Klein Gwion drängte sich mir auf, freundlich aber unnachgiebig - wie kleine Kinder es tun , zu einer Zeit, als ich mit einem anderen Buch zu beschäftigt war, um an etwas anderes zu denken. Er ließ sich nicht abwimmeln, obwohl ich einwandte, daß ich nicht die geringste Absicht hätte, mich auf das Gebiet der bardischen Mythen vorzuwagen, und auch keine wissenschaftlichen Voraussetzungen dafür mitbrächte. Trotz meiner jetzigen, scheinbar mühelosen Vertrautheit mit der keltischen Literatur hätte ich damals keine einzige Frage des Hanes Taliesin-Rätsels beantworten können (das auf den ersten Blick an das »hübsche poetische Rätsel von Fischen«, erinnerte, das die Weiße Königin Alice beim Schlußbankett in Spiegel-Land aufgab), hätte ich nicht die meisten Antworten aufgrund dichterischer Intuition schon von vornherein gewußt. Tatsächlich, ich brauchte sie nur noch an den Texten zu verifizieren; und obwohl ich nicht mehr als ein paar der dazu notwendigen Bücher in meiner recht kleinen Bibliothek hatte, wurden mir die übrigen, ohne daß ich darum gebeten hätte, von Dichter-Freunden zugesandt oder fielen mir aus den Regalen eines Bücherkrämers an der Strandpromenade in die Hände. ich entwarf dieses ganze Buch, etwa die Hälfte des jetzigen Umfangs, binnen sechs Wochen, und kehrte dann zu jenem anderen Buch zurück; aber ich verbrachte dann noch sechs Jahre damit, den Entwurf auszufeilen.
Die Kette der Zufälle, die mir meine Arbeit ermöglichte, war von jener Art, wie sie Dichtern vertraut ist. Überhaupt, was bedeutet schon Zufall? Was bedeutete er für Euklid? Er konnte z. B. bedeuten, daß, wenn man unter bestimmten Umständen das Dreieck Alpha-Beta-Gamma an das Dreieck Delta-Epsilon-Zeta anlegte, Gamma und Zeta mehr oder minder identisch festgelegt waren. Ähnlich ging es bei meiner Arbeit: da ich die Antworten auf Gwions Rätsel im voraus wußte, konnte ich das notwendige Bücherwissen als vorhanden und verfügbar voraussetzen, und daher fielen die Bücher mir einfach zu, wie ich sie brauchte. Zeta und Gamma küßten sich behutsam, und ich konnte ein Gedankengebäude in vernünftige Gestalt bringen, auf das ich durch Unvernunft gestoßen war.
Eines Tages durchquerte Willam Rowan Hamilton, dessen Porträt auf einer 1943 in Irland herausgegebenen Gedenkbriefmarke zu sehen ist, gerade den Phoenix Park in Dublin, als ihn die Vorahnung einer mathematischen Ordnung befiel, die er »Quaternionen« nannte und die der seinerzeitigen Entwicklung der Mathematik so weit voraus war, daß die Lücke erst in jüngster Zeit, nach einer langen Kette der in der Zwischenzeit daran arbeitenden Mathematiker, überbrückt werden konnte. Alle überragenden Mathematiker besitzen diese Kraft, einen gewaltigen geistigen Satz ins Dunkel zu tun und fest auf beiden Füßen zu landen. Clerk Maxwell ist der bekannteste von ihnen, und er verriet das Geheimnis seiner unwissenschaftlichen Denkmethoden, da er ein so armseliger Rechner war: er vermochte die richtige Formel zu finden, mußte aber seine Kollegen zu Hilfe nehmen, um das Resultat durch kleingeistige Rechnerei zu verifizieren.
Mit den meisten Mitteln diagnostizieren die meisten hervorragenden Ärzte das Wesen einer Krankheit, auch wenn sie hinterher ihre Diagnose durch eine logische Überprüfung der Symptome rechtfertigen mögen. Tatsächlich ist es nicht zu hoch gegriffen, wenn man sagt, daß alle ursprünglichen oder originellen Entdeckungen und Erfindungen und musikalische und poetische Werke das Ergebnis eines proleptischen Denkens sind - der mit Hilfe einer Aufhebung der Zeit erfolgenden Antizipation eines Resultats, das durch induktive Schlußfolgerung nicht gefunden werden könnte - und eines, wie wir sagen könnten, analeptischen Denkens, der Wiederentdeckung vergessener oder verlorener Ereignisse mittels der gleichen zeitlichen Aufhebung.
Dies braucht nicht mehr zu bedeuten, als daß die Zeit, obgleich eine höchst nützliche Denkkonvention, keinen höheren substantiellen Wert hat als etwa das Geld. In zeitlichen Bezügen denken, das ist eine sehr komplizierte und unnatürliche Art zu denken. Viele Kinder beherrschen Fremdsprachen und Mathematik, lange bevor sie ein Zeitgefühl entwickeln oder die so leicht zu widerlegende These akzeptieren, daß die Ursache der Wirkung vorausgehen müsse.
Vor ein paar Jahren schrieb ich in einem Gedicht über die Muse:
Wenn, wo sie ist, seltsame Dinge sich ereignen,
So daß die Menschen sagen, Gräber tun sich auf
Und Tote wandeln, oder daß das Künftige
Zum Mutterschoße wird und schon die Ungebor'nen sich verlieren -
Solch Zuträgnisse sind nicht verwunderlich, denn
Wirbel im Zeitenstrom sind's, verursacht durch
Den starken Sog ihres geflügelten Geistes, der
Wie eine Klinge fährt durchs widerwill'ge Element.
Die Dichter werden dies aus ihrer eigenen Erfahrung bestätigen können, und seit, nachdem ich dieses Gedicht geschrieben hatte, J. W. Dunnes Experiment with Time auch in prosaischer Form den Gedanken ausgeführt hat, daß die Zeit nicht jene zuverlässige Rolltreppe ist, wie die Prosaisten sie seit Jahrhunderten darstellten, sondern ein unberechenbares Schwingen und Schwanken, werden auch die Prosaisten leicht erkennen, worauf ich hinaus will. Im dichterischen Akt wird die Zeit aufgehoben, und oft gehen Details zukünftiger Erfahrung in das Gedicht ein, wie es ja auch im Traum geschieht. Dies erklärt, warum die erste Muse der griechischen Trias Mnemosyne hieß, »Erinnerung«: denn man kann Erinnerungen an die Zukunft wie an die Vergangenheit haben. Die Erinnerung, an die Zukunft wird bei Tieren Instinkt, bei den Menschen Intuition genannt.
Ein offensichtlicher Unterschied zwischen Gedichten und Träumen ist, daß man bei Gedichten die kritische Kontrolle über die Situation behält (oder behalten sollte); in Träumen ist man ein Paranoiker, ein bloßer Zuschauer des mythographischen Ereignisses. Aber in Gedichten wie in Träumen findet eine Aufhebung der Zeitkriterien statt; und wenn die irischen Dichter von verzauberten Inseln schrieben, wo dreihundert Jahre verstrichen wie ein Tag, und diese Inseln unter die Herrschaft der Muse stellten, so definierten sie diese Aufhebung. Der unverhoffte Schock einer Rückkehr in den vertrauten Denkmodus der Zeit wird in den Mythen dadurch versinnbildlicht, daß dem jungen Helden, der von einem Besuch auf der Insel nach Hause reitet, der Sattelgurt reißt. Sein Fuß berührt den Boden, und der Zauber ist gebrochen: »Da befielen ihn plötzlich die Kümmernisse des Alters und der Krankheit.«
Ein Gefühl für das doppelsinnige Wesen der Zeit begleitet ständig die Dichter, es überstrahlt Hoffnungen und Ängste hinsichtlich der Zukunft, es konzentriert die Interessen gleichmütig auf die Vergangenheit. Dies beschrieb ich in proleptischer Ausführlichkeit im Jahr 1934, in dem Gedicht »The Fallen Tower of Siloam«, das anhob:
Sollte das Bauwerk wanken, springt nach einem Bogen!
Dort waren wir bereits ...
Eine interessante Eigenheit von Prolepsis und Analepsis ist aber, daß Begriff und Realität niemals ganz exakt zusammenfallen: Gamma fällt mit Zeta zusammen, aber nicht so genau, daß eines von beiden seine Identität verlöre. Die Koninzidenz ist vielleicht so eng wie in der Musik zwischen dem natürlichen B und dem um einen Halbton verminderten C, für die es aus ökonomischen Gründen auf dem Klavier nur eine einzige Saite gibt: sie haben leicht unterschiedliche Schwingungslängen, aber nur ein bemerkenswert scharfes Ohr kann sie unterscheiden; oder vielleicht auch so eng wie zwischen den mathematischen Werten 22/7 und pi: wenn man z. B. berechnen will, wieviel Borte man für den Boden eines Rundzeltes von drei Metern Durchmesser benötigt, ist 22/7 die adäquate Formel.
Im September 1943, als ich meine Gedanken nicht davon abhalten konnte, Tag und Nacht auf der Jagd nach dem Rehbock dahinzueilen, so rasch, daß meine Feder nicht schritthalten konnte, versuchte ich mir eine kritische Objektivität zu bewahren. Ich sagte mir: ich genieße diese Spritztour nicht besonders, ich interessiere mich nicht besonders für das fremde Land, über das mein Besenstiel mit mir fliegt, und ich bin mir gar nicht sicher, ob ich mir die Mühe machen sollte, es kartographisch zu vermessen. Dann redete ich schizophren zu mir selbst: »Ich will dir mal was sagen, Robert, ich will dir ein einfaches, wohlbekanntes, aber bislang ungelöstes Rätsel aufgeben, und wenn du dies erklären kannst, na gut, dann will ich auch deinen anderen Entdeckungen Beachtung schenken.«
Das Rätsel, das ich mir aufgab, war der letzte Vers aus dem dreizehnten Kapitel der Apokalypse:
Hier ist Weisheit! Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tiers;
denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig.
Ich erinnerte mich wie von ungefähr aus meiner Schulzeit an die zwei traditionellen Lösungen für dieses Kryptogramm des Johannes. Beide gehen von der Annahme aus, daß die Zahl 666, da die Zahlenwerte im Griechischen wie im Hebräischen durch Buchstaben des Alphabets ausgedrückt wurden, eine Summe sein mußte, auf die man gelangte, wenn man die Buchstaben addierte, die den Namen des Tiers bildeten. Die früheste Lösung, die der Bischof Irenäus im zweiten Jahrhundert fand, ist LATEINOS, was »Der Lateinische« bedeutet und mithin die Rasse des Tieres angibt; die allgemein akzeptierte moderne Lösung - ich habe vergessen, wer sie fand - lautet NERON KESAR, nämlich der Kaiser Nero, der als der Antichrist galt. [1] Keine der beiden Lösungen ist ganz befriedigend. »Der Lateinische« ist eine zu unbestimmte Charakterisierung des Tiers 666, und die ursprüngliche griechische Schreibweise für »Caesar« war KAISAR, nicht KESAR. Außerdem sind die möglichen Buchstabenkombinationen, die sich als Zahlenwerte auf 666 addieren, und die möglichen anagrammatischen Anordnungen aller dieser Buchstaben-Zahlenwerte so zahlreich, daß die Summe der Möglichkeiten sich nachgerade gegen Unendlich nähert. Die Apokalypse wurde in griechischer Sprache geschrieben, aber mein analeptisches Ich, in dieser Weise angesprochen, beharrte hartnäckig darauf, lateinisch zu denken; und in einer Art Vision sah ich die römischen Zahlen über die Wand des Zimmers blitzen, in dem ich mich gerade befand. Sie bildeten ein Plakat:
D.C.L.X.
V.I.
Als sie endlich stehenblieben, sah ich sie mit einem schrägen Blick an. Die Dichter werden wissen, was ich mit einem »schrägen Blick« meine: es ist eine gewisse Art, durch ein schwieriges Wort oder einen Satz hindurchzublicken, um den hinter den Buchstaben lauernden Sinn zu entdecken. Ich sah, daß das Plakat ein titulus war, die römische Schrifttafell die auf dem Exekutionsplatz über den Köpfen der Delinquenten befestigt wurde, um ihr Verbrechen zu erläutern. Und da buchstabierte ich:
DOMITIANUS CAESAR LEGATOS XTI
VILITER INTERFECIT
»Domitian Caesar tötete auf gemeine Weise die Gesandten Christi.«
I.N.R.I. war der titulus Jesu Christi. D.C.L.X.V.I war der titulus des Antichrist.
Das einzige Wort, über das ich stolperte, war VILITER; es wirkte verschwommen. Die Verfolgung der Kirche unter Nero und Domitian hatte mich nie besonders interessiert, und die Probe, auf die ich mein Denken stellte, war daher eher Routine - wie wenn ich, falls ich mich im Verdacht hätte, betrunken zu sein, mit der Routineformel »The Leith police dismisseth us«, (im Deutschen ungefähr vergleichbar mit: Fischers Fritze fischt frische Fische), meine Zungenfertigkeit auf die Probe gestellt hätte. Historisch war ich völlig unvoreingenommen, und meine klinischen Beobachtungen an dem Fall sind daher vertrauenswürdig.
Erstens war mir bewußt, daß die Apokalypse von den meisten Bibelforschern auf die Regierungszeit Neros (54-67 n. Chr.), nicht auf die Domitians (81-96 n. Chr.) datiert wird, weil doch die ganze Tendenz der Vision gegen Nero gerichtet scheint. Und doch las mein Auge Domitianus. Und zweitens war mir bewußt, daß viliter im Silbernen Zeitalter der Lateiner »billig« bedeutete, und daß es im übertragenen Sinn von »gemein« eher Wertlosigkeit und nicht Bosheit impliziert. Und doch las mein Auge »viliter«.
Es dauerte etliche Wochen, bis ich dies Paradoxon zu verstehen begann. Mir schien, daß mein analeptisches Ich recht solide Arbeit geleistet hatte; D.C.L.X.V.I. war der richtige Text, und auch die Lösung war richtig. Aber mein Auge hatte unter dem Einfluß meines vernünftigen Selbst offenbar geirrt. Es hatte sich verlesen, wie es so oft Briefe und Zeitungsüberschriften verliest, wenn ich morgens noch nicht ganz wach bin. Der Text lautete in Wirklichkeit:
DOMITIUS CAESAR LEGATOS XII
VIOLENTER INTERFECIT
Da aber mein vernünftiges Selbst mit »Domitius Caesar« nichts anzufangen wußte tatsächlich gab es keine Gestalt dieses Namens - hatte es eilfertig den Irrtum korrigiert, indem es »Domitianus« verstand. Und jetzt erinnerte ich mich, daß Domitius der ursprüngliche Name Neros war, bevor Kaiser Claudius ihn in die kaiserliche Familie adoptierte und seinen Namen in Nero Claudius Caesar Drusus Germanicus änderte, und daß er es haßte, an seine plebejische Herkunft erinnert zu werden. (Ich glaube, es ist Sueton, der diese Empfindlichkeit Neros vermerkt.) Neros krimineller Vater, Gnaeus Domitius Ahenobarbus, soll, als ihm zu der Geburt des Kindes gratuliert wurde, kühl erwidert haben, daß ein Sproß von ihm und seiner Frau Agrippinilla dem Staat nur Unheil bringen könne. Also war »Domitius Caesar« eine Schmähung, die in das Kryptogramm des Johannes paßte ähnlich wie die Hitlergegner 1933 politisches Kapitel aus dem »Kanzler Schickelgruber« schlugen. Johannes der Seher mochte natürlich Neros Gefühle nicht respektieren, als er die Apokalypse schrieb, und das Einsetzen von D. C. für N. C konnte das Geheimnis wahren.
Violenter bedeutet mehr als »grob« oder »unerbittlich«: es enthält die Bedeutung von frevlerischem Zorn und Greuel. Also hatte anscheinend mein verbesserungseifriges Auge das EN aus VIOLENTER in das unmittelbar darüberstehende Wort hinauf versetzt und DOMITIENUS gelesen, was »Domitianus« so nahe kam, daß es mir nicht weiter auffiel; und das sinnlose Wort VIOLTER, das unten stehenblieb, war folglich eine verschwommene Stelle, die ich stockend als VILTER las, da ich es als ein Schmähwort erkannt hatte.
(Ich will zu dieser Lesart nicht mehr sagen, als daß sie historischen Sinn macht. Wer könnte sagen, ob dieser Sinn von Johannes hineingelegt wurde - sozusagen um mir einen Gefallen zu tun? Oder von mir - sozusagen um Johannes einen Gefallen zu tun? Ich weiß nur, daß ich die Wörter ungefähr so leicht und gedankenlos ablas wie etwa der Zensor, der die Post der Soldaten kontrolliert, das Kryptogramm am Schluß eines Briefes an die Geliebte zu Hause: »X.X.X.-W.I.W.R.D.D.Y?« sofort als »Kiss-kiss-kiss - wish it was real, darling, don't you?«)
Das ist aber noch nicht alles. Als ich mir den Text der Apokalypse genauer vornahm, fand ich am Rande einen Querverweis auf Kapitel 15, Vers 2, der da lautet:
Und ich sah wie ein gläsernes Meer, mit Feuer gemengt; und die den
Sieg behalten hatten an dem Tier und seinem Bilde und seinem Malzeichen
und seines Namens Zahl, standen an dem gläsernen Meer
und hatten Harfen Gottes.
Das »Bild« ist das im vorstehenden Kontext erwähnte: die Bedeutung ist offenbar, daß Christen, die sich standhaft weigerten, die Statue Neros anzubeten, als Märtyrer starben. Daher waren die, »die den Sieg behalten hatten an dem Tier und seinem Bilde und seinem Malzeichen und seines Namens Zahl« die Gesandten Christi, die sich weigerten, sich durch Terror zur Anbetung des Kaisers zwingen zu lassen und die, als sie frevlerisch erschlagen wurden, direkt ins Paradies auffuhren.
Nun erhob sich aber die Frage: Warum hatte mein Auge »Domitianus« gelesen, wo der Text doch »Domitius« lautete? Dies bedurfte einer Erklärung, denn mein Auge war überzeugt gewesen, daß Domitian und nicht Nero gemeint war, und hatte den Text rasch entsprechend verbessert, um seine Auffassung zu beweisen. Vielleicht war mein Auge ohnehin der Diener meines verrückten analeptischen Selbst? Vielleicht waren beide, Domitian und Domitius gemeint. Ich meine, vielleicht wurde die Apokalypse ursprünglich in der Zeit der Verfolgungen unter Nero geschrieben, dann aber während der Regierungszeit Domitians erweitert und auf neuesten Stand gebracht - der ja die neronischen Verfolgungen wieder aufnahm und dessen Name bedeutet: »von Domitius' Art«. Wie aber steht es mit den Versen:
»Und ich sah seiner Häupter eines, als wäre es tödlich wund; und seine tödliche Wunde ward hell. Und der ganze Erdboden verwunderte sich des Tieres.«
Und sie ... beteten das Tier an und sprachen: Wer ist dem Tier gleich, und wer kann mit ihm kriegen?
Und es ward ihm gegeben ein Mund, zu reden große Dinge und Lästerungen, und ward ihm gegeben, daß es mit ihm währte zweiundvierzig Monate lang...
Und ihm ward gegeben, zu streiten mit den Heiligen und sie zu überwinden. (Apc. 13,3 ff.)
Dies bezog sich eindeutig auf die damalige allgemeine Überzeugung, daß Nero, von seiner tödlichen Schwertwunde genesen, einst wiederkehren würde, sowie auf die selbstverständliche Annahme der Christen, daß er in Domitian wiedergeboren war.
(Ausgezeichnet: inzwischen habe ich festgestellt, daß genau dies der Schluß ist, zu dem Dr. T. W. Crafer in seinem neuen Werk über die Apokalypse gelangt.)
Zweiundvierzig ist die Zahl der Jahre (54-96 .. Chr.) zwischen der Thronbesteigung Neros, des siebenten Caesars, und dem Tod Domitians, des zwölften und letzten Caesars, durch das Schwert. Bei dergleichen prophetischen Schriften werden Jahre meist als Monate und Monate als Tage angegeben. Der Satz: »und es ward ihm gegeben, daß es mit ihm währte zweiundvierzig Monate lang«, scheint eine eingeschobene Glosse zu der ursprünglichen Prophezeiung zu sein, daß Domitian, der sich blasphemisch als Herr und Gott bezeichnete, ein gewaltsames Ende finden würde. Unter Domitians Nachfolger Nerva genoß die Kirche eine verhältnismäßig friedliche Zeit.
Daß in manchen Manuskripten 616 statt 666 steht, besagt nichts gegen meine Überlegungen. Es wird dabei lediglich der Buchstabe L für legatos unterschlagen. DCXVI bedeutet, daß das Tier, mit Paulus Worten, »den Sohn Gottes aufs neue kreuzigte«.
Das Ergebnis meiner Probe überzeugte mich und wird hoffentlich auch andere davon überzeugen, daß ich mich nicht einer meldepflichtigen Paranoia überlassen hatte.
Ich sollte aber noch anfügen, daß die ursprüngliche Version der Apokalypse, nachdem das elfte Kapitel die Erhaltung des Tempels vorhersagt, nach dem Tode Neros geschrieben sein muß, jedoch vor der Zerstörung des Tempels und in einer Zeit, in der allgemein Gerüchte über sein Wiedererscheinen kursierten. Und daß die - auf 666 sich addierenden - hebräischen Buchstaben TRJVN (Tav = 400; Resch = 200; Yod = 10; Vav = 6; Nun = 50), die in der talmudischen Literatur geläufige Tarnchiffre für Nero bilden (trijon heißt »kleines Tier«); und auch, daß die Autoren des Talmud höchstwahrscheinlich keine Anleihen bei den christlichen Goijim machten. Es wäre also möglich, daß die erste Version der Apokalypse ein nationalistischer jüdischer Traktakt war, vor 70 n. Chr. in aramäischer Schrift geschrieben, in dem die Zahl 666 als eine Chiffre, die »kleines Tier« bedeutete, auf Nero verwies; daß sie aber gegen Ende des ersten Jahrhunderts noch einmal in Griechisch abgefaßt und für christliche Leser erweitert wurde in einer Zeit, als es den von Paulus Bekehrten, die kein Hebräisch verstanden, doch wohl darum gehen mochte zu beweisen, daß Jesus das mosaische Gesetz aufgehoben und Jahwes Segen von den Juden auf sie selbst übertragen hatte, und auch, daß in dieser zweiten Version, mit ihren vielen Interpolationen und unkritischer Beibehaltung überholten Materials, die Chiffre 666 eine neue Auflösung fand, und zwar eine, die jeder intelligente Mensch verstehen konnte, ohne Hebräisch zu Hilfe nehmen zu müssen: nämlich DCLXVI. Falls es sich so verhielt, konnte die Aufschrift niemals Domitzus Caesar etc. lauten, und doch hatte mein analeptisches Auge richtig erkannt, daß, nachdem die Chiffre ursprünglich im Hebräischen trijon bedeutete, der tierische Geist des Domitius in Domitianus latent weiterlebte.
Die proleptische oder analeptische Denkmethode läßt sich, auch wenn sie Dichtern, Ärzten, Historikern und allen andern unentbehrlich ist, so leicht mir bloßer Vermutung oder Schlußfolgerung aus unzureichenden Daten verwechseln, daß nur wenige berechtigt sind, sich ihrer zu bedienen. Mag ich aber die Argumente dieses Buches noch so exakt mit Zitaten, Verweisen und Fußnoten abgesichert haben - das hier vorgetragene Eingeständnis, wie der Stoff mir anfangs zugefallen ist, wird sie gewiß davor bewahren, von orthodoxen Wissenschaftlern auch nur in Betracht gezogen zu werden: auch wenn sie sie nicht zurückweisen können, wagen sie doch nicht, sie zu akzeptieren.