1972 veröffentlichte Maria Borris ihre viel zitierte Untersuchung Die Benachteiligung der Mädchen in Schulen der Bundesrepublik und Westberlin.[1] Neben Ergebnissen einer Befragung von Berufsschülerinnen und Schulverwaltungspersonal enthält sie eine Auswertung der Rahmenpläne und Bildungsziele von Haupt-, Real- und Berufsschulen. Borris und ihre Mitarbeiter analysierten die Schulsituation von Mädchen auf zwei Ebenen: Sie machten eine Bestandsaufnahme der Lehrpläne für die Bereiche Arbeitslehre, Technik, Hauswirtschaft, textiles Werken und Werken und untersuchten die Stoffverteilungspläne auf unterschiedliche Lernbedingungen von Mädchen und Jungen. Obwohl in den einzelnen Ländern gewisse Unterschiede zu finden waren, ergab sich insgesamt eindeutig eine geschlechtsspezifische Ausrichtung der Lehrpläne.
Auch in den Ländern, in denen Arbeitslehre eingeführt wurde, war dies meistens kein eigenständiges Fach, sondern ein Unterrichtsprinzip, d.h. wirtschaftliche Fragen und Berufskunde sollten in bestehende Fächer (wie Technik, Werken, Hauswirtschaft) aufgenommen werden. Die traditionellen Fächer wurden also in der Mehrzahl der Länder aufrechterhalten (eine Ausnahme war Berlin, wo schon 1968 die Entscheidung für Arbeitslehre als Unterrichtsfach fiel).
Bezüglich der Stoffverteilungspläne ergaben sich in fast allen Bundesländern drei Arten von Diskriminierung gegen Mädchen in den Hauptschulen:[2]
- Da auf den Hauswirtschaftsunterricht für Mädchen nicht verzichtet werden sollte, wurde ein Stundenausgleich eingerichtet, der meistens auf Kosten der Fächer Physik und Chemie ging.
- »Chemie, Physik und Biologie werden dem Hauswirtschaftsunterricht untergeordnet und können deshalb gar nicht die Qualität aufweisen wie ein selbständiger Fachunterricht, zumal die für den Hauswirtschaftsunterricht eingesetzten technischen Lehrerinnen, die nach wie vor auf pädagogischen Instituten und nicht auf Hochschulen ausgebildet werden, nicht die Qualifikation aufweisen können wie Fachlehrer.«
- Die Aufspaltung in praktische und theoretische Fächer dient dazu, nur für Mädchen geltende Interessen und Fähigkeiten zu fördern. »Das hier anerzogene mädchenhafte oder weibliche Verhalten und Wissen wirkt sich negativ auf die Leistungen und Einstellungen der Mädchen, vor allem zur Mathematik und den Naturwissenschaften aus, was dann als genuine Minderbegabung, Nichteignung oder Interesselosigkeit erscheint.«
Borris folgert: »Alle Reformen kapitulieren vor der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen, die in der Ideologie des Wesens der Frau gerechtfertigt wird.«[3] Ihrer Ansicht nach können Mädchen sich unter diesem Druck des »Weiblichkeitswahns", der im außerschulischen Bereich z.B. durch Konsumwerbung gefördert wird, nicht zu ihren intellektuellen Fähigkeiten bekennen und gegen die Benachteiligung zu opponieren wagen.
Die Arbeitsmarktsituation beschrieb Borris 1972 noch sehr positiv:
Es bedarf keiner Pionierhaltung mehr, weiterführende Schulen zu besuchen und zu studieren. Bei dem Bedarf an Arbeitskräften brauchen sie nicht zu fürchten, keine Tätigkeit zu finden oder aus Berufen herausgedrängt zu werden. Aber unabhängig von ihrer Einsicht stellt sich die Frage, ob die Mädchen richtig und zureichend ausgebildet werden in Anbetracht ihrer eigenen Fähigkeiten und in Anbetracht des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschrittes, um sich den veränderten Bedingungen anzupassen. ... (es wird) sich für die Nachdrängenden zwar immer eine Erwerbstätigkeit finden lassen, ob allerdings eine der Ausbildung entsprechende wird fraglich sein.[4]
Diese Aussage trifft 1978 nicht mehr zu. Der zweite Bildungsweg ist im Begriff, abgebaut zu werden. Die Möglichkeiten, einen Studienplatz zu bekommen, verringerten sich zusehends, was dazu geführt hat, daß weniger Abiturientinnen als Abiturienten einen Studienplatz suchen.[5] Gleichzeitig wächst der Prozentsatz arbeitsloser Mädchen und von Mädchen ohne Ausbildungsplatz oder Lehrstelle schneller als der von Jungen.[6] Für Schülerinnen stellt sich heute weniger die Frage, ob sie richtig und zureichend ausgebildet sind oder eine ihrer Ausbildung entsprechende Erwerbstätigkeit finden, als vielmehr die, ob sie überhaupt irgendeine Möglichkeit haben, Geld zu verdienen.
In Anbetracht der Tatsache, daß der Ausbildungs- und Arbeitsmarkt kaum die männlichen Jugendlichen versorgen kann und Frauen weiterhin für Haushalt und Familienversorgung »freiberuflich« tätig sein sollen, erscheint die Bildungspolitik der späten sechziger Jahre durchaus sinnvoll. Bei längerfristiger Planung mußte damit gerechnet werden, daß die wirtschaftlichen Wachstumsbedingungen nicht unbegrenzt einen Bedarf an Arbeitskräften schaffen würden. Wozu also ein Risiko eingehen und das Leitbild von Mädchen und ihre Qualifikationen verändern? Bei einer Reduktion des Arbeitsmarktangebots würden sie sowieso nur noch für die »frauentypischen« Tätigkeiten gebraucht werden. Die Bereiche der Dienstleistungsberufe, die verwissenschaftlicht werden (z.B. durch elektronische Datenverarbeitung) und für die Borris Mädchen nicht ausreichend vorbereitet sah, werden dann auch für Jungen eröffnet und für Mädchen weniger zugänglich. Wieso sich also eine Generation von Frauen heranziehen, die zu hohe Erwartungen an ihre Erwerbstätigkeit stellt und möglicherweise auch noch ihre Funktionen in der Familie verweigert?
Mein Anliegen war, zu untersuchen, inwiefern sich die von Borris beschriebenen Zustände in den letzten acht Jahren (sie stellte ihre Untersuchung 1970 fertig) verändert haben. In Anbetracht der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung war meine Hypothese: Der Gleichberechtigungsanspruch hat sich theoretisch verstärkt, wird aber in der Praxis nur sehr begrenzt verwirklicht. Im Rahmen dieser These wollte ich besonders zwei Fragen untersuchen:
- Inwiefern wird die Verwirklichung der Gleichberechtigung nicht mehr von einer subjektiven Inanspruchnahme abhängig gemacht? Eine von Borris' Schlußfolgerungen war, daß die Realisierung der Gleichberechtigung der einzelnen Person mit dem Argument zugeschoben wird, es bestehe die Freiheit der Wahl, also brauche der einzelne sie nur noch zu nutzen.[7] Bildungspolitik wurde also von Gesellschaftspolitik getrennt, eine Methode, die für Frauen keine positiven Veränderungen bringen kann.
- Inwiefern wird im koedukativen Unterricht die besondere Situation der Mädchen beachtet?
Untersuchungsmethoden
Bei der Untersuchung begegnete ich denselben Schwierigkeiten, die Maria Borris anführte: Jedes Land hat seine eigenen Lehrpläne, es ist jedoch unmöglich, an eine vollständige Sammlung heranzukommen. Wie 1970 sind auch heute die Lehrpläne in vielen Ländern in einem Stadium der Überarbeitung. Gleichzeitig laufen in verschiedenen Ländern Schulversuche, schriftliche Auswertungen sind jedoch nur von einigen erhältlich. Geschlechtsspezifische Aspekte werden selten in solchen Untersuchungen berücksichtigt. Im Rahmen dieses Buches habe ich mich auf folgende Untersuchungsmethoden beschränkt:
- Für die Fächer Physik, Chemie, Politik und Gesellschaftslehre (-kunde) nahm ich eine Sichtung der mir zugänglichen Lehrpläne vor. Ich wollte herausfinden, ob und in welcher Weise auf unterschiedliche Lernziele für Mädchen und Jungen Bezug genommen wird., Bei den letzten beiden Fächern wollte ich sehen, ob und wie die Rolle der Frau in unserer Gesellschaft behandelt wird. Dabei gehe ich nicht darauf ein, ob die Lehrplanvorschläge bindend sind oder nicht: Auch wenn die Richtlinien nur Vorschlagscharakter haben, üben sie eine Wirkung aus.
- Für die Fächer Arbeitslehre und Sport machte ich telefonische Interviews mit den zuständigen Referenten der Kultusministerien der einzelnen Länder. (Zu bemerken ist, daß alle Referenten Männer waren; ich sprach nur mit einer Frau, einer Ministerrätin in Bayern, zuständig für Unterrichtsfragen in Grund- und Hauptschulen.) Meine Fragen befaßten sich mit Prinzipien der Koedukation in den Lehrplänen und mit dem Grad der Verwirklichung der Lehrplanziele in der Praxis. Zusätzlich sichtete ich die Lehrpläne fast aller Länder.
Diese Methode kann einen Überblick über die formellen Lehrziele geben. Was die Praxis angeht, so kann sie nur Trends aufzeigen, die die Regierungsvertreter selbst angaben. Die Vervollständigung dieser Untersuchung würde Befragungen von Lehrer(inne)n und Schüler(inne)n sowie Unterrichtsbeobachtungen in den einzelnen Ländern erfordern, eine Arbeit, die von einer einzelnen Person nicht zu leisten ist. Dies wäre aber eine wichtige und sicher ergebnisreiche Aufgabe, die z.B. von Lehrerstudent(inn)en, Lehrer(inne)n und Sozialwissenschaftler(inne)n durch Zusammenarbeit der GEW mit Pädagogischen Hochschulen, Universitäten und den Kultusministerien unternommen werden könnte.
Naturwissenschaftliche Fächer
Bei Durchsicht der Fächer Physik und Chemie in der Mehrzahl der Länder (Physik alle außer Hamburg und Saarland, Chemie alle außer Baden-Württemberg, Bayern und Saarland) und für verschiedene Schulstufen [8] fand sich keine geschlechtsspezifische Ausrichtung der Lernziele. Die Richtlinien enthalten jedoch manchmal Hinweise, die den geschlechtsspezifischen Unterschieden nicht Rechnung tragen:
- Die in der gymnasialen Mittelstufe erworbenen physikalischen Kenntnisse, Einsichten und Fertigkeiten sollen dem Schüler helfen, das Spezialwissen seines späteren Berufes in eine ausgewogene naturwissenschaftliche Allgemeinbildung einzuordnen.[9]
Die Zehn- bis Zwölfjährigen sind naturwissenschaftlichen Phänomenen gegenüber besonders aufgeschlossen. Die dabei auftretenden Fragen versucht der Schüler mit Hilfe von Vorstellungen zu bewältigen, die seiner außerschulischen Umwelt entstammen.
Die Unterrichtsinhalte sollten der Erfahrungswelt des Schülers entnommen sein.[10]
Hier wird angenommen, daß Mädchen und Jungen dieselben Berufe ausüben werden und sie dieselbe außerschulische Erfahrungswelt teilen. Ganz abgesehen davon, daß in allen Lehrplänen immer nur von dem Schüler die Rede ist, wird somit ignoriert, daß Mädchen meist mit einem anderen Hintergrund und anderen Berufsaussichten in den naturwissenschaftlichen Unterricht kommen als Jungen. Erst Unterrichtsbeobachtungen könnten jedoch Aufschlüsse darüber geben, welche außerschulischen Erfahrungen einbezogen werden.
Nur in einem der untersuchten Lehrpläne wird die unterschiedliche Vorbildung und Interessenlage von Mädchen und Jungen in den Rahmenrichtlinien angesprochen:
- Der Physikunterricht im 6. Schuljahr setzt die naturwissenschaftliche Elementarbildung der Grundschule fort. Die Erfahrung zeigte, daß sich bei längerer Unterbrechung des Physikunterrichts bei Jungen und Mädchen unterschiedliche Motivationen entwickelten. Der Physikunterricht in Klasse 6 soll der Ausbildung dieses überlieferten geschlechtsspezifischen Rollenverhaltens entgegenwirken.[11]
Gesellschaftslehre
Im folgenden will ich anhand einiger ausgewählter Lehrpläne für das Fach Gesellschaftslehre aufzeigen, wie das Thema »Geschlechtsrollen« behandelt bzw. nicht behandelt wird.
Der Hamburger Lehrplan für Sozialkunde/Politik, Klasse 6, bezieht sich nirgends auf Frauen. In dem »Lernbereich Gesellschaft« wird als Lernziel erwähnt: »Verschiedene Differenzierungsmerkmale von Gesellschaften wie Klasse, Schicht, Position, Rolle und Ansehen erkennen und Interessen zuordnen.«[12] Auch hier taucht »Geschlecht« nicht auf.
Bei dem Thema »Kind und Familie« werden geschlechtsspezifische Erziehungsmerkmale folgendermaßen abgehandelt:
In den ersten Lebensjahren des Kindes liegt das Schwergewicht der Erziehung bei den Eltern. ... Diese primäre Sozialisation wird im Allgemeinen geprägt durch Mutter und Vater als Dauerkontaktpersonen. Von ihnen lernt das Kind die Geschlechtsrollen.
Die meisten Menschen gehen in einer industriellen Gesellschaft einem Beruf außerhalb der Familie nach.[13]
Man sollte meinen, daß zwölfjährige Mädchen und Jungen durchaus eine differenziertere und kritischere Darstellung verarbeiten könnten.
Im Fach Politik für die 8. Klasse der Hauptschule und die 9. und 10. der Realschule erscheint das Thema Mann und Frau in der Gesellschaft. Das Lernziel ist vorsichtig formuliert; Schüler(innen) sollen zu der Erkenntnis kommen: »... ein Zusammenhang zwischen geschlechtsspezifischen biologischen und psychischen Merkmalen läßt sich nicht eindeutig nachweisen«.[14] Die Behandlung des Themas ist jedoch weitgehend zufällig. Dies wird klar, wenn in dem Lernbereich Sozialisation für die Klassen 5 - 10 des Gymnasiums nur die Kategorien Schicht und Klasse erscheinen. Allein unter dem Thema »Vorurteile und Informationsverarbeitung« steht als methodischer Hinweis: »Provokatorische Aussagen wie: Jungen sind intelligenter als Mädchen«. Dieser Aspekt reicht sicher nicht aus, um Frauenfeindlichkeit in Frage zu stellen. Richtlinien operieren mit Begriffen wie Familie, Eltern, Kinder, Bürger und Partnerschaft, die geschlechtsspezifische Unterschiede und die Tatsache, daß Mann und Frau keine gleichgestellten Partner sind, außer acht lassen. Frauen erscheinen nur hin und wieder im Zusammenhang mit Berufs- und Erziehungsfragen. Einen durchgängigen curricularen Aufbau des Problembereichs gibt es nicht.
Mit den hessischen Rahmenrichtlinien wurde ein Schritt in diese Richtung gemacht-. In Hessens Lehrplan für Gesellschaftslehre taucht das Thema Geschlechtsrollen verhältnismäßig häufig auf. Dies ist als Ergebnis progressiver Curriculumentwicklung zu werten. Wie sieht jedoch die Behandlung aus? Im Sachunterricht der Primarstufe ist folgender Lernzielkatalog angegeben:
Der Schüler soll erkennen
- welche Erwartungen gegenüber Jungen bzw. Mädchen er selbst hat; - daß alle Verhaltensunterschiede zwischen Jungen und Mädchen daraufhin überprüft werden müssen, ob sie angeboren oder anerzogen sind;
- daß Tätigkeiten (Aufgaben) am besten nach Fähigkeiten und Konstitution und nicht nach dem Geschlecht der handelnden Personen zu verteilen sind.
Der Schüler soll befähigt werden,
- In der Gruppe über Geschlechtsunterschiede und Sexualverhalten ohne Diskriminierung anderer zu sprechen.[15]
Zunächst fällt auf, daß auch bei diesem Thema ausschließlich Jungen angesprochen werden: Der Schüler soll erkennen, welche Erwartungen er selbst hat... Das zweite Lernziel verweist auf die Frage angeblicher Geschlechtsunterschiede. Hiermit wird auf eine Theorie der Ursache zurückgegriffen, eine Argumentationsweise, die zwar immer wieder Kernpunkt von Diskussionen über geschlechtsspezifische Funktionen ist, aber eher verwirrend als klärend wirkt und Vorurteile mehr bestärkt als abbaut. Darüber hinaus setzt diese »Überprüfung« voraus, daß Lehrer(inne)n eine Auswertung der neuesten Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet zugänglich ist. Das dritte Lernziel beinhaltet eine politische Entscheidung: Fähigkeiten und Konstitution, gleichgültig ob »angeboren« oder »anerzogen«, aber unabhängig vom Geschlecht, sollen für Mädchen und Jungen zukunftsbestimmend sein. (Wäre nicht ein konstruktiver Ansatz, Schüler(innen) zu der Überlegung anzuregen, welche Maßnahmen Mädchen und Jungen die Möglichkeit geben würden, ihre Fähigkeiten und ihre Konstitution am besten zu entwickeln?) Ist dies ein logischer Fehlschluß oder eine progressiv erscheinende Verschleierung von sexistischer Gesellschaftspolitik? Ein solcher Ansatz würde, angewandt auf Angehörige verschiedener Rassen, als unverbrämter Rassismus erkannt. Genau diesen Standpunkt nehmen Vertreter der Politik »andersartig, aber gleichgestellt« (separate but equal), z.B. in rassistischen Kreisen in den USA, ein. Nach diesen ideologiegeladenen Lernschritten soll der Schüler schließlich in der Lage sein, »in der Gruppe über Geschlechtsunterschiede und Sexualverhalten ohne Diskriminierung anderer zu sprechen«. Wahrlich ein didaktisches Wunderwerk!
In anderen Bereichen wie »Arbeit, Mensch und Maschine« werden Sozialisation und geschlechtsspezifische Funktionen nicht mehr thematisiert.
Die 5. und 6. Jahrgangsstufe befaßt sich mit dem Thema »individuell erlebte Konflikte als Rollenkonflikte«. Dazu gehören »Vorurteile", »Minderheitengruppen", »Qualifikationen« und »schulische Sozialisationsformen«. In keinem dieser Gebiete werden Frauen oder geschlechtsspezifische Probleme erwähnt. Abschließender Hinweis ist jedoch der absurd anmutende Satz, der einen starken Biologismus enthält: »Es kann sich in der Jahrgangsstufe 5/6 nicht darum handeln, die genetischen Voraussetzungen für den unterschiedlichen Qualifikationserwerb zu diskutieren.«
Unter »Nationalsozialismus« erscheint nichts über die Situation von Frauen. Der Punkt »Bildungsweg« liefert Statistiken nur über die schichtenspezifische Verteilung von Schülern an Gymnasien und Studenten an Universitäten. Nur bei der Behandlung von Margaret Mead werden zwei Beispiele herausgegriffen, um geschlechtsspezifische Normen darzustellen: Mädchen machen einen Knicks, Jungen eine Verbeugung; Frauen arbeiten im Haushalt, Männer verdienen den Lebensunterhalt. So können Forschungsergebnisse verwässert werden.[16]
In der 7. und 8. Jahrgangsstufe werden »Sozialisationsformen in der Familie« behandelt. Auch wer wird geschlechtsspezifische Sozialisation nur ganz am Rande in folgenden Punkten berührt:
- Welches Verhalten herrscht zwischen den Geschwistern (Alter, Geschlecht)?
- Beteiligen sich Großeltern, Tanten... an der Erziehung?
- Ist die Mutter berufstätig? (Warum?)
Es folgt das Thema »historische Entwicklung der Familie«. Hier wird die »Entwicklung der gesellschaftlichen Stellung der Frau« im Vergleich zu anderen Lehrplänen eingehend behandelt:
- Rolle und Funktion der Frau in der feudal/höfischen Gesellschaft
- Frauenarbeit zur Zeit der Industrialisierung
- Zur Situation der bürgerlichen Frau.
Was hier inhaltlich geboten wird, müßte untersucht werden.
In dem Bereich »Familie« werden unter dem Punkt »kindliche Wunschvorstellungen« folgende Fragen gestellt.
- Sollte die Mutter berufstätig sein?
- Wieviel Geld sollte der Vater verdienen?
- Welchen Beruf sollte der Vater haben?
Wieso gelten die letzten beiden nicht auch für die Mutter? Unter »frühkindliche Erziehung« finden wir nichts über geschlechtsspezifische Aspekte. In dem Abschnitt »Berufserfahrungen« erscheinen schließlich zwei gute Berichte von Arbeiterinnen.
Das Thema »gegenwärtige sozialpolitische Forderungen zur Verbesserung der familialen Situation« enthält eine Materialsammlung zur Situation der Frau, die sich fast ausschließlich mit Parteiprogrammen befaßt (z.B. § 218 -Forderung der Frauenaktion 1970, Juso-Forderungen, SPD-Leistungen, IG Chemie zu Gleichberechtigung, CDU-Wahlbroschüre zu Familienpolitik). Schlußfolgerung ist: »Damit werden erneut die Faktoren angesprochen, die den individuellen Handlungsspielraum einengen.« Die Autoren meinen, daß die Analyse zu Resignation führen könnte, da sich für die meisten Mädchen kaum die Chance biete, eine Familiensituation mit dem Rahmen für verantwortungsbewußte Erziehung zu schaffen. Die historische Perspektive soll nun einbezogen werden, um zu zeigen, daß Veränderungen stattfinden. In diesem Material werden Frauen jedoch nicht mehr berücksichtigt.
In der 9. und 10. Jahrgangsstufe finden sich in dem Thema »Berufsausbildung« die besten Materialien des Lehrplans »Gesellschaftslehre«. Hier sind fünf Texte über die Situation von Jungarbeiterinnen abgedruckt, und eine Statistik über die geschlechtsspezifische Verteilung von Berufsschüler(inne)n mit und ohne Ausbildung demonstriert eindeutig die Benachteiligung der Schülerinnen.
Die Prämissen der Autoren dieses Lehrplans sind nirgends formuliert.
Ein vages Bild einer vagen Gleichberechtigung schimmert durch, wird aber gleichzeitig immer wieder durch sexistische Ansätze widerlegt, die für Schüler(innen) nicht unbedingt als solche zu erkennen sind. Die entscheidenden Fragen werden nicht angeschnitten oder bleiben so weit offen, daß Schüler(innen) sehr wohl in ihren traditionellen Vorstellungen verharren können. Ein positiver Standpunkt, der von den Kämpfen von Frauen und ihrer Stärke ausgeht, ist nirgends zu finden. Diese Art von Darstellung ist gefährlich: Sie kann bei Jungen zur Legitimierung bestehender Zustände dienen und bei Mädchen zu Resignation führen.
Im folgenden die Einschätzung der Berliner Rahmenpläne durch eine Lehrerin.
Politische Bildung in den Berliner Rahmenplänen
»Unterricht und Erziehung haben Politische Bildung nicht nur zum Inhalt unter anderen Inhalten, sondern sind ihrer Natur nach selbst ein Stück Politische Bildung.« (Rahmenplan für Unterricht und Erziehung in der Berliner Schule, A I, Seite 6.)
Wörtlich genommen setzt der Rahmenplan eine Gleichstellung und Gleichbehandlung »aller Schüler«[17] als Ist-Zustand voraus. Das heißt, Mädchen und Frauen werden in den Teilen Politische Bildung, Sozialkunde, Weltkunde, Politische Weltkunde (PW) nicht speziell angesprochen. Das Erkennen geschlechtsspezifischer Festschreibung und damit der fortlaufenden Veränderung einer Entwicklung zur Gleichberechtigung ist abgerutscht in Inndirektheit und Subtilität, die es gilt aufzudecken. Gleichzeitig sind die Ziele des Sozialkunde, PW-, Weltkunde-Unterrichts subsumiert unter die allgemeinen Intentionen der Politischen Bildung, die wiederum als oberstes Prinzip von Unterricht und Erziehung an der Berliner Schule stehen. Somit ist die Politische Bildung in den Berliner Rahmenplänen für Grundschulen bezüglich ihrer Bedeutung für Mädchen als umfassender und weitreichender zu begreifen als die jeweiligen Aussagen zu gesellschaftskundlichen Fächern.
Übergeordnetes Zielpolitischer Bildung ist von Beginn der Grundschule an die Einführung in eine demokratische Lebensweise und ihr Erlernen. Dazu heißt es, Schüler »... sollen zum Widerstand gegen unangemessene Machtansprüche ermutigt werden, Verantwortung und kritische Stellungnahme entwickeln«[18] und »Traditionen auf ihre Wertbeständigkeit«[19] überprüfen.
Alle diese Forderungen schließen die Möglichkeit eines Einblicks in patriarchalische Gesellschaftsstrukturen ein, könnten bedeuten, daß Mädchen im Unterricht und durch schulische Erziehung ihre weiblich konditionierte Situation erleuchten und dadurch erfahren, daß sie ver-änderbar ist. Demokratisier-ung im Sinne einer Auflösung einseitiger Abhängigkeitsverhältnisse der Frau vom Mann und der Unterdrückung der Frau könnte hier angelegt sein.
Ein Demokratisierungsprozeß setzt die Veränderung der Beziehungsstrukturen der in der Demokratie lebenden Menschen voraus. Die Rahmenpläne haben hierzu die Vorstellung, daß das Verhältnis der Menschen untereinander »partnerschaftlich«[20] sein soll. Auf Frauen und Männer bezogen heißt das, daß diese sich gegenseitig als Partner begreifen und verhalten sollen. Partnerschaft setzt jedoch gleiche Partner voraus. Sowohl Mädchen als auch Jungen sind aufgrund ihrer verschiedenartigen Geschlechtsrollenkonditionierung, der gesellschaftlichen Hemmnisse (die Mädchen erfahren) und der Möglichkeiten der Selbstverwirklichung (die Jungen haben) ungleich. In der Realität können Mädchen und Jungen folglich nicht dem Partnerschaftskonzept der politischen Bildung entsprechen.
Der Ansatz müßte einen Schritt vorher gemacht werden: Mädchen und Jungen sind zwar nicht gleich, doch sollte ein gleichwertiger Umgang zwischen den Geschlechtern entwickelt werden. Es kann nach dem aktuellen Stand der Emanzipationsentwicklung allein darum gehen, daß Schülerinnen und Schüler lernen, sich gegenseitig die gleichen Werte zuzugestehen. Dabei sind noch nicht die Inhalte der Werte geklärt. Denn Gleichwertigkeit meint nicht die Anpassung der Mädchen an männliche Werte. Da Mädchen gesamtgesellschaftlich minderwertiger gegenüber der Norm angesehen werden, böte sich eine entsprechende Festlegung an. Um dies zu verhindern, ergibt sich die Notwendigkeit, die Werte neu zu definieren und festzulegen, die die Beziehungsstrukturen zwischen den Geschlechtern bestimmen. Die Rahmenpläne geben dazu keine Anhaltspunkte für die Bearbeitung im Unterricht. Gleichsam schlagen sie vor, die Inhalte und Prinzipien demokratischer Lebensweise im Unterricht zu praktizieren:
Schüler sollen lernen, daß es in der Erwachsenenwelt viele Rollen und Standpunkte gibt. Sie sollen üben, eigene Standpunkte einzunehmen und die anderer gelten zu lassen. Die politische Bildung in der Grundschule unterstützt diesen Prozeß durch Reflexion und Aufklären der Beweggründe, die zu sozialen Einstellungen führen.[21]
Den Umgang mit Standpunkten und die Entwicklung einer eigenen Meinung sollen Schüler(innen) durch Konfliktaustragung [22] lernen.
Auch dieser Anspruch steht im Gegensatz zu Realisierungsmöglichkeiten von seiten der Mädchen, da sie dazu konditioniert sind, Konflikte zu schlichten, auszugleichen und zwischen gegenseitigen Meinungen zu vermitteln. Parteilichkeit und eigene Standpunkte haben sie weitgehend auszuschalten. Es bedarf hier einer besonderen Förderung der Schülerinnen. Besonders methodisch bietet es sich an, bei der Gruppenarbeit mit Mädchengruppen diese Technik zu üben. Dies kann ihr Durchsetzungsvermögen und ihre Fähigkeit, Konflikte zu handhaben, stärken.
Eine weitere zentrale Aufgabe der Schule ist es, die Schüler(innen) auf das Berufsleben vorzubereiten. Hierin sieht die Politische Bildung einen entscheidenden Schritt der Entfaltung der demokratischen Persönlichkeit. »Zur Selbstverwirklichung des Menschen gehört seine Bewährung im Beruf. Die durch menschliche Arbeit geschaffene materielle Grundlage ist ein notwendiger Bestandteil unserer gesellschaftlichen und kulturellen Existenz.«[23] Nach dieser Intention der Berliner Rahmenpläne können sich ca. zwei Drittel aller Frauen nicht selbst verwirklichen, da sie nicht außerhäuslich berufstätig sind. Fallen Frauen aus der »gesellschaftlichen und kulturellen Existenz« heraus, weil sie keine eigene »materielle Grundlage« haben? Die meisten Schülerinnen sind hier überhaupt nicht angesprochen, ihre begrenzte Berufsperspektive wird ignoriert.
Die Auswahl dieser zentralen Ziele der Politischen Bildung, die man beliebig auf jede weitere Intention fortsetzen kann, zeigt an sich wichtige und notwendige Schritte für einen Demokratisierungsprozeß, der gleichermaßen für Mädchen bedeutungsvoll ist. Unter dem Deckmantel der »Chancengleichheit«[24] verbirgt sich jedoch die Erkenntnis, daß Schülerinnen sie weniger entwickeln und anwenden können als Jungen. Damit sind die Berliner Rahmenpläne kaum an der Realität von Mädchen orientiert, sondern vorwiegend an den Normen, die gesamtgesellschaftlich für Jungen gelten. Aufgrund der in den Rahmenplänen vorausgesetzten Gleichheit von Mädchen und Jungen ergibt sich, daß Frauenthemen für den Unterricht nicht gesondert aufgeführt sind, also nach Meinung der Rahmenpläne keine Notwendigkeit besteht, diese im Unterricht zu behandeln.
Um die fortschreitende, subtile Form der Verfestigung der benachteiligenden Situation von Schülerinnen aufzuheben, bedarf es einer besonderen Planung einer politischen Mädchenbildung, die deren Vorerfahrungen und Lebensrealität mit einbezieht und zum Gegenstand des Unterrichts macht.[25] Heute gibt es einige Ansätze dazu, die tatsächlich aus der Initiative einzelner Lehrerinnen und Lehrerinnengruppen entstanden sind. Es besteht die unbedingte Notwendigkeit, diese Ansätze auf alle Bereiche der Politischen Bildung auszuweiten.
Bettina Reichhelm
Die gesellschaftskundlichen Lehrpläne demonstrieren die dringende Notwendigkeit einer inhaltlichen Curriculumsdiskussion und -arbeit bezüglich der Integration frauen- und geschlechtsspezifische Aspekte in alle Gebiete der Gesellschaftslehre. Sie beweisen auch, daß eine solche Aufarbeitung nur unter maßgeblicher Mitwirkung von Frauen, die sich eingehend mit dem Gebiet beschäftigt haben und einen frauenbewußten, anti-sexistischen Standpunkt vertreten, gelingen kann.
Arbeitslehre und verwandte Fächer
In den letzten Jahren ist in den meisten Ländern das Fach Arbeitslehre in den Curriculum der Haupt- und Gesamtschulen und - in einigen wenigen Fällen - an Realschulen und Gymnasien eingeführt worden. Es gibt keine einheitliche inhaltliche Auffassung für Arbeitslehre über die Feststellung hinaus, daß diese die Fächer Technik und Hauswirtschaft ergänzen soll. Unterschiede bestehen auch darin, inwieweit technisch-wirtschaftliche Fragen behandelt werden, insbesondere im Zusammenhang mit dem politisch-gesellschaftlichen Umfeld.
In manchen Ländern (z.B. Hamburg, Bremen, Bayern, Rheinland-Pfalz) wird Arbeitslehre zusätzlich zu den üblichen Fächern angeboten, in anderen wird sie als fächerübergreifender Bereich, der Technik sowie Haushalts- und Wirtschaftslehre mit beinhaltet, aufgebaut und teilweise in Projektform sowie in Verbindung mit Betriebspraktika durchgeführt (Berlin, Saarland, Baden-Württemberg). Ein weiteres Problem liegt im Mangel an ausgebildeten Fachlehrer(inne)n.
Trotz der Verschiedenheit der Auffassung über Ziele und Aufgaben dieses Faches herrscht in einigen Punkten Übereinstimmung: Arbeitslehre ist vorberufliche Bildung. Sie soll dazu beitragen, Jugendlichen
- Umgangsformen aus den Arbeitsprozessen zu vermitteln,
- sie in Verfahren der Planung und Bewertung von Berufsarbeit und Haushaltsführung einzuführen,
- ihre erste Berufswahl vorzubereiten.[26]
Arbeitslehre wird in mehreren Ländern als Integrationsfach begriffen, dessen Inhalte sich mit denen naturwissenschaftlicher, aber auch sozialwissenschaftlicher Fächer ergänzen sollen. Hieraus ergab sich die Kontroverse, wie weit technische und wirtschaftliche Fragen auf das politisch-gesellschaftliche Umfeld bezogen werden sollen.[27] Aus den Richtlinien geht hervor, daß die meisten Länder diesen Zusammenhang stark betonen. In Hamburg soll Arbeitslehre »die Schüler darauf vorbereiten, Probleme in der Arbeitswelt zu erkennen und vernünftig lösen zu können«, wobei der Begriff »vernünftig« nicht näher erläutert wird:
Berufstätige können eigentlich nur dann Befriedigung in ihrer Arbeit finden, wenn ihnen vernünftiges Handeln auf Grund von Einsichten in die Zusammenhänge sowie das Verstehen und Bewerten der technischen, ökonomischen und politischen Entwicklungen möglich gemacht werden.[28]
Rheinland-Pfalz spricht von der »Befähigung des Jugendlichen zu einem mündigen Leben«:
Faktenwissen und kritische Faktenbeherrschung sollen ihm die Möglichkeit einräumen, in Verantwortung für sich und das Ganze zu entscheiden und handeln zu lernen. Es geht demnach um Verhaltensweisen, die rationales Handeln gegen emotionales Reagieren einüben, und um die Fähigkeit, Probleme selbständig zu lösen, kooperativ zu arbeiten und Konflikte zu bewältigen.[29]
Im Saarland soll Arbeitslehre:
- ... zu grundlegenden Arbeitsfertigkeiten, zu sozialer Arbeitsgesinnung, zu kritischer Denk- und Handlungsfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft erziehen, zu geistiger Flexibilität und beruflicher Mobilität befähigen.[30]
In Bayern soll der Schüler »mit ökonomischen und technologischen Grundtatsachen, mit Anforderungen und Möglichkeiten einzelner Berufe sowie mit sozialen Verhaltensformen« vertraut werden. Die soziale und politische Komponente des Unterrichts wird eindeutig beschrieben:
Verbindliche Richtschnur sind das Menschenbild und die Gesellschaftsordnung, wie sie im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und in der Verfassung des Freistaates Bayern verankert sind. Ziel ist der sachlich informierte, zu politischem Urteil befähigte und auf die verantwortliche Teilnahme am öffentlichen Leben vorbereitete Bürger.[31]
Zweifellos hat also Arbeitslehre eine stark politische Funktion. Keine der Richtlinien geht jedoch auf die geschlechts- und klassenspezifischen Unterschiede in der Ausgangslage von Jugendlichen und in den Möglichkeiten für Handelns- und Verhaltensweisen ein.
Mit der Einführung von Arbeitslehre wurde in den meisten Ländern eine Reform der Geschlechtertrennung in den Fächern Hauswirtschaft, Textiles Gestalten und Technik vorgenommen, worauf ich später noch eingehen werde. Man sollte meinen, die Einführung von Koedukation und die Thematik Berufswahl-Arbeitswelt würde auch geschlechtsspezifische Aspekte in den Unterricht einbringen. Dies ist jedoch nicht unbedingt der Fall.
Ich habe fast alle Lehrpläne (mit Ausnahme von Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen) im Fach Arbeitslehre und in den damit verbundenen Fächern Hauswirtschaft und Technik daraufhin durchgesehen, ob und wie sie auf die unterschiedliche Situation von Frauen und Männern eingehen. Außerdem untersuchte ich die Stoffverteilungspläne bzw. Stundentafeln und sprach mit jedem der Referenten für das Fach Arbeitslehre (bzw. Technik oder Hauswirtschaft) an Hauptschulen sowie mit mehreren der Referenten für Realschulen in den Kultusministerien. Ziel meiner Analyse war die Beantwortung folgender Fragestellungen:
- Wird darauf eingegangen, daß Mädchen oft mit anderen Voraussetzungen in den Technikunterricht kommen als Jungen? (Dasselbe gilt für Jungen im Hauswirtschaftsunterricht, hat aber andere Auswirkungen.)
- Werden frauenspezifische Themen in den einzelnen Bereichen (Arbeits- und Berufswelt, Familie usw.) aufgegriffen?
- Wie haben sich die Stoffverteilungspläne seit der Untersuchung von Borris geändert?
- Bis zu welchem Grad wird das Prinzip der Koedukation in der Praxis eingelöst?
- Welche Auswirkungen hat der koedukative Arbeitslehreunterricht nach Ansicht der Regierungsvertreter auf die berufliche Laufbahn der Schülerinnen?
Die erste Frage muß weitgehend negativ beantwortet werden. Nur der Berliner Lehrplan geht ansatzweise auf diesen Aspekt in den didaktischen Teilen ein.
Zur zweiten Frage kann ich kaum mehr berichten. Nur die Lehrpläne der Länder Rheinland-Pfalz, Berlin und Hessen sprechen die Situation der Frau an. Das verwundert besonders, wenn man sich die Themen ansieht:
In Bayern etwa werden Probleme der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der didaktischen Begründung abgehandelt. Angeblich wandelte sich der Haushalt dahingehend, daß eine partnerschaftliche Verteilung der Arbeiten innerhalb und außerhalb der Familie existiert und an der Nutznießung eines Familienhaushalts alle Mitglieder teilhaben. »So scheint es selbstverständlich, daß alle Familienangehörigen, ihrem Alter und ihren Kräften entsprechend, einen Beitrag zum gemeinsamen Haushalt leisten.« Diese hier vorsichtig formulierte »Selbstverständlichkeit", für die immerhin Qualifikation und Bereitschaft erforderlich sind, wird dann später nie mehr aufgegriffen.[32]
In Bremen, wie auch in den anderen Ländern, wird unter dem Thema »Berufswahl« nichts davon erwähnt, daß Mädchen unterschiedliche Berufsinteressen und -aussichten haben. Die verschiedensten Faktoren (Alter, Sozialisation, Status u.a.) beeinflussen danach die Berufswünsche - das Geschlecht taucht jedoch nicht auf.[33]
Der Lehrplan von Rheinland-Pfalz bezieht sich an zwei Stellen in den Fachbereichen Haushaltslehre und Berufskunde auf Frauen, und zwar jeweils bei dem Thema »Erwerbstätigkeit der Frau« mit dem Hinweis auf die Doppelbelastung und den »Rollenkonflikt der Frau«.[34] Was damit im Unterricht angefangen werden soll, bleibt jedoch unklar.
In Hamburg ist man so gut wie gar nicht an der Problematik interessiert. In der Fachkonzeption zu »Situationen in der Arbeitswelt« weist nichts darauf hin, daß Frauen möglicherweise andere Erfahrungen als Männer machen könnten. Die Diskussion von »Weiterbildung, Berufs- und Betriebswechsel« zum Beispiel unterschlägt völlig, daß die Bedingungen für Weiterbildung und Berufswechsel für Frauen ganz andere sind als für Männer. Unter »berufliche Mobilität« wird dann auch als Beispiel der Schneider B. angegeben, der zum Betriebsschlosser umschulen will. Unter vier weiteren Beispielen findet sich schließlich eins, das sich auf Frauen bezieht: Hausfrau D., die berufstätig werden will; es geht hier um die Rückkehr der Frau in das Berufsleben. Ein Beispiel, in dem eine Frau durch Weiterbildung in ihrem Beruf aufsteigt, gibt es nicht.[35]
Frauen erscheinen noch einmal in dem Curriculum. ;,Gleichberechtigung am Arbeitsplatz« soll das Thema einer Untersuchung sein. Hier geht es um Frauen, Gastarbeiter (!) und Jugendliche. Die Schüler(innen) sollen »arbeitswissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse über die unterschiedliche körperliche und geistig/seelische Leistungsfähigkeit von Mann und Frau« zusammenstellen. In Klammern der Hinweis: »Was sind typische Frauenberufe?« Sie sollen sich dann nach Möglichkeiten der Durchsetzung berechtigter Forderungen (BVG-Arbeitsgericht) umsehen.[36] Ein wahrer Zynismus, Schülerinnen so etwas vorzusetzen!
In Hessen wird das Thema wieder etwas ausführlicher behandelt. Der Bereich »Entlastung doppelbelasteter Berufstätiger (insbesondere der Frau)« geht auf verhältnismäßig differenzierte Weise auf Frauen ein. Zum Beispiel wird die besondere Belastung der psychophysischen Gesundheit von Frauen durch Übernahme sozialer Verpflichtungen (Kinder, Behinderte, Kranke, Nachbarschaftshilfe etc.) erwähnt, ein Thema, das sonst nirgends zur Sprache kommt. Allerdings bestehen die Richtlinien dann weitgehend darin, die negativen Auswirkungen der Belastung der Frau aufzuzeigen, wie es in diesem Beispiel deutlich wird:
Mehrfachbelastung der berufstätigen Frau durch die notwendige Fort- und Weiterbildung beschreiben und Auswirkungen auf die Familie darstellen.
Qualifikationsdefizit, Interesse, Beruf als Ausgleichstätigkeit, Streß, Depression, Nervosität, Angst, Spannungen.[37]
Die Lösungsvorschläge beschränken sich auf Erleichterungen, sprechen aber keine grundlegenden Veränderungen an:
Entlastungsmöglichkeiten durch angemessene Arbeitsplätze für Frauen feststellen.
Frauenberufe - Frauenarbeitsplätze ... Arbeitszeit (Halbtagsarbeitsplätze, Schichtarbeit) ...
Mithilfe im Haushalt planen, funktionsgerechte Wohnung planen...
Kindertagesstätten erkunden ...[38]
In den »inhaltlichen Grundlagen", einer Vorstufe des Berliner Lehrplans, der in Kürze veröffentlicht wird und der an Gesamtschulen erprobt wurde, finden wir einige Hinweise auf geschlechtsspezifische Funktionen. Hier wird etwa bei Textilarbeit die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung problematisiert: Mädchen bauen durch Beschäftigung mit der Technik von Nähmaschinen die rollenspezifische Ablehnung von Technik ab - Jungen bauen durch erfolgreiche Ausführung von Näharbeiten die rollenspezifische Ablehnung von Näharbeiten ab.« Bei den Unterrichtsaufgaben folgen jedoch Illustrationen, die Geschlechterstereotype wieder bestätigen: Zu dem Beispiel »Tasche« wird ein Mädchen gezeigt, das passiv mit einer Tasche herumsteht; zu dem Beispiel »Socken« sieht man einen Jungen, der Fußball spielt.[39]
Lernziele für den Bereich Textilarbeit gehen folgendermaßen auf die Situation der Frau ein:
- Näharbeiten und Textilpflege im Haushalt nicht mehr als eine speziell weibliche Tätigkeit begreifen;
- die Heimarbeit als eine bedenkliche Komponente zwischen Berufsarbeit und Haushaltsführung kennen;
- Gründe dafür nennen, warum in der Mädchenerziehung die qualifizierte Berufsausbildung noch immer keine Selbstverständlichkeit ist.[39]
Bei Mechanischer Technologie und Elektrotechnik/Elektronik werden Lehrer(innen) gebeten, »zu beurteilen, ob im schulischen Produktionsprozeß Arbeiten auftraten, die von Jungen und Mädchen mit unterschiedlicher Kompetenz bewältigt wurden«. Zweck dieser Beobachtungen und Konsequenzen, die daraus zu ziehen wären, erscheinen jedoch in den Richtlinien nicht.
Der Bereich Nahrungszubereitung am Beispiel Backen beginnt mit dem Thema »Frau und Mann im Haushalt«. Die Diskussion ist ganz gut aufgebaut. Einer kritischen Betrachtung von Männern im Haushalt (»wo Männer Kochen, ist es bis zum Geschirrspülautomaten nicht weit«) folgt ein historischer Teil, der allerdings sehr problematisch ist:
- Die Geschichtsbetrachtung zeigt, daß es einen praktischen Sinn hatte, die Frau ans schützende Haus zu binden, solange das Leben so gefährlich und schwierig war, daß es nur durch den ständigen Einsatz körperlicher Kräfte bewältigt werden konnte (Jagd, Abwehr wilder Tiere, Kampf gegen Feinde, Arbeiten im Handwerk und auf dem Bauernhof).
Ein solcher Satz hebt alles vorher Geleistete wieder auf, ganz davon abgesehen, wie peinlich unwissenschaftlich er ist.
Mit dem Argument, daß heute besondere Körperkräfte kaum noch verlangt werden, wird dann die Fortführung der geschlechtsspezifischen Sozialisation in Frage gestellt: »Unsere Schule ist hier eine Ausnahme (und mit ihr fast alle Gesamtschulen): alle Fächer werden koedukativ unterrichtet. Für die Arbeitslehre heißt das u.a.: »Jungen und Mädchen erwerben die gleichen Kenntnisse in der Werkstatt und in der Küche.«[40] Die Schüler(innen) werden aufgefordert, die außerschulische Arbeitsteilung in ihrem Familienhaushalt zu untersuchen, immerhin ein gewagter didaktischer Hinweis, vor dem sicher viele Curriculumplaner zurückschrecken würden.
Zusammenfassend kann man sagen, daß auch im Fach Arbeitslehre die Situation der Schülerin und die der Frau häufig ignoriert werden. Wenn man sie mit einbezieht, dann oft auf eine Art, die sowohl positiv als auch negativ verarbeitet werden kann, aber wenig konstruktive Lösungsvorschläge und Anregungen zur Veränderungen gibt. Die Behandlung des Themas ist chaotisch insofern, als es mehr oder weniger zufällig hier und da auftaucht.
Ein unabhängiges Gremium von Frauen mit dem entsprechenden Interesse und Hintergrund aus den Bereichen Arbeitslehre und Sozialwissenschaften sollte Richtlinien entwickeln, die von der Kultusministerkonferenz an die Länder weitergeleitet werden. Auf lokaler Ebene sollten diese Richtlinien und ihre Inhalte dann in die entsprechenden Lehrpläne unter Mitarbeit regionaler Gremien von Frauen eingearbeitet werden. Dies wäre eine Möglichkeit, Mädchen und Jungen die Gelegenheit zu geben, sich mit der Problematik geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und ihren Folgen sowie Lösungsmöglichkeiten intensiver auseinanderzusetzen - gleichgültig, ob sie in Bayern oder Hamburg zur Schule gehen.
Exkurs: Betrachtungen zu den Berufsaussichten von Mädchen
Über zwei Drittel aller Jugendlichen ohne Ausbildungsvertrag sind Mädchen. Über 50% aller jugendlichen Arbeitslosen sind Mädchen, davon haben ein Drittel eine abgeschlossene Berufsausbildung. Die Arbeitslosenquote liegt für Frauen bei 5,5%, für Männer bei 2,9%. Die Dunkelziffer arbeitsloser Mädchen ist hoch: Mädchen verschwinden im Haushalt der Familie oder des Freundes. Ihre Situation auf dem Arbeitsmarkt ist desolat.
In ihrer Untersuchung über Arbeitslosigkeit von Jugendlichen kommen Angelika Burger und Gerlinde Seidenspinner zu dem Schluß, daß Arbeitslosigkeit für Mädchen und Jungen eine unterschiedliche Bedeutung hat:
- Der Anpassungsdruck auf die männlichen Jugendlichen läuft über Arbeits- und Qualifikationsanforderungen. Sie können sich ihm verweigern oder fügen - aber die Notwendigkeit der Reaktion darauf bleibt unverändert. ... Der Anpassungsdruck auf Mädchen läuft hingegen über die Anforderung an die gesellschaftlich vermittelte Rolle der Frau. Das heißt für sie von vornherein, daß ihre eigenen Bedürfnisse an letzter Stelle rangieren.[41]
Frauenerwerbslosigkeit muß nicht nur konjunkturell bedingt sein. Sie hängt eng zusammen mit geschlechtsspezifischer Sozialisation und Ausbildung. Mädchen stehen in allen Berufen, die nicht »frauentypisch« sind, an zweiter Stelle. Sonderprogramme wie z.B. die Errichtung staatlicher außerbetrieblicher Ausbildungsstätten [42] sind auf die Ausbildung von Jungen zugeschnitten. Ebenso gehen Berufsschulen Hand in Hand mit dem Angebot von Ausbildungsplätzen - hier brechen alle Vorsätze eines koedukativen Erziehungssystems zusammen: 94% der Schüler in den Bereichen Hauswirtschaft, Ernährung, Gesundheit sind weiblich.[43] In vielen berufsbildenden Oberschulen werden schulgesetzwidrig ausschließlich Mädchen oder Jungen unterrichtet. Die gewerblich-technischen Jungenschulen haben gewöhnlich eine bessere Ausstattung als die hauswirtschaftlich-sozialpflegerischen Mädchenschulen. In Berlin entschloß sich erst in diesem Jahr eine Berufsschule für Sonderschüler ohne Ausbildungsverhältnis dazu, auch Mädchen aufzunehmen.[44] In Veröffentlichungen wie z.B. Beruf Aktuell von der Bundesanstalt für Arbeit sind Berufe allein durch den Sprachgebrauch schon geschlechtsspezifisch ausgewiesen: der Physiklaborant, der Bauingenieur, der Elektromechaniker, der Hauswirtschaftsingenieur und die Hauswirtschafterin, die Diätassistentin, die Kinderpflegerin. Bei einigen wenigen Berufen wird der Versuch gemacht, beide Geschlechter anzusprechen: Orthopädist(in), Chemielaborant(in), wobei im Text wieder die maskuline Form benutzt wird: die Orthopädisten, der Chemielaborant.
In den Ausbildungsgängen unterscheiden sich manchmal die Anforderungen an Mädchen und Jungen. So müssen Mädchen noch immer ein Hauswirtschaftsjahr als Teil der Krankenpflegeausbildung ablegen. Erst jetzt, bei mangelnden Berufsaussichten im Krankenpflegeberuf, werden auch Jungen in den Hauswirtschaftsunterricht integriert.
Mädchen erhalten trotz besserer schulischer Qualifikation eine weniger qualifizierte oder gar keine Berufsausbildung.[45] 94% aller Arbeiterinnen sind un- oder angelernt. Der Modellversuch des Bundes, Betrieben zur Eröffnung neuer Berufswege für Mädchen bis zu 75% der Ausbildungskosten zu finanzieren, ist fragwürdig. Kritiker(innen) argumentieren, daß wir keine Modellversuche brauchen, um die Eignung von Mädchen für gewerblich-technische Berufe zu erproben. Diese sei aus der Erfahrung anderer Länder wie z.B. der DDR ersichtlich. Eine solche Vergabe von Mitteln in Zeiten von-Rezession und Arbeitslosigkeit bedeute eher die Unterstützung kapitalintensiver Betriebe. Statt dessen sollten der Strukturwandel von Berufen untersucht und qualifizierte Ausbildungs- und Arbeitsplätze in zukunftsträchtigen Betrieben geschaffen werden.[46]
Zur Zeit sieht es so aus, daß Ausbildungs- und Arbeitsplätze in Berufszweigen, in denen eine relativ qualifizierte Ausbildung vermittelt wird (technische Zeichnerin, Chemielaborantin, kaufmännische Berufe), stark zurückgegangen sind, weil die Bereiche langfristig schrumpfen.[47] Ausweichmöglichkeiten bleiben Mädchen höchstens noch in den Bereichen, in denen Jungen ihnen sowieso das Feld überlassen: Friseurin, Floristin, Arzt- und Rechtsanwaltshelferin, Verkäuferin, Näherin. Um solche Stellen bewerben sich mittlerweile jedoch auch Realschülerinnen und Abiturientinnen. Jungen haben ihre Stellung in Bereichen, aus denen sie sich zurückgezogen hatten, wieder behauptet. War der Trend bisher, Jungen eine Lehrstelle und Mädchen einen Ausbildungsplatz zu vermitteln, so wird Jungen jetzt ein Arbeitsplatz vermittelt, wenn sie keinen Ausbildungsplatz finden, während Mädchen arbeitslos werden.[48] Jungen und Mädchen ist diese Entwicklung klar, wenn sie sagen:
»Ich bin Hauptschüler ohne Abschluß. Ich sitz' in der Scheiße, aber ich bin wenigstens kein Mädchen.«[49]
- »Die Jungen können irgendwo als Hilfskraft anfangen - aber für Mädchen gibt es doch nicht allzu viel - in Fabriken nehmen sie einen erst ab 18.«[50]
Eher als bei Jungen führt das bei Mädchen zu Resignation, die dadurch noch gefördert wird, daß sie in der eigenen Familie, im elterlichen Betrieb oder auf dem Land als unbezahlte Arbeitskraft eingesetzt werden.
»Ich frag' mich manchmal, was die zu Hause machen, wenn ich eine Lehrstelle habe. Dann müssen die jemanden einstellen für die Arbeit, die ich gemacht habe.«[51]
Das Leben dieser Mädchen ist gekennzeichnet durch eine extreme Isolation von Gleichaltrigen und von Aktivitäten außerhalb des Hauses, so daß schließlich als einziger Ausweg Ehe, Familie oder ein Freund, dem sie den Haushalt führen, übrigbleiben. Andererseits haben viele von ihnen den Wunsch, bis zu einem gewissen Grad selbständig zu sein. Einige schaffen es, mit viel Energie und Durchhaltevermögen eine Stelle zu finden, die ihren Wünschen halbwegs entspricht. Dazu gehört jedoch auch ein gewisser Zuspruch von außen: Ein Freundeskreis, eine gut funktionierende Clique und Unterstützung in der Familie sind ausschlaggebend für ihre Widerstandskraft.[52]
Auf der schulischen Ebene müßten Mädchen durchgängig denselben Unterricht haben. Berufswahlunterricht und Berufsberatung müßten sie gezielt ermutigen, nicht aufzugeben und sich kollektiv und öffentlich gegen ihre katastrophalen Berufs- und Arbeitsmöglichkeiten zu wehren. Gespräche über familiale Sozialisation und Berufswegplanung können traditionelle Einstellungen und geringe Selbsteinschätzung nur verstärken, solange sie nicht zugleich Wertungen enthalten und zur Vermittlung von Widerstandsformen führen.
Stoffverteilungspläne der einzelnen Länder
und Einschätzungen von Fachreferenten
Baden-Württemberg
Die alte Regelung, die auch bei Borris beschrieben wird, besteht noch: Mädchen erhalten Unterricht in Hauswirtschaft und textilem Werken, Jungen in Werken und im musischen Bereich. Mädchen haben mit vier Stunden Hauswirtschaft eine Stunde mehr Unterricht, während Jungen nur drei Stunden Werken, Kunst etc. belegen.
Dieser Rahmenplan verändert sich ab 1979/80. Seit drei Jahren läuft an 70 Versuchsschulen ein Programm, das die künftige Konzeption erprobt. Drei Bereiche Arbeitslehre/Wirtschaft/Technik, Hauswirtschaftslehre/Textiles Werken, Gemeinschaftskunde/Wirtschaftslehre - sollen die alten Fächer ersetzen. In Klasse 7 und 8 werden alle drei Bereiche für Jungen und Mädchen verbindlich sein (je zwei Stunden), in Klasse 9 sind es nur noch drei Stunden Gemeinschaftskunde/Wirtschaftslehre, während die anderen Bereiche als Wahlpflichtfächer angeboten werden. Nach Ansicht des Referenten besteht hier die Möglichkeit einer geschlechtsspezifischen Aufteilung. In den 70 Vorlaufschulen habe sich gezeigt, daß mehr Jungen in den Hauswirtschaftsunterricht als Mädchen in den Technikunterricht gehen. Die Jungen wählen Hauswirtschaft mit dem Argument: »Ich will Koch werden.« Sie haben größere Berufsaussichten in diesem Bereich als Mädchen im technischen.
In der 9. Klasse ist vorgesehen, daß bis zu einem gewissen Grad eine geschlechtsspezifische Aufteilung in Lehrstoff und Lerngruppe vorgenommen werden kann, zum Beispiel bei dem Thema: »Ein Kind wird er-wartet", bei Säuglingspflege und bei der Auswahl richtigen Spielzeugs. » Wenn es beim Kochen um ganz diffizile Dinge geht, sind Jungen nicht mehr zu gewinnen, außer wenn sie Koch werden wollen. Für Sauglingspflege kann man 15-jährige Jungen nicht interessieren. Die, die tatsächlich später Hausmänner werden wollen, können es ja mitmachen. Man darf das Koedukationsprinzip auch nicht zu Tode reiten.«[53]
Baden-Württemberg unterhält seit April 1978 ein Sonderprogramm zur Sicherung von Ausbildungsplätzen für verschiedene Gruppen von Personen, die schwer vermittelbar sind: Ausländer(innen), Aussiedler (innen), Frauen u.a.; solche Programme werden vom Bund gefördert und laufen in einer Reihe von Ländern an. Das Wirtschaftsministerium erstellte eine sogenannte »Mädchenliste«, d.h. eine Liste von technischen Berufen, die für Mädchen geeignet sind. Wenn die Firma einem Mädchen einen Ausbildungsplatz gibt, bekommt sie einen Zuschuß von der Regierung, der etwas höher liegt als bei Jungen. Dieses Programm soll den Auswirkungen vorbauen, die zu erwarten sind, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in den achtziger Jahren auf den Arbeitsmarkt kommen.[54] Es bleibt abzuwarten, ob darüber auch der Arbeitslehreunterricht für Mädchen beeinflußt wird.
Bayern
In Bayern hat sich der Stoffverteilungsplan seit Borris' Untersuchung verändert. Mädchen haben nicht mehr weniger Unterricht in Kernfächern als Jungen. In der Hauptschule verläuft der Unterricht seit mehreren Jahren koedukativ. Arbeitslehre und Haushalts- sowie Wirtschaftskunde sind seit 1976 in der 7. Klasse der Hauptschule für Mädchen und Jungen verbindlich, in der 8. und 9. Klasse erscheinen sie im Wahlpflichtbereich, Technisches Werken und Textilarbeit sind dagegen durchgehend im Wahlpflichtbereich. Mir wurde gesagt, daß Mädchen teilweise an technischem Werken teilnehmen, aber daß viele z.B. Maschineschreiben als eigenes Fach belegen.[55]
In der Grundschule sind Handarbeit und Werken Wahlpflichtfächer. Die Curriculumplaner(innen) tragen sich mit dem Gedanken, diese Fächer für alle verbindlich zu machen.
In der Realschule gibt es Arbeitslehre nicht. Alle anderen Fächer (hauswirtschaftlich/pflegerische, kaufmännisch-wirtschaftliche und naturwissenschaftlich-technische) Legen im Wahlpflichtbereich, lassen also die Möglichkeit für eine geschlechtsspezifische Aufteilung offen.
Berlin
In Berlin findet der Arbeitslehreunterricht an Hauptschulen seit Jahren als Pflichtfach koedukativ für die Klassen 7 bis 9 bzw. 10 statt. Lehrgänge und Prüfungen werden in Gruppen von 15 -18 Schülern und Schülerinnen abgehalten. Es gibt keine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Der Unterricht ist projektorientiert. Betriebspraktika sollen nicht einen Berufswunsch überprüfen ("gezieltes Praktikum« [56]), sondern einen Einblick in verschiedene Arbeitsbereiche geben. Aufgrund der Berufsnot ändert sich dies zur Zeit: Schüler(innen) versuchen, in einen bestimmten Betrieb zu kommen in der Hoffnung, dort eine Lehrstelle zu erhalten.
In der Realschule sind die traditionellen Curriculumstrukturen noch erhalten. Arbeitslehre wird in der 9. und 10. Klasse als Wahlpflichtfach angeboten. Es ist geplant, 1979 den Rahmenplan dem der Hauptschulen anzugleichen. Auch am Gymnasium soll Arbeitslehre eingeführt werden.
Mit Beginn des Schuljahres 1978/79 werden die Schüler(innen) aller Schulzweige in der 9. bzw. 10. Klasse einen verbindlichen Berufswahlunterricht haben. Für Haupt-, Real- und Gesamtschüler(innen) sind zwei Wochenstunden vorgesehen, für Gymnasiasten allerdings nur zehn Stunden im Jahr, die im Sozialkundeunterricht verändert werden. Berlin ist das erste Bundesland, das einen verbindlichen Berufswahlunterricht in den Lehrplan aller Schulstufen integriert. Berufsberater des Arbeitsamts werden am Unterricht beteiligt sein und in den Gesamtschulen auch Sprechstunden abhalten.[57]
Bremen
In Bremen hat sich der Lehrplan ebenfalls seit Borris' Studie verändert. 1973/74 wurde in Hauptschulen Arbeitslehre als Pflichtfach zusammen mit Technischem Werken, Hauswirtschaft und Textilarbeit eingeführt. Alle Bereiche werden von der 7. bis zur 9. Klasse koedukativ unterrichtet. Es besteht also keine unterschiedliche Stoffverteilung für Mädchen mehr, wie dies 1970 noch der Fall war. In Realschulen gilt noch der alte Lehrplan.
Nach Aussage des zuständigen Referenten werden Berufspraktika jedoch allein schon aufgrund der Schwierigkeit, Praktikumsplätze in Betrieben zu bekommen, geschlechtsspezifisch verteilt; auch die traditionelle Berufswahl habe sich durch den Unterricht nicht verändert. »Die Rollenfixierung ist von der Schule her schwer aufzulösen. Der Einfluß von Familie und Betriebspraktika schlägt immer wieder durch.«
In Realschulen besteht noch der alte Lehrplan: Werken und Hauswirtschaft werden geschlechtsspezifisch getrennt unterrichtet. Als Problem wird gesehen, daß die Realschule darauf fixiert ist, mittels einer zweiten Fremdsprache den Übergang zum Gymnasium anzubieten. Dies verhindert eine mehr berufskundliche Ausrichtung des Curriculums.[58]
Hamburg
Arbeitslehre wird nur an Gesamtschulen unterrichtet und an Haupt- und Realschulen als Berufswahlunterricht angeboten. Technik und Hauswirtschaft werden an beiden Schultypen als koedukativer Unterricht verlangt, eine Änderung gegenüber den von Borris beschriebenen Lehrplänen. Die Schüler(innen) müssen wenigstens einen Kurs in den Bereichen Technik, Hauswirtschaft, Textiles Werken und Musik-Kunst belegen. »Grundsätzlich besteht Koedukation, aber im Wahlpflichtbereich treten dennoch geschlechterspezifische Trennungen auf.«[59]
Der zuständige 'Referent sieht ein Problem darin, daß die Fächer irgendwann einmal belegt, aber nicht differenziert weiter angeboten werden. Dies verhindere eine auf Praxis und Zukunft bezogene Lernerfahrung. Seiner Einschätzung nach wird die Entwicklung des Begriffs »Partnerschaft« erst ab dem 17./18. Lebensjahr relevant. Darüber hinaus könnte der koedukative Unterricht zu Konflikten in der Familie führen, wenn die Mädchen dort die Arbeit verweigern. Partnerschaft müsse vorsichtig entwickelt werden.
In einem Versuchsprojekt an Hauptschulen sollen Schüler(innen) zwei Berufsfelder näher kennenlernen. Hierzu kommen Berufsschullehrer in die Hauptschulen und arbeiten mit den Lehrern zusammen. Schüler(innen) können unter vier verschiedenen Bereichen wählen, in denen sie dann ein Projekt (fünf Stunden wöchentlich über ein Jahr) machen. Die geschlechtsspezifische Verteilung in den Projekten entspricht traditionellen Vorstellungen: Elektro-Metall - keine Mädchen; Farb- und Raumgestaltung - gemischt; Textil-Bekleidung und Ernährung-Haushalt - fast nur Mädchen.
Das Lehrstellenangebot für Mädchen in Berufen, die nicht ausgesprochen »frauentypisch« sind, bleibt weiterhin gering. Die Betriebe argumentieren, daß sich keine Mädchen melden. Gegenwärtig sind Bemühungen im Gang, Verständnis bei den Kammern und Betrieben zu wecken.
Nach Ansicht des Referenten wirkt sich Koedukation wenig auf eine emanzipatorische Entwicklung aus - außerschulische Einflüsse sind bedeutender.
»Wenn man die Einstellung von Mädchen aufbrechen will, ist der koedukative Ansatz vielleicht gar nicht so gut, weil ein Defizit erst einmal aufgearbeitet werden müßte.« (Ich werde später auf diesen Standpunkt zurückkommen.) »Die Abhängigkeit von Einstellungen müssen deutlich gemacht werden. Schüler müssen erfahren, daß Intentionen dahinterstehen, daß es nicht nur darum geht, ihnen eine Meinung aufzusetzen, sondern daß sie als Menschen ernstgenommen werden.«
Hessen
In Hessen ist zur Zeit noch der traditionelle Lehrplan in Kraft, obwohl Koedukation empfohlen wird. Arbeitslehre wird je nach vorhandenen Lehrkräften in Gesamtschulen unterrichtet. Die neuen Richtlinien für Polytechnik-Arbeitslehre sind gegenwärtig in Druck. Danach wird das Fach von der 5. Klasse an koedukativ unterrichtet; im Gymnasium ist es in der 5. und 6. Klasse Pflicht und von der 7. Klasse an Wahlpflicht. Es kann dann alternativ zu einer zweiten Fremdsprache gewählt werden, was natürlich bedeutet, daß die meisten Schüler(innen) letzteres tun - ein Handicap in den Augen des Referenten. In den Realschulen können Schüler(innen) Polytechnik-Arbeitslehre wählen und entscheiden sich nach Aussage des Referenten auch häufiger hierfür als für eine zweite Fremdsprache.[60] In den anderen Schulformen wird es bis zur 10. Klasse Pflichtfach sein (6. Klasse fünf Stunden, 7. Klasse sechs Stunden, 8. - 10. Klasse acht Stunden), kann allerdings auch zur Vertiefung anderer Fächer wie z.B. Mathematik verwendet werden.
Niedersachen
In Niedersachsen ist der Bereich Arbeitslehre-Wirtschaft-Technik eingeführt worden, der sich in drei Fächer aufgliedert: Arbeitslehre-Wirtschaft, Technik, Hauswirtschaft. Im Juni 1978 wurde ein Hauptschulerlaß herausgegeben, nach dem Jungen und Mädchen an allen Fächern teilnehmen sollen. Der Bereich ist in der 7. und 8. Klasse der Hauptschule Pflicht. In der 9. Klasse sind drei Stunden Arbeitslehre-Wirtschaft Pflicht und drei Stunden Technik/Hauswirtschaft Wahlpflicht. Hier sollen möglichst Arbeitsgemeinschaften koedukativ angeboten werden. Bisher gibt es keine abgesicherten Erfahrungen mit diesem Programm. Der Eindruck ist, daß mehr Jungen den Hauswirtschaftsbereich als Mädchen den technischen wählen.
In der Realschule ist Arbeitslehre in der 9. Klasse Pflicht (zwei Stunden), in der 10. wird es neben Technik, Hauswirtschaft und den anderen Fächern als Wahlpflichtbereich angeboten. Noch gibt es kaum Erfahrungen mit diesem Lehrplan.[61]
Nordrhein-Westfalen
Koedukation wurde 1973 eingeführt. Arbeitslehre beginnt in der 7. Klasse (in der 5. und 6. Klasse wird es in Naturwissenschaften und Gesellschaftslehre subsumiert). In der Hauptschule besteht es aus den Bereichen Technik/Wirtschaft und Haushaltlehre, Pflichtbereiche für die Klassen 7 - 10. In der 9. Klasse kann zwischen Textil und Kunst gewählt werden, und den Wahlpflichtbereich will man erweitern. Diese Richtlinien ähneln denen von Berlin. NRW und Berlin sind somit die einzigen Länder, in denen der Bereich durchgängig für Mädchen und Jungen obligatorisch ist.
In der 7. Klasse werden Betriebserkundungen durchgeführt, im zweiten Halbjahr der 8. Klasse Betriebspraktika. Bei den Erkundungen und Praktika werden Mädchen und Jungen getrennt vorbereitet und zugewiesen:
»Wir haben sowieso schon Schwierigkeiten, Praktikumsplätze zu bekommen. In einigen Gegenden wie Düsseldorf geht es sehr gut, in anderen nicht. Die Anforderungen und Auswahl von Praktikumsplätzen werden in einem Beirat am Schulamt festgelegt, in dem Vertreter des Schulamts, der Industrie und des Arbeitsamts sitzen. Je nach Neigung können die Mädchen in einer Jungengruppe und die Jungen in einer Mädchengruppe mitmache. Die meisten Mädchen greifen jedoch schnell nach den Pflege- und Verkäuferinnenberufen.«[62]
An Realschulen gibt es keine Arbeitslehre. Statt dessen sind Sozial- und Wirtschaftskunde Wahlpflichtfach (entweder Französisch oder Sozial- und Wirtschaftskunde), Hauswirtschaft erscheint in der Stundentafel als »Sternchenfach«, d.h. es kann in anderen Fächern mit untergebracht werden. Die Frage ist, wie weit diese Regelung den Unterricht in den anderen Fächern für Mädchen beeinflußt.
Gegenwärtig werden neue Richtlinien für Realschulen erarbeitet. Technik, das bisher von Physik abgedeckt werden sollte, wird möglicherweise ebenso wie Hauswirtschaft als Wahlfach eingeführt. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen wählen die besseren Schüler(innen) Französisch, die nächste Gruppe Naturwissenschaften und die »schlechtesten« Sozial- und Wirtschaftskunde. Der Referent meinte, daß sich dies auch mit neuen Richtlinien nicht ändern würde.[63]
Rheinland-Pfalz
Arbeitslehre mit den Kooperationsbereichen Wirtschaftslehre /Technisches Werken und Wirtschaftslehre/Haushaltslehre werden in der Hauptschule bis zur 9. Klasse im Pflichtbereich angeboten. Nach einer Orientierung können sich die Schüler(innen) für eines der Gebiete entscheiden. In der Realschule gibt es das Fach Arbeitslehre nicht.
Auf meine Frage nach geschlechtsspezifischer Aufteilung in den Bereichen erhielt ich folgende Auskunft:
»Nach unseren bisherigen Erfahrungen wird gemeinhin geschlechtsspezifisch entschieden. Der Anteil der Jungen in Haushaltslehre ist nicht unerheblich. Es besteht keine Notwendigkeit, diese Angaben zu sammeln.
Technik ist inhaltlich immer mit Berufskunde gekoppelt, Mädchen gehen dennoch nicht in dem Maße in den Technikunterricht, wie man es erwarten würde.
Alle Erfahrungen deuten darauf hin, daß eine geschlechtsspezifische Entscheidung fällt. Man muß sich aber auch fragen, wie groß die Berufsaussichten nachher sind. Wären die Betriebe eher bereit, Mädchen zu nehmen, wenn Mädchen besser vorgebildet wären?
Die Berufsaussichten sind nicht rosig für Mädchen, aber sie werden durch die Schule auch nicht unbedingt blockiert. Den Trend, den man vielleicht erwünschen würde, kann man in der Schule nicht beeinflussen. Berufsbildende Schulen sind auch wichtig, nicht nur Hauptschulen. Dazu kommen oft Entscheidungen, die nichts mit geschlechtsspezifischen Gründen zu tun haben, sondern z.B. mit dem elterlichen Betrieb. Wir wollen in der Hauptschule nicht schon vorprogrammieren, schon Berufsprofile gestalten, sondern eine allgemeine Grundbildung vermitteln. Es ist nicht daran gedacht, die Arbeitslehrebereiche obligatorisch für Jungen und Mädchen zu machen.«[64]
Saarland
Im Saarland wird gegenwärtig die Reform der Hauptschule auf der Basis des Schulversuches Türkismühle durchgeführt. Das neue Programm wird auf zwei weitere Regionen ausgedehnt. Innerhalb der nächsten zwei Jahre soll die Umgestaltung vollzogen sein.
Nach den neuen Richtlinien wird der Unterricht in Arbeitslehre koedukativ sein; Technik und Hauswirtschaft sind im 5. und 6. Schuljahr für Mädchen und Jungen obligatorisch. Schüle(rinnen) durchlaufen von der 7. Klasse an in rotierendem System bestimmte Lernbereiche:
»Mädchen sollen genauso wie Jungen mit technischen Bereichen vertraut gemacht werden Es wird nicht so sein, daß Mädchen als eine Gruppe zusammenbleiben, weil dann unter Umständen falsch verstandene Rücksichtnahmen vorgenommen werden.«[65]
Die Arbeitsbereiche umfassen: Hauswirtschaft, Textil, Metall, Elektro, Holz, Keramik und Plastik. Es besteht keine Wahlmöglichkeit für die Lernbereiche, die an den einzelnen Schulen festgelegt werden. Mädchen und Jungen werden in alphabetischer Reihenfolge den Arbeitsgruppen zugeteilt.
Im Zusammenhang mit der Neugestaltung wurde auch das Berufsbildungsjahr eingeführt. (Nach Aussage des Referenten gibt es im Saarland weniger Schwierigkeiten mit der Anerkennung dieses Jahres auf die Lehrzeit als in anderen Ländern.) Dieses einjährige Vollzeitschuljahr hat die Aufgabe:
»allgemeine (berufsfeldübergreifende) und auf der Breite eines Berufsfeldes fachtheoretische und fachpraktische Lerninhalte als berufliche Grundbildung zu vermitteln. Es ist für Ausbildungsberufe, die dem Berufsfeld zugeordnet sind, Grundlage einer folgenden beruflichen Fachbildung.«[66]
Innerhalb dieser Ausbildung gibt es zwei Profile: das eine endet mit einem mittleren Bildungsabschluß und der Berechtigung zum Übergang in die Sekundarstufe II, das andere mit der Berechtigung zum Eintritt in die Stufe der Fachbildung für Ausbildungsberufe. Innerhalb des letzten Profils gibt es zwei Ausbildungszweige: den gewerblich-technischen und den hauswirtschaftlich-sozialpflegerischen. Es ist anzunehmen, daß an diesem Punkt geschlechtsspezifische Ausrichtungen wieder durchschlagen.
Obwohl der Schulversuch Türkismühle gut durchgeplant scheint, als Modellversuch der Bundländer-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung mit Bundesmitteln arbeitet und die Möglichkeiten für eine wissenschaftliche Begleitung hat, ist leider nicht vorgesehen, geschlechtsspezifische Aspekte zu untersuchen. Die SPD-Abgeordneten Dr. Brunhilde Peter und Reinhard Klimmt stellten im Juni 1978 eine Anfrage an die Landesregierung zur Situation der schulischen und beruflichen Ausbildung von Mädchen. Eine ihrer Fragen war, ob die Regierung vorsehe, im Rahmen des Schulversuchs »vorhandenes bzw. geändertes geschlechtsspezifisches Rollenverhalten von Jungen und Mädchen mit zu beobachten.« Die negative Antwort wurde damit begründet, daß
- der Unterricht in Arbeitslehre in Koedukation erteilt wird und alle Schüler alle Lernbereiche durchlaufen,
- der Begriff »geschlechtsspezifisches Rollenverhalten« kaum eindeutig bestimmbar ist, und so Erhebungsinstrumente, die zu tragfähigen Aussagen führen könnten, fehlen,
- eine Beobachtung in diesem Bereich nur schwer der Gefahr entgehen kann, in die Persönlichkeitsrechte der Schüler einzugreifen.[67]
Eine Verallgemeinerung dieser Begründung würde die Aufhebung der Mehrzahl sozialwissenschaftlicher Untersuchungen bedeuten. Diese Antwort zeugt von einem Mangel an Interesse und der Ignoranz sozialwissenschaftlicher Methodik. Sie steht im Widerspruch zu der Erklärung, die mir der Referent für Hauptschulen über das Interesse der Parteien an Koedukation in Arbeitslehre gab:
»Die Parteien vertreten die Auffassung, daß bei der heutigen Mobilität und Flexibilität, die am Arbeitsplatz erforderlich ist, auch schon in der Schule davon ausgegangen werden soll, daß sich die Rollenfixierung nicht festsetzt. Es geschehen so viele Dinge heute, die von beiden Geschlechtern bewältigt werden sollten. Arbeitslehre bietet sich hierfür als Lernbereich an.«[68]
Diesem Interesse sollte eine wissenschaftliche Überprüfung des Erfolgs curricularer Reformen entsprechen. Ein weiterer Punkt der Anfrage ist aufschlußreich; die Abgeordneten wollten wissen:
- Wie sind bzw. werden die Beratungslehrer, die an diesem Schulversuch arbeiten sollen, auf die Beratungsaufgaben bezüglich der Veränderung traditionellen geschlechtsspezifischen Rollenverhaltens (Mädchen wählen Hauswirtschaft, Jungen wählen Metall oder Elektro) vorbereitet?
Ist vorgesehen, durch Beratungslehrer motivationsstabilisierende pädagogische Hilfen bei Wahl ungewohnter Lernbereiche anzugehen?
Antwort:
- Die Aufgabe von Beratungslehrern besteht in keinem Falle darin, Entscheidungen von Schülerinnen und Schülern bestimmte Richtungen zu lenken...
Eine Festigung der Motivation der Schüler, die eine begründete Entscheidung voraussetzt, ist ein Ziel, das vor allem durch einen geeigneten Unterricht erreicht werden kann und sollte. Es ist nicht vorgesehen, daß Beratungslehrer Schüler, die eine bestimmte Entscheidung getroffen haben, in besonderem Maße unterstützen.[69]
Es ist fraglich, ob ein solcher Abstand von Entscheidungsprozessen seitens der Beratungslehrer der Situation und den Bedürfnissen von Mädchen gerecht wird. Erfahrungen (z.B. in den USA) haben gezeigt, daß erst eine gezielte Beratung, zusätzliche Informationen, Ermutigung und kontinuierliche Unterstützung Mädchen die Grundlage geben können, sich in ein Berufsfeld vorzuwagen, in dem ihr Geschlecht nur vereinzelt vertreten ist.
Das Problem der Ausbildung qualifizierter Lehrkräfte wird folgendermaßen angegangen: Im Zusammenhang mit dem Modellversuch werden Lehrgänge für einzelne Lernbereiche angeboten, die Lehrkräfte von berufsbildenden Schulen an Berufsbildungszentren durchführen.
In den Realschulen gibt es bisher das Fach Arbeitslehre noch nicht. Werkerziehung, Textilgestaltung und Hauswirtschaft sind in den Stundentafeln noch geschlechtsspezifisch ausgewiesen. In einem Großteil der Schulen werden diese Fächer in der 9. und 10. Klasse als Wahlpflichtfächer angeboten, was Zielrichtung aller Schulen ist. Der zuständige Referent meinte hierzu:
»Wenn die Fächer als Wahlpflichtfächer erscheinen, fällt die geschlechtsspezifische Ausrichtung weg. Wir haben festgestellt, daß Jungen und Mädchen Werken wie auch Textil und Hauswirtschaft belegen. Seit Technik- Werken neu gestaltet wird und Bereiche, die stark in die Wohngestaltung hineingehen, mit beinhalten, nehmen auch Mädchen dieses Fach.«
Nach Erfahrungen zu urteilen, scheint mir diese Lösung fragwürdig, besonders in Anbetracht folgender Einschätzung des Referenten:
»Themenbereiche, die echt geschlechtsspezifisch sind, bringen die Frage auf, ob eine Binnendifferenzierung gemacht werden sollte. Zum Beispiel kann ich mir vorstellen, daß ein Bereich wie Wohngestaltung die Buben nicht so interessiert.«[70]
Schleswig-Holstein
Schleswig-Holstein ist das einzige Land, in dem Arbeitslehre nicht angeboten und auch für die nähere Zukunft nicht geplant wird. An den Hauptschulen werden die Fächer Hauswirtschaft, Technisches Werken, Textiles Werken, Kunst und Musik mit folgendem Hinweis in der Stundentafel eingeführt:
In diesem Bereich soll der Schüler in den Klassenstufen 5 bis 7 ein Grundwissen in allen Fächern erwerben. Wo es möglich ist, soll der Schüler im 8. und 9. Schuljahr zwischen verschiedenen Angeboten nach Interesse und Neigung wählen können.[71]
Nach Aussage des Hauptschulreferenten wählen ungefähr 60 % der Jungen das Fach Hauswirtschaft, Textiles Werken wird fast nur von Mädchen und Technisches Werken fast nur von Jungen belegt. Ich selbst befragte Eltern in Kleinstädten und fand kein Beispiel dafür, daß Jungen und Mädchen textiles und technisches Werken erlernen.
Der Referent berichtete von der Forderung aus politischem Raum (Volksbildungsausschuß des Gesamtparlaments, CDU, SPD, FDP), daß Jungen und Mädchen sich beide Bereiche aneignen:
»Dies soll in ein paar Jahren verwirklicht werden. 1978/79 wird es noch so bleiben: Jungen haben Technisches Werken, Mädchen Textiles Werken. Wir mögen noch nichts anordnen. Wir wollen offen bleiben, weil die Lehrplanabteilung hinterherhinkt. Ein Mann ist z.B. für 84. 000 Realschüler zuständig. Außerdem haben wir noch nicht genügend ausgebildete Lehrer.«[72]
In den Realschulen ist Hauswirtschaft jetzt verbindlich für die 8. Klasse, »wenn Lehrkräfte und Fachräume zur Verfügung stehen.« In der 9. und 10. liegt es mit Textilem Werken und Technik (bzw. Werken, wenn Lehrkräfte und Werkräume fehlen) im Wahlpflichtbereich.
Schleswig-Holstein steht hiermit an letzter Stelle unter allen Ländern in den Bemühungen um einen koedukativen Unterricht in diesen Bereichen.
Schlußfolgerungen
An Hand dieser Informationen können wir ansatzweise die anfänglichen Fragen beantworten.
- Wie haben sich die Stoffverteilungspläne seit der Untersuchung von Borris verändert?
Mit der Einführung des koedukativen Arbeitslehreunterrichts wurde die von Maria Borris konstatierte offene Diskriminierung von Schülerinnen an Hauptschulen beendet. Dies ist die wichtigste strukturelle Veränderung in der Mädchenerziehung seit 1970.
- Bis zu welchem Grad wird das Prinzip der Koedukation in der Praxis eingelöst?
Das Prinzip der Koedukation wird formell in Haupt- und Gesamtschulen durchgeführt, wo Arbeitslehre und verwandte Fächer Pflichtunterricht sind. Im Wahlpflichtunterricht wird es offiziell zwar aufrechterhalten, aber in der Praxis nur in sehr beschränktem Maße durchgesetzt.
Hinzu kommt, daß bestimmte Themenbereiche, die weiterhin als geschlechtsspezifisch ausgewiesen werden, in den Wahlpflichtbereich verlegt werden (z.B. in Baden-Württemberg). Auf diese Weise folgt der koedukativen Ausbildung der unteren Klassen eine geschlechtsspezifisch ausgerichtete gerade in den Jahren, in denen Berufswahlentscheidungen anstehen.
Im Rahmen von koedukativem Unterricht ist in einigen Fällen die Möglichkeit für Binnendifferenzierung gegeben, zum Beispiel bei verschiedenen Projekten oder bei Betriebspraktika und deren Vor- und Nachbereitung. Wie weit eine inoffizielle Binnendifferenzierung stattfindet, müßte anhand direkter Beobachtungen und Interviews mit Schüler(inne)n und Lehrer(inne)n überprüft werden. Sicher hängt die Durchführung eines Unterrichts, in dem Mädchen und Jungen dasselbe lernen, von den einzelnen Lehrer(inne)n ab; so hörte ich von einem Kurs, der in eine gemischte und eine Mädchengruppe unterteilt war und wo der gemischten Gruppe mehr Lernstoff geboten wurde als der Mädchengruppe. Hierbei geht es nicht nur um die Vermittlung eines Stoffes, sondern auch um den Willen, ihn später konkret zu verwerten.
Koedukation ist zu einem Schlagwort geworden. Der Sinn dieses Prinzips ist manchmal nicht mehr klar ersichtlich. Wenn Mädchen und Jungen hierdurch denselben Stoff erlernen und eine ähnliche Grundlage (von Gleichheit kann nicht die Rede sein) für eine Berufsausbildung erhalten sollen, dann stellt sich die Frage, ob dieses Ziel an einen koedukativen Unterricht gebunden sein muß. Hier stehen sich wenigstens zwei Meinungen gegenüber:
- Mädchen sollen zusammen mit Jungen den Stoff erlernen, damit keine falsch verstandenen Rücksichtnahmen genommen werden.[73]
Das heißt, Koedukation ist notwendig für vergleichbare Lernerfolge von Mädchen und Jungen.
- Vorhandene Defizite können möglicherweise besser in einer geschlechtshomogenen als in einer heterogenen Gruppe. aufgearbeitet werden.[74]
Praktische Versuche müßten diese Frage beantworten. Sicher gibt es Situationen, in denen es für Mädchen vorteilhaft ist, sich einen Lernstoff zunächst in einer homogenen Gruppe anzueignen. Teilweise hängt dies von dem Wissensgefälle und den sozialen Verhaltensweisen der Mädchen und Jungen in einem Kurs ab. Fest steht, daß Koedukation als solche nicht die einzige oder wirksamste Lösung für die Benachteiligung von Mädchen ist. Ein Unterricht, in dem sich Lehrer(innen) auf Stärken und Schwächen der Mädchen beziehen können, ohne Abstriche am Lernstoff zu machen, ist manchmal eher in einer homogenen Gruppe möglich.
In den Realschulen hat sich die Situation seit 1970 kaum verändert. Entweder existieren noch die traditionellen Fächer Werken und Hauswirtschaft, oder die zu Arbeitslehre gehörenden Bereiche werden als Wahlpflichtfächer angeboten. Dies bedeutet, daß die geschlechtsspezifische Aufteilung weitgehend beibehalten wird.
- Welche Auswirkungen hat der koedukative Unterricht nach Ansicht der Fachreferenten auf die berufliche Laufbahn der Schülerinnen?
Nach Aussage der Referenten hat der koedukative Arbeitslehreunterricht bisher kaum die berufliche Laufbahn von Mädchen beeinflußt. Dies wird mit außerschulischen Einflüssen (Familie, Arbeitsmarktpolitik) und mit der Einstellung von Mädchen begründet. Ein neues Verhältnis zur Berufsberatung bahnt sich mit der Curriculumreform an: Berufsberater werden stärker in die schulische Ausbildung einbezogen (siehe Berlin). In Hamburg arbeitet man an einem Konzept für einen »Lehrer für Berufsorientierung", der für Berufsorientierung an der Schule vorbereitet sein und koordinierende Aufgaben gegenüber anderen Institutionen wahrnehmen soll. Die Ausbildung solcher Lehrer(innen) müßte sich intensiv mit geschlechtsspezifischen Aspekten befassen. Aus meinen Informationen ist jedoch nicht ersichtlich, daß das geschehen soll.
Einerseits wurden also mit der Einführung der Arbeitslehre die ersten Schritte gemacht, um strukturelle und inhaltliche Bedingungen für den Abbau geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung zu schaffen, andererseits scheint die Reform an diesem Punkt stehenzubleiben. Dies ist verständlich, da es Regierung und Curriculumplanern offensichtlich nicht um radikale Veränderungen der Position von Frauen in dieser Gesellschaft geht. So kommen Programme wie in Baden-Württemberg, die Mädchen in gewerblich-technische Berufe bringen sollen, aus arbeitsmarktpolitischen Erwägungen zustande und nicht, um die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zu reduzieren, und eine intensive Beratung und Förderung von Mädchen wird mit den oben zitierten Argumenten (Saarland) abgelehnt. Kein Land plant, geschlechtsspezifische Aspekte in die Aus- und Fortbildung von Personal in Arbeitslehre, Berufswahlunterricht und Berufsberatung zu integrieren.
Gezielte Förderung könnte dazu beitragen, daß Mädchen sich ein breiteres Spektrum an Arbeitsbereichen zutrauen und ihre Interessen mit größerer Sicherheit und Entschlossenheit durchsetzen. Das erfordert jedoch eine Schulpolitik, die über die Funktion hinausgeht, Jugendliche auf die bestehende Gesellschaft vorzubereiten. Bisher bleiben solche Initiativen einzelnen Lehrer(inne)n überlassen. Man hat den Eindruck, die Regierungen glaubten, mit diesen Ansätzen ihr Soll erfüllt zu haben. Eine Einschätzung, die durch den Mangel an Interesse, die Auswirkungen der Reform wissenschaftlich zu überprüfen, bestätigt wird: Keines der Länder plant eine wissenschaftliche Begleitung, die sich mit geschlechtsspezifischen Aspekten befaßt.
Für den gesamten Bereich der in diesem Kapitel behandelten Lehrplanreform hat sich also meine Hypothese bestätigt: Der Gleichberechtigungsanspruch hat sich verstärkt, wird aber in der Praxis nur begrenzt eingelöst. Die besondere Situation von Mädchen wird im Unterricht kaum beachtet; es bleibt Lehrer(inne)n individuell überlassen, diese zu berücksichtigen.