Der Roman Nightwood, der - mit Ansätzen um 1921 - in den Jahren nach 1931 entsteht und 1936 zuerst in England, dann ein Jahr später in Amerika erscheint, ist die geballte Zusammenfassung ihrer disparaten menschlichen Erfahrungen und der entschiedenste Ausdruck ihres dichterischen Vermögens: er ist tief eingetaucht in die Farben und Stimunungen des ersten Nachkriegsjahrzehnts, und er trifft auf die veränderte Lebenssituation und Lesererwartung der dreißiger Jahre. Sieht man sich die Lebensdaten von Djuna Barnes in diesem Jahrzehnt genauer an, so bleibt es rätselhaft, wie sie den Impakt des Schreibens - des Schreibens gerade dieses Buches - ertragen und es überhaupt zu Ende gebracht hat. Sie ist eigentlich dauernd unterwegs - teils aus äußeren Anlässen, teils aus innerer Unruhe. Sie ist nicht nur ohne Geld, sondern auch verschuldet. Unsicherheit, richtiger: Ungesichertheit - das Signum ihres Lebens - droht die weltläufige Selbstbehauptung aufzuzehren. Sie bewegt sich am Rand ihrer Kräfte und bricht immer wieder ein. Die Versuche, an ihre journalistische Arbeit in New York anzuknüpfen und sich damit ein halbwegs regelmäßiges Einkommen zu verschaffen, schlagen fehl: Die Auftraggeber sind andere, deren wirtschaftliche Situation ist prekär. Entscheidender noch: Was für sie den Reiz dieser Arbeit ausgemacht hat, ist ausgeschöpft, ist in ihre literarischen Texte eingegangen. Auch die >leichte Hand< für ein Erfolgsstück, zu dem ihr Freunde raten, hat sie, wie sie feststellt, nicht.
Eine Zuflucht ist immer wieder Hayford Hall, in der Nähe des Dartmoor in Devonshire, Peggy Guggenheims Sommerresidenz über Jahre. Aber von einem ruhigen Retiro zum Schreiben eines so schwierigen Buches wie Nightwood kann da eigentlich auch kaum die Rede sein. »Es war ein großes graues Steingebäude von anspruchsvoller Architektur aus dem beginnenden 19. Jahrhundert«, notiert Peggy Guggenheim in ihren Erinnerungen. [1] »Eine geräumige Halle mit einem mächtigen Kamin bildete das Zentrum. Darum herum lagen die übrigen Zimmer ... Außer den elf Schlafzimmern benutzten wir keine der sonst noch vorhandenen Räume und Kammern, mit Ausnahme eines bedrückenden Speisesaals, wo wir unsere Mahlzeiten einnahmen und nie länger blieben, als es zum Essen notwendig war. Danach zogen wir uns immer möglichst bald in die Halle zurück. Ich glaube, so viel Unterhaltung und Leben wie zur Zeit unseres Aufenthalts hat es dort nie gegeben - weder vorher noch später ... Ein einziges Zimmer war eigenartig in einer Art Rokokostil eingerichtet«, fährt sie fort, nachdem sie die spartanischen Betten der Schlafzimmer geschildert hat. »Der Raum schien wie gemacht für unsere Freundin Djuna Barnes, die mit uns gekommen war, und so wurde er ihr zugeteilt. Im Bett dieses Zimmers liegend hat sie den größten Teil von Nightwood geschrieben.« Djuna war, was die geschmackliche Eigenart des ihr zugedachten Zimmers anging, wohl nicht ganz der Meinung ihrer Gastgeberin. Immerhin: Sie hatte ein Dach über dem Kopf und war versorgt, und ihr Bedürfnis, sich zurückzuziehen, wurde respektiert. Aber sie nahm auch teil an den Zusammenkünften der Mitbewohner, vor allem an den seltsamen Gesellschaftsspielen, die sie allabendlich veranstalteten. Peggy Guggenheim hatte gerade die Scheidung von ihrem ersten Ehemann, Lawrence Vail, hinter sich und lebte zu der Zeit mit John Holms zusammen, einem Mann, dessen Geist und Persönlichkeit von denen, die ihn gut kannten, hochgeschätzt wurde. Er schrieb auch, hinterließ aber, als er 1934 an den Folgen eines falsch behandelten Reitunfalls starb, außer einigen Gedichten und Essays nur Briefe. An deren Herausgabe waren viele seiner Freunde - auch Djuna Barnes, wie aus ihrer Korrespondenz hervorgeht - über Jahre beteiligt, über zu einer Publikation kam es nie. Der Schriftsteller und Kritiker Edwin Muir bekannte in seinem Vorwort zu der beabsichtigten Brief-Ausgabe: »Holms machte auf inich mehr als irgend ein anderer Mensch den Eindruck eines Genies, und ich halte ihn für einen der bemerkenswertesten Menschen seiner Zeit, vielleicht sogar aller Zeiten... Sein Geist war von großartiger Klarheit und Ordnung, und wenn er ihn auf etwas richtete, war es, als werde ein Zauber über die Dinge geworfen, so daß sie in ihrer wahren Gestalt und in ihrer ursprünglichen Beziehung zueinander erschienen, wie am Schöpfungstag.« [2] Djunas Verhältnis zu Holms scheint zwiespältig gewesen zu sein, obgleich ihre Neigungen in die gleiche Richtung gingen: Beide hatten eine starke Beziehung zu Tieren und zum Tod. Vielleicht war es die Adoration seiner Freunde, die in ihm einen Guru oder eine Art Heiligen sahen, auf die sie skeptisch reagierte. Es sei mit ihm ein bißchen so, äußerte sie einer Freundin gegenüber, als »habe sich Gott für ein Weckend herabgelassen«. Dennoch hat sie ihm und Peggy Guggenheim Nightwood gewidmet - auch wohl um eine Dankesschuld abzutragen.
Ein anderer ständiger Gast- außer den zahlreichen Kurzbesuchern in Hayford Hall - war Emily Coleman, die längere Zeit als Sekretärin der großen Anarchistin Emma Goldman gearbeitet hatte und Gedichte und Romane schrieb. Sie war - auch ihre Briefe zeigen es - von einer unermüdlichen Intensität und Eloquenz, die Djuna gelegentlich gern durch ein leichtes Sedativum gedämpft hätte. Dennoch verband beide in dieser letzten Zeit in Europa und auch danach noch eine enge Freundschaft, die sich in einer umfangreichen Korrespondenz oft sehr persönlichen Inhalts manifestierte. Emily hatte zunächst gedroht, das Manuskript von Nightwood zu vernichten, sollte es irgendwelche für sie prekären Einzelheiten aus ihrem Leben enthalten. Statt dessen hat sie es, nachdem sie es gründlich gelesen hatte, begeistert gefördert - allerdings nicht ohne die Autorin mit Änderungsvorschlägen zu bedrängen. Ihre Hartnäckigkeit war es auch, die T S. Eliot dazu brachte, seine Vorbehalte zu überwinden und den Roman bei Faber and Faber durchzusetzen. Außerdem schrieb sie einen Essay von rund 25 Seiten zu Nightwood, der nie publiziert wurde. (Er ist - abgesehen davon, daß die Schreiberin darin deutlich zum Ausdruck kommt - auch insofern interessant, als er knappe Anmerkungen von Djuna Barnes' Hand enthält, die Widersprüche in deren Äußerungen aufspießen.) Als Eliot immer noch zu zögern scheint, schreibt Emily Coleman im April 1934 an Djuna Barnes (die zu der Zeit in New York ist): »Wenn E. Dein Buch ablehnt und ich ihm je wieder begegne, wird er etwas zu hören bekommen, das er in seinem ganzen Leben noch nicht gehört hat... Ich treffe Vorbereitungen (zusammen mit Peggy, - zumindest), um es privat drucken zu lassen, wenn es nirgends angenommen wird. Das beste, was ich tun kann, ist, wenn ich 's mir überlege, möglichst mein eigenes Buch bei Chatto & Windus - einem Verleger zweiter Wahl in London - zu veröffentlichen und dann zu sehen, ob ich meinen Einfluß dort nutzen kann falls Eliot dich ablehnt...« Das ist Emily Coleman, wie sie sich in der ganzen Korrespondenz zeigt: engagiert und engagiert für ihre Freunde und dann doch darauf bedacht, ihr eigenes Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Ihre Briefe füllen oft zehn und mehr dicht beschriebene Seiten mit handschriftlichen Zusätzen an den Rändern und schweifen von ganz persönlichen Erfahrungen ab und aus zu Gott und der Welt. Häufig geht es um >the real thing< - das >Eigentliche< -, das zu haben oder zu verstehen sie sich und Djuna, John Holms und auch dem aufmerksamen und klugen Freund Edwin Muir - aber sonst kaum jemandem - zugesteht.Djuna Barnes hat mit Nightwood einen Schritt über eine Grenze getan, der nicht rückgängig zu machen ist: Dieser Roman voller Zeit- und Gedankensprünge und irrealer Orte trifft den Zeitgeist an seinen empfindlichsten und verborgensten Stellen. Die Intensität der Sprache und die unerhörte Kühnheit ihrer Metaphorik, »die das einleuchtend sich anbietende Bild nicht kennt« (Hildesheimer), macht ihn zur Dichtung. Das ist es wohl, was T.S. Eliot meint, wenn er in seiner Einführung von 1937 schreibt: »Die Feststellung, daß Nightwood vor allem bei Lesern von Lyrik Anklang finden würde, bedeutet nicht, daß es kein Roman ist, sondern daß es ein sehr guter Roman ist und nur eine an Lyrik geschulte Sensibilität das Buch völlig würdigen kann.« Um ja nicht mißverstanden zu werden, erklärt er, er wolle damit nicht sagen, daß Djuna Barnes' Stil lyrische Prosa sei, ihre Prosa habe den echten Prosarhythmus, und ihre musikalische Struktur sei nicht die Struktur des Verses. Wenn Wolfgang Hildesheimer, der wahrhaft kongeniale Übersetzer dieses Textes, in seinem Nachwort von 1971 meint, Eliots 1937 noch notwendige, »etwas umständliche Apologie« [3] erübrige sich heute, so gilt das sicherlich für den fortgeschrittenen Leser, auf den ein solches Buch, wie sich in der jüngsten Resonanz gezeigt hat, rechnen darf. Es wäre aber bare Irreführung, wollte man dieses verschlungene Sprachgewächs als bequeme, allen zugängliche Lektüre empfehlen. »Nachtgewächs ist vor allem ein Liebesroman«, stellt Katharina Kaever in ihrem ausgezeichneten Essay Die Nachtwachen der Djuna Barnes [4] fest, und sie zitiert ergänzend Wolfgang Hildesheimer: »Nach Nightwood, dessen Figuren >bis in die Knochen zerfressen von Liebe< sind, gehört der >Liebesroman< der Trivialliteratur an.« Es sei denn, ließe sich mit Vorsicht ergänzen, er begänne wie dieser da, wo die Märchen mit ihrem unverbindlichen Happy-End aufhören. Daß es sich hier um die Erzählung einer Liebe handelt, und nicht vor allem um die Darstellung einer sexuellen Beziehung zwischen zwei Frauen, ist wichtig zu sagen. Matt wird in diesem Roman vergeblich suchen, was sich heute fast unumgänglich in jedem Buch findet: eine Bettszene. Und dennoch ist klar, daß dieses Verhältnis alles umfaßt: Leidenschaft und Leiden, Zärtlichkeit und Eifersucht. Die Qual des unauflösbaren Mißverständnisses und die Unerreichbarkeit des anderen. Leib und Seele mit allen ihren Abgründen und Abseitigkeiten.
Das erste Kapitel hat den Titel, den zunächst der ganze Roman haben sollte: »Bow down« (»Unterwerfung«). Es greift hinter die eigentliche Zeit des Romans zurück und beginnt mit der Geburt eines Kindes das später den Platz einer wichtigen Randfigur einnehmen wird. Es ist das Kind eines Juden italienischer Abstammung und einer kraftvollen Wienerin »von soldatischer Schönheit«, und es ist eine Waise vom ersten Atemzug an: Der Vater, Guido Volkbein, ausgezeichnet mit einem fragwürdigen Adelstitel, ist ein halbes Jahr zuvor verstorben, die Mutter stirbt unmittelbar nach seiner Geburt im Kindbett. Guido Baron Volkbein ist besessen von der Wahnidee - der sehr österreichischen übrigens - daß er sich etwas »höherem«, dem »Adel schlechthin« unterwerfen, zugleich aber ihm, wenn auch auf unglaubhafte, obskure Weise, angehören müsse. In ihm sind alle Kränkungen seines Volkes versammelt, er bleibt Ahasver, der rastlos Getriebene, auch wenn er in einer Wohnung der üppigsten Gründerjahre - »eine Flucht von Rokokosälen, schwindlig von Plüsch und Schnörkelgold« - Schutz und Halt sucht und sich in drittrangigen Bildern vergessener Schauspieler seine »Ahnen« an die Wand hängt. Der verwaiste Sohn Felix taucht nach vierzig Jahren auf »mit diesen Tatsachen, den beiden Bildnissen und sonst nichts« [5]: Er hat Geld und beherrscht sieben Sprachen, und niemand weiß, woher er gerade kommt oder wohin er geht - »... denn der Schritt des wandernden Juden liegt in jedem Sohn« Den Spleen des Vaters hat er geerbt und nennt ihn »das alte Europa«, er kennt sich aus in Geschichte und Geschichten der Herrscherhäuser, in Schlössern und Kirchen, in bedeutenden Namen und Titeln. Und in Verehrung des Prunks »echter« Könige und Königinnen gerät er in den Kulissenzauber von Zirkus und Theater. In ihrer milieubedingten Vortäuschung falscher Tatsachen findet er eine Art friedlichen Behagens. Mit der Zirkusakrobatin, der herzhaft-muskulären Frau Mann (alias Herzogin von Breitenrück) an seiner Seite, trifft Felix bei einem italienischen »Grafen« - als dessen ungebetene Gäste sie, wie sich zeigt, erschienen sind - den »Doktor«, den Geburtshelfer und -verhinderer, eine zentrale Figur des Buches, zugleich Shakespearescher Narr und ausschweifend sich mitteilender antiker Chor des Dramas. Auch Nora, die unglückliche Heldin, tritt auf und macht hier - als Werbeagentin für den Zirkus, wie sie sich vorstellt - eine eher verlegen-nebensächliche Figur. Der Hintergrund, nur angedeutet, ist Berlin bei Nacht. Auch wenn der Roman mir wenige Anhaltspunkte für Ort und Zeit gibt - -die europäischen Metropolen sind mit ihrer besonderen Aura da: das nonchalant alle und alles tolerierende Paris, das kulturbeflissene und desperate Berlin, das indolent-korrupte und vergangenheitslüsterne Wien. Die nächste Szene ist Paris, »nahe der Kirche St. Sulpice«, und sie ist präzise und wirklichkeitstreu beschrieben. Hier etwa ist das Revier des Doktor Matthew O'Connor, in dessen engen Nebenstraßen er seine absonderlichen Einkäufe tätigt, ehe er, spät nachts, sich in seinem Stammeafé einfindet, dem Café de la Mairie du VI. Hierher bringt er den Baron Felix, der nach Paris gekommen ist, gleichermaßen angezogen von diesem Doktor, den er für einen großen, aber »wertvollen Lügner« hält. In die Unterhaltung der beiden trifft die Nachricht des »chasseur« aus dem nahen Hotel Récamier, den der Doktor »viel zu gut kannte« daß »auf neunundzwanzig eine Dame in Ohnmacht gefallen sei, und man sie nicht wieder zu sich bringe« [7] Der Doktor bricht sofort auf, den Baron mitziehend. »Auf dem Bett, umgeben von einer Unordnung aus Topfbflanzen, exotischen Palmen und Schnittblumen,. .. die Stütze der Kissen halb abgeworfen, von denen sie in einem Augenblick bedrohten Bewußtseins ihren Kopf abgewandt hatte, lag die junge Frau, schwer und aufgelöst... Wie gemalt vom Douanier Rousseau, schien sie in einem Urwald zu liegen, in einer Falle im Salon (vor dessen Schrecklichkeit die Wände geflohen sind), fleischfressenden Pflanzen hingeworfen ...« [8] »Um ihren Kopf war ein Schimmer wie von Phosphor,... als sei ihr Leben durch sie hindurchgelegt in linkisch-leuchtenden Entartungen; die quälende Struktur der geborenen Schlafwandlerin, die in zwei Welten lebt - Zusammentreffen von Kind und Desperado.« [9] Ein Stichwort ist gefallen. Der Doktor bespritzt die Patientin mit Wasser, bedrängt von der steten Angst, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten (er besitzt keine Genehmigung zum Praktizieren). Der Baron, der aus Taktgefühl hinter die Palmen getreten ist, kann, peinlich berührt, beobachten, wie der Doktor mit Parfümflaschen hantiert, die Puderquaste über sein schwarzglänzendes Stoppelkinn führt und einen einsamen Hundertfrancsschein in seine Tasche versenkt - eine ziemlich vollständige Auskunft über ihn. Die junge Frau, widerwillig zu Bewußtsein gekommen, schließt die Augen wieder, »und Felix, der sich in sie vertieft hatte, in ihr geheimnisvolles und anstößiges Blatt, konnte ihnen, verschwimmend, aber klar und zeitlos, hinter die Lider folgen - die lange rückhaltlose Weite in der Iris wilder Tiere, die den Brennpunkt nicht eingedämmt haben, um dem menschlichen Auge zu begegnen. Die Frau, die sich dem Beschauer wie ein für immer angeordnetes >Gemälde< präsentiert, bringt für das kontemplative Gemüt die größte Gefahr...« [10] Felix erliegt ihr. Der Doktor - auch die Rolle des Kupplers gehört zu seinem Repertoire - redet zu: Felix will Robin Vote als Mutter eines Sohnes, den er mit Ehrfurcht für die »große Vergangenheit« zu beladen gedenkt. Er trägt ihr ganz bürgerlich die Ehe an, und sie sagt - unerwartet - ja, »...als enthalte Robins Leben keinen Willen zur Ablehnung.« [11] Beglückt eilt er mit ihr durch Wiener Schlösser und Museen. Während er ihr zu Hause von Herrschern spricht - und selbst unter der Last ihrer Schicksale zu leiden beginnt - schläft sie ein, entzieht sich ihm, unerreichbar. Dieses »Mädchen mit dem Körper eines Knaben«, das aus einer Zeit vor der Geschichte zu stammen scheint, bemüht sich, seinen Vorstellungen zu folgen, sie wird katholisch, sie verbringt die meiste Zeit in Kirchen. Umsonst. »Eines verlorenen Lands in sich auf seltsame Weise bewußt, verfiel sie dem Umherstreifen, streifte durch Ortschaften, fuhr mit dem Zug in andere Städte, allein und versunken.« [12] Die Geburt des Kindes stürzt sie in Wut und Entsetzen. Das Kind ist klein, jämmerlich und auf freundliche Weise schwachsinnig. Nach ein paar Wochen des Herumstreunens verläßt sie Mann und Kind. »Als man sie wieder im Viertel sah, war es mit Nora Flood.« Der Doktor weiß, daß sie »in Amerika war, dort wo Nora lebt. Ich habe sie in die Welt gebracht, und ich sollte es wissen.« [13] Das ist eine Vorwegnahme. Erst im nächsten - vergleichsweise kurzen - Abschnitt »Nachtwache« findet die schicksalsträchtige Zufallsbegegnung statt. In ihm drängt sich der ganze Ablauf dieser Liebesgeschichte zusammen. Zunächst aber wird Nora in ihrer amerikanischen Umgebung vorgestellt: in einem abgelegenen Haus auf dem Lande, wo sich im »seltsamsten Salon in Amerika« die »Armen« versammeln, die »détraqués« - die Abseitigen und »Ausgeflippten«: »Dichter, Radikale, Künstler und Liebesleute; Katholiken, Protestanten, Brahmanen, Dilettanten in schwarzer Magie und Medizin«. [14] Abgehoben von allen sitzt Nora aufrecht vor dem Kaminfeuer, »die Hand auf dem Hund«, und hört ihnen zu. »Das Gleichgewicht ihrer Natur, wild und veredelt, verlieh ihrem gezügelten Schädel einen Ausdruck von Mitleid...«, heißt es da. »Ihrer Veranlagung nach war Nora eine Frühchristin... Nora hatte das Gesicht derer, die das Volk lieben.« Und: »Leute, die alles lieben, werden von allen verachtet.« [15] Nein, Nora ist kein Selbstbildnis der Autorin, auch wenn es übereinstimmende Züge gibt, eher ihr Alter ego, eine, die sie womöglich geworden wäre, hätte sie nicht schreiben müssen. Eine archaische Figur. »Bei diesen unglaublichen Zusammenkünften spürte man frühe amerikanische Geschichte, neu in Szene gesetzt.« [16] Nora ist eine Einzelgängerin, »ihrem Schicksal nach einer jener Menschen, die unversorgt geboren werden und ausschließlich auf eigene Sorge angewiesen sind«. [17] Und sie ist ständig in der Gefahr, sich zu verausgaben. »Ihr zu >beichten, war eine geheimere Handlung als der vom Priester gewährte Vollzug. In ihr gab es keinen Raum für Bosheit. Sie registrierte ohne Vorwurf und Anklage, denn sie hatte Selbstvorwurf und Selbstanklage abgestreift.«[18] Sie erscheint als ein Mensch, der durch Erfahrung mit sich selbst gefestigt ist, nahezu als Idealfigur. »Dann begegnete sie Robin.« [19] Incipit tragoedia. Im Kapitel »Geh hin, Matthäus!«, in dem der Kulminationspunkt des Romans bereits überschritten ist, wird sie dem Doktor bekennen: »Es steckt etwas Schlechtes in mir, das liebt Bosheit und Verkommenheit, der Reinheit schwarze Kehrseite.« Und noch zwingender: »Alles, was wir in dieser Welt nicht ertragen können, finden wir eines Tages in einer einzigen Person vereint, und sofort lieben wir alles!«[20] Nora und Robin sitzen im Zirkus nebeneinander, und die Tiere machen ihre übliche Schlußrunde nach dem Dressurakt. »Zwar schienen sie das Mädchen nicht zu sehen, doch als ihre staubigen Augen es streiften, war es, als falle die Bahn ihres Lichts auf diese Erscheinung.« Und als die Löwin ihre mächtigen Tatzen durch die Gitterstäbe stößt - »ihre Augen flossen in Tränen, die niemals die Oberfläche erreichten« - steht das Mädchen »steil« auf »Gehen wir hinaus«, sagt sie. Das »Wir« ist hergestellt, ehe die Namen fallen. Einer der meisten Sätze heißt: »Sie wohnte bei Nora bis zum Mittwinter...« [21] Dann findet man beide wieder in Paris. Das kurze Gliiek der vollkommenen Übereinstimmung spiegelt sich in der gemeinsamen Wohnung mit ihrem merkwürdigen Gemisch aus europäischem Geschichtströdel und Jahrmarkt-bric-à-brac: religiöse Utensilien, venezianische Spiegel, Karussellpferde. Robins Sehnsucht nach Behaustheit entspricht ihrem Unvermögen dazu. Sie fängt wieder an zu streunen, vor allem nachts, während Nora wartet und wacht und nichts in der Wohnung zu ändern wagt - »Ergebnis einer vernunftwidrigen Furcht... irgendeine Unordnung... könnte sie die Spur nach Hause verlieren lassen«.[22] Es beginnen Noras schreckliche nächtliche Wanderungen durch die Stadt auf der Suche nach Robin, wobei sie die Orte meidet, »wo die Kellner, die Leute auf den Terrassen an ihren eigenen Bewegungen erkennen könnten, daß sie an Robins Leben teilhatte«. [23] Robin bewohnt nicht nur ihre wachen Gedanken, sie ist auch in ihren Angstträumen. Und schließlich verwirklicht sich der schreckliche Traum: Neben der Brunnenfigur im Hof des Hauses sieht sie zwei Schatten - Robin in der Umarmung einer anderen. Wieder holt das nächste Kapitel ausführlich nach, was der Blick Noras als tödlichen >fait accompli< vorausgenommen hat: die Beschreibung des »Eindringlings« Jenny Petherbridge. Später wird man sie, und die Vorgänge dieser Nacht noch einmal aus dem Blickpunkt des Doktors beschrieben finden.
Unter den kritischen Einwänden gegen den Roman ist auch der, er sei nicht durchstrukturiert, sei eine lose Folge von Szenen ohne Entwicklung und Zusammenhang. Davon aber kann nicht die Rede sein: Er hat eine kompliziert verschränkte, aber durchaus erkennbare Struktur, die aus kurzer Vorwegnahme am Ende eines Kapitels und ausführlichem Rückgriff besteht, aus knapp mitgeteilter vollendeter Tatsache und nachgeholter Ausbreitung des Vorgangs. Katharina Kaever hat auf die Bilderflut hingewiesen, auf das tableauhafte der Szenen, und sie der bildenden Künstlerin in Djuna Barnes zugeschrieben. [24] Und ganz zweifellos ist ihre Wahrnehmung durch den komprimierenden und zugleich minimale Details notierenden Blick der Zeichnerin und Malerin bestimmt. Es ist hier aber auch die Dramatikerin am Werk: Zu ihren frühen Arbeiten gehören die Einakter und Kurzdramen, die sie in New York, unter anderem für die Provincetown Players, schrieb, ihr letztes - bislang bekanntes - bedeutendes Werk ist das Versdrama The Antiphon. Noch eine andere aufmerksame Beobachtung verdanken wir Katharina Kaever: Die Kapitel oder Abschnitte des Romans enden immer mit einer >Fallszene<, einem inneren, in eine äußere Geste transkribierten Absturz von verschiedenem Gewicht. Auch diese variierte Wiederholung einer solchen Bewegung ist ein szenatorisches Element. Nach dem vierten Kapitel geht die bis dahin sich steigernde Handlung unter in einer Flut von Rede und Gegenrede. Tatsächlich ist ihr nach dem vierten, ja eigentlich schon nach dem dritten Kapitel nichts mehr hinzuzufügen. Zu dessen Schluß weiß man, was die Glocke geschlagen hat. »Der Eindringling« ist der ins einzelne gehende Beleg für die darin angedeutete Erkenntnis. Von da an bleibt nur noch die qualvoll immer um das gleiche rotierende Frage: Warum? Und es gibt einen Adressaten für sie: den gewaltigen >Doktor Matthew-Mighty-cum grano salis Dante-O'Connor<, den hemmungslosen Redner und bis zur eigenen Erschöpfung mitleidenden Zuhörer, der die Wahrheit in die Lüge verpackt, der - in seiner Perversion - die Natur beleidigt, deren Vertrauter er doch ist. Seinen Höhepunkt hat er in dem Kapitel »Wächter, was spricht die Nacht?« Als Nora ihn um drei Uhr früh in seiner decouvrierenden Schreckenskammer unter dem Dach überrascht. In einer ungeheuren Suada macht er sie mit den Wesen der Nacht bekannt, »an die sie überhaupt nie als Leben gedacht« hat. Er erklärt ihr das Unheimliche des Schlafs, in dem die Nacht herrscht. Er fordert sie darüber nachzudenken: »Denn die Nacht gibt es schon lange«... »Wir sind Schläfer im Staub der Vorwürfe gegen uns selbst« [25] sagt er und: »Wir werden Linderung nicht finden, bevor die Nacht nicht schmilzt, bevor die Furie der Nacht nicht ihr Feuer löscht.« [26] Und er zählt die auf, welche den Tag zur Nacht machen: »Die Junge, die Rauschgiftsüchtige, die Lasterbeladene, die Trinkerin und die Unglücklichste von allen: die Liebende... sie alle können niemals mehr das Leben des Tages leben.« [27] Es ist nicht Trost, was der Doktor ihr vermittelt, sondern, eingehüllt in Bilder von unglaublicher Schönheit und Schrecklichkeit, erbarmungslose Erkenntnis, die auch ihr die Zunge löst. In einem der weiteren Kapitel, »Geh hin, Matthäus!«, in dem der Doktor Nora aufsucht und in der gleichen Besessenheit antrifft, fragt er sie schließlich, ob sie wisse, was ihn »zum größten Lügner diesseits des Mondes« gemacht habe. »Mich, der ich Leuten wie Dir meine Geschichten erzähle, um sie von der Todesangst zu befreien, die ihnen in den Eingeweiden sitzt. Um sie zu halten, wenn sie sich am Boden krümmen, die Füße hochziehen und schreien. Wenn die Augen über das Handgelenk stieren, voller Qual, die sie abzuwehren suchen! Sie schreien: >Sag doch etwas, Doktor, um Gottes willen!<, und ich rede darauf los, wie ein Irrer - siehst Du, das und sonst nichts hat mich zum Lügner gemacht, der ich bin.« [28] Mit diesem Geständnis nähert er sich der Grenze seiner Beredsamkeit. Nora, diese besessene Fragerin, hat ihn erschöpft. Er verläßt sie abrupt, wankt in sein Stammeafé, betrinkt sich zur Gänze. »Unter schluchzendem Lachen brüllte er: >Auf mich einreden, alle von ihnen - auf mir sitzen, wie auf einem Lastpferd - reden und reden! ... >jetzt< - sagte er >das Ende denkt daran - jetzt nichts als Wut und Weinen!« [29] Das ist des Doktors >Fall<. Wie alles an ihm ist er gewaltig. T S. Eliot hätte als Lektor des Romans das Schlußkapitel »Die Besessenen« am liebsten weggelassen. Aber es darf nicht fehlen. Es erfüllt sich darin des Doktors Prophezeiung, daß »ein und derselbe Hund sie beide finden wird«. Nora und Robin. Und mehr als das. Die Szene ist wieder das ländliche Amerika. Die streunende Robin hat sich in immer engeren Kreisen Nora genähert. Schließlich ist sie in die verwahrloste kleine Kirche eingedrungen, die zu Noras Besitz gehört. In dem Augenblick, »als Noras Körper gegen das Holz schlug, begann Robin niederzugehen. Sie glitt hinab, immer tiefer hinab...« [30] bis sie zu einem »Unwesen« wird, das keiner natürlichen Spezies mehr zugehört »abstoßend und ergreifend«. Dem Hund sträubt sich vor Entsetzen das Fell, er läuft neben der Kriechenden her, die bellt, grinst und heult, bis sie aufgibt, zusammenbricht, und der Hund auch. Wie man diese Szene als sodomitische Kopulation hat ausdeuten können, ist mir unbegreiflich. Sie ist grauenvoll, aber sie meint etwas ganz anderes, etwas, das sich in Ryder weitaus schwächer angedeutet hat: Die Rückkehr zur Unschuld der Tiere ist dem Menschen versagt. Er hat sie immer wieder verspielt. Das Paradies ist verriegelt. Nach Kleist gelangen wir >nur durch die Hintertür< wieder hinein. Nora ist aus dieser Szene ausgeschlossen, sie verschmilzt mit der Autorin zur Beobachterin. Der Schluß des Romans läßt alles offen.
Djuna Barnes hatte die Beziehung zu Thelma Wood 1931 beendet. Die Trennung war ein quälend langsamer Prozeß, der sich über Jahre hinzog. Schließlich wurde ihr klar, daß Henriette Metcalf - das Urbild des >Eindringlings< Jenny Petherbridge in Nightwood - eine feste Liaison mit Thelma eingegangen war. Sie hat ihre Rivalin im Roman stark überzeichnet. Henriette Metcalf war eine gebildete Frau, vertraut mit der französichen Geisteswelt und unter anderen mit Colette befreundet. Sie war in zweiter Ehe verheiratet mit einem namhaften jüngeren Theaterkritiker, eignete sich während dieser Zeit solide Kenntnisse vom Theater und von der Theaterliteratur an und übersetzte Dumas' Kameliendame ins Englische. Ihr Bedürfnis nach Menschen war schier grenzenlos, und sie versuchte die von ihr verehrten oder geliebten Personen oft auf eine penetrant besitzergreifende Art an sich zu ziehen und sie dann mit ihrem Wohlwollen zu überschwemmen. Bei aller Intelligenz neigte sie zum Aberglauben und verschrieb sich jeder neuen okkulten Lehre. »Sie war geistvoll, liebenswürdig, dominant und ungemein redselig« so beschreibt sie eine Zeitgenossin. »Sie glaubte an Gott, die Astrologie, psychische Phänomene und zwischendurch an Vegetarismus und Vitamine.« Eine Zeitfigur, die sich heute unschwer wiederfinden läßt. [31] Die Verbindung zwischen Djuna und Thelma riß nie ganz ab. Aus der Zeit >danach< gibt es einen anrührenden Brief von Thelma an die Freundin, in dem sie ihre Hilflosigkeit gegenüber der neuen Partnerin beschreibt, die sie verwöhne und alles für sie tue, so daß sie nicht rüde gegen sie sein könne: »jedenfalls aber würde ich lieber mit Dir zusammensein, als alles Geld der Welt zu haben - und ich wünschte, wir würden zusammen auf dem Land leben mit einem großen Kaminfeuer und vielen Büchern in den Regalen - und dann würden wir ein großes Brathuhnessen haben und Karten spielen, und ich werde mich um Dein Wohl kümmern und immer sehr lieb zu dir sein...«: [32] Es klingt wie ein Märchen, und Djuna glaubte nicht an dieses Märchen und ebensowenig an Thelmas Versprechen, mit dem Trinken aufzuhören. Es gab noch einen seltenen, aber nicht unfreundlichen Briefwechsel bis in die späten Jahre. Aus dem Knabenmädchen Thelma wurde eine schwerfällige, kränkelnde Matrone.
Thelmas Reaktion auf das Erscheinen von Nightwood ist heftig. Als in einer Freundesrunde daraus gelesen wird, schlägt sie der Freundin ins Gesicht und wirft mit einer Teetasse nach ihr - >Robin<, die Wilde, wie sie im Buch steht. Sie ist verletzt und verzweifelt, fühlt sich mißverstanden und droht mit Selbstmord. Djuna wird von einigen der Freunde beschuldigt, ihr Leben zerstört zu haben. Daß der Roman ein »Racheakt« der Autorin gegen Thelma war, mit dem sich Djuna von ihrer Enttäuschung befreien wollte, wie Phillip Herring in einem Essay darlegt, bezweifle ich. Ebenso, daß der »Geist der Rache und der Satire« ständig im Spiel war - Haß und Rachegefühl engen ein, sie können einen ersten Impuls liefern, aber kreative Arbeit nicht stimulieren. Daß sie sich aus ihrem selbstzerstörerischen Liebeswahn lösen wollte, ist eine andere Sache. Djuna entwickelte unter diesen Vorwürfen folgerichtig Schuldgefühle, die sie mit gleich zwei amourösen Affären zu beschwichtigen sucht. (Sie bilden den persönlichen Hintergrund ihrer Arbeit an Nightwood). Die eine mit Scuddler Middleton beruhte vor allem darauf, daß er Thelma ähnelte und sie zugleich an Courtenoy Lemon erinnerte, der ihre jungen Jahre in Greenwich Village stark geprägt hatte. Auch er war ein Trinker. Die Beziehung zu Peter Neagoe, einem rumänischen Intellektuellen in Paris, hatte einen professionellen Ursprung: Neagoe hatte sie um zwei Beiträge für seine Anthologie Americans abroad gebeten. Daraus entstand eine Beziehung die - zumindest von Neagoes Seite - halbherzig war und vielen ihrer Freunde überflüssig erschien. Aber was heißt das schon? Sicherlich war der menschliche und der literarische Gewinn, den sie aus ihr zog, gering, auch das sexuelle Vergnügen wohl eingeschränkt. Es mag - nach der substantielleren und freundschaftlichen Verbindung mit Charles Henri Ford (der dann der Gefährte des zum Kreis um die Sitwells gehörenden russischen Malers Piwlik Tschelitschew wurde) - der Versuch gewesen sein, sich vor dem endgültigen Alleinsein zu schützen, und den eigentlichen Liebesverlust - die Trennung von Thelma - zu mildern. Bei einem Besuch Thelmas weiß sie genau, daß diese Beziehung stärker war als alle anderen und daß sie vorbei ist. Zugleich findet eine Ernüchterung statt, eine Art >Entrümpelung< des überhöhten Bildes: Während sie ihre Wohnung in Paris leerräumt und überall auf Spuren Thelmas stößt, schrumpft das Un- und Überwesen Robin auf das Maß einer ganz begabten, haltlosen jungen Frau von durchschnittlichen Neigungen und irritierendem Geschmack. Am Schluß eines Briefes an die alte Freundin Natalie Barney findet sich der Satz: »Ich habe meine große Liebe geliebt, eine weitere wird es nicht geben.«
Der in der vorliegenden deutschen Fassung 190 Seiten zählende, ungemein dichte Roman Nightwood ist voller metaphorischer Mitteilungen und geheimer Botschaften, die häufig vom breiten Redestrom des Doktor OConnor herangeführt und fortgetragen werden. Sie wollen entdeckt und entschlüsselt sein. Eine solche Entdeckung ist das >Medusische< an Nora. Katharina Kaever leitet es vor allem aus der Beschreibung ihres Blicks ab. Sie zitiert: »Wo immer man sie traf, in der Oper, im Theater, wo sie allein und abseits saß, das Programm auf den Knien nach unten aufgeschlagen, konnte man in ihren Augen, groß, rund und klar, jenen spiegellosen Blick polierter Metalle entdecken, die weniger über die Sache als über die Bewegung der Sache aussagen. Wie die Oberfläche eines Gewehrlaufs in der Reflexion einer Szene dem Bild eine drohende Vorbedeutung hinzufügt, so zogen sich ihre Augen zusammen und bekräftigten das Stück von ihr nach ihren eigenen Bedingungen.«[33] »Eine merkwürdige Dialektik liegt in der Beschreibung. Zwar gibt der Blick etwas zurück, aber nicht als Spiegelung, sondern als Reflexion, als Brechung also. Die Spiegelung an sich ist leer. Noras Blick dagegen, der über >die Bewegung einer Sache< etwas aussagt, hat die Fähigkeit, dem Gesehenen eine Vorbedeutung, und zwar eine drohende, zu geben. Das ist nur möglich, wenn dieser Blick die Bewegung bricht, unterbricht und ein Bild festhält, das die vergangene und zukünftige Bewegung mit einschließt.«: [34] Die Rede ist von Noras Medusenblick. Ihr Blick ist dem Robins genau entgegengesetzt: Er konzentriert sich im Focus eines bestimmten Augenblicks, hält die Zeit an. Robins Blick verschwimmt, hat »die rückhaltlose Weite in der Iris wilder Tiere, die den Brennpunkt nicht eingedämmt haben, um dem menschlichen Auge zu begegnen« [35] »Die Liebe zwischen beiden stellt eine fragile Balance her, weil beide Bewegungen sich ergänzen und gleichzeitig widersprechen... Die Anziehung, die beide aufeinander ausüben, erschöpft sich in einer zwanghaften Wiederholung« [35] Noras Blick ist nicht beobachtend nach außen gerichtet, sondern nach innen gekehrt, nimmt aber genau wahr, nimmt das Unheil voraus, will den - glücklichen - Augenblick festhalten. Und Nora weiß, daß dies - mit Robin, der »ewig Momentanen« - nur im Tod, der endgültigen Erstarrung dieses Moments, möglich ist. Auch Wolfgang Koeppen hat (in seiner Rezension zum deutschen Erscheinen des Romans 1960) in Djuna Barnes und ihrer Figur Nora »das uralte, nun modern weltstädtisch geschminkte Gesicht der Meduse« gesehen. Und ich gebe zu, dieses Bild ist bestechend. Vielleicht aber ist das >Medusische< hier nicht so zu deuten, daß der Autorin wie ihrem Geschöpf dieser bannende Blick eignet, sondern daß sie den Blick ins Entsetzliche wagen: in die Welt als Gorgo, als Ungeheuer, deren versteinerndem Anblick sie standhalten und von dem sie Kunde geben. Eine andere im Text verstreute Mitteilung bezieht sich auf das Kind, das Kindhafte in Robin oder auch auf das Mütterliche in Nora. Robin ist ambivalent: nicht nur als Mädchen, das ein Knabe hätte sein sollen, sondern als Geliebte, die auch Kind ist. In ihrem großen Lamento beklagt Nora, daß »andere mit meiner Geliebten und meinem Kind geschlafen hatten«. [37] Sie bekennt: »Ich sah in ihr immer ein großes Kind, den Kinderkleidern entwachsen, das laufen konnte und Schutz und Sicherheit brauchte« [38] Noras Gefühle sind, wenn sie nächtens auf Robin wartet neben der Eifersucht einer getäuschten Liebenden - mütterliche Ängste: Es könnte ihr etwas zustoßen. Das Kind der »unmöglichen Beziehung« zwischen zwei Frauen ist eine Puppe. »Wenn eine Frau sie einer Frau schenkt, so bedeutet sie das Leben, das sie zusammen nicht führen können: Es ist ihr Kind, heilig und profan.« [39] Als Nora in Jennys Wohnung eindringt, sieht sie eine Puppe auf dem Bett sitzen: »Da wußte ich denn, bevor ich fragte, ob dies das rechte Haus sei... an der Wand hing die Photographie von Robin als kleines Kind (mir hatte sie gesagt, sie sei verlorengegangen).« [40] »Manchmal war sie am Abend schon betrunken«, berichtet Nora dem Doktor, »dann fand ich sie, wie sie in Knabenkleidern inmitten des Zimmers stand, von einem Fuß auf den andern wippte und dabei die Puppe, die sie uns geschenkt hatte - >unser Kind< - hoch über dem Kopf hielt, als sei sie dabei, sie zu zerschmettern, ihr Blick verzerrt vor Wut. Und eines Nachts, als sie gegen drei Uhr morgens heimkam, war sie zornig, weil ich ausnahmsweise nicht die ganze Zeit zu Hause geblieben war, um auf sie zu warten. Sie nahm die Puppe und schleuderte sie zu Boden, setzte ihren Fuß auf sie und zerstampfte sie mit dem Absatz.« [41] Des Doktors Antwort ist: »Die letzte Puppe, dem Erwachsenen geschenkt, ist das Mädchen, das ein Knabe hätte sein sollen, und der Knabe, der ein Mädchen hätte sein sollen ... Die Puppe und der ungereifte Mensch haben etwas Gültiges in sich: die Puppe, weil sie dem Leben ähnlich ist, es aber nicht enthält, und das dritte Geschlecht, weil es das Leben enthält, aber der Puppe ähnlich ist» [42] »Du, die du tausend Kinder hättest haben sollen«, sagt der Doktor zu Nora, »und Robin, die jedes einzelne davon hätte sein sollen.« [43] Nora notiert einmal lächelnd zu ihm: »Sie sind genau wie ein Kind«, und an anderer Stelle heißt es von ihm: »... der Doktor hegte Kindern gegenüber die Verehrung einer Mutter«.
Ein kurzer Gedankensprung sei erlaubt: In den zwanziger Jahren lebt gleichzeitig mit Djuna Barnes - eine tatsächlich mit allen Konsequenzen >expatriierte< russische Dichterin in Paris: Marina Zwetajewa. 1932 verfaßt sie einen fiktiven Brief, den sie Mein weiblicher Bruder überschreibt, an Natalie Barney, die >Amazone<, und weist ihr eine Lücke in ihren Äußerungen nach. »Eine einzige, unermeßliche - ist es eine absichtliche oder nicht? Ich glaube nicht an Absichtslosigkeit von denkenden Wesen, noch weniger an eine solche von schreibenden Wesen, und ganz und gar nicht an Absichtslosigkeit einer schreibenden Frau ... Diese Lücke, diese weiße Aussparung, dieses schwarze Leck ist das Kind. Sie kommen unablässig auf es zurück. Sie geben ihm an Häufigkeit, was Sie ihm an Wichtigkeit schuldig wären... Diesen Schrei, haben Sie ihn denn nie - und sei es auch nur gehört? Wenn ich ein Kind haben könnte von dir...« [44] Marina Zwetajewa hatte drei Kinder von einem Mann, den sie liebte, und sie liebte Sonetschka, eine russische Schauspielerin, die starb, als sie in der Emigration war, und deren Geschichte sie aufschrieb. Die Vielfalt der Liebesmöglichkeiten, der Verzichte und Versagungen lag - könnte man sagen - in der verwirrenden Luft der zwanziger Jahre. Djuna Barnes ist in Ladies Almanack - in der Gestalt von Masie Tuck-and-Frill - sanft ironisch auf sie eingegangen. In Nightwood mischt sich Mütterlichkeit in die leidenschaftliche Liebe Noras zu Robin. In Antiphon läßt sie die Mutter, Augusta allen Nachwuchs verdammen. Was die beiden Frauen und Dichterinnen, die sich vermutlich nicht gekannt haben, verbindet, sind nicht ihre lesbischen Neigungen, es ist ihre dringliche Suche nach dem vollständigen, dem androgynen Menschen. Vielleicht das gelassenste Fazit, das Nora - wie Djuna Barnes - aus ihrer Liebeserfahrung zieht, hört sich so an: »Man weiß nicht, welchen Weg man gehen soll. Ein Mann ist eine andere Person - eine Frau ist man selbst, gefangen in dem Moment, da die Panik beginnt. Auf ihrem Mund küßt man den eigenen. Wird sie einem genommen, so weint man, weil man seiner selbst beraubt wurde.« [45]