Herkunft und Aufbruch

Djuna Barnes wurde am 12. Juni 1892 in Cornwall-on-Hudson im Staat New York geboren, einem kleinen, zu der Zeit vergessenen Ferienort, wo der Vater eine Farm betrieb. Eine ländliche Kindheit also in einer Landschaft, die trotz der Nähe zu New York, trotz der um 1900 in Städten rapide wachsenden Bevölkerung und dem gewaltigen technischen Fortschritt noch weithin so großartig, wild und unberührt gewesen sein muß, wie die Maler der Hudson-River-School sie um die vorige Jahrhundertmitte gemalt haben und wie sie - zum Erstaunen des europäischen Reisenden - gelegentlich auch heute noch anzutreffen ist: eine mühsam gezähmte Landschaft, die schon ein paar Schritte, hinter dem Gartenzaun wieder zur Wildnis wird, in der die menschlichen Siedlungen verstreut wirken, die Natur das Übergewicht hat und diese Überlegenheit in überraschenden Wirbel- und Schneestürmen zu erkennen gibt. Auch vor nun knapp über hundert Jahren, als die europäischen Landschaften noch nicht so zahm und so schutzbedürftig waren, wie sie es heute sind, muß die Wildheit der amerikanischen Natur europamüde Einwanderer erschreckt und zugleich stimuliert haben. In einer solchen Umwelt, in ziemlich verworrenen Familienverhältnissen und in einer für ein begabtes Kind durchaus ambivalenten Freiheit von den üblichen Kultureinflüssen wuchs Djuna Barnes als einziges Mädchen und als zweites von fünf Kindern auf. Sie ging auf den strikten Wunsch des Vaters so wenig wie ihre Geschwister zur Schule, und von einem geregelten Unterricht zu Hause konnte auch nicht die Rede sein. Ihre Mutter, Elizabeth Chappell-Barnes, war Engländerin und mit ihrem späteren Mann und dessen Mutter nach Amerika gekommen. Sie hatte 1889 dort geheiratet und hat ein von den Künstlerlaunen und der sexuellen Freizügigkeit ihres Mannes sowie einer anhaltenden finanziellen Unsicherheit bedrängtes Leben geführt. Djunas Vater, der bei seiner Heirat - aus Abneigung gegen seinen eigenen Vater - seinen Namen Henry Budington in Wald Barnes (den Mädchennamen seiner Mutter) umwandelte, kam aus einer seit längerem in Connecticut angesiedelten Familie, in der die Männer Generationen hindurch zur See fuhren, Walfang betrieben oder nach Westindien und China segelten.
Die Budingtons gehörten zum  gutsituierten Mittelstand, aber Vermögen und Landbesitz waren im Unabhängigkeitskrieg zum großen Teil verlorengegangen, und die Familie, die auch Ärzte, Lehrer und - zumindest dilettierende - Schriftsteller hervorgebracht hatte, konnte sich von diesem materiellen Verlust nie ganz erholen. Der Großvater der Schriftstellerin war zuerst Lehrer, dann Versicherungsvertreter, er gründete eine Zeitung und arbeitete schließlich als Redakteur und Anzeigenwerber für ein anderes Blatt in seinem Wohnort Springfield, für das auch seine Frau Zadel Barnes-Gustafson, eine engagierte Frauenrechtlerin und professionelle Journalistin, Leitartikel und andere Beiträge schrieb. Seine eigenwillige und zum Abseitigen neigende Denkweise äußerte sich in seinen spiritistischen Schriften, wo er unter anderem eine sehr merkwürdige Vererbungstheorie von hohem moralischem Anspruch entwickelte: danach pflanzen sich Laster - wie Abhängigkeit von Genuß- und Rauschmitteln und sexuelle Exzesse - auf komplizierte Weise, aber unweigerlich fort.
In der von diesem Großvater verfaßten Familienchronik[1] treten auch seine beiden Söhne auf: Justin L. Budington, der ein erfolgreicher Augenarzt wurde, baute sich an einem Hang hoch über dem Hudson ein schönes Haus, wo er »in den wenigen Mußestunden, die er den mit Arbeit angefüllten Tagen seines beruflichen Lebens abringen konnte, seiner intensiven Liebe zu Wald, Bächen und Gebirgsschluchten, zu Vögeln, Blumen, Mondschein, beschirmten Himmeln und sonnigen Tagen nachging«.
Von seinem zweiten Sohn, Djunas Vater, heißt es: »Mein Sohn Henry Budington hat sich - nach ausgedehnten Reisen in Europa und Amerika auf einer Farm in Long Island, New York, angesiedelt, wo er und seine zahlreiche Familie Arbeit und ein gesundes Leben führen und sich physisch und intellektuell entwickeln können. Er ist Immobilienhändler, als Künstler für Musik wie Malerei befähigt, ein Agnostiker, was Religion und Politik angeht.« Wenn diese Beschreibung nicht geschönt ist - um keinen Flecken auf die Familienehre kommen zu lassen - so vereinfacht sie doch ganz gewiß. Wild Barnes war allem Anschein nach ein vielbegabter Mann, aber ein diffuser oder sogar fragwürdiger Charakter. Er dilettierte in allen Künsten: Er malte, schrieb Libretti und Gedichte, er komponierte, tischlerte, schnitzte, konnte mit eigenen Händen ein Haus bauen und beschäftigte sich, zeitgemäß, mit technischen, vor allem Flugexperimenten - Qualitäten, die Djuna Barnes ihrem Vater auch in einem späteren Interview nachrühmte. Für Zadel, seine Mutter, war er ein verkanntes Genie, dem sie sein praktisches Unvermögen nachsah: Bis in sein 50. Lebensjahr unterstützte sie ihn und seine sich ausbreitende Familie. Er war ein Exzentriker, was sich an seiner Lebensweise und der Erziehung der Kinder ablesen läßt. Jedenfalls war er ein höchst vitaler Liebhaber von Frauen, und eine Zeitlang lebte eine seiner Geliebten mit im ehelichen Haushalt, dem auch seine Mutter Zadel angehörte, wenn sie nicht auf Reisen war.
Als ein Kind seiner Zeit war er, wie sich vermuten läßt, von den mannigfachen lebensreformerischen Bemühungen der Jahrhundertwende beeinflußt. Die Epoche zwischen 1890 und 1914 war in der Kunst janusköpfig: Décadence und Art nouveau der nette Jugendstil - lösten einander ab und vermischten sich. Ein Signum der Zeit war das heftige Interesse an Sexualität und Erotik und die zwischen personifiziertem Laster und Erlöserin männlicher Begierde schillernde Rolle der Frau. Wald Barnes, der sich »auf seinen ausgedehnten Reisen in Europa« längere Zeit in London aufhielt wo seine Mutter, wie es die Familienlegende will, eine Zeitlang einen Salon unterhielt, den sogar Oscar Wilde besucht haben soll - ist zweifellos mit beiden zeitgenössischen europäischen Bewegungen und Tendenzen in Berührung gekommen und hat daraus womöglich die seinen Neigungen entsprechende wirre und krude Lebensphilosophie destilliert. Auch in der Familie seiner Mutter - die von einem der drei 1620 in die Gegend von Boston eingewanderten Brüder Barnes herstammt - gab es spiritistische Neigungen, die möglicherweise sogar die sechzehnjährige Zadel zu einer Ehe mit Henry Aaron Budington bewogen haben. Phillip Herring findet in seiner Barnes-Biographie von 1995 allerdings eine andere Erklärung, die von Djuna Barnes in dem stark autobiographischen Roman Ryder bekräftigt wird: Die intelligente, frühreife und muntere Zadel (im Roman Sophia) hatte sich - wie sie ihrer Schwiegertochter im Roman gesteht vermutlich mit ihrem Lateinlehrer allzu wörtlich auf die Konjugation des Verbs >liegen< eingelassen, jedenfalls kehrte sie von der Lateinstunde >als Mutter< zurück. Die Heirat mit Henry Budington war also nicht ganz so freiwillig. Dabei geht es hier nicht um asoziale Verhältnisse, sondern um die >besseren Kreise<. Zadels Vater, Duane Barnes, betätigte sich zunächst als Schullehrer, dann als Buchhändler, wobei er sich eine Art Selbstzensur auferlegte: Er verkaufte kein Buch, von dem er annahm, es könnte moralischen Schaden anrichten - und er schrieb Gedichte. Er war ein wohlhabender Mann und ein Förderer seiner Heimatstadt Middleton. Er war rechtschaffen, wie ihm sein Grabstein nachsagt, und ein Freund von Grundsätzen und >richtigen< Ideen. Seine temperamentvolle Tochter setzte sich offenkundig über sie hinweg. Sie gehört zu den um die Mitte des 19. Jahrhunderts geborenen Frauen, deren Couragiertheit und Entschiedenheit, mit der sie sich aus den Konventionen ihrer bürgerlichen Herkunft lösten, unter dem Eindruck heutiger Frauenbewegungen immer noch unterschätzt wird. Zadel, die Spiritistin, Journalistin, Frauenrechtlerin und Leitfigur eines diffusen Clans, verdiente durchaus eine eigene Biographie. Die Familiengeschichte bot also in dieser Mischung aus puritanischer Rechtschaffenheit und einer deutlichen Neigung zu künstlerischer Extravaganz der jungen Djuna Barnes vielfältige Voraussetzungen, das engere Familienleben einen jedenfalls schwierigen Ausgangspunkt: Unordnung und frühes Leid. Daß ihr eine ihrer Intelligenz und Begabung entsprechende Schulbildung fehlte, mag die Großmutter Zadel einigermaßen wettgemacht haben, indem sie ihr unter anderem früh die Bibel und Shakespeare nahebrachte, und auch sonst ihren Sprachsinn förderte. Außerdem waren sie, so scheint es, einander verwandt in ihrem hintersinnigen Humor.
Das Verhältnis der Enkelin zur Großmutter war eng - enger und offener wohl als das zur Mutter und ganz gewiß zum Vater. Von der kritisch-ironischen Distanz, aus der Djuna Barnes schließlich die widersprüchlichen familiären Erfahrungen in ihrem Roman Ryder verarbeitete, aber auch von der Tiefe der Verletzung, die sich in der Tragödie The Antiphon zu erkennen gibt, ist in der frühen Korrespondenz mit Mutter, Großmutter und Vater (ja selbst noch in den späteren Jahren) nichts zu spüren. Die Briefe an Djuna drücken Nähe und intenives Interesse an ihr aus, sind auf einen herzlichen, ja manchmal fast exaltiert gefühlvollen Ton gestimmt. Und auch die Antworten oder Anfragen klingen beteiligt und liebevoll. Soll man annehmen, daß in einer so entschieden unkonventionellen Familie für den schriftlichen Umgang die Regel galt, nett zueinander zu sein, daß also in Briefen Teilnahme und Zuneigung simuliert wurden, die es in Wahrheit nicht gab?
Großmutter Zadel ist in diesen Jahren immer noch als aktive Journalistin und auch als überaus geschickte Bittstellerin viel unterwegs, um das stets fehlende Geld für die Familienexistenz einzuheimsen, oder sie lebt beim Sohn in Huntington. In erhalten gebliebenen Briefen an die Enkelin ist ausführlich die Rede von einer Liebesbeziehung Djunas, in die Zadel mit einem Brief an den Freund oder Liebhaber eingreift. Die Anreden sind von zärtlichstem Überschwang: »Meine allerliebste Djuna, Herzenskind ...« ist das wenigste. »Fürchte Dich doch bitte nicht das kleinste bißchen«, fängt ein Brief vom 18. Februar 1909 an. Und sie bedauert, daß Djuna ihr nicht den Brief des Freundes beilegt, der sie offenbar so sehr erschreckt hat, denn dann könnte sie besser helfen. »Aber ich will versuchen, mein Bestes zu tun, und zunächst möchte ich Dir sagen: >Er wird nicht!, Aber sogar, wenn er es tut, sei unbesorgt, es wird nicht so schlimm sein. Wenn Du Dich fest in der Hand hast, kannst Du die Situation durchaus meistern. Du müßtest (wenn er Dir wirklich >einen Antrag< macht) ihm sehr freundlich mitteilen, daß Du dies als die größte Ehre zu schätzen weißt, Du seist aber ganz sicher, daß ihr beide noch zu jung und zu unerfahren seid, um eine Sache von solcher Tragweite jetzt schon zu entscheiden. Was Dich angeht, so wüßtest Du ganz sicher, daß Du nicht so empfindest, wie er es sich wünsche, daß Du ihn aber als Freund sehr magst und hoffst, er werde versuchen, sich damit zufriedenzugeben. Sag ihm, daß Du Dich weder für eine Verlobung noch für eine Ehe reif fühlst (er darf Deine Ansichten zu Ehe und Sex nicht erfahren, sie würden ganz sicherlich zum allgemeinen Klatsch werden!), daß Du in jeder Hinsicht noch mehr über das Leben erfahren möchtest, ehe Du dich auf eine solche ernsthafte Beziehung mit irgend jemand einläßt. Alles dies sollte - mit gleicher Wirkung gesagt, nicht geschrieben werden.«
Der Brief scheint mir aufschlußreich zu sein für die zwischen UnabhängigkeitsDrang und ratloser Melancholie schwankende Djuna dieser frühen Jahre und ebenso für das besondere Einvernehmen mit der Großmutter. Deren Person teilt sich auch in den großen, temperamentvollen, etwas chaotischen Schriftzügen mit, wie überhaupt die Schriftbilder der Familienbriefe - nicht zuletzt der Djunas - eine unerhörte physiognomische Evidenz haben. Was Großmutter Zadel in einem früheren Brief über Djuna schreibt, zeigt deren Bemühen, der Familie gerecht zu werden: »Deine Versicherung, daß Du versuchst, der Sonnenschein in der Düsternis zu sein, und die Worte, mit denen Du Deinen Brief beschließt - >natürlich weißt Du so gut wie ich, daß Du Dein Bestes tust, liebste kleine Großmutter ...< - sind ganz einfach von unschätzbarem Wert für  mich! (dahinter das Familiengeheimzeichen für einen Kuß K. St.), nicht nur weil sie so liebevoll sind, sondern auch weil sie eine Entfaltung von Eigenschaften in Dir anzeigen, auf die ich gehofft und um die ich mit meiner ganzen Seele gebetet habe: Liebe, Einfühlung, Vertrauen. Daß Du diese schönen Eigenschaften auf mich beziehst, würde mich zu jedem Kampf ermutigen und miech in jeder Krise stärken...« Zweifellos klingt hier noch der blumenreiche Stil ihrer Generation mit, der auch ihre eigene Schriftstellerei prägt. Über das wünschenswerte menschliche Verhalten aber sind sie sich im Grunde einig. Der Enkelin fehlt allerdings der - bei allen Widrigkeiteiten - schwungvolle Optimismus der Großmutter. Ihre Lebensansichten, die sie bald äußern wird, sind um einige Schattierungen skeptischer, düsterer.
Auch die Briefe von Elizabeth Barnes, die bis zu deren Tod reichen, klingen, zumindest in den frühen Jahren, offen und liebevoll. Es sind die Briefe einer Mutter an eine Tochter, die sehr jung aus dem Hause geht und zum ersten Mal allein lebt. Sie will wissen, wie ihr Zimmer aussieht, was sie kocht, von welcher Sinnesart ihre Vermieterin ist, »alles, womit mein liebstes kleines Mädchen zu tun hat!« »Bitte meine Süße, erzähl mir von allen Deinen Erfahrungen, den fröhlichen wie den traurigen, denn natürlich machst Du beide, sonst wärest Du kein Mensch!,< Dann wieder: »Ich frage Dich nicht nach Deinem Privatleben aus, aber ich möchte wissen, ob ich etwas für meine kleine Tochter tun kann.« (Brief vom 1. Juli 1910) Es wird sehr bald umgekehrt sein, und die »kleine Tochter« wird für die Mutter und die jüngeren Brüder sorgen müssen. Von Djunas Katze ist die Rede: »... sie ist und bleibt die große Unbekannte(!) - sehr anmutig, sehr würdevoll...« Djunas Handschrift - in der Tat höchst ausdrucksvolle, kaum zu entziffernde Hieroglyphen - wird scherzhaft beanstandet: »Weißt Du, meine Kleine, es ist ja schon recht, eine originelle Handschrift zu haben, aber wenn es darum geht, daß eine arme alte Frau sie lesen soll (sie ist zu der Zeit achtundvierzig, K. St.), dann wünscht sie die Originalität zum ...« Manchmal findet sie selbst, sie klinge vielleicht »sentimental«, sie glaube nun zu wissen, »was Einsamkeit bedeutet«, fügt sie am Ende eines Briefes an. Und unter das dreifache Familienzeichen für Kuß setzt sie noch ein dreifaches »Ich liebe dich!« Sie folgt mit Interesse und viel ermunterndem Lob der journalistischen und literarischen Arbeit der Tochter, die ihre ersten beiden Bücher ihr widmete. Im ersten, The Book of Repulsive Women (Das Buch der abstoßenden Frauen, 1915) - eher eine kleine Broschüre mit acht Gedichten und sechs eigenhändigen Zeichnungen - findet sich die vieldeutige Widmung:

»Meiner Mutter,
die mehr oder weniger war wie alle
Mütter - aber sie war meine und
so war sie mehr als alle andern.«

                                             

Ist es das Bekenntnis, eine schwierige Tochter gewesen zu sein, oder sieht sie sich eher als eine Auszeichnung für die Mutter? In die wiederholten Versicherungen ihrer Zuneigung, Anteilnahme und Sehnsucht nach der Tochter mischen sich immer wieder halb unterdrückte Klagen über die häusliche Misere, den baren Mangel, die Schwierigkeit mit den heranwachsenden Söhnen, die ohne regulären Schulabschluß nur schwer eine Ausbildung finden und häufig auf undurchsichtige Weise krank sind (Einiges deutet auf schwere Neurosen hin). Sie äußert bescheiden, aber unüberhörbar Wünsche: Mäntel für die Knaben, einen Hut für sich selbst (das schon nach Paris). Auch in ihrer erfolgreichen Zeit als Mitarbeiterin verschiedener amerikanischer Zeitungen, Zeitschriften und Magazine, für die sie schrieb und zeichnete, war Djuna Barnes nie besonders gut mit Geld ausgestattet. [2] Sie hat diese Bitten und Wünsche, wie aus der Korrespondenz hervorgeht, prompt und großzügig erfüllt und über Jahre zumindest auf diese Weise zum Unterhalt von Mutter, Geschwistern und einer Tante regelmäßig beigetragen. Nicht nur für den verklärenden Blick Elizabeth Chappell-Barnes', zeigte sich ihre generöse Natur, das was die Freunde »so very much like Djuna« nannten. Gelegentlich, findet die Mutter allerdings, neige sie dazu, für anere, die sich durchaus selbst helfen könnten, zu viel zu tun. Der Name Thelma Wood fällt in diesem Zusammenhang, später der des Londoner Freundes Peter (Sir Samuel) Hoare. Was wußte sie wirklich über die Art und Inteiisität von Djunas persönlichen Beziehungen?
»Nun ja, wie immer man es nimmt, es ist eine verdrehte Welt, aber es gibt mir eine Djuna«, heißt es 1923 in einem Brief nach dem Erscheinen von The Book, dem ersten Band mit Erzählungen, Gedichten und einem Einakter, der wieder ihr gewidmet ist. Aus dem gleichen Jahr datiert ein Brief Djunas, in dem sie versucht, ihr zu sagen, daß sie sie liebt, auch wenn sie es immer schwierig finde, ihre Gefühle und ihr Verständnis für andere mitzuteilen, obgleich sie ein starkes Bedürfnis in sich spüre, es zu tun. Daß sie sich viele Gedanken maeche über sie und die »kids«. Und dann folgt der Satz: »Für mich, die ich allenfalls ein wenig zur Melancholie neige, ist das Leben der größte Horror, ich kann es mir nicht als etwas >Heiteres, Erfreuliches, Fröhliches< vorstellen, >einfach am Leben zu sein<, es erscheint mir als etwas Monströses, Obszönes, und die allerobszönste Aufgabe des Lebens steht uns noch bevor...« Womit sie offenbar auf begütigende Äußerungen der Mutter reagiert. Ähnlich hatte sie Jahre zuvor bereits in einem Interview dem Kleinverleger und Galeristen Guido Bruno, einer ebenso schillernden wie unentbehrlichen Figur in Greenwich Village, auf den Vorwurf geantwortet, sie sehe zu schwarz, sei morbide. »Morbide? ... Da kann ich nur lachen. Dies Leben, das ich schreibe und zeichne und portraitiere, ist das Leben wie es ist, und folglich nennen Sie es morbide. Sehen Sie sich mein Leben doch an! Sehen Sie sich das Leben um mich herum doch an! Wo ist denn die Schönheit, die bei mir angeblich fehlt? Wo sind die hübschen Episoden, die andere schildern? Ich meine das Leben von Menschen, denen man die Masken weggenommen hat. Wo sind denn die erfreulicheren Züge? ... Ich bin das alles leid, weil ich denke: Was hat das denn schon für einen Sinn? Heute leben wir, morgen sind wir tot. Wir sind geboren worden und wissen nicht, warum. Wir leben und leiden und plagen uns, neidvoll und beneidet. Wir lieben, wir hassen, wir bewundern, wir verachten ... Warum? Und wir sterben, und niemand wird je wissen, daß wir überhaupt geboren waren.« »Ihre Morbidität ist keine Pose« versichert der Interviewer. »Sie ist so aufrichtig wie sie selbst.« Und er fügt erklärend hinzu: »Eine neue Schule, die während der Kriegsjahre aus dem Boden geschossen ist. Anhänger der Dekadenz der berühmten 90er Jahre in Frankreich und England, im robusten, ehrgeizigen Amerika. Es ist schwierig, aus dem Briefwechsel mit der Mutter ein feindseliges Verhältnis zu destillieren. Zwar wird deren Penetranz an mehreren Briefstellen deutlich - etwa in der Art, wie sie ihre Freude über Djunas Erfolge mit einer Schilderung ihrer eigenen, immer bedrängten Lage verknüpft, und gelegentlich läßt sich eine fast grausame Bosheit herausspüren: Wenn sie beiläufig erwähnt, man habe die entlaufene, Hündin sich selbst überlassen müssen, das Geld reiche nicht, sie zurückzuholen, sie werde wohl sicherlich vom Förster erschossen werden - »arme Kiki!« Oder wenn sie berichtet, daß sie die Kätzchen habe ertränken müssen wohl wissend, daß sie damit eine hochempfindliche Stelle ihrer Tochter trifft. Ihre Urteile über die Qualitäten und die Arbeiten der Tochter - so emphatisch sie oft klingen - gehen keineswegs ganz fehl. So schreibt sie am 13. Januar 1928: »Du wirst ganz gewiß immer wieder auf deinem einsamen Wege Tragisches erleben, und Du begegnest dem mit einem solch schönen Mitgefühl. Eine ungeheure Wirklichkeit wird Dir in solchen Erfahrungen erschlossen, und sie wird ihren Zoll von Dir fordern, mein Liebstes, da bin ich sicher. Vielleicht fallen solche Einsichten nur den wirklich Großen zu, um sie auf die Probe zu stellen...« Immer wieder erwärmt sich das Verhältnis über die nun fast andauernde Distanz hinweg. Immer wieder überrascht es, wie aufrichtig und intensiv Djuna sich der Mutter zuwendet. Nachdem sie die Beziehting zu Thelma Wood, einer begabten, aber ganz haltlosen jungen Bildhauerin, ihrer >amour fou<, gelöst hatte, lebt sie in England während der Arbeit an ihrem Roman Nightwood überwiegend im Landhaus ihrer Freundin Peggy Guggenheim - unschlüssig, ob sie ganz nach Paris zurückkehren oder es endgültig verlassen soll. Im Jahre 1934 unternimmt sie mit ihren Freunden Emily Coleman und Peter (Sir Samuel) Hoare eine >voyage sentimentale< in die englische Vergangenheit ihrer Mutter.
Sie schreibt ihr darüber und legt dem Brief zwei Efeublätter bei: »Liebste, welch ein Angenblick für mich, als wir durch die kleine Stadt Oakham fuhren uncl um die Ecke bogen und ich plötzlich tief in der Magengrube ein seltsames Gefühl hatte und sagte: >Das da ist das Haus meiner Mutter!< und es einfach wußte - weiß Gott wieso... Ich wurde fast ohnmächtig vor Freude so ein sonderbares Gefühl, das alles zu sehen... niemals zuvor in meinem Leben hat es einen solchen Tag gegeben ...« Fast beiläufig erwähnt sie noch den Abschluß des Vertrags für Nightwood mit dem englischen Verlag Faber and Faber, den T. S. Eliot vermittelt hatte. (Der Roman erschien dort 1936, die amerikanische Ausgabe bei Harcourt, Brate and Company folgte ein Jahr später.) Die Reaktion der Mutter auf Nightwood ist von geradezu prophetischem Überschwang. »Eines Tages wirst Du den allmächtigen Menschen hervorbringen, der durch alle Zeiten als der Charakter gelten wird, dem der Mensch nachstreben soll. Und dann wirst Du eine neue Religion gegründet haben, und nichts brauchen wir nötiger als das, seit sie, das heißt die Menschheit, Christus beiseitegefegt hat. Ich danke Gott für Emily (Coleman, die sich für Nightwood eingesetzt hatte; K. St.), sie ist eine wahre Freundin und eine große Förderin...«
Zum Ende ihres Lebens erlischt die Korrespondenz mit der Tochter allmählich. Als Djuna Barnes Anfang der vierziger Jahre verzweifelt und mittellos nach New York zurückkehrt, zeigt sich die Mutter allem Allschein nach verständnisvoll und hilfsbereit - auch wenn sie das Verhalten der Tochter nicht ganz begreift. Am 31. Mai 1942 fragt sie: »Gibt es wirklich nichts, Djuna, was ich für dich tun kann? Bist Du wirklich zufrieden damit, von niemand gesehen zu werden? Warum leben wie ein Insekt, das das Licht scheut?« Und ein Jahr später heißt es: »Verzeih, Djuna, ich werde versuchen, mich daran zu erinnern... Ich weiß ja oder sollte es inzwischen wissen - wie rasch und unweigerlich ich Dir auf die Nerven gehe.« Reichen diese Spannungen, um eine der zweifellos schwierigsten Beziehungen, die zwischen Mutter und Tochter, in den tödlichen Haß zu treiben, der den Ausgang von Antiphon bestimmt? Vielleicht nicht. Aber sie genügen einem exzessiven Temperament offenbar, um unter den freundlichen Zufälligkeiten des Familienumgangs die radikalere Wahrheit zu entdecken und ans Licht zu holen.

Am schwersten deutbar ist das Verhältnis zum Vater. Sie habe ihn gehaßt, heißt es. Es läßt - soweit die brieflichen Äußerungen es spiegeln - die schlimmen Verletzungen des Mädchens Djuna (wie die drastische Allegorie von Antiphon sie enthüllt) kaum vermuten. Auch Djuna Barnes' - gelegentlich eher redseliger - Biograph Andrew Field hält sich in dieser Frage zuriück. »Djuna« heißt es da etwas vage, »wurde weder verführt noch vergewaltigt, wohl aber von ihrem Vater wie eine Sklavin oder Tochter aus dem Alten Testament sexuell >vergeben<« [4] Was das bedeutet, wird nicht klar. In einem Brief von 1924 - Djuna ist zweiunddreißig und lebt in Paris - bittet die Mutter sie, sich ihrer älteren Schwester gegenüber nicht allzu offen über die Tragödie von Cornwall zu äußern, sie (Tante Sue) komme noch aus der viktorianischen Ära, sie könne die »amerikanische Blutrünstigkeit« nicht verkraften und sei ganz unfähig, ihr (Djunas) Leben zu begreifen. Es werde sie zutiefst erschrecken. Worauf sich die Bemerkung über dieTragödie in Cornwall bezieht, geht aus dem Brief nicht hervor. Man wird sie aber wohl auf eine traumatische Erfahrung der Siebzehn- oder Achtzehnjährigen beziehen dürfen. Allerdings, ehe der Briefwechsel und die verstreuten persönlichen Notizen der Autorin nicht kritisch ediert vorliegen, mit der Vorsieht, mit der Phillip Herring in seiner Biographie von 1995 [5] verfährt. Er ist anhand neu durchgesehenen Archivmaterials einige klärende Schritte weitergegangen - allerdings behutsam, zu behutsam für seine radikalen feministischen Kritikerinnen, die ihn heftig attackierten. Nach allem, was sich bisher erkennen läßt, wurde die widerstrebende junge Djuna vom Vater und von der einflußreichen Großmutter Zadel dazu >überredet<, einen um vieles älteren Mann, den Bruder von Wald Barnes Geliebter und späteren Ehefrau Fanny, einen gewissen Perey Faulkner, in einer von Vater und Großmutter inszenierten (und von keiner offiziellen Instanz bestätigten) häuslichen Zeremonie zu >ehelichen<. Was die Mutter ablehnte, aber nicht verhinderte. Hier, wenn irgendwo, zeigt sich die krasse Fragwürdigkeit dieser abstrusen Mischung aus spiritistisch-spiritueller Neigung, einem >höher< ambitionierten und dabei anarchistischen Freibeitsdrang und dessen rüder bis brutaler Realisierung, wie sie in dieser Familie praktiziert wurde. Der Versuch ging schlimm aus. Der ältere >Ehemann<, mit dem sie nach Bridgeport in Connecticut zieht, konnte offensichlich mit der unerfahrene Djuna nichts anfangen, er war auf handfestere Bettfreuden aus. Nach einigen Wochen beendete er das quälende Zusammenleben und schickte Djuna nach Hause zurück - eine weitere sie tief verletzende Zurückweisung. Sie fühlte sich einsamer denn je. Es gibt einander widersprechende Äußerungen der älteren Djuna Barnes in Briefen und Interviews zu dieser Frage. So sagt sie einmal zu einem Dichterfreund, sie glaube, »lesbisch geworden zu sein, weil ihr Vater sie als sehr junges Mädchen sexuell mißbraucht« habe. Einem anderen Gesprächspartner [6] erzählte sie (1971) eine ganz andere Geschichte. Es ist die Rede von Antiphon, der späten dramatischen Deutung ihrer Familienleiden. Aber offensichtlich bezieht sie sich auf durchaus Autobiographisches, wenn es heißt: »Ich sehe ein kleines Mädchen (namens Miranda), das eine sehr vielschichtige Beziehung zu ihrer Mutter entwickelt hat. Sie fühlt sich zurückgesetzt, denn sie spürt deutlich, daß die Mutter ihre Söhne mehr liebt als die Tochter. Das kleine Mädchen wurde höchst eigenwillig. Sie tat Dinge, für die sie hart bestraft wurde. Aber sie empfand die Strafe als eine Art >Liebe<, denn sie war zumindest eine Form der Zuwendung zu ihr. Mit sechzehn wurde sie von einem Engländer vergewaltigt, der dreimal so alt war wie sie. Das geschah mit Wissen und Einwilligung ihres Vaters, während ihre Mutter nichts dagegen unternahm.« [7] Sie empfindet auch diese Vergewaltigung als >Strafe< für die >Sünde<, unerwünscht zu sein. Hier mischen sich die Motive: Das unerwünschte, um ihr Selbstgefühl gebrachte Mädchen fordert die männliche Grausamkeit, den Mißbrauch durch den Mann, heraus. Für die Grausamkeit des jähzornigen Vaters gibt es Hinweise in Barnes' Notizen: Sie muß ihn auch besonders durch die Ähnlichkeit ihrer Temperamente herausgefordert haben, durch ihre »dickköpfige Aufrichtigkeit«, wie Zadel, die Großmutter, es einmal nennt. Zadels Rolle der Enkelin gegenüber ist vieldeutig. Sie war zweifellos die stärkste, wenn nicht die einzige Bezugsperson für die heranwachsende Djuna. Sie weckte und förderte ihre geistigen und sprachlichen Fähigkeiten, und sie hat, wie die von Herring herangezogenen Briefe verdeutlichen, wohl auch versucht, sie in Liebesdinge und in die Vergnügungen sexueller Erfahrung einzuführen. Zweifellos auf äußerst freie und drastische Weise: Die verbalen Äußerungen und vor allem die Zeichnungen, die ihre Briefe an die Enkelin begleiten, sind für den Umgang von Großmutter und Enkelin ungewöhnlich und von zum Teil komischer, aber unleugbarer Obszönität. Ob sich daraus - und aus der Tatsache, daß Djuna und Zadel über fünfzehn Jahre ein Bett teilten - eine (ganz gewiß sehr rare) inzestuöse Beziehung zwischen Großmutter und Enkelin ableiten läßt, muß offen bleiben, ist aber eher unwahrscheinlich. Zadel war eine Person von überschwenglicher, sinnlicher Zärtliebkeit. Sie war überdies eine überzeugte Vorkämpferin der >freien Liebe<, und es gehörte sicherlich zu ihrem erzieherischen Ehrgeiz, die begabte und geliebte Enkelin von der Prüderie der zeitgenössischen Gesellschaft zu befreien. Daß die Methoden, wie geschildert, höchst anfechtbar waren und Zadel bei aller Weltoffenheit wohl keine hinreichende Menschetikenntnis besaß, läßt sich kaum bestreiten.
Es lag nahe für die feministische Literaturwissenschaft und die Frauenforschung, sich seit den siebziger Jahren, vor allem im letzten Jahrzehnt mit dieser enigmatischen Figur der literarischen Moderne zu befassen. Und es ist ganz gewiß ihr Verdienst, daß die >berühmteste Unbekannte<, die verschwommene Kultfigur der jüngeren Generationen festere Konturen gewonnen hat und auch der schwierige Lebens- und Zeithintergrund der Djuna Barnes deutlicher erkennbar wurde. Für einige der amerikanischen Autorinnen ist in der - so oder so anzunehmenden - Vergewaltigtung der jungen Djuna der Kern ihres späteren persönlichen Verhaltens wie auch ihrer literarischen Verfahrensweise zu suchen: Sie sehen im Wechsel von Maskierung und Enthüllung, in der Amibivalenz von Andeuten - schlimmer Familiengeheimnisse und rätselhafter Vorkommnisse und ihrer >Codierung< in einer barocken oder satirisch-witzigen, alle Register der Verfremdung ziehenden Sprache (Ryder und Ladies Almanack) den für Betroffene charakteristischen Umgang mit einem so schweren Trauma. Margaret Anderson, die vielbegabte Herausgeberin der Zeitschrift >Little Review< - in gewissem Sinne die Antipodin von Djuna Barnes - kritisierte deren Scheu, ja Widerwillen, sich analytisch mit sich selbst bekannt zu machen und ganz Persönliches in einem freundschaftlichen Gespräch zu diskutieren. Eine eigentlich begreifliche Scheu, denkt man an den Impakt der verborgenen, vielleicht verdrängten, für sie jedenfalls nur im distanzierten Schreiben faßbaren Verletzung. Ganz gewiß ist die um ein Jahrzehnt ältere Engländerin Virginia Woolf [8] von anderer physischer und psychischer Statur als die Amerikanerin Djuna Barnes auch der Zeithintergrund und das häusliehe Milieu der beiden Schriftstellerinnen sind durchaus verschieden: Einmal ist es eine hochkomplizierte Familie der gebildeten englischen Oberschicht, in der die spätviktorianische Erziehung alles Körperliche tabuiert; wo sich hinter der Fassade der gesellschaftlichen Korrektheit die Familiendramen abspielen; wo der autoritäre, egozentrische, gelehrte Vater, Leslie Stephen, das Leben bestimmt und die Frauen - weit über ihre Kräfte - versuchen, es in der Balance zu halten: bis zum Ausbruch der jungen Generation nach dem Tode des Vaters in das damals verpönte, inzwischen zum Kennwort der klassischen Moderne gewordene Bloomsbury. Das andere Mal sind es halb bohéme-Verhältnisse und eine Mischung aus offenkundiger Libertinage, Reformeifer, künstlerischen Ambitionen und dunklem Drang zu Höherem, denen ein heranwachsendes Mädchen in ländlicher Abseitigkeit ausgesetzt ist. Aber in beiden Fällen gab es ein traumatisches, lange nachwirkendes sexuelles Erlebnis inzestuöser Art. Während Virginia Woolf es ihren Tagebüchern oder später auch ihren Briefen (an ihre Schwester Vanessa und andere) anvertraut hat und diese Erfahrung in ihrer schriftstellerischen Arbeit kaum (dafür aber um so heftiger in den immer wiederkehrenden Verstörungen der Hochsensitiven) zum Ausdruck kommt, verdichtet es sich bei Djuna Barnes zu einem immer wieder rekapitulierten literarischen Grundthema. Weder ihre kurze Frühehe mit Courtenay Lemon, einem Village-Intellektuellen aus >guter Familie< mit sozialistischen Neigungen, noch ihr heftiges Liebesverhältnis mit Ernst Hanfstaengl oder die gleichfalls nicht dauerhaften Beziehungen zu Männern und Frauen, die dieser folgten, noch schließlich ihre passionierte Bindung an die chaotische junge Künstlerin Thelma Wood haben sie ganz davon ablösen können.
So sind denn auch viele der neueren Arbeiten zu Djuna Barnes und anderen hochbegabten Frauen der Epoche zwischen dem vorigen Jahrhunderten und den dreißiger Jahren stark auf das Thema des inzestuösen Traumas fixiert. Besonders in den USA ist in den neunziger Jahren eine kaum zu überblickende Zahl von kritischen Aufsätzen, Essays, Dissertationen und Einzeluntersuchungen zu verschiedenen Aspekten des Barnes'schen CEtvre und seines autobiographischen Hintergrunds erschienen. Eine der entschiedensten und zugleich komplexesten Publikationen ist die von der Literaturwissenschaftlerin Mary Lynn Broe vorzüglich edierte und eingeleitete Sammlung [9] von achtzehn Beiträgen verschiedener und erklärtermaßen feministischer Atitorinnen, ergänzt von sieben kürzeren Erinnerungsstücken, zu deren Verfassern auch einige Männer zählen. Alle Aufsätze bieten eine neue - radikalere - Einordnung und Deutung von Djuna Barnes' größeren Arbeiten: Ladies Almanack, Ryder, Nightwood, und besonders von Antiphon. Fast alle Untersuchungen konzentrieren sich auf das fragliche frühe Ereignis im Leben der Autorin, das Louise de Salvol [10] am unerbittlichsten abhandelt. Für sie ist es - anhand der verschiedenen Versionen von Antiphon, aber auch schon der Aussagen in der vorliegenden Fassung - evident, daß die von Field angedeutete und von Herring nicht mit Sicherheit angenommene Vergewaltigung des siebzehn- oder achtzehnjährigen Mädchens Djuna durch den Vater stattgefunden hat. Sie zieht, um die patriarchalische Allmacht zu verdeutlichen, Shakespeares Sturm heran. Sie nimmt Prospero nicht mehr als den um die weltliche Macht gebrachten weisen Zauberer mit dem großen Durchblick, sondern als allmächtigen - und seine persönliche Macht mißbrauchenden - Vater, der über die Tochter Miranda, die ohne mütterlichen Schutz mit ihm auf einer einsamen Insel lebt, zur Gänze verfügt. Barnes' Miranda in Antiphon interpretiert sie also als Spiegelbild der Shakespeareschen Figur. Djuna Barnes selbst legt die Assoziation durch den Namen nahe. »Barnes erzählt die Geschichte Shakespeares«, so de Salvo, »aus Mirandas Blickpunkt. Es ist der Text einer Frau, es ist der Text Mirandas: das >Antiphon< - die >Gegen-Stimme<.« Noch entschiedener feiert die britische Autorin Anne B. Dalton [11]  Djna Barnes als »große Tabubrecherin«, die sogar die psychoanalytische (also Freuds frühe) Theorie von der Rolle des Mädchens als Verführerin im Vater-Tochter-Inzest korrigiert und ad absurdum geführt habe. Und sie exemplifiziert dies vor allem an den Figuren des Romans Ryder und seinen Traumsequenzen. Ehe aber Djuna Barnes zur Tabubrecherin wurde, indem sie darüber schrieb, war sie das Opfer eines Tabu- oder sollte man richtiger sagen: eines Vertrauensbruchs, auf den sie in ihren Arbeiten immer wieder in anders verschlüsselter Form zurückgreift.
So verdienstvoll und wichtig für das Verständnis der weiblichen Problematik und auch für die so viele zeitgenössische Erkenntnisse enthaltende Dichtung von Djuna Barnes diese Studien sind - in ihrer aufklärerischen Tendenz liegt die Gefahr, daß sie das in ihr Form und Figur-Gewordene auf das darin verborgene Problem einengen, d.h. auf die autobiographischen Fakten reduzieren. Wenn Djuna Barnes solche Versuche entschieden abwehrte, so sicherlich nicht aus der Sorge, sich damit - gesellschaftlich - zu exponieren. Das tat sie in dem, was sie schrieb und wie sie lebte, ohnehin. Es war in keiner ihrer Arbeiten ihre Absicht, einen anklagenden Bericht zum ominösen Tatbestand des Kindesmißbrauchs zu liefern. Auch Antiphon ist keine Fallstudie, sondern enthüllt den extremen Stand der Dinge jenseits real nachweisbarer Vorkommnisse. Und die große dichterische Leistung von Nightwood ist es, daß es ihr darin gelang, die von ihr scharf beobachteten Ereignisse und Erfahrungen und das skurrile Personal, das schon ihre Kurzgeschichten bewohnt, in das Pandämonium einer moralisch desorientierten, zwischen müder Décadence und wagemutiger Modernität schwankenden, von gesellschaftlichen Utopien hin- und hergerissenen Zeit zu transfigurieren. Sie ist keine verbesserungsfreudige Optimistin. Ihr Weltaspekt ist tragisch. Kaum je bietet die alltägliche Wirklichkeit die tragische Wahrheit in jedem Augenblick an. Auch die reale Existenz der ungewöhnlichen Familie Barnes war kein permanentes Horrorszenarium. Und selbst der so schwer belastete und zu Recht angeklagte Wald Barnes, der so unverantwortlich und leichtfertig in ökonomischen und Liebesdingen gegenüber der Familie verfuhr, scheint zuzeiten ein ganz freundlicher Kindsvater gewesen zu sein. Im Jahr 1897 zum Beispiel - Djuna ist vier Jahre alt, ihr Bruder Thurn zwei Jahre älter - schreibt er den Kindern zärtliche, wenn auch fast identische kleine Briefe, nur in dem an Djuna notiert er, daß er sie besonders gern küsse, wenn sie gerade nicht geküßt werden wolle. Auch seiner Frau gegenüber erscheint er - noch nach der Trennung voller Wohlwollen. »Meine liebe Lizzie«, schreibt er am 14. November 1912, nachdem sie geschieden sind und er seine Geliebte geheiratet hat. »Natürlich bedarf es keines Wortes (oder sollte es keines Wortes bedürfen, daß meine Gefühle für dich - für irgendeinen von euch - sich durch nichts, was geschehen ist, auch nur irgendwie verändert haben. Alles, was wir in diesem letzten Jahr zu erdulden hatten, hast ja nicht Du herbeigeführt, sondern es ist durch einen Druck von außen bewirkt worden ... Von einem geistigen (oder höheren) Standpunkt aus ist nichts anders geworden. Ich hoffe, daß Du das glaubst und es dich tröstet. Ich würde Dir gern freier und ausführlicher schreiben, aber mir liegt daran, Deine Gefühle nicht mehr als unumgänglich zu verletzen. Es liegt mehr in deiner Hand, das zu entscheiden, das heißt: je gelassener und freundlicher Du mir schreiben kannst, desto hoffnungsvoller und freier kann ich Dir darauf antworten. Und ganz gewiß wünsche ich mir jetzt wie von jeher, Dein bester Freund und Vertrauter zu sein.« Schnöde kann man den Ton dieses Briefes nicht nennen. Und vielleicht meint der Briefschreiber - in männlicher Naivität - was er sagt, und ahnt wirklich nicht, was er da der >Partnerin< an Belastungen zuschiebt. Letztlich hat Djuna Barnes der Mutter ihre Toleranz, ihre Unentschiedenheit und Duldsamkeit dem eigenwilligen Vater gegenüber verübelt, sie für die unordentliche und ziellose Existenz der Brüder, die Schäden in ihrer eigenen verantwortlich gemacht. Den Vater hat sie, im Wendell des Romans Ryder eher als Satyr, als Sexualprotz karikiert. Das >endgültige Duell< findet in Antiphon mit der Mutter statt. In den Briefen, die Wald Barnes seiner Tochter in den New Yorker und noch in den ersten Pariser Jahren schreibt, übernimmt er ganz die Rolle des väterlichen Freundes und interessierten Beraters, der ihre Schwierigkeiten - als Künstlerin - aus eigener Erfahrung kennt und nachempfindet. »Ich lag wach, liebe Tochter Djuna« fängt er einen Brief vom September 1916 an, »und überdachte Dein schönes Gedicht Love song, und während ich zwischen seinen Zeilen las, meinte ich seinen Anlaß zu kennen ... ich las die Wirklichkeit heraus. Und daher fühle ich mit dir, denn auch ich habe die Tiefen kennengelernt. Aber aus solchen Tiefen kommen die wirklichen Dinge - die Gedichte -, die zum letztgültigen Guten zählen, darum, liebes Herz, laß den Kopf nicht hängen und blick nach vorn! Aus den Tiefen kommen auch die anderen Wirklichkeiten - die Dinge, die uns teuer und die lebendig sind. Merke Dir - - LEBENDIG - - was der Schmerz letztlich nicht ist, wenn man durch ihn über ihn hinausgewachsen ist und in die Höhe... Ich bin traurig, daß Du so viel allein sein mußt, denn obwohl Du da draußen in der Welt bist und dich auf deine tapfere Art durchkämpfst - trotz, möchte ich sagen, deinem >Mittendrinsein, (was sagst Du zu diesem Wortgebilde?) wirst Du doch besser von deinem Pa und deiner Grandma verstanden als von irgend jemand sonst. Könntest Du häufiger mit uns zusammensein, würde es Dir besser gehen - weil wir uns in gegenseitigem Vertrauen austauschen könnten, meinst Du nicht?...« Und er spricht ihr Mut zu, sie solle gegen die traurigen Stimmungen und niederdrückenden Gedanken angehen: jeder Weg mache einmal eine Kehrtwendung, nichts datiere immer und ewig außer der wirklichen Liebe, und auf die könne sie - was ihn und die Großmutter angehe zählen. Und am Ende des Briefes noch Ratschläge für ein gesundes Dasein »trink Milch!« - ein billigeres Zimmer und dafür mehr essen! und zuletzt die etwas albernen Zärtlichkeitsfloskeln, die offenbar zum Familienjargon gehören. Dazwischen aber gibt er Hinweise und Beispiele, wie sie eine gute, finanziell sichere Karriere machen kann: indem sie nämlich genau das schreibt, was das Publikum erwartet, niemals ihre eigene Individualität zum Ausdruck bringt, die Erfolgreichen genau studiert und es ihnen nachmacht. Das könnte aus seinem Mund ironisch klingen, ist aber doch wohl ernst gemeint: Er wünscht die Tochter auf eigenen Füßen und glücklich zu sehen. Immer wieder kommt Wald Barnes zu der Überzeugung, sie seien eine besonders ausgezeichnete, kreativ begabte Familie: (»Wir sind alle was wert - in künstlerischer Hinsicht wie in anderer.«) Seine Kinder aus zweiter Ehe erscheinen ihm als musikalische Genies, er berichtet, daß er selbst wieder komponiert - zwei Mazurkas, »die auf ihre Art ebensogut sind wie die Chopins ... Früher oder später wird meine Musik eine Sensation hervorrufen!« Bei allem Geniegehabe und Größenwahn ist er auch auf den schnellen und natürlichen großen Erfolg aus. Immer wieder sieht er eine glückliche Wendung kommen, einen Ausweg aus der Misere. Und er schildert dramatisch, wie sie durch all die Jahre gehungert hätten - ein Alptraum, den er immer wieder träumen müsse, seit seine, Mutter vor drei Jahren gestorben sei. »Scheine ich Dir sehr weit weg?« fragt er. »Vielleicht.« Aber das scheine eben mir so. Vermutlich hat sie ihm seine Irrealität, seine ewigen Illusionen vorgehalten. Jedenfalls verteidigt er sich: »Blick zurück auf diese letzten drei Jahre und sag mir, was Du Gutes und Bleibendes durch meinen Pessimismus und deinen Agnostizismus erreicht hast. Jeder deiner Briefe zeigt mir, daß Du nicht glücklich bist, nicht zufrieden. Warum nicht umkehren und GLAUBEN? Ganz besonders solltest Du an das größere kommende Leben glauben, zu der Tod nur die Pforte ist.« Dieser Hinweis auf das jenseitige, sichere Glück nach der irdischen Plage findet sich durchweg in den Familienbriefen - ein Rest spiritistischer Überzeugungen oder, wie bei der Mutter, eine Wirkung der >Christian Sience<, der sie sich später zuwandte? Jedenfalls scheint sich der Agnostiker Wald Barnes bekehrt zu haben Auch ohne die tiefe, Verletzung durch eine erzwungene sexuelle >Initiation<, hätte das familiäre Milieu mit seiner hemmungslosen Verachtung aller bürgerlichen Konventionen und der vom Vater so deutlich demonstrierten Promiskuität genügt, der heranwachsenden Tochter die Fragwürdigkeit der väterlichen Lehren - und des Lebens überhaupt vor Augen zu führen. Nach der Trennung der Eltern war Djuna mit ihrer Mutter und den Brüdern nach New York gezogen und hatte in Pratt's Institute einer privaten Kunstschule, einen Kurs in Malen und Zeichnen absolviert, - der erste Schritt einer Ablösung vom turbulenten Familienmilieu. Sie zeichnet - zunächst noch deutlich in der Art Beardsleys - und schreibt, sehr bald schon für große Tageszeitungen: Interviews, Reportagen, Portraits. Außerdem Einakter und Gedichte. Sie erscheint in den kleinen Magazinen, in denen sich >das Neue< in den Künsten sammelt, so in >The Little Review<, einem der rührigsten. Schon bald ist sie eine der beachteten und charakteristischen Figuren von Greenwich Village, das - vor allem in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg - der Sammelpunkt einer unruhigen, des Neuen begierigen Intelligenzia und Bohéme und ihrer jeweiligen Mitläufer und Statisten war. Ihr schneller, oft beißender Witz wird gerühmt, ihre Eleganz, ihre hochmütige Allüre - nicht immer anerkennend - notiert.
Dabei ist sie vermutlich wirklich »weder glücklich noch zufrieden«, wie der Vater anmerkt. Sie ist jedenfalls eine begierige und aufmerksame Beobachterin ihrer äußerst bunt gemischten Umwelt. Und dieser beobachtende Blick erreicht, zum Beispiel in den Interviews (Auswahl daraus in Portraits) verborgene Schichten der wahrgenommenen Personen, Skurrilitäten, Manien und Abgründe, wie es im journalistischen Interview sonst nicht üblich ist. Die anspruchsvollen amerikanischen Zeitungen sind häufig das literarische Umfeld für hervorragende amerikanische Schriftsteller und Schriftstellerinnen gewesen. Djuna Barnes gehört zu ihnen.