutter auf die Tochter vererbt wurde. Dieses zweite Stadium, das olympische Stadium, erforderte einen Wandel in der Mythologie. Es genügt nicht, das Konzept der Vaterschaft in den üblichen Mythos einzuführen, wie in der von Clemens von Alexandria zitierten orphischen Formel: »Der Stier ist der Vater der Schlange, die Schlange ist jener des Stiers.« Jetzt war ein neues Kind nötig, das Stern-Sohn wie Schlange verdrängen sollte. Die Dichter feierten es als das Donner-Kind oder Axt-Kind oder Hammer-Kind. Es gibt unterschiedliche Legenden, wie es seine Feinde vernichtet. Entweder lieh es sich die goldene Sichel seiner Mutter, der Mond-Frau, und kastrierte den Stern-Sohn; oder es stürzte ihn von einem Berggipfel herab; oder es betäubte ihn mit seiner Axt, so daß er in immer währenden Schlaf fiel. Die Schlange tötete es meist regelrecht. Dann wurde es der Vatergott oder Donnergott, heiratete seine Mutter und zeugte mit ihr seine göttlichen Söhne und Töchter. Die Töchter sind eigentlich meist beschränkte Versionen ihrer selbst - in ihren verschiedenen Aspekten als junger Mond und Vollmond. In ihrem Altmond-Aspekt wurde sie seine Mutter oder Großmutter oder Schwester, und die Söhne waren beschränkte Wiederbelebungen des vernichteten Stern-Sohnes und der Schlange. Unter diesen Söhnen gab es einen Gott der Dichtung und der Musik, der Künste und Wissenschaften; er wurde schließlich als Sonnengott anerkannt und wirkte in vielen Ländern als aktiver Regent für seinen greisen Vater, den Donnergott. In manchen Fällen trat er sogar an seine Stelle. Die Griechen und Römer hatten dieses Stadium erreicht, als das Christentum aufkam.
Das dritte Stadium der kulturellen Entwicklung - das rein patriarchalische, in dem es überhaupt keine Göttinnen mehr gibt - ist das des späteren Judentums, des judäischen Christentums, des Islam und des protestantischen Christentums. Dieses Stadium wurde in England erst mit dem Commonwealth erreicht, denn im mittelalterlichen Katholizismus waren die Jungfrau und der Sohn - auf die Riten zu Ehren der Mondfrau und ihres Sternensohnes übertragen wurden - von größerer religiöser Bedeutung als Gott der Vater. (Aus der Schlange war der Teufel geworden; was auch gut paßte, weil Jesus nach Matthäus 7, 10, der Schlange den Fisch entgegengestellt hatte und selbst von seinen Anhängern als Fisch symbolisiert wurde.) Die Waliser verehrten Jungfrau und Sohn noch fünfzig Jahre länger als die Engländer; die Iren in Irland tun es noch heute. Dieses Stadium ist der Dichtung abträglich. An den Donnergott gerichtete Hymnen, wie verschwenderisch sie ihn auch als Sonnengott vergolden mögen - selbst Skeltons wunderbare Hymn to God the Father scheitern als Dichtung, denn wenn der Dichter ihm grenzenlose und unbeschränkte Macht zuerkennt, verleugnet er seine unverzichtbare Treue zur Muse; und weil der Donnergott ein Jurist, ein Logiker, Deklamator und Prosaist war, war er, seit er sich von der Vormundschaft seiner Mutter befreite, niemals ein Dichter gewesen, noch hatte er das mindeste Verständnis von wahrer Dichtung.
Als die Mond-Frau in Griechenland erstmals dem Donnergott als Gattin untergeordnet wurde, delegierte sie die Verantwortung für die Dichtung an ihre sogenannten Töchter, ihr einstiges Selbst als die Dreifältige Muse, und kein Gedicht konnte glücken, das nicht mit einem Appell an die Muse und der Bitte um Inspiration begann. So beginnt die frühe Ballade Vom Zorn des Achilles, die Homers Ilias einleitet: »Singe, Göttin, von dem vernichtenden Zorn Achills, des Peliden.« Daß Achilles als »Sohn des Peleus« und nicht als »Sohn der Thetis« bezeichnet wird, beweist, daß das patriarchalische System bereits in Kraft war, wenngleich die Totem-Gesellschaft als Gesellschaftliche Konvention weiter bestand, denn Achilles war ein Sakralkönig der Myrmidonen von Thessalien, offenbar eines Ameisen-Clans, der der Göttin als Wendehals diente; doch die Göttin ist eindeutig die Dreifältige Muse, und nicht nur eine der neun kleinen Musen, die in einem weniger ursprünglichen Teil der Ilias erwähnt sind und die Apollon später vom Helikon herab und auf den Parnaß führte, als er - wie der Hymnus an den Pythischen Apollon erzählt - die lokale Erdgöttin im Nabel-Schrein zu Delphi verdrängte. Apollon (»Zerstörer und Abwehrer«) galt jener Zeit als männlicher Zwilling der Tochter-Göttin Artemis; sie galten als - auf der Wachtelinsel vor Delos geborene Kinder des Sonnengottes mit der hyperboreischen Göttin Latona, der Tochter von Phoebe und Koios (»Mondlicht und Initiation«).
Hier geraten die Mythen in Verwirrung, weil Leto, die erst später nach Delos kam, dort nicht als lokale Dreifältige Göttin anerkannt wurde; und weil Artemis, der Name der Zwillingsschwester Apollons, einstmals ein griechischer Titel der Dreifältigen Göttin selbst gewesen war. Artemis bedeutet wahrscheinlich »Die Verteilerin des Wassers«, gebildet aus ard- und themis. Apollon, so könnte man sagen, festigte seine Position, indem er seine Zwillingsschwester überredete, die Embleme und Titel ihrer Vorgängerin zu übernehmen; er selbst übernahm die Titel und Symbole eines pelasgischen »Abwehrers« oder »Zerstörers«, der in einem Aspekt, wie sein Titel »Smintheus« zeigt, ein kretischer Maus-Dämon war. Apollon und Artemis übernahmen dann gemeinsam von der Dreifältigen Muse (in diesem Kontext von ihrer Mutter Latona) die Verantwortung für die Dichtung; doch Artemis blieb nicht lange die gleichberechtigte Partnerin des Apollon, obgleich sie weiterhin als zuständig für magische Beschwörungen galt und ihr schließlich nur noch böser Zauber zugeschrieben wurde. So etwa berichtet Tatian in seinem Sendschreiben an die Griechen.- »Artemis ist eine Vergifterin, Apollon führt Heilungen aus.« Ähnlich geriet in Irland die Göttin Brigit in den Schatten des Gottes Ogma. In Cormac's Glossary mußte sie bereits erläutert werden als »Brigit, Tochter des Dagda, die Dichterin, d. h. die von den Dichtern verehrte Göttin, denn sie gewährt ihnen großen und vornehmen Schutz.« Ihr zu Ehren trug der Ollave einen goldenen Zweig mit klingelnden Schellen, wenn er in die Fremde zog.
Um das achte Jahrhundert v. Chr. wurde die Musentrias unter thrako-makedonischem Einfluß auf drei Triaden oder eine Enneade erweitert. Hier erinnern wir uns an die neun orgiastischen Priesterinnen von der Insel Sein im Westen der Bretagne und an die Neun Edelfräulein im Preiddeu Annwm, deren Atem Cerridwens Kessel erhitzte. Eine neunfältige Muse drückte besser die universelle Herrschaft der Göttin aus als eine dreifältige; doch die Apollon-Priesterschaft, die die klassische griechische Literatur beherrschte, benutzte alsbald diese Veränderung, um ihre Macht sozusagen durch einen Spezialisierungsprozeß zu schwächen. Hesiod schreibt von den neun Töchtern des Zeus, die unter dem Patronat Apollons folgende Funktionen und Namen erhielten:
- Epische Dichtung, Kalliope
- Geschichte, Klio
- Lyrische Dichtung, Euterpe
- Tragödie, Melpomene
- Chortanz, Terpsichore
- Liebesdichtung und -Mime, Erato
- Sakrale Dichtung, Polyhymnia
- Astronomie, Urania
- Komödie, Thaleia.
Kalliope (»schönes Gesicht«) war der Name der einstigen Muse in ihrem Vollmond-Aspekt; auch Erato, »die Geliebte«, und Urania, »die Himmlische«. Erste Erwähnung findet Erato im griechischen Mythos als jene Eichenkönigin, die Arkas zur Gemahlin nahm; er gab Arkadien seinen Namen und war der Sohn der Bärin Kallisto und Vater von Atheneatis. Die übrigen Namen beziehen sich offenbar auf die verschiedenen Funktionen der Musen. Auffällig ist, daß die Musen des Helikon zwar noch erotische Neigungen hatten, daß aber ihre wichtigste Funktion, das Hellen und Verfluchen durch magische Beschwörung, ihnen unter der Herrschaft der olympischen Religion entzogen worden war. Sie war auf Apollon selbst und seinen Stellvertreter übergegangen, auf seinen Arztsohn Asklepios.
Obgleich nun Apollon der Gott der Dichtung und der Führer der Musen war, beanspruchte er doch nicht, die Dichtung zu inspirieren: die Inspiration, so glaubte man noch immer, käme dem Dichter von den Musen zu. Er war ursprünglich nur ein Dämon gewesen, [3] den seine Mutter, die Muse, mit dichterischem Wahnsinn inspiriert hatte. jetzt verlangte er, daß sie als neunfältige Muse ihm zu Ehren einzelne Dichter inspirieren sollte - wenngleich nicht bis hin zur Ekstase. Diese Dichter belohnte er, falls sie sich als seine treuen und fleißigen Diener erwiesen, mit einem Lorbeerkranz - griechisch daphne.
Die Verbindung der Dichtung mit dem Lorbeer liegt nicht nur darin, daß letzterer eine immergrüne Pflanze und mithin ein Symbol der Unsterblichkeit ist; er ist auch ein Rauschmittel. Die Zelebrantinnen der Dreifältigen Göttin zu Tempe kauten Lorbeerblätter, um sich in eine poetische und erotische Raserei zu versetzen, ähnlich wie die Bacchantinnen Efeu kauten- daphne ist möglicherweise eine Kurzform von daphoine, »die Blutige«, ein Titel der Göttin - und als Apollon das Delphische Orakel übernahm, lernten die pythischen Priesterinnen, die ihr Amt behielten, Lorbeerblätter zu kauen, um zur Orakel-Inspiration zu gelangen. Der Lorbeer war dem Apollon heilig geworden - die Sage, wie er die Nymphe Daphne verfolgt, berichtet von seiner Eroberung des Tempels der Göttin zu Tempe, beim Olymp, doch inzwischen war er der Gott der Vernunft geworden, und sein Motto lautete: »Nichts im Übermaß«. Und seine männlichen Adepten trugen den Lorbeer als Schmuck, ohne ihn zu kauen. Empedokles als halb göttlicher Nachfolger des Pythagoras verabscheute das Kauen von Lorbeerblättern ebenso wie den Verzehr von Bohnen. Die Dichtung als magische Praxis war bereits im Niedergang begriffen.
Die Römer eroberten Griechenland und führten Apollon nach Italien ein. Sie waren ein militärisches Volk und schämten sich ihrer unbeholfenen poetischen Tradition; doch einige von ihnen begannen, griechische Dichtung ernsthaft als Teil ihrer Ausbildung in politischer Rhetorik zu betreiben, eine Kunst, die sie für notwendig hielten, um ihre militärischen Eroberungen zu festigen. Sie studierten die griechischen Sophisten und lernten von ihnen, daß die große Dichtung eine musikalischere und philosophischere Form der Rhetorik war, als man sie in Prosa erreichen konnte, und daß die kleine Dichtung die eleganteste aller Gesellschaftlichen Errungenschaften war. Wahre Dichter werden mir beipflichten, daß Dichtung eine geistige Erleuchtung ist, die der Dichter den ihm Ebenbürtigen übermittelt, und nicht eine erfinderische Technik, um ein breites Publikum mitzureißen oder eine alberne Dinnerparty zu beleben, und sie werden Catulls als einem der ganz wenigen Dichter gedenken, die die gräco-römische poetische Tradition transzendierten. Der Grund ist womöglich, daß er von keltischer Abstammung war: jedenfalls zeichnete er sich durch eine Furchtlosigkeit, Originalität und emotionale Sensibilität aus, die den lateinischen Dichtern meist fehlten. Er allein erwies den Frauen aufrichtige Liebe; die übrigen waren es zufrieden, ihre kameradschaftliche Loyalität oder ihre verspielte Homosexualität zu zelebrieren. Sein Zeitgenosse Vergil ist lesenswert aufgrund von Eigenschaften, die nicht poetisch in dem Sinn sind, daß sie die Gegenwart der Muse beschwören. Seine musikalische und rhetorische Geschicklichkeit, die gut klingenden Periphrasen und seine rollenden Perioden werden von Klassizisten bewundert, aber die Aeneis will tatsächlich betäuben und überwältigen, und echte Dichter empfinden es nicht als mit ihrer Integrität vereinbar, dem Beispiel Vergils zu folgen. Sie schätzen Catull höher, weil er sich nie den Anschein gibt, als rufe er sie als Nachgeborene auf, einer Demonstration unsterblichen Genies zu applaudieren; vielmehr appelliert er an sie wie ein Zeitgenosse: »Ist es nicht so?« Für Horaz, den eleganten Verseschmied, empfinden sie vielleicht Zuneigung und bewundern seine Absicht, Extreme des Gefühls wie auch die dem Römer natürliche Versuchung des Vulgären zu meiden. Doch trotz all seines Witzes, seiner Leutseligkeit und seiner gewandten Spielmannskunst können sie ihn so wenig als Dichter anerkennen wie etwa einen Calverly oder Austin Dobson.
Fassen wir die Geschichte der griechischen Musen zusammen:
Die Dreifältige Muse oder die Drei Musen, die Neunfältige Muse oder Cerridwen, oder wie immer wir sie nennen wollen, ist ursprünglich die Große Göttin in ihrer Eigenschaft als Dichterin oder beschwörende Magierin. Sie hat einen Sohn, der ihr Geliebter und ihr Sohn zugleich ist, der Stern-Sohn oder Dämon des zunehmenden Jahres. Er teilt abwechselnd ihre Gunst mit seinem Stellvertreter Python, der Schlange der Weisheit, dem Dämon des abnehmenden Jahres, seinem dunklen Selbst.
Dann wird sie vom Donnergott geliebt (einem rebellischen Stern-Sohn, der vom östlichen Patriarchat infiziert ist) und empfängt von ihm Zwillinge, ein männliches und ein weibliches Wesen - in der walisischen Dichtung Merddin und Olwen. Sie bleibt die Göttin der Zauberei, tritt aber einen Teil ihrer Souveränität an den Donnergott ab, vor allem das Gesetzgeben und das Bezeugen von Eiden.
Dann teilt sie ihre Macht des poetischen Zaubers unter ihren Zwillingen auf, deren Symbole der Morgenstern und der Abendstern sind, wobei der weibliche Zwilling sie selbst im Niedergang, der männliche eine Wiederbelebung des Stern-Sohnes ist.
Dann wird sie zahlenmäßig vermehrt - an Macht aber verringert - auf eine Schar von neun kleinen Abteilungs-Göttinnen der Inspiration, die unter der Vormundschaft des einstigen Zwillingsbruders stehen.
Schließlich proklamiert der Zwillingsbruder Apollon sich selbst als ewige Sonne, und die neun Musen werden seine dienstbaren Geister. Er delegiert ihre Funktionen auf männliche Götter, die Vervielfältigungen seiner selbst sind.
(Der legendäre Ursprung der japanischen Dichtung liegt in einer Begegnung zwischen der Mondgöttin und dem Sonnengott auf ihrem Gang um den Stützpfeiler der Welt - in entgegengesetzten Richtungen. Zuerst sprach die Mondgöttin und sagte in Versen:
O welche Freude sondergleichen,
Zu sehen einen Mann so schön!
Worauf der Sonnengott zornig wurde, weil sie außer der Reihe in so unziemlicher Art gesprochen hatte; er befahl ihr umzukehren und ihm noch einmal entgegenzukommen. Diesmal sprach er als erster:
Zu sehen eine Maid so schön
O welche Freude sondergleichen!
Dies war der erste Vers, der je gedichtet wurde. Mit anderen Worten, die Sonne übernahm von der Muse die Macht über die Dichtung tini gab vor, sie selber geschaffen zu haben eine Lüge, die den japanischen Dichtern gar nicht gut bekam.)
Damit wird die Dichtung akademisch und verfällt, bis die Muse beschließt, in der sogenannten Romantischen Wiedergeburt ihre Macht zurückzufordern.
Die mittelalterliche Dichtung identifizierte die Jungfrau Maria eindeutig mit der Muse, indem sie ihr die Verantwortung für den Kessel der Cerridwen übertrug. D. W. Nash bemerkt in seiner Ausgabe der Taliesin-Gedichte:
»Die christlichen Barden des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts bezeichnen immer wieder die Jungfrau Maria selbst als den Kessel oder den Ursprung der Inspiration - zu dem sie, wie es scheint, durch ein Wortspiel mit dem Wort pair, Kessel, hingeführt wurden, wobei sie dessen Anfangsbuchstaben weich aussprachen, was mair ergab, also Maria. Maria war Mair, die Mutter Christi, das mystische Gefäß des Heiligen Geistes, und Pair war der Kessel oder das Gefäß und die Quelle der christlichen Inspiration. So finden wir in einem Gedicht des Davydd Benfras aus dem dreizehnten Jahrhundert:
Christ mab Mair am Pair pur vonhedd.
Christus, Sohn Marias, mein Kessel reiner Geburt.«
Ebenso eindeutig wurde Maria in der irischen Dichtung des Mittelalters mit Brigit, der Göttin der Dichtung gleichgesetzt: denn St. Brigit, die Jungfrau als Muse, war beim Volk als »Maria der Gälen« überaus beliebt. Als Göttin war Brigit eine Trias gewesen: die Brigit der Dichtung, die Brigit der Heilkunst und die Brigit der Schmiedekunst. Im gälischen Schottland war ihr Symbol der Weiße Schwan, und sie wurde als Braut mit dem Goldenen Haar, Braut von den Weißen Hügeln, Mutter des Glorreichen Königs bezeichnet. Auf den Hebriden war sie die Schutzherrin der Geburt. Ihr ägäischer Prototyp war offenbar die Brizo von Delos, eine Mondgöttin, der Votivschiffe geopfert wurden und deren Namen die Griechen aus dem Wort brizein, »verzaubern«, herleiteten. Brigit war in römischer Zeit in Gallien und in Britannien sehr beliebt, wie zahlreiche Widmungen an sie bestätigen, und in Teilen Britanniens behielt St. Brigit ihre Eigenschaft als Muse bis zur puritanischen Revolution bei, denn ihre Heilkraft erwies sich hauptsächlich durch das Sprechen poetischer Zauberformeln an heiligen Brunnen. Bridewell, das Frauengefängnis von London, war ursprünglich ein Kloster ihrer Nonnen. [4]
Eine aus Cornwall überlieferte magische Beschwörung der lokalen Brigit-Trias lautete:
Drei Frauen kamen von Ost,
Eine mit Feuer, zwei mit Frost.
Heraus mit dir, Feuer, und hinein mit dir, Frost.
Es ist eine Zauberformel gegen Verbrennungen. Man taucht neun Brombeerblätter in Quellwasser und legt sie dann auf die Brandblase; die Zauberformel muß dreimal hergesagt werden, damit jedes Blatt wirksam wird. Denn die Brombeere ist sowohl der Pentade als auch der Trias der Jahreszeiten-Göttinnen heilig, und es stehen abwechselnd drei und fünf Blätter am Stengel - daher gibt es in der Bretagne und in Teilen von Wales ein starkes Tabu gegen den Verzehr von Brombeeren. In dieser Zauberformel sind die Göttinnen eindeutig Göttinnen der Jahreszeiten, wobei die Sommergöttin Feuer bringt, während ihre Schwestern Frost bringen. Meist wird noch, als Verbeugung vor dem Klerus, eine vierte gereimte Zeile angehängt: Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Die mittelalterliche Brigit teilte ihre Eigenschaft als Muse noch mit einer anderen Maria, der »Mary Gipsy« oder Heiligen Maria von Ägypten, der zu Ehren man den Eid »Marry« oder »Marry Gyp!« schwor. Diese zaubernde Jungfrau mit dem blauen Gewand und dem Perlenhalsband war die alte heidnische Meeresgöttin marian in leicht zu durchschauender Verkleidung - Marian [5], Miriam, mariamne (»Lamm des Meeres«), Myrrhine, Myrtea, Myrrha [6], Maria oder Marina, die Schutzherrin der Dichter und der Liebenden und stolze Mutter des Bogenschützen der Liebe. Robin Hood schwor in den Balladen stets bei ihrem Namen. Sie hatte ein dunkles Gesicht, und ein mittelalterliches Book of the Saints erzählt, daß sie sich die Überfahrt ins Heilige Land, wo sie jahrelang als einsame Anachoretin leben sollte, dadurch verdiente, daß sie sich der ganzen Mannschaft des einzigen Schiffes prostituierte, das dorthin segelte; in den Himmel aufgefahren, bewies sie daher besondere Nachsicht gegenüber Sünden des Fleisches.
Eine vertraute Tarngestalt dieser marian ist die »merry-Maid«, wie »mermaid« einst geschrieben wurde. Die übliche Gestalt der mermaid - eine schöne Frau mit einem runden Spiegel, einem goldenen Kamm und einem Fischschwanz soll ausdrücken: »die Liebesgöttin steigt aus dem Meer.«
Jeder Initiand der eleusischen Mysterien, die pelasgischen Ursprungs waren, führte mit ihrer Stellvertreterin ein Liebesritual aus, nachdem er wie Llew Llaw ein Bad im Kessel genommen hatte. Der runde Spiegel, das Gegenstück zum Kamm, ist möglicherweise der von irgendeinem vergangenen Künstler irrtümlich eingeführte Ersatz für die Quitte, die Marian stets als Liebesgabe in der Hand hält; doch der Spiegel war auch Bestandteil der sakralen Ausstattung der Mysterien und besagte vermutlich: »erkenne dich selbst«. Der Kamm war ursprünglich ein Plektron zum Zupfen der Lyrasaiten. Die Griechen nannten sie Aphrodite (»aus dem Meerschaum aufgestiegen«) und benutzten Thunfisch, Kammuschel und Immergrün, die ihr allesamt heilig waren, als Aphrodisiaka. Ihre berühmtesten Tempel waren am Ufer des Meeres erbaut. Daher ist ihr symbolischer Fischschwanz leicht zu verstehen. Wir können sie mit der Mondgöttin Euronyme gleichsetzen, deren Statue zu Phigalla in Arkadien eine aus Holz geschnitzte MeerMaid war. Myrte, Stachelschnecke und Myrrhe waren ihr ebenfalls überall heilig - zusammen mit der Steineiche (die auf salzhaltigen Böden gedeiht), der liebestreuen Taube und den Farben weiß, grün, blau und scharlachrot. Botticellis Geburt der Venus ist ein exakte lkone ihres Kults. Groß, goldhaarig, blauäugig und mit blassem Gesicht landet die Liebesgöttin in ihrer Muschelschale vor einem Myrtenhain, und die »Erde« eilt in einem Blumengewand herbei, um sie in einen scharlachroten, goldgesäumten Mantel zu hüllen. In der englischen Balladendichtung steht die Meer Maid für die bittere Süße der Liebe und für die Gefahr, die empfängliche Matrosen (engl. mariners, einst »merriners«) in fremden Häfen eingehen: ihr Spiegel und ihr Kamm standen einst für Eitelkeit und Herzlosigkeit.
Konstantin, der erste christliche Kaiser, schaffte den Marienkult offiziell ab, aber wesentliche Teile des alten Rituals blieben in der Kirche erhalten: z. B. bei den Kollydirern, einer arabischen Sekte, die in ihrem Tempel den gleichen Kuchen und Wermut opferten, den sie vordem der Aschtaroth geopfert hatten. Auch Myrrhe - doch dies war ein eher orthodoxer Brauch, denn Hieronymus hatte die Jungfrau als Stilla Maris gepriesen, als »Myrrhe des Meeres«. Hieronymus brachte den Namen »Maria« wortspielerisch mit den hebräischen Wörtern marah (Salzsole) und mor (Myrrhe) in Verbindung und erinnerte an die Gaben der Drei Weisen.
Als die Kreuzfahrer ins Heilige Land kamen, dort Burgen bauten und sich niederließen, fanden sie eine Reihe von häretischen christlichen Sekten vor, die dort unter islamischer Schutzherrschaft lebten und die sie alsbald von der Orthodoxie wegführten. So geschah es, daß der Kult der Mary Gipsy nach England kam, über Santiago de Compostela in Spanien von armen Pilgern eingeführt, die Palmzweige in den Händen hielten, Abschriften der apokryphen Evangelien in ihren Mantelsäcken trugen und die Muschelschalen der Aphrodite an ihre Kappen gesteckt hatten - die »Palmer« genannten Wandermönche, wie sie noch in Ophelias Lied in Hamlet verherrlicht werden.
Die Lyra zupfenden, rotbestrumpften Troubadoure, deren bekanntester in Britannien König Richard Löwenherz ist, bekehrten sich ekstatisch zum marian-Kult. Aus ihren französischen Liedern leiten sich die Verse des »Anon« ab, die der höchste Ruhm der früh-englischen Dichtung sind. Während die hübschesten Choräle dank der Palmer auf die apokryphen Evangelien zurückgehen. Das bemerkenswerteste Ergebnis der Kreuzzüge war, daß in Westeuropa die Vorstellung der romantischen Liebe eingeführt wurde, die - in Form der alten walisischen Minstrel Tales ausgedrückt - schließlich die plumpen Räuberbarone und ihre schlampigen Weiber in eine glatte Gesellschaft von höfischen Lords und Ladies verwandelten. Aus Schloß und Hof verbreiteten sich gute Sitten und Höflichkeit bis ins Volk auf dem Lande; und dies erklärt, wieso »Merry England« das Land ist, das sich der innigsten Marienverehrung hingab.
In ländlichen Gegenden Englands wurde die Mary Gipsy alsbald mit der Liebesgöttin gleichgesetzt, die bei den Sachsen die »Maibraut« hieß, wegen ihrer alten Verbindung mit dem Maibaumkult, den die Atrebaten im ersten Jahrhundert vor oder nach Christus nach Britannien gebracht hatten. Sie bildete mit Merddin ein Paar, der damals schon als »Robin Hood« christianisiert war, anscheinend eine Variante von Merddins sächsischem Namen Rof Breoth Woden, »Strahlende Kraft Wotans«, euphemistisch auch »Robin Goodfellow« genannt. Im französischen bedeutet Robin, das als Diminuitiv von Robert gilt, wahrscheinlich aber vorteutonischen Ursprungs ist, Widder und auch Teufel. Ein robinet oder Wasserhahn wird so genannt, weil er an ländlichen Brunnen oft die Form eines Widderkopfes hatte. Die beiden Bedeutungen »Widder« und »Teufel« sind in der Illustration zu einem 1693 zu London veröffentlichten Pamphlet vereinigt: Robin Goodfellow, his mad pranks and merry gests (»Robin Goodfellow, seine tollen Hände und ausgelassenen Bewegungen«). Robin ist dort als ithyphallischer Gott der Hexen dargestellt, mit den Hörnern eines jungen Widders, die ihm aus der Stirn sprießen, mit Widderbeinen, einem Hexenbesen auf der linken Schulter, einer brennenden Kerze in der rechten Hand. Hinter ihm, in einem Reigentanz, ein Sabbat von Hexern und Hexen in puritanischer Tracht, ein schwarzer Hund betet ihn an, ein Musikant bläst die Trompete, und über ihm fliegt eine Eule. Wir erinnern uns, daß die Hexen von Somersetshire ihren Gott Robin nannten, und »Robin, der Sohn von Art« , war der Teufel der Lady Alice Kyteler, der berühmten, im frühen vierzehnten Jahrhundert lebenden Hexe von Kilkenny, und er nahm manchmal die Gestalt eines schwarzen Hundes an. Das klassische Beispiel für den Teufel als Widder ist jenes Tier, das der Bischof von Coventry 1303 mit einer schwarzen Messe beehrte und mit einem Arschkuß grüßte. In Cornwall heißt »Robin« Phallus. »Robin Hood« ist ein ländlicher Name für Feuernelke (»red campion«), vielleicht weil ihr gespaltener Griffel an einen Widderhuf erinnert und weil »red champion« ein Titel des Hexengottes war. Vielleicht ist es nicht mehr als ein Zufall, daß Widder im Sanskrit huda heißt. »Robin«, in der Bedeutung von »Widder«, wurde mythologisch mit dem Robin (lat. rubens), dem Rotkehlchen gleichgesetzt.
Hier nun wird unsere Geschichte kompliziert. Die fröhlichen Taten eines gewissen Robin Hood, des berühmten Gesetzlosen aus dem Sherwood Forest - den J. W. Walker [7] - inzwischen als historisch verbürgte Gestalt nachgewiesen hat, geboren zu Wakefield in Yorkshire zwischen 1285 und 1295, und in den Jahren 1223 und 1224 im Dienst König Edwards II. stehend geriet in enge Verbindung mit den May-Day-Lustbarkeiten. Vermutlich geschah es, weil der Gesetzlose zufällig von seinem Vater, dem Förster Adam Hood, auf den Namen Robert getauft worden war und weil er während der 22 Jahre, die er als Räuber im Greenwood verbrachte, sich immer stärker mit Robin identifizierte, indem er seine Frau Mathilda in Maid Marian umbenannte. Nach der frühen Ballade The Banished Man zu schließen, hatte Mathilda sich wohl die Haare kurzgeschoren und Männerkleidung angezogen, um sich der Bruderschaft der Gesetzlosen anzuschließen, ähnlich wie in Albanien bis auf den heutigen Tag junge Frauen, die an den Jagdzügen der Männer teilnehmen wollen, sich wie Männer kleiden und auch wie solche behandelt werden - der Prototyp dieses Verhaltens war Atalanta von Kalydon, die an der Jagd auf den kalydonischen Eber teilnahm. Die Bande der Gesetzlosen bildete sodann einen Konvent von dreizehn, bei dem marian als pucelle oder Sabbatmaid wirkte; wahrscheinlich trug sie bei den May-Day-Orgien die ihr als Robins Braut zukommenden Frauenkleider. Durch seinen erfolgreichen Widerstand gegen die Kleriker wurde Robin ein so populärer Held, daß er später als Begründer der Robin-Hood-Religion angesehen wurde - und deren ursprüngliche Formen schwer nachzuweisen sind. Wie dem auch sei, »Hood« (oder Hod oder Hud) bedeutet »Balken« - der hinter dem Feuer errichtete Balken - und in diesem aus der heiligen Eiche geschnittenen Balken sollte nach altem Glauben Robin wohnen. Daher »Robin Hoods Steed« (Robin Hoods Streitroß), die Bohrassel, die herausflitzt, wenn der Julbaum verbrannt wird. Im populären Aberglauben entwich Robin selbst in Gestalt eines Rotkehlchens (robin) durch den Kamin und zog, wenn das Julfest vorbei war, als Belin gegen seinen Rivalen Bran oder Saturn in den Kampf - der seinerseits bei den Julzeit-Lustbarkeiten der »Narrenkönig« gewesen war. Bran verbarg sich vor dem Verfolger als Goldhähnchen, getarnt durch einen Efeubusch. Aber Robin entdeckte ihn stets und richtete ihn hin. Daher das Volkslied:
»Wer will das Goldhähnchen jagen?« ruft das hüpfende Rotkehlchen. Nachdem die »Maid marian« bei den Julzeit-Lustbarkeiten als Fürstin der Mißherrschaft agierte und Robin um seines Rivalen willen verließ, erkennen wir leicht, wieso sie in den schlechten Ruf der Unzuverlässigkeit geriet. Daher schrieb man häufig »Maud marian« statt »Maid Marian«. »Maud« ist die Büßerin Maria Magdalena. In Tom O'Bedlam's Song ist sie Toms Muse »Merry Mad Maud«.
Weihnachten war im Mittelalter ein fröhliches (merry) Fest, aber der May Day ein noch fröhlicheres. Dies war die Zeit der bebänderten Maibäume, der kollyridischen Kuchen und des Biers, der Kränze, Blumensträuße, der Liebesgeschenke und Bogenschießwettbewerbe, der »merritotters« (Wippen) und »merribowks« (große Fässer voll Milchpunsch). Besonders aber der »mad-merry marriages« (der verrückt-fröhlichen Hochzeiten) unter dem »grünen Baum«, wobei die Tänzer Hand in Hand von der Tanzwiese gingen und sich im Walde kleine Liebeshütten bauten und voller Hoffnung der fröhlichen Nachtigall lauschten. »Mad Mary« ist eine weitere populäre Schreibweise von »Maid marian« und wurde als Adjektiv dem Zauberer Merlin angeheftet (dem ursprünglichen »Old Moore« der volkstümlichen Almanache), dessen prophetische Volksbücher auf Messen und Festplätzen verhökert wurden. Merlin war in Wirklichkeit Merddin, wie Spenser in seinem Werk Faerte Queene erläutert, doch Robin Hood hatte seinen Platz als Geliebter der Maibraut eingenommen, und er war ein alter bärtiger Prophet geworden. Der »merritotter« (»Wippe«) hat seinen Namen vermutlich nach der (das Herbstäquinoktium repräsentierenden) Waage in der Hand der Jungfrau des Tierkreises, die im Volksbuch vom Mad Merry Merlin abgebildet ist. Fromme Leser identifizierten sie natürlich mit der Hl. Mary Gipsy, denn das Schicksal der wahren Liebenden wippte in ihrer Waage auf und ab.
Viele dieser »greenwood marriages«, gesegnet von einem entsprungenen Klosterbruder, der sich Friar Tuck nannte, wurden nachträglich in der Kirche bestätigt. Oft aber wurden die »merrybegots« (»die fröhlich Gezeugten«) von ihren Vätern verstoßen. Wenn nach altem Brauch alljährlich der größte und handfesteste Bursche im Dorf auserwählt wurde, den Little John (oder »Jenkin«), Robins Stellvertreter in der Maske der Merry-Men (»Gesellen«) zu spielen, so ist dies wahrscheinlich der Grund dafür, daß Johnson, Jackson und Jenkinson heute zu den häufigsten britischen Namen gehören - die »merrybegots« des Little John. Doch ebenso fröhlich verfuhr Robin mit Robson, Hobson, Dobson (alles Spitznamen für Robin), Robinson, Hodson, Hudson und Hood; die Namen Greenwood und Meriman deuteten auf zweifelhafte Vaterschaft hin. Auch das weihnachtliche »merrimake« brachte (wie James Frazer in seinem Golden Bough erzählt) eine reiche Ernte an Kindern hervor. Wer weiß, wie viele Morris und Morrinsons ihren Vatersnamen auf die liebeslustigen »morrice-men« Marians »fröhliche Gesellen« [8] zurückführen? Oder wie viele »Prinzen«, »Lords« und »Kings« auf den Weihnachts-König oder -Prinz oder -Lord der Mißherrschaft?
Das weihnachtliche »merry-night play« war ein wichtiger Bestandteil der englischen Julzeit-Festlichkeiten; es sind davon sieben oder acht Versionen erhalten. Die wichtigsten Stationen sind die Enthauptung und Wiedererweckung des Christmas King oder Christmas Fool. Dies ist eines der eindeutigsten Überbleibsel der vorchristlichen Religion, und es geht letztlich auf das antike Kreta zurück. Firmicus Maternus erzählt in seinem Werk über den Irrtum der weltlichen Religion, wie der kretische Dionysos (Zagreus) auf Befehl des Zeus getötet, in einem Kessel gekocht und von den Titanen verzehrt wurde. Die Kreter, so sagt er, begingen alljährlich ein Begräbnisfest, bei dem sie das Drama vom Leiden und der Metamorphose des Knaben aufführten und an seiner Statt einen lebendigen Stier verzehrten. Er aber starb nicht, denn Epimenides zufolge dichtete Minos einen Panegyrikus auf ihn, den auch Paulus zitiert:
»Du wirst nicht sterben, sondern bleiben und leben ewiglich.« Und Paulus zitiert auch einen ähnlichen Satz des Dichters Aratus:
In dir leben, weben und sind wir (Act. 17,28).
In Athen wurde das gleiche Fest unter dem Namen »Lenala« (»Fest der Wilden Frauen«) zur Wintersonnwende gefeiert, und Tod und Wiedergeburt des Ernte-Kindes Dionysos wurden in ähnlicher Weise dramatisch auf geführt. Im ursprünglichen Mythos waren es nicht die Titanen, sondern die wilden Frauen, die neun Vertreterinnen der Mondgöttin Hera, die das Kind in Stücke rissen und aßen, und bei den Lenaia wurde nicht ein Stier, sondern ein Jährlingskitz verzehrt; wenn Apollon meint, daß Dionysos in ein Kitz - Eriphos verwandelt wurde, um ihn vor dem Zorn Heras zu retten, so bedeutet dies, daß Hera ihn einst als menschliches Kind verzehrte, daß aber, als Männer (die Titanen oder Tutoren) bei dem Fest zugelassen wurden, ein Kitz als Ersatzopfer eingeführt wurde.
Das älteste erhaltene Dokument europäischer religiöser Bräuche ist eine von Aurignac-Menschen gefertigte Höhlenmalerei bei Cogul im Nordosten Spaniens, die das altsteinzeitliche Fest der Lenäen darstellt. Ein junger Dionysos mit riesigen Genitalien steht unbewaffnet allein und erschöpft in der Mitte eines Halbkreises von neun tanzenden Frauen, die ihm ihre Gesichter zuwenden. Er ist nackt, abgesehen von - wie es scheint - knapp sitzenden Stiefeln, die mit Bändern am Knie befestigt sind. Die Frauen sind voll bekleidet und tragen kleine konische Hüte. Diese wilden Frauen, die sich nach Figur und Einzelheiten ihrer Kleidung unterscheiden, werden, wenn der Blick im Uhrzeigersinn um den Halbkreis wandert, immer älter. Die Reihe beginnt rechts mit drei jungen Mädchen, die ersten beiden in langen Röcken, und endet mit zwei mageren alten Frauen auf der linken Seite und einem abgezehrten alten Weib am äußersten Ende; das alte Weib hat ein Gesicht wie der Altmond und tanzt in dem Uhrzeigersinn entgegengesetzter Richtung. Dazwischen sehen wir drei kräftige Frauen mit goldenem Haar, eine von ihnen in einem kurzen, aufwendigen Festkleid. Sie repräsentieren eindeutig die Triaden des jungen, des alten und vollen Mondes - wobei das alte Weib Atropos ist, das älteste Mitglied der Altmond-Trias.
Vor dem ältesten Mitglied der Neumond-Trias befindet sich ein Tier, dessen Vorderpartie von ihrem Rock verdeckt ist - es scheint ein schwarzes Schwein zu sein. Und im Vordergrund des Bildes, hinter dem Rücken der Vollmond-Trias davonspringend, sehen wir genau das Tier, das Oisin in seiner Vision sah, als er von »Niamh of the Golden Hair« ins Land der Jugend versetzt wurde: ein Hirschkalb ohne Geweih. Auf dem Nacken des Hirschkalbs, aufrecht balancierend, das Gesicht nach hinten gewendet, entdecken wir,einen knabenhaft wirkenden Geist oder Kobold - ganz eindeutig die entweichende Seele des zum Tode verurteilten Dionysos. Denn die wilden Frauen drängen heran und werden ihn gleich in blutige Fetzen zerreißen und verschlingen. Obwohl das Bild nichts enthält, was auf die Jahreszeit hindeutete, dürfen wir sicher sein, daß es die Wintersonnwende war.
Kehren wir also noch einmal zu der dramatischen Geschichte Gwions des Knaben, der von der wilden alten Frau Cerridwen auf gegessen und als Wunderkind Taliesin wiedergeboren wird und zu dein Streitgespräch zwischen Phylip Brydydd und den »vulgären Reimeschmieden« zurück (siehe fünftes Kapitel), bei dem es darum ging, wer als erster dem Fürsten ein Lied zum Weihnachtstag vortragen solle. Die Romance of Taliesin ist eine Art Weihnachtsspiel, bei dem die Leiden des seine Gestalten wandelnden Kindes in Rätseln dargestellt werden. Es ist die ältere Version, und sie reflektiert die religiöse Theorie der früheuropäischen Gesellschaft, in der die Frau noch Herrin über das Schicksal des Mannes war, in der sie die Verfolgerin und nicht die Verfolgte war, vergewaltigte und nicht vergewaltigt wurde - wie wir aus den verblaßten Sagen von Dryope und flylas, Venus und Adonis, Diana und Endymion, Kirke und Odysseus herauslesen können. Die Gefährlichkeit der verschiedenen Fraueninseln lag darin, daß der Mann, der sich dorthin wagte, auf die gleiche mörderische Art sexuell attackiert werden konnte wie etwa die Männer Nordwestmelanesiens - wie B. Malinowski in Das Geschlechtsleben der Wilden berichtet - bestraft werden, wenn sie gegen weibliche Privilegien verstoßen.
Im frühen Mittelalter scheint mindestens ein Sabbat von neun wilden Frauen in Südwales aktiv gewesen zu sein: Der alte St. Samson von Dol, mit einem jungen Gefährten wandernd, hatte das Pech, ihren Hain zu betreten. Da ertönte plötzlich ein fürchterlicher Schrei, und aus einem Dickicht stürmte eine grauhaarige, rot gekleidete Vettel mit einem blutigen Dreizack in der Hand hervor. St. Samson wich nicht zurück; sein Gefährte floh, wurde aber sofort eingeholt und erstochen. Die Hexe verweigerte eine gütliche Einigung mit St. Samson, als dieser ihr Vorwürfe machte, und klärte ihn auf, daß sie eine der neun Schwestern sei, die mit ihrer Mutter - offensichtlich der Göttin Hekate - in diesen Wäldern hausten. Wären die jüngeren Schwestern zuerst zur Stelle gewesen, dann wäre der junge Mann wahrscheinlich einer gemeinschaftlichen sexuellen Attacke zum Opfer gefallen. Neun mordlustige schwarz gewandete Frauen treten in der isländischen Thidrandi-Saga auf. Obgleich vor den Folgen gewarnt, öffnete Thidrandi eines Nachts auf ein Klopfen hin die Tür und sah, wie sie von Norden her auf ihn eindrangen. Er konnte ihrem Angriff eine Welle mit dem Schwert standhalten, fiel aber dann, tödlich verwundet.
Gwions Verwandlungen laufen in strikter Jahreszeitenfolge ab. Hase in der herbstlichen Treibjagdsaison; Fisch in der regnerischen Winterzeit; Vogel im Frühling, wenn die Zugvögel wiederkehren; und schließlich Getreidekorn in der sommerlichen Erntezeit. Die Furie verfolgt ihn zuerst in Gestalt eines Jagdhundes, dann als Fischotter, dann als Falke, und sie erwischt ihn schließlich in Gestalt einer Henne mit prallem rotem Kamm roter Kamm und schwarze Federn weisen sie als Todesgöttin aus. In dieser Erzählung endet das Sonnenjahr mit der Worfelsaison des Frühherbsts, was auf einen Ursprung der Geschichte im östlichen Mittelmeerraum hinweist. In klassischer Zeit endete das kretische, zyprische und delphische Jahr, wie auch das kleinasiatische und palästinische, im September.
Als aber der Sieg der patriarchalischen Indo-Europäer das Sozialsystem des östlichen Mittelmeers revolutionierte, kehrte sich der Mythos von der Jagd der Geschlechter um. Die griechische und lateinische Mythologie enthält viele Anekdoten über die Verfolgung und Vergewaltigung flüchtiger Göttinnen oder Nymphen durch Götter in Tiergestalt - vor allem Zeus und Poseidon, die zwei ältesten Götter. Ähnlich finde ich in der europäischen Folklore zahllose Varianten auf das Thema der »zwei Zauberer«, wobei der männliche Zauberer nach einer heißen Jagd die Frau zauberisch überlistet und ihre Jungfernschaft gewinnt. in der englischen Ballade The Coal Black Smith, einem treffenden Beispiel für diese veränderte Form der Jagd, wird die richtige Jahreszeitenfolge verletzt, weil der ursprüngliche Kontext in Vergessenheit geriet. Sie wird ein Fisch, er ein Otter; sie ein Hase, er ein Jagdhund; sie wird eine Fliege, er eine Spinne, und er zieht sie in sein Netz; schließlich wird sie ein Laken auf seinem Bett, er eine Zudecke - und das Spiel ist gewonnen. In einer noch entstellteren französischen Version wird sie krank, und er wird ihr Arzt; sie wird eine Nonne, er wird ihr Priester und nimmt ihr Tag und Nacht die Beichte ab; sie wird ein Stern, er eine Wolke, die den Stern verdeckt.
Im britischen Hexenkult herrscht der männliche Zauberer vor - obwohl in einzelnen Gegenden Schottlands noch immer Hekate oder die Elfenkönigin oder Faerie regierte - und die Ballade vom Coal Black Smith wurde wahrscheinlich als dramatische Darstellung jener Jagd an einem Hexensabbat gesungen; die Verbindung von Schmieden mit gehörnten Göttern ist alt und geht bis auf Tubal Kain, den kenitischen Ziegengott zurück. Der gehörnte Teufel des Sabbat hatte sexuelle Beziehungen mit allen seinen Anhängerinnen, wenngleich er anscheinend ein riesiges künstliches Glied und nicht sein eigenes benutzte. Anne Armstrong, die bereits erwähnte northumbrische Hexe, bezeugte 1673, daß anläßlich eines gut besuchten Sabbats zu Allansford eine ihrer Gefährtinnen, Ann Baites von Morpeth, sich nacheinander in eine Katze, einen Hasen, einen Jagdhund und eine Biene verwandelte, damit der Teufel - »ein langer schwarzer Mann, ihr Beschützer, den sie ihren Gott nennen« ihre Verwandlungskünste bewundere. Zuerst dachte ich, daß er dabei Ann Baites, die anscheinend die Jungfer oder Führerin des Sabbats war, um den Kreis der Hexen herumjagte und daß sie der Reihe nach Gangart und Schrei dieser verschiedenen Tiere nachahmte, während auch er, sie verfolgend, sich entsprechend verwandelte. In The Coal Black Smith lautete die Formel: »er wurde ein Jagdhund«, oder »einer wurde ein brauner Otter«, »und brachte sie wieder heim« - »Heimbringen« ist hier im technischen Sinn von »zu ihrer eignen Gestalt« gemeint, denn Isobel Gowdle aus Auldearne zitierte bei ihrem Prozeß 1662 die Formel, mit der Hexen sich in einen Hasen verwandelten:
Ich werd' in einen Hasen fahren
Mit Angst und Seufzen und Sorgen viel
Und werd' in Teufels Namen fahren
Ach, bis ich wieder bei mir bin.
Aus ihren nachfolgenden Aussagen geht hervor, daß es sich nicht um eine Veränderung der äußeren Gestalt, sondern nur des Verhaltens handelte und daß der Vers einen dramatischen Tanz suggeriert. jetzt erkenne ich, daß Ann Baites eine Solovorstellung gab, bei der sie abwechselnd die Verfolgte und den Verfolger spielte und daß der Teufel sich damit begnügte, ihr lediglich zu applaudieren. Die Reihenfolge war vermutlich Jahreszeitlich bedingt Hase und Jagdhund, Forelle und Otter, Biene und Schwalbe, Maus und Katze - und von jener früheren Form der Jagd übernommen, bei der die Verfolgerin als Katze-Demeter schließlich die Sminthische Maus in der Worfelsaison auf der Dreschtenne vernichtete. Das ganze Lied läßt sich leicht in seiner ursprünglichen Version rekonstruieren. [9]
Eine Zwischenform des Mythos von den zwei Zauberern, die Diodor und auch Kallimachos, in seiner Hymne an Artemis und Antionius Liberalis, der Mythograph aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr. in seinen Metamorphosen zitieren, wiewohl sie ihn jeweils in verschiedene Regionen verlegen, geht so, daß die Göttin Artemis, alias Alphaea, Diktymna, Britormat oder Atergatis, vergeblich verfolgt wird und schließlich in Gestalt eines Fisches entkommt. Kallimachos läßt Minos von Kreta den erotischen Verfolger und Britomart die verfolgte Keuschheit spielen und erzählt, daß die Verfolgung neun Monate lang dauerte, von der frühen Flutsaison bis zur Worfelsaison. Dieser Mythos soll erklären, warum die Statuen der Göttin zu Askalon, Phigalia, Krabos, Aegina, Kephallenia, auf dem Berg Diktynnäum auf Kreta und an anderen Orten einen Fischschwanz haben, und rechtfertigen, daß ihre Anhänger an diesen Orten treu an ihren prähellenischen Riten und Hochzeitsbräuchen festhielten. Fischer spielen in dieser Geschichte eine wichtige Rolle - Diktynna bedeutet Netz - und Fischer sind bekanntlich in ihren Überzeugungen konservativ. In der philistinischen Version aus Askalon, die Athenäus zitiert, hieß die Göttin Derketo, und der Verfolger war ein gewisser Moschos oder Mopsos; vielleicht war damit Moschus, der Stammesvorfahr des Königs Midas gemeint, der die Hethiter besiegte. Sinnverwandt mit diesem Mythos ist Apollons fruchtloser Anschlag auf die Jungfernschaft der Nymphe Daphne.
Die Liebesjagd ist überraschenderweise auch die Grundlage der in Coventry spielenden Sage von der Lady Godiva. Den Schlüssel liefert uns ein Beichtstuhl in der Kathedrale von Coventry im Stil der frühenglischen grotesken Holzschnitzereien, der, wie die Kunstführer sagen, »eine die Wollust versinnbildlichende Figur« zeigt; eine langhaarige Frau, die in ein Netz gehüllt ist und im Damensitz auf einer Geiß reitet, während ein Hase voraus rennt. Gaster erzählt in seinen Geschichten aus dem jüdischen Targum, die er überall in Europa sammelte, von einer Frau, die, als sie von ihrem königlichen Geliebten auf eine Liebesprobe gestellt wurde - nämlich »weder bekleidet noch unbekleidet, weder zu Fuß noch zu Pferde, weder über das Wasser noch auf dem trockenen Land, weder mit noch ohne ein Geschenk« zu ihm zu kommen - mit einem Netz bekleidet, auf einer Geiß reitend kam, wobei sie einen Fuß im Wassergraben nachschleifte und einen Hasen freiließ. Die gleiche Geschichte erzählt mit geringen Abwandlungen Saxo Grammaticus in seiner Geschichte Dänemarks aus dem späten zwölften Jahrhundert. Aslog, die letzte aus dem Volsungengeschlecht, die Tochter Brunhilds mit Sigurd, lebte auf einem Bauernhof bei Spangerejd in Norwegen, verkleidet als Küchenmagd mit rußverschmiertem Gesicht, die den Namen Krake (Rabe) trug. Gleichwohl machte ihre Schönheit einen so starken Eindruck auf die Vasallen des Helden Ragnar Lodbrog, daß er sie zu ehelichen gedachte; um ihre Würdigkeit auf die Probe zu stellen, befahl er ihr, zu ihm zu kommen - weder zu Fuß noch beritten, weder bekleidet noch nackt, weder fastend noch schlemmend, weder in Begleitung noch allein. Sie kam auf dem Rücken einer Ziege, ließ einen Fuß am Boden schleifen, war nur mit ihrem Haar und einem Fischernetz bekleidet, hielt sich eine Zwiebel an die Lippen und führte einen Hund an ihrer Seite.
Fügen wir die beiden Geschichten zu einem Bild zusammen, so hat die »Wollust versinnbildlichende Figur« ein schwarzes Gesicht und langes Haar, ein Rabe fliegt über ihr, ein Hase läuft voraus, ein Hund ist an ihrer Seite, sie hält eine Frucht an die Lippen, ein Netz ist über ihr und eine Ziege unter ihr. Jetzt erkennen wir sie leicht als den Walpurgisnacht-Aspekt der Liebes- und Todesgöttin Freya, alias Frigga, Holda, Held, Hilde, Goda oder Ostara. Im Neolithikum oder in der frühen Bronzezeit kam sie aus dem Mittelmeerraum, wo sie als Diktynna (von ihrem Netz), Ägäa (von ihrer Geiß), Koronis (von ihrem Raben) und auch als Rhea, Britomart, Artemis usw. bekannt war, nach Norden und brachte den Labyrinthtanz mit.
Die Frucht an ihren Lippen ist wahrscheinlich der Apfel der Unsterblichkeit, und der Rabe bezeichnet Tod und Prophezeiung - Freyas prophetischer Rabe wurde von Odin übernommen, ähnlich wie Bran den Raben Danus und Apollon den Athenes entlehnte. Die Göttin wurde in Britannien als Rhiannon, Arianrhod, Cerridwen, Blodeuwedd, Danu oder Anna eingeführt, lange bevor die Sachsen, Angeln und Dänen sie in ganz ähnlichen Versionen mitbrachten. Hilde wohnte in der Milchstraße, genau wie die kretische Rhea und die britische Blodeuwedd (Olwen), die beiden mit Ziegen in Verbindung standen; und bei der Walpurgisnacht auf dem Brocken wurde ihr zu Ehren eine Geiß geopfert. Wie Holda ritt sie auf einer Ziege, und neben ihr rannte eine Meute von vierundzwanzig Hunden, ihre Töchter - die vierundzwanzig Stunden der Walpurgisnacht - und manchmal wurde sie als geschecktes Wesen dargestellt, um ihre Doppeldeutigkeit als schwarze Erdmutter und leichenblasser Tod - Holda und Hel anzudeuten. Wie Ostara, die sächsische Göttin, nach der Ostern benannt ist, besuchte sie einen Walpurgisnachtsabbat, bei dem ihr eine Ziege geopfert wurde. Der Hase war ihr rituelles Tier: er »legt« noch heute die Ostereier. Die Ziege verhieß Fruchtbarkeit der Rinder - der Hase gute Jagd, das Netz guten Fischfang, ihr langes Haar gute Ernten.
Der Geißbock der Walpurgisnacht, das ergibt sich aus den englischen Hexenzeremonien und aus dem schwedischen Maispiel »Bükkerwise«, wurde mit der Göttin verheiratet, geopfert und wieder erweckt: Dies besagt, daß die Priesterin öffentlich die Verbindung mit dem in Ziegenfelle gekleideten Jahreskönig einging und er danach entweder getötet und in Gestalt seines Nachfolgers wieder erweckt, oder aber ein Ziegenbock an seiner Stelle geopfert und seine Herrschaft verlängert wurde. Dieser Fruchtbarkeitsritus war die Grundlage der hoch vergeistigten »minderen Mysterien« von Eleusis, die im Februar aufgeführt wurden und bei denen die Hochzeit des Ziegenbocks Dionysos mit der Göttin Thyone, der »rasenden Königin«, sein Tod und seine Wiedererweckung dargestellt wurden. [10] In den entsprechenden alten Mysterien Britanniens gab es offenbar eine Formel, bei der die Göttin dem Initlanden, der eine Sakralhochzeit mit ihr vollzog, neckend versprach, er würde nicht sterbeii, »weder zu Fuß noch zu Pferde, weder auf dem Wasser noch auf dem Land, weder am Boden, noch in der Luft, weder im Freien noch unter Dach, weder beschuht noch barfuß, weder bekleidet noch nackt«, und ihn dann, als Demonstration ihrer Macht, in eine Stellung manövrierte, wo das Versprechen nicht mehr galt - wie in der Sage von Llew Llaw und Blodeuwedd, wo eine Ziege in der Mordszene eine Rolle spielt. Teile der Formel haben sich im Initiatiotisritus der Freimaurer erhalten. Der Lehrling wird »weder nackt noch bekleidet, weder barfuß noch beschuht, ohne alle Metalle, mit über die Augen gezogener Kapuze, mit einem Kabeltau um den Hals, in einer stehenden und doch gehenden Haltung vor die Tür der Loge geführt«. In Coventry ritt sie offenbar auf dem Ziegenbock zur Zeremonie, um ihre Herrschaft über ihn zu demonstrieren - ähnlich wie Europe auf dem Minos-Stier oder Hera auf ihrem Löwen ritt. Der Hase galt, wie wir im sechzehnten Kapitel sahen, im pelasgischen Griechenland wie in Britannien als heilig, weil er flink und fruchtbar ist und sich ohne Scheu öffentlich paart. In diesem Zusammenhang sollte ich auch erwähnen, daß das frühbritannische Tabu gegen die Jagd auf Hasen (wobei die Strafe für den Verstoß darin bestand, daß man mit Feigheit geschlagen wurde) ursprünglich an einem einzigen Tag des Jahres - dem Tag vor der Walpurgisnacht - aufgehoben wurde, ähnlich wie das Tabu gegen die Jagd auf den Zaunkönig nur am St. Stephanstag aufgehoben wurde. (Boadicea ließ während ihres Kampfes mit den Römern den Hasen los, wahrscheinlich in der Hoffnung, die Römer würden ihn mit ihren Schwertern schlagen und dadurch ihren Mut verlieren.)
Am Tag vor der Walpurgisnacht wurde der Hase rituell gejagt, und die auf jenem Beichtstuhl abgebildete »Figur der Wollust« - was in diesem Fall eine ganz zutreffende Beschreibung der Göttin ist - läßt den Hasen frei, damit ihre Töchter ihn jagen. Das Volkslied I fall those young men gehörte offenbar zu diesen Lustbarkeiten der Hexen in der Walpurgisnacht.
Wenn all diese jungen Männer wie Hasen auf dem Berge wär'n,
Dann würden all diese hübschen Jungfern Gewehre holen und auf die
Jagd geh'n.
»Gewehre holen« stammt wahrscheinlich aus dem achtzehnten Jahrhundert; eigentlich sollte es heißen: »Sich in Hunde verwandeln«. Aber hören wir die weiteren Verse:
Wenn all diese jungen Männer wie Fische im Wasser wär'n,
Dann würden all diese hübschen Jungfern ihnen rasch folgen.
Mit Netzen? Wie wir aus der Geschichte vom Prinzen Elphin und Klein Gwion wissen, war die Walpurgisnacht der richtige Tag, um eine Reuse auszulegen, und die Göttin brachte gewiß nicht umsonst ihr Netz zum Sabbat mit.
Wenn all diese jungen Männer wie sprossende Binsen wär'n,
dann würden all diese hübschen Jungfern Sicheln holen und mäh'n.
Da haben wir wieder die Liebesjagd: Die Seele des Sakralkönigs, von den orgiastischen Weibern im Kreis gehetzt, versucht in Gestalt des Hasen, des Fisches oder der Biene zu entkommen; aber sie verfolgen ihn erbarmungslos, und am Ende wird er gefangen, in Stücke gerissen und verschlungen. In einer Variante des Volkslieds ist der Mann der Verfolger, nicht der Verfolgte:
Junge Frau'n springen wie Hasen über den Berg
Wär ich doch ein junger Mann, ich wollte sie jagen.
In der Geschichte von der Lady Godiva, die Roger of Wendover, ein im dreizehnten Jahrhundert lebender Chronist von St. Alban's erzählt, bittet die sächsische Edelfrau Godiva (Godgifu) kurz vor der normannischen Eroberung ihren Gatten Leofrig, den Earl of Mercia, das Volk von Coventry von drückenden Tributen zu befreien. Er pflichtet bei unter der Bedingung, daß sie an einem Markttag nackt durch die Menge reite; sie tat es, mit je einem Ritter zu beiden Seiten, wahrte aber den Anstand, indem sie sich mit ihren Haaren bedeckte, so daß nur ihre »sehr weißen Beine« herauslugten. Diese Geschichte, die auch über die Countess of Hereford und »King John« im Zusammenhang mit der Verteilung von Brot und Käse in St. Briavel's in Gloucester erzählt wird, kann nicht historische Wahrheit sein, denn Coventry war in Lady Godivas Tagen ein Dorf ohne Tribute oder Märkte. Doch es ist gewiß, daß sie im Jahr 1040 Leofrig überredete, in Coventry ein Benediktinerkloster zu bauen und mit einer Stiftung auszustatten. Und was nun tatsächlich geschah, ist, daß nach der Eroberung die Mönche eine örtliche Maiprozession der Göttin Goda, bei der alle frommen Christen anfangs zu Hause bleiben mußten, dadurch tarnten, daß sie eine Anekdote über ihre Wohltäterin, Lady Godiva, in Umlauf brachten, die sie in Anlehnung an Saxos Geschichte ersonnen hatten. Der Betrug wird durch die Lady-Godiva-Prozession von Southam (neun Meilen südlich von Coventry und zu Leofrigs Herzogtum gehörend) aufgedeckt, bei der zwei Figuren herumgetragen wurden, die eine weiß, die andere schwarz - die Göttin als Holda und Hel, als Liebe und Tod. Die Geschichte vom Schneiderlein Peeping Tom ist bei Roger of Wendover nicht erwähnt, könnte aber eine echte frühe Überlieferung sein. Die St. Briavels-Zeremonie, die, ähnlich wie die Prozessionen von Southam und Coventry, an Fronleichnam stattfand, einem in York wie in Coventry mit Mysterienspielen verbundenen Festtag, erinnerte angeblich an die Befreiung des Volkes von einer Steuer, die auf das Sammeln von Brennholz aus den umliegenden Wäldern erhoben wurde; Fronleichnam fällt immer auf einen Freitag, den Tag der Göttin, und entspricht in etwa der Walpurgisnacht. So liegt der Ursprung des Mysterienspiels wahrscheinlich in den Walpurgisnacht-Feiern oder im »Bükkerwise« zu Ehren der Göttin Goda, der Bona Dea. Falls es dabei Männern verboten war, an der Prozession tellzunehmen, könnte die Geschichte vom neugierigen Peeping Tom die Erinnerung an dieses Verbot bewahren - das auch in Rom bei den Prozessionen der Bona Dea bestand, ähnlich wie im keltischen Germanien, wo es laut Tacitus (Germania, Kap. 40 jedem Mann verboten war, Herthas alljährliches Bad zu beobachten, das sie nach ihrer Wanderung zurück in ihren heiligen Hain nahm, und ähnlich wie in Griechenland in den Tagen Aktaions, als Diana im Walde ihr Bad nahm.
Die Britannier sind eine Mischrasse, aber die nicht-teutonischen Elemente, die die Göttin anbeteten, sind die stärkeren. Dies erklärt, warum die in englischer Sprache geschriebene Dichtung der Dichter eine so hartnäckig heidnische ist. Die biblische Vorstellung von der unabdingbaren Überlegenheit des Mannes über die Frau ist der britischen Seele fremd: und für jeden sensiblen Briten gilt bei allen Gesellschaftlichen Anlässen die Regel »Ladies first«. Der ritterliche Mann stirbt bereitwilliger im Dienste einer Königin als eines Königs: Tatsächlich ist Selbstvernichtung ein anerkannter Beweis großer Leidenschaft:
Und für die schöne Annie Laurie
würd ich mich hinlegen und sterben.
In Britannien besteht eine unbewußte Sehnsucht nach Göttinnen - wenn schon nicht einer so dominanten Göttin wie der ursprünglichen Dreifältigen Göttin, so doch wenigstens nach einem weiblichen Wesen, das die Allmännlichkeit der christlichen Trinität mildert. Die männliche Trinität entspricht immer weniger dem britischen Sozialsystem, in dem die Frau, heute, da sie Eigentum besitzen und wählen kann, beinah jene geachtete Stellung wiedergewonnen hat, die sie vor der puritanischen Revolution genoß. Gewiß, die männliche Trinität ist älter als die puritanische Revolution, doch sie war ein theologisches, kein emotionales Konzept. Wie wir sahen, nahm die Himmelskönigin mit ihrem Gefolge von weiblichen Heiligen in der Zeit zwischen den Kreuzzügen einen viel festeren Platz in der Phantasie des Volkes ein als etwa der Vater oder der Sohn. Und der Bruch Heinrichs VIII. mit Rom hatte zur Folge, daß seine Tochter, Königin Elisabeth I., als sie Oberhaupt der Anglikanischen Kirche wurde, beim Volk als eine Art Göttin galt. Die Dichter erhoben sie nicht nur zu ihrer Muse, sondern verliehen ihr auch Titel wie Phoebe, Virginia, Gloriana, die sie mit der Mondgöttin gleichsetzten. Und die außerordentliche Zuneigung, die sie bei ihren Untertanen genoß, war weitgehend durch diesen Kult bedingt.
Die zeitweilige Wiedereinsetzung des Donnergottes in eine tatsächliche religiöse Machtstellung, die während des Commonwealth erfolgte, war das bemerkenswerteste Ereignis in der modernen britischen Geschichte; die Ursache dazu war ein geistiges Ferment, das die King James Bibel unter den merkantilen Schichten der großen Städte und in Teilen Schottlands und Englands einbrachte, wo das keltische Blut am dünnsten floß. Der erste Bürgerkrieg wurde vor allem zwischen dem ritterlichen Adel und seinen Hintersassen und den antiritterlichen merkantilen Schichten mit ihren Anhängern aus der Handwerkerschicht ausgefochten. Der angelsächsisch-dänische Südosten war geschlossen parlamentarisch gesinnt, und der keltische Nordwesten ebenso geschlossen royalistisch. So trifft es sich, daß in der Schlacht von Naseby, die den Ausgang des Krieges entschied, das parlamentarische Heer mit dem Schlachtruf »Gott unsre Stärke« und das royalistische Heer unter dem Banner »Queen Mary« in den Kampf zogen. Queen Mary war Katholikin, und ihr Name erinnerte an die Königin des Himmels und der Liebe. Der Donnergott behauptete das Feld und kehrte seinen Zorn nicht nur gegen die Jungfrau und ihr Gefolge von Heiligen, sondern auch gegen Maid marian und ihre Maibaum-Gesellschaften und gegen jenen anderen Kult der Dreifältigen Göttin, der sich insgeheim noch in vielen Teilen der britischen Inseln erhalten hatte - den Hexenkult. Aber sein Triumph war nur kurzlebig, weil er nach dem Sieg seinen ersten Stellvertreter, den König, beseitigen ließ. [11] Er wurde daher unter der Restauration zeitweilig verdrängt, und als er 1688 mit einem protestantischen König als Stellvertreter wiederkehrte, war sein donnernder Zorn schon gedämpft.Einen zweiten Machtzuwachs erfuhr er, unterstützt durch die Händlerklasse, in der enthusiastischen religiösen Wiedererweckung, die mit der industriellen Revolution einherging; doch Anfang dieses Jahrhunderts verlor er wieder an Boden.
Elisabeth war die letzte Königin, die die Rolle der Muse spielte. Viktoria bevorzugte, ähnlich wie Königin Anna, die Rolle der Kriegsgöttin, die ihre Heere anfeuerte, und erwies sich als tüchtige Stellvertreterin des Donnergottes. Noch während der Regierungszeit ihres Enkels sangen die 88th Carnatics der Indischen Armee:
Cooch parwani
Gute Zeiten kommen!
Königin Viktoria
Sehr guter Mann!
Früh aufstehen
Am Morgen
Briten sollen niemals
Niemals Sklaven sein...
Aber die Königin erwartete von den Frauen Englands, daß sie ihre Männer achteten, wie sie selbst den ihren geachtet hatte, und keinerlei sexuelle Koketterie oder Interesse an Liebespoesie und Gelehrsamkeit entfalteten, die geeignet wären, eine Königin zur Muse der Dichter zu machen. Nach Königin Anne wie nach Königin Viktoria wurden berühmte Epochen der englischen Dichtung benannt, und der Name der Königin Anne bezeichnet einen leidenschaftslos dekorativen Schreibstil, während der Viktorias für didaktische Belehrung und Rokoko-Ornamentik steht.
Die Liebe der Briten zu ihren Königinnen beruht anscheinend nicht nur auf dem historischen Gemeinplatz, daß »Britannien nie so gut gedeiht, als wenn eine Königin auf dem Thron sitzt«. Vielmehr kommt darin eine hartnäckige Überzeugung zum Ausdruck, daß dies eine Mutternation, kein Vaterland sei - eine Eigenschaft, die die klassischen Griechen auch auf Kreta fanden - und daß die wichtigste Funktion des Königs darin bestehe, der Gemahl der Königin zu sein. Solche nationalen Vorstellungen oder Überzeugungen oder Obsessionen sind letztlich die Ursache aller Religion, des Mythos und der Dichtung und lassen sich weder durch Eroberung noch durch Erziehung ausrotten.