Der Nimmerland-Hut

Es war Nacht, und sie waren zu Hunderten da, im Auditorium und auf dem Balkon des Frauenhauses im Mission-Viertel. Die Mitglieder von Queer Nation reckten die Arme und schnippten mit den Fingern; im Saal hingen flache, kopfgroße Sterne aus Aluminiumfolie an dem dunklen Vorhang der erhöhten Bühne, und silberne Lichttüpfel blinkten an der hohen Decke. Nackte Glühbirnen strahlten paarweise von oben, rund um einen unbeholfenen, massiven Kronleuchter in »Arsch-Deco«, der einen Lotos darstellen sollte, die Blüte der Sehnsucht, des Träumens und Vergessens. Dieser Lotos allerdings war andersrum.
Im Saal roch es nach Dreiwettertaft, Sprayfarbe und Weizenkleister. Ich war umgeben von einer beweglichen Mauer aus schwarzen Lederjacken mit hellgelben Stickern. QUEER. LESBE. SCHWUCHTEL. LABIA. Die farbigen Winkel, rosa für die Jungs und schwarz für die Mädchen, in Gefängnissen und Konzentrationslagern aufgezwungen von den Nazis, waren umgewandelt in Symbole des Stolzes. WIR REKRUTIEREN. WAS IST DIE URSACHE FÜR HETEROSEXUALITÄT? Zugänglich gemachter Dada, eine unmögliche Mischung aus lesbenidentifizierten Mann-zu-Frau-Transsexuellen und militanten Ledertunten. »Birkenstocklesben«, einst zurückgezogen in der separatistischen Frauenszene lebend, planten Aktionen gemeinsam mit den »Lippenstiftlesben«.
Die Veranstaltung leiteten ein Mädchen in Männerklamotten und ein rundgesichtiger junger Mann, beide mit pinkfarbenen Baskenmützen. Sie riefen die Versammlung zur Ordnung.
»Jede Gesellschaft ehrt ihre lebenden Konformisten und ihre toten Unruhestifter«, verkündete das junge Mädchen.
Hunderte von Fingern schnippten den Queer-Beat.
Gilbert betrat den Saal, in fließenden Seidenhosen und einem langen, androgynen Hemdkleid aus allen Fahnen der Welt. Er nahm seinen Platz in der Mitte ein, wie ein gütiger Onkel, der mit Bonbons in der Tasche zu Besuch kommt.
Die Veranstaltungsleiter fragten, ob irgendwelche Gesetzeshüter, Überwachungsagenten oder Medienvertreter anwesend seien. Als ob ein FBI-Agent jetzt die Hand heben würde.
Im Verlauf der Versammlung zirkulierten die Atmo-Wächter durch den Saal. Wenn jemand frustriert oder wütend war über das, was passierte, sollte er zu einem Atmo-Wächter gehen und seine Gefühle rauslassen. Falls die Atmosphäre zu aufgeladen wurde, konnten die Atmo-Wächter entscheiden, die Versammlung zu stoppen und das Problem zu thematisieren. Ich sah zu, wie die Gefühlsbeladenen sich pflichtschuldige Empathie bei den Atmo-Wächtern abholten, um gleich darauf wieder auf ihre Plätze zurückzukehren und an der Versammlung teilzunehmen.
Auf seiner Stuhlkante in der ersten Reihe saß der junge Kunsthistoriker Jonathan Katz, jede Faser seiner Konzentration kristallisierte sich in den Augen. Seine Körpersprache war die einer großen, kraftvollen Katze, und sein Hirn war dauernd in Bewegung. Das konnte ich an seinen Augen und seinem Kinn ablesen. Ich sah deutlich, daß er vor nichts haltmachen würde: ein Intellektueller, der sich der Revolution verschrieben hatte. Nacheinander standen alle auf und berichteten von ihrer jeweiligen Arbeitsgruppe, und seine Augen waren fest an den gerade Sprechenden geheftet.
»Wir bilden eine Gruppe, um gegen den Schauspieler Gallagher und seine Witze über Schwule und Aids zu protestieren. Wir machen die Promoter seines Auftritts fertig.«
Zwei Frauen ergriffen das Wort. »Wir sind von LABIA. Wir wollen mal wieder um die Häuser ziehen. Aber Männer sind auch willkommen. Also, für die unter euch, die es nicht wissen, letztes Mal sind wir unter anderem in eine Disco in der Union Street gegangen und haben huch! miteinander getanzt. Der Barkeeper rief die Polizei, und als wir nach draußen kamen, wurden wir umzingelt, und beinahe gab es einen Aufstand. Mochten wohl unsere Tanzschritte nicht.«
Der Reaktion der Gruppe war deutlich zu entnehmen, daß dieser Aktion eine starke Unterstützung sicher war.
Eine junge Ledertunte, ein Typ mit langen blonden Haaren und einem kleinen, geschmackvollen Ohrring, der durch seine Augenbraue ging, kündigte einen DORIS-SQUASH[8] - Ähnlichkeitswettbewerb an. »Ein DORIS-Mitglied«, meinte er, »kann männlich, weiblich, transsexuell, butch oder femme sein.«
Ihre jungen Stimmen klangen, als kämen sie aus einer anderen Wirklichkeit, aus einem Club, zu dem Erwachsene keinen Zutritt hatten.
»Das Komitee für Kunst und Werbung trifft sich auf dem Balkon, und PUC[9]  diskutiert im hinteren Zimmer die Aktion bei der Amtseinführung von Pete Wilson. Und Queer Planet plant eine Protestaktion gegen den Ausschluß von Queers durch amnesty heterosexual.«
Queer Nation hatte amnesty international umgetauft. Bis zum Ende des folgenden Jahres sollte ai seine Politik ändern, von da an betreuten sie auch gefangene Homosexuelle, die nur wegen ihrer Sexualität verhaftet worden waren.
Die Gruppe VIVA kündigte ein Treffen an, um die »Überarbeitung« von Werbeanzeigen auf Plakatwänden zu diskutieren, was mitten in der Nacht mit größter Kreativität stattfand. Die Jackson-Pollock-Truppe war an kreativer Veränderung nicht interessiert, ihnen waren schlichte Farbkleckse auf allen Plakaten, die sie als übel heterozentrisch, rassistisch oder sexistisch empfanden, lieber. Mich beeindruckte, mit was für einem sensiblen Bewußtsein die jungen Männer jeglichen Sexismus wahrnahmen.
Während ein Sprecher nach dem anderen das Wort ergriff, fiel mein Blick wieder auf Jonathan, der diese Worte im Geiste hin- und herdrehte wie einen politischen Zauberwürfel. Später erfuhr ich, daß er erst zweiunddreißig war; als Jugendlicher hatte er >Reise nach Indien< gelesen. Er hielt es für ein Buch, das den Beweis für das grundlegende Chaos der Welt lieferte, ein Buch, das besagte, es gibt keine Ordnung, keinen Plan, keine Gottheit, alles steht in chaotischen Beziehungen zueinander. Und da es keinen Plan gibt, war Jonathan davon überzeugt, daß derjenige gewinnt, der am besten seinen Anspruch geltend macht, und daß man durch die Politik des Chaos zur Macht kommt.
Jonathan ergriff das Wort. Das Hin und Her im hinteren Teil des Saales hörte sofort auf.
»Ich möchte um zweihundert Dollar bitten, um Fahnen und Banner für die PUC-Aktion am Tag der Amtseinführung in Sacramento zu kaufen, außerdem ein Megaphon.«
»Gebt ihm das Geld«, rief ich. Ich wollte sehen, was er vorhatte. Er stammte unverkennbar aus einer privilegierten Klasse und hatte seinen Sinn für einen »berechtigten Anspruch« nicht verloren, der oft verschwindet, wenn die Homosexualität zutage tritt. Homosexuelle Männer aus der Oberschicht sind oft die Kräfte hinter den Kulissen, aber Jonathan würde niemals in den Kulissen bleiben. Er hatte Charisma, und es war deutlich, daß es einige bei Queer Nation gab, die das für destruktiv hielten.
Eine Femme in einem roten Glockenhut blockierte seine Anfrage. Jeder konnte jede Anfrage »blockieren«, was bedeutete, daß die Aktion nicht unternommen wurde. Es war still im Saal.
»Wer ein Megaphon hat, dessen Stimme ist bei Aktionen lauter als die der anderen«, sagte sie.
Meinte sie damit jenes instinktive Anspruchsdenken Jonathans, mit dem er viele einfach überfuhr? Er bekam seine zweihundert Dollar, aber kein Megaphon. Diese Situation war typisch für den grundsätzlichen inneren Kampf von Queer Nation: Es durfte keine Anführer geben; niemandes Stimme durfte lauter sein als die der anderen. Die »Femmes«, eine Arbeitsgruppe aus Frauen und Männern, hatten sich zusammengeschlossen, um gegen das anzugehen, was sie als maskuline weiße Männerdominanz bei den Treffen betrachteten. Sie machten eine Liste mit Verhaltensweisen, butch vs. femme:

Lange, laute, kraft- Sprechen wie am Küchentisch,
volle Redebeiträge statt eine Rede zu halten.
   
Erneut das Wort Daran denken, was wir versäumen,
ergreifen, bevor wenn wir nicht die Stimme aller
andere gesprochen hören
haben.  
   
Ich, ich, ich. Du, er, sie, es.
   

 Jonathan ergriff erneut das Wort, um eine Aktion zur Offenheit in der Öffentlichkeit in Gang zu setzen: SHOP,[10] die in einem Shopping Center in der weißen Vorstadt Cupertino stattfinden sollte, eine Modenschau aus Stereotypen, die als queer identifizierbar waren. Die Begeisterung war unverkennbar, und Jonathan freute sich über die Reaktion, doch hie und da im Saal bemerkte ich Leute, die diesen gewandten Mann mißtrauisch musterten, der sich in ihren Augen mit der Aura einer deutlichen, überlegenen Bestimmung durch die Welt bewegte.
Jonathan, das Produkt von Privilegien, hatte nie einen wirklichen Job gehabt. Er stammte aus einer langen Reihe von Gelehrten und rabbinischen Gestalten. Seine Familie hatte sich schon immer in der zionistischen Bewegung engagiert; sein Großvater Ben hatte Waffen für Israel besorgt, bevor Israel ein Staat war. Die Familie Katz betrachtete soziales Engagement als Pflicht und Verantwortung. Im Grunde waren sie die jüdischen Kennedys. Je besser ich Jonathan kennenlernte, desto klarer wurde mir, daß auch er etwas zu beweisen hatte, er wollte seine Jahre des Versteckspiels wiedergutmachen, darunter auch die Zeit als Vorsitzender der Studentenschaft an der George Washington University.
In wenigen Monaten würde Jonathan Katz als Sprecher von Queer Nation eine Aktion gegen Hollywoods größte Machtmakler, darunter Michael Douglas, vor der Öffentlichkeit vertreten. Dieser Konflikt stieß auf internationales Medienecho, und Jonathan erschien in Bild und Wort in regionalen und überregionalen Zeitungen und Zeitschriften, unter anderen Time, Premiere und Vanity Fair. Er wußte, daß sich zwar nur wenige Leute wirklich für die wichtigen Gerichtsurteile zu lesbisch-schwulen Bürgerrechten interessierten, aber Millionen verließen sich in ihrer Meinungsbildung und ihrer Weltanschauung auf Fernsehtalkshows und Entertainment Tonight, die Sendung mit Klatsch und Tratsch aus Hollywood.
Doch im Augenblick konzentrierte sich Jonathan auf das seiner Ansicht nach intellektuelle und kulturelle Zentrum unserer Gesellschaft - die Einkaufspassage - und stellte die SHOP-Aktion der Versammlung vor. »Wir fordern, daß sie uns als offene Queers durch eine Einkaufspassage gehen lassen. Und wir sagen: >Wir sind nicht wie ihr. Wir wollen nicht sein wie ihr. Gewöhnt euch dran.<«
Die Gruppe begann zu singen, und schnippende Finger akzentuierten den Queer-Rap:

Wir sind hier.
Wir sind queer.
Jetzt gewöhnt euch dran.
Wir sind hier.
Wir sind queer.
Wir sind wunderbar.

Die Versammlung teilte sich in verschiedene Arbeitsgruppen auf, um Aktionen zu planen. Ich schloß mich der «MTV: Umschalten!«-Gruppe an, die gegen das Sendeverbot des Musikvideokanals von Madonnas Video »Justify my Love« protestieren wollte. Die Gruppe wurde geleitet von einem Mädchen in Lederjacke mit einem großen Sticker auf dem Rücken: WENN DIR DIE NACHRICHTEN NICHT GEFALLEN, MACH DOCH SELBER WELCHE!
»In diesem Video wurden Queers positiv dargestellt, es kamen zum Beispiel Frauen in Männerkleidern vor oder männliche und weibliche Bisexualität«, sagte sie. »Deswegen wurde es verboten.«
Ein Videorecorder wurde eingeschaltet, und das berühmte Madonna-Interview mit Forrest Sawyer in der Sendung Nightline wurde vorgeführt, damals gerade ein oder zwei Tage alt. Mindestens einhundert Mitglieder von Queer Nation drängten sich vor dem Bildschirm. Als der Interviewer feierlich zu der Anschuldigung anhob, es gebe da »bisexuelle Zwischentöne«, hallte die Luft vom Schnippen der Finger wider. Queer Nation lag Madonna zu Füßen, als sie erläuterte, »Justify my Love« sei ein Ausdruck ihrer Sexualität. Als nächstes zeigte Nightline dieses Video, worin Madonna im Marilyn-Monroe-Look das Reich ihrer sexuellen Phantasien durch einen sterilen weißen Korridor betrat. Als sie verkündete: »I want to kiss you in Paris«, tanzte Queer Nation mit schwingenden Hüften. Ich ließ meinen Blick durchs Auditorium schweifen. Lebhaft diskutierende Gruppen planten bizarre Aktionen, die einige Leute wütend machen, andere begeistern würden. Mit großer Wahrscheinlichkeit würden sie in den Nachrichten landen. Es war eine andere Welt, und in vielerlei Hinsicht ging es weit übers Lesbisch- und Schwulsein hinaus.
Trauben von Transsexuellen vermischten sich mit lederjackigen Anwälten des zivilen Ungehorsams, und ein Weihnachtsmann im lila Kostüm stellte eine Liste auf, wer wann Dienst hatte, um vor dem Luxuskaufhaus Neiman-Marcus Weihnachtsglöckchen klingeln zu lassen. Das ganze Geld, das die lila Weihnachtsmänner dort sammelten, sollte einem Frauenhaus für mißhandelte Frauen und Kinder gespendet werden.
Auf der Mattscheibe hastete Madonna den Korridor entlang, biß sich spielerisch in den Daumen und schüttelte die Hand mit einer typisch italienischen Geste für »heiße Kiste«. Der ganze Saal schnippte applaudierend mit den Fingern, als ein Mitglied von Queer Nation Madonnas Motto für dieses Video verlas: »Armselig ist der Mensch, dessen Vergnügen von der Erlaubnis eines anderen abhängt.« Zu dem Nightline-Interview erschien Madonna, die Sinn für Verkleidungen hat, mit leuchtendroten Lippen und einem konservativen schwarzen Kleid mit hohem Kragen, der nur ein dreieckiges Stück Hals zeigte. Sie hatte ihr Haar hochgesteckt, als wäre sie eine reiche Matrone von der New Yorker Park Avenue. Queer Nation war still, fast verehrungsvoll. Madonna war schlicht umwerfend. »Warum ist es kein Problem, wenn Zehnjährige sich anschauen, wie der Körper eines Menschen in Stücke gerissen wird? Wann beschäftigen wir uns mal damit? Warum findet keiner was dabei? Warum haben Eltern kein Problem damit? Und warum haben sie Probleme, wenn zwei Erwachsene, die Lust dazu haben, ihre Zuneigung füreinander zeigen, ganz gleich, welchen Geschlechts sie sind?«
Das Schnippen und Johlen knisterte unter dem Lotos-Kronleuchter, der andersrum war, und ich ertappte mich dabei, wie mein Arm hochging, meine Finger schnippten. Schnell nahm ich ihn wieder runter. Keiner achtete auf mich, aber ich fühlte mich lächerlich und, ja, wunderbar! Es war meine »verqueere« Entrückung.

»Das sind verantwortungslose, verwöhnte Gören.«
»Die zerstören alles, was wir aufgebaut haben.«
»Siebzig Prozent von denen sind HIV-negativ, deshalb haben sie genug Zeit, in Einkaufspassagen rumzuhängen.«
»Die haben keine Ahnung von Politik.«
»Sollten sich lieber >Club der Erbinnen< nennen.«
»Die sind gefährlich.«
»Zungenküsse in der Straßenbahn, und das in der City! Was sollen die Touristen denken?«
»Es geht denen doch nicht um Bürgerrechte. Denen geht es um Exhibitionismus.«
»Die wollen bloß ihr Bild in der Zeitung sehen.«
»Das ist doch destruktiv.«
»Die kennen ihre eigene Geschichte nicht.«
»Sie sind schlechte Menschen.«
»Vor allen Dingen Jonathan. Jonathan Katz ist ein schlechter Mensch.«
Wer so redete, war nicht die radikale Rechte. Es waren gewisse moderate Schwule und Lesben und auch einige der Fortschrittlichen, die sich hübsche kleine Nischen gesucht und heterosexuellen Politikern, welche nicht gegen lesbisch-schwule Bürgerrechte waren, zahllose Gefallen getan hatten. Natürlich waren es nicht die Leute auf der Straße, die sich zehntausend Gebetskriegern entgegenstellten, welche in unsere Stadt gekommen waren, um uns den Teufel auszutreiben. In Wahrheit konnte das Establishment nicht so handeln und gleichzeitig seine Positionen beibehalten. Politik gründet auf Kompromissen, und das genau verweigerte Queer Nation, weil Queer Nation es nicht nötig hatte. Was würde Harvey dazu sagen?
Das konnte ich nicht beantworten, aber ich hielt es für richtig, mich dorthin zu begeben, wo sich etwas bewegte. Zu einer Zeit, als der Aids-Quilt wie eine wilde Decke des Todes wucherte, als lesbische und schwule Familien gegen das Rechtssystem kämpfen mußten, um ihre Kinder vor der Haßpolitik der »Koalition der traditionellen Werte« zu beschützen, die unsere Regierungen - von den einzelnen Staaten bis zum Weißen Haus in Washington - beeinflußte: Da gab es für mich wirklich keinen anderen Platz als dort, in jenem Saal von Queer Nation. Ich fühlte mich ihnen vielleicht nicht zugehörig, aber ich wollte mitmachen, und zwar indem ich ihre Aktionen auf Video filmte. Die Gegenwart einer Videokamera konnte oftmals Gewalttätigkeiten der Zuschauer oder Überreaktionen der Polizei abmildern.
Während meine Freundinnen sich ein Match von Martina Navratilova anschauten oder zu einem Dinah-Shore-Konzert nach Palm Springs runterfuhren - gute alte lesbische Freizeitbeschäftigungen, gegen die ich absolut nichts habe -, wußte ich, dieses Jahr gehörte ich in das Shopping Center von Cupertino, zusammen mit dem »schlechten Menschen« Jonathan Katz.

Ganz in Schwarz, verfolgte ich durch das Auge meiner Videokamera die Aktivisten von Queer Nation auf ihrem Weg in die Einkaufspassage. Durch die Linse sah alles schwarzweiß und ziemlich unwirklich aus, wie eine Wochenschau aus der Zukunft. Bei der letzten Aktion in einem Shopping Center hatte ein Sicherheitsbeamter Jonathan auf den Kopf geschlagen, und diesmal hatte er sich dagegen abgesichert, daß es wieder passierte, indem er einen Anwalt mitnahm und einige »Bullenblockierer« und »Wütende-Kunden-Blockierer« ernannte. Die größte Sorge machten ihm etwaige unprofessionelle Polizisten, die zu Überreaktionen neigten und in Sachen Verfassung nicht den großen Durchblick hatten.
Die Gruppe trug ein weißes Spruchband mit rosa Winkeln und schwarzen Lettern: YEAR OF THE QUEER-1991. Vielleicht war die Aktion so beliebt - fast dreißig Männer und fünf Frauen nahmen daran teil -, weil jeder als Star auftrat. Jeder kam an die Reihe, über den eigens aufgebauten glitzernden Pseudo-Laufsteg zu paradieren, seinen Ersatzeltern gegenüberzutreten und vielleicht auch den eigenen Ansichten über Schönheit.
Sie sangen »It's a Queer World after all«, als wir an Lichtschienen im Boden entlang durch den Trichtereingang ins Zentrum der großen Einkaufspassage vorstießen. Das Lied zog Kunden und Verkäufer aus den Geschäften an, Publikum für die Aktion. Die Kinder der Kunden waren begeistert und hüpften neben uns her. Die Eltern waren nicht ganz sicher, was sie tun sollten, kamen aber mit. Junge Heteropaare standen Hand in Hand da, mit offenem Mund starrend. Ich beobachtete alles, in Sicherheit auf der anderen Seite meiner schwarz-weißen Videowelt.
Lächelnde, aber verblüffte, weiche, weiße Gesichter wandten sich der Show zu. Das Weihnachtsdekor der Passage, Grün und weiße Miniaturlichter, lieferte eine festliche Atmosphäre, und die hohen Decken der Konsumkathedrale ließ die Stimmen der Sänger widerhallen, als Queer Nation die Rolltreppe nach unten nahm.
Die Eltern rochen keine Gefahr, weil das Ganze wie ein Zirkus daherkam. Alles geschah vollkommen offen. Es war schön und spielerisch, es gab keine geheimen, dunklen Seitenstraßen, nur massenweise Modeschmuck und einen Regenbogen der Farben. Die Kunden schlenderten mit ihren Kindern auf die Show zu, viele standen an der Balustrade im Obergeschoß und schauten herab. Meine Kamera schwenkte auf und nieder und fing die Bilder ein, und ich fühlte mich, als triebe ich in einem Fischglas.
Jonathan hatte seinen Auftritt in einem weißen Dinnerjackett, dazu trug er schwarze Hosen und eine Fliege und hatte einen Seidenschal aus den zwanziger Jahren um den Hals geschlungen.
»Wir möchten Ihnen helfen, Schwule und Lesben zu identifizieren«, verkündete er. Einige der Kunden machten verdutzte Gesichter. War das eine homophobe Haßgruppe, oder waren das echte Homosexuelle? Auf manchen Gesichtern lag keine Verwirrung: Sie gehörten den Lesben und Schwulen, die in der Passage arbeiteten. Wir konnten sie erkennen, obwohl die meisten von ihnen vermutlich für ihre Arbeitgeber unsichtbar waren. Sie trauten ihren Augen kaum und konnten nicht aufhören zu grinsen.
Jonathan präsentierte den Go-go-Boy, den geklonten Bodybuilder und dann das Internationale Versandkatalog-Model. Diese Rolle hatte sich John Woods ausgedacht, der einzige Schwarze in der Gruppe. John kam aus einer Welt, die das genaue Gegenteil zu Jonathan darstellte. Er wurde 1963 als eines von fünf Kindern in Tennessee geboren. Seine Mutter erzog sie allein, von elftausend Dollar im Jahr, die sie als Hausmeisterin verdiente. Bis zur neunten Klasse war John ein Störenfried. Er war auf einem Auge blind; die anderen Kinder nannten ihn »Schielauge«. Als Reaktion darauf lief er mit einem nachgemachten Schlagring herum und wurde zu einem kleinen Piesacker, dessen Aggressivität ihm Stärke gab.
Seine Mutter bat ihn irgendwann nicht mehr, mit den Lebensmittelgutscheinen von der Sozialhilfe in den Supermarkt zu gehen, weil sie wußte, daß es ihm peinlich war. Schließlich entdeckte ihn ein Lehrer und half ihm, seinen Grips zu entwickeln. Er war vollkommen fixiert auf Selfmademen: Elvis, Sammy Davis Jr., Howard Hughes. Er las alles, was er kriegen konnte, und war von den Medien fasziniert. Er machte jeden Abend zu den ABC-Nachrichten mit religiöser Inbrunst Sprechübungen vor dem Fernseher. Er wußte, als armer Schwarzer mit einem breiten Akzent aus Tennessee würde er nicht weit kommen.
John Woods wollte alles, und er wollte es sofort, und mit weniger würde er sich nicht zufriedengeben. Und bitte sehr, da paradierte er als »Internationales Versandkatalog-Model« der SHOP-Aktion im Shopping Center von Cupertino, weit und breit der einzige Schwarze. Durch die Linse meiner Kamera hatte ich ihn auf der Hinfahrt im Zug beobachtet, während er mehrere Kataloge durchblätterte. Nachher erzählte er mir, er hätte nach einem Vorbild gesucht, das ihm ähnlich war, aber es gab nicht einen Schwarzen darin.
Als er singend in die Passage kam, fühlte er sich merkwürdig stark und nervös zugleich, wie er sagte. Er wußte nicht recht, was ihn erwarten würde. Nun, da er sich herumdrehte und seinen Pullover vorführte, wurde ihm plötzlich unangenehm bewußt, daß ihn alle Leute anstarrten. The show must go on, dachte er, aber er fühlte sich auffällig und verletzlich.
John Woods sollte noch lange bei Queer Nation bleiben. Er übernahm die Abteilung Medien. Er wollte das Spielfeld nicht den weißen Männern überlassen. Er war es vor allem, der die Homophobie und den Rassismus der Pfadfinder in den Mittelpunkt des landesweiten Medieninteresses rückte, und er brachte praktisch im Alleingang die Wohlfahrtsorganisation Bay Area United Way dazu, ihre Spendenpolitik zu überdenken und schließlich den Pfadfindern ihre finanzielle Unterstützung völlig zu entziehen. Als er unter dem heiseren Gejohle der anderen Modepuppen mit einer abschließenden Drehung den Laufsteg verließ,
ahnte er garantiert noch nicht, daß ihm das in wenigen Monaten gelingen würde.
Jonathan und John hatten stets ein gespanntes Verhältnis zueinander. Zwar respektierten sie sich gegenseitig, aber sie verstanden den anderen nicht, und es ist schwer, jemandem zu trauen, wenn man sich nicht in ihn hineinversetzen, sich nicht vorstellen kann, mit seinen Augen zu sehen und mit seinem Kopf zu denken.
Jonathan stellte die Statussymbol-Tunte, die Transsexuelle und den Guppie (den schwulen Yuppie) vor. »Vielleicht fällt er Ihnen auf der Straße nicht auf, aber wir haben ihn zu Ihrer Unterhaltung hierhergebracht.« Der Country-Western-Fan, der Althippie, die radikal-esoterische schwule Fee... »Die Butch-Femme-Kombination: Tarnrock und Kampfstiefel.« Die Luppies (die lesbischen Yuppies). »Achten Sie auf das Kostüm der Macht. Dazu die Aktentasche. Die vergißt sie nie. Die ist ihr an die Hand geschweißt...« Die wunderhübsche Lippenstiftlesbe. Der geklonte Castro-Bewohner. »Beachten Sie den Schnäuzer, Ausstellungsstück A. Die Jeansjacke, Ausstellungsstück B. Das schwarze Tuch in der Gesäßtasche. Was das bedeutet? Er lebt in der ewigen Zeitschleife der Siebziger und will das Castro-Viertel nie verlassen. Deshalb mußten wir ihn besonders ermutigen, hierher nach Cupertino zu kommen.« Der Neue Klon. »Er wird niemals ohne seine Pfeife, seine Lederjacke und das schwarze Halstuch gesehen. Ledergürtel und Blue Jeans. Das ist das ganze Outfit und auch das einzige. Erledigt die Kleidungsfrage ein für allemal.«
Die Menge war gebannt, die Leute lächelten, lehnten sich über die Balustrade, um besser sehen zu können, während die Models einander anfeuerten.
»Was können wir über Tracy sagen? Sie hat den besten Plastikschmuck der ganzen Westküste, und sie ist Klempnerin!«
»Und schließlich der untypische Schwule.«
Vollkommen unauffällig in seinem Sweatshirt, stand ein junger Mann in der Mitte der kreisförmigen »Bühne« und winkte den Kunden auf der Balustrade über unseren Köpfen zu.
»Ihr denkt vielleicht, ihr könntet erkennen, wer homosexuell ist und wer nicht«, sagte er, »aber das ist falsch. Ihr könnt es nicht. Wir sind eure Freunde. Eure Brüder. Eure Schwestern. Wir sind eure Kinder. Aber wir haben Angst, uns zu offenbaren, weil wir Angst haben, daß ihr uns ablehnt. Doch das solltet ihr nicht tun, denn wir verdienen eure Liebe, genau wir ihr unsere verdient.«
Er zog sein Sweatshirt aus und enthüllte ein Queer-Nation-T-Shirt. Die anderen Models klaschten wild, und ein paar Köpfe nickten Zustimmung von der Balustrade herunter.
»So«, sagte Jonathan, »und jetzt zeigen wir Ihnen, wie es aussieht, wenn zwei Frauen und zwei Männer sich küssen, damit Sie das nächste Mal, wenn Sie es in der Öffentlichkeit zu sehen kriegen, nicht hinstarren müssen und keine verächtlichen Bemerkungen machen.«
Das Kiss-in fing an. Meine Kamera verweilte nur sehr kurz bei den Küssenden und nahm um so ausführlicher die Zuschauer auf. Bei jedem Kiss-in verkrampfte sich etwas in mir, ganz gleich, wie oft ich es mit ansah, weil das der Augenblick der größten Verletzlichkeit für die Demonstrierenden war. Sie konnten nicht sehen, wer hinter ihnen war. Es war ganz besonders der Kuß, der die Homophoben rasend machte, und der Kuß wollte kein Ende nehmen. Warum taten sie das? In New York wurde beim Kiss-in dem Partner nur ein netter höflicher Schmatz verpaßt, aber zum Leidwesen meiner Nerven entschied sich San Francisco für den Zungenkuß. Immer wenn Zuschauer etwas riefen oder angewidert oder schockiert aufstöhnten, küßten sich die Queers nur noch heftiger. Gerade als ich dachte, sie wollten gar nicht mehr aufhören, winkte Jonathan dem Publikum zu und sagte: »Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und alles Liebe!«
Ein junger Mann schrie Jonathan von der Balustrade aus zu: »Hey Schwuchtel!«
Jonathan, merkwürdig schneidig in seinem eleganten Abendanzug mitten am Tage, zeigte mit dem Finger auf den Teenager und gab zurück: »Herr Schwuchtel, bitte!«
Die Aktivisten verteilten sich überall im Shopping Center und verteilten die vorbereiteten Flugblätter.

Heterosexueller Fragebogen

  1. Was hat Ihrer Meinung nach Ihre Heterosexualität hervorgerufen?
  2. Die meisten Kinderschänder sind heterosexuell. Halten Sie es für unbedenklich, wenn Ihre Kinder mit Heterosexuellen in Kontakt kommen, insbesondere mit heterosexuellen Lehrern?
  3. Kommt Ihre Heterosexualität vielleicht von einer neurotischen Angst vor Menschen Ihres Geschlechts? Vielleicht fehlt Ihnen nur eine positive homosexuelle Erfahrung.

Die Einkäufer erhielten Fotokopien von »Wie man Schwule erkennt«
- das war die Parodie eines kürzlich erschienenen Artikels aus der Boulevardpresse, in dem Elektroschocks empfohlen worden waren, um verdächtige Teenager zu »kurieren« - sowie eine eigens zusammengestellte »Ähnlichkeits-Checkliste«, die Heterosexuelle darauf hinwies, wenn sie in Kleidung oder Frisur unabsichtlich lesbisch oder schwul wirkten.
Jonathan ging ins Kaufhaus Sears und verteilte Flugblätter unter dem Personal. Das war gegen die Bestimmungen des Shopping Centers, aber er konnte das Provozieren nicht lassen. Er ging in die Abteilung für Haushaltsgeräte und überreichte einem Verkäufer ein leuchtend rosa Blatt. Dessen Augen füllten sich mit Tränen.
»Vielen Dank, daß Sie gekommen sind«, sagte er, »hier war noch nie jemand.«
Der Verkäufer war ein versteckter Schwuler, und der Zettel, den Jonathan ihm gegeben hatte, war mit Abstand der heikelste. Das Sicherheitspersonal hatte schon versucht, ihn zu konfiszieren, allerdings ohne Erfolg.

ELTERN, MISSBRAUCHT IHR EURE KINDER?

Erfüllt Ihr Heterosexismus Ihre Kinder mit Scham und Selbsthaß? Wußten Sie, daß mehr als ein Drittel der Selbstmorde Jugendlicher dadurch motiviert sind, daß das Kind überzeugt war, seine/ihre Eltern würden seine/ihre Sexualität schändlich und falsch finden? SIE LIEBEN IHR KIND! Machen Sie Ihrer Tochter klar, daß Sie sie immer lieben werden - ganz gleich, wen sie liebt. Erklären Sie Ihrem Sohn, daß Sie immer zu ihm stehen werden und sich über sein Glück und seine Liebe freuen werden - ganz gleich, ob er es mit einer Frau oder einem Mann findet.

LASSEN SIE NICHT ZU, DASS HOMOPHOBIE IHNEN IHR KIND
WEGNIMMT!

Ich filmte einen wutentbrannten Mann im mittleren Alter, der den rosa Zettel zusammenknüllte und mit rotem Gesicht und zitternden Armen auf den Boden knallte. Die meisten Frauen lasen das Papier jedoch, falteten es zusammen und steckten es mit einem nachdenklichen Blick auf ihre Kinder ein.

Am 2. Januar 1991, dem nächsten Mittwochstreffen von Queer Nation, bekam die SHOP-Aktion rauschenden Applaus, und das »Year of the Queer« wurde noch einmal verkündet. Die Vorbereitung von Pete Wilsons Amtseinführung sollte behindert werden, indem die Telefonanschlüsse seines Vorbereitungskomitees ständig von den Aktivisten angerufen und dadurch blockiert wurden. Die Arbeitsgruppe für diese Aktion hieß »Indignierte Queers«, kurz IQ. Es war unglaublich, aber bei der Gala sollte Gallagher auftreten, der Schauspieler, der in seiner Nummer gesagt hatte, ein guter Amerikaner würde »Schwuchteln verbrennen, keine Fahnen« (burn fags, not flags). Inzwischen hatte sich sein Repertoire erweitert; er besprühte nun das Publikum mit Silly String, abwaschbarem Plastik aus der Sprayflasche, und sagte dazu: »Das ist Aids aus der Dose. Jetzt brauchen Sie keine Schwuchtel mehr zu fkken, um es zu kriegen.«
Auf dem Flugblatt der IQ-Gruppe standen die Nummern von drei Büros: das Vorbereitungskomitee, Wilsons Wahlkampfzentrale und sein Senatorenbüro in San Francisco. Als die Aktion eskalierte, sagte Wilsons Pressesprecher Dan Schnerr: »Wir wurden erst nach der Programmauswahl auf Mr. Gallaghers Nummer hingewiesen. Wir haben ihm durch seinen Manager mitteilen lassen, daß schwulenfeindliche Äußerungen keine geeignete Form der Unterhaltung für unsere Feierlichkeit darstellen.« Queer Nation fand dieses Statement zum Schreien, denn es besagte, daß diese »Form der Unterhaltung« für bestimmte Anlässe durchaus geeignet sein konnte.
Als nächster Redner trat ein junger Mann namens Robert White nach vorn. Mit militärischer Leidenschaft verkündete er, er werde bald in den Nahen Osten ausgeschifft, in Alarmbereitschaft für den Golfkrieg. Er sagte, wir dürften, ganz gleich, was wir über den Krieg dächten, nicht vergessen, wie viele Homosexuelle bereit seien, für unser Land zu kämpfen und zu sterben. Das war ein sehr eigentümlicher Augenblick in der Geschichte von Queer Nation, weil sehr deutlich wurde, daß es nicht nur eine Meinung in der Gruppe gab. Die einzige Aufnahmebedingung war, daß man sich dazu entschloß, Mitglied zu werden, indem man erklärte, queer zu sein, und das konnte auch sexuell vieles heißen.
Von nun an wurde der Ton des Abends zänkisch. SHOP sei ja bezaubernd gewesen, meinte ein Mann in Leder und Perlen, aber eine richtige Aktion sei das ohne Verhaftungen nicht. Andere waren nicht seiner Meinung, Sichtbarkeit sei wichtig, keine Verhaftungen. Plötzlich entstand ein Wettgeschrei: Ob das hier eine Gruppe für direkte Aktionen sei oder ein allgemeines Vorsprechen für Talkshows? Die Femmes waren stinksauer, daß nur Macho-Aktionen als revolutionär betrachtet wurden.
Ein junger Mann namens Marty Mulkey, mit langem braunen Haar und einem Ohrring in der Augenbraue, informierte die Anwesenden darüber, daß ACT UP/New York eine Aktion namens »Tage der Verzweiflung« plane, die zeitlich mit Präsident Bushs Bericht zur Lage der Nation zusammenfallen sollte. Sie wollten versuchen, Grand Central Station und alle Verkehrsadern nach New York City hinein dichtzumachen, und sie wollten, daß Queer Nation hinter dieser Aktion stand. Fingerschnippen und Kopfnicken drückte allgemeine Zustimmung aus, auch wenn die Birkenstocklesben und die Operntunten etwas zögerlich wirkten. Angesichts des kommenden Krieges verbreitete der FBI über die Medien Beschreibungen potentieller Saboteure und möglicher, katastrophaler Terroristenangriffe auf amerikanische Großstädte. Die Totalblockade aller Zufahrtsstraßen nach New York City gehörte nicht mehr in die Kategorie »spielerisch«.
Ein großer Mann - in der Woche zuvor war er in einem trägerlosen Kleid und Federboa erschienen, heute trug er Standard-Lederkluft mit Stickern - erhob sich zu seiner Größe von 1,90 und schlug vor, eine Arbeitsgruppe zu bilden, die das Abschalten aller internationalen Telefonleitungen für einen Tag bewerkstelligen sollte. Darauf kam aber nur mäßiges Interesse. Sodann kündigte er an, ACT UP/San Francisco werde am 15. Januar 1991, wenn das Ultimatum an Saddam Hussein für seinen Rückzug aus Kuwait ablief, den »Tag des Desasters« begehen. Sie wollten versuchen, alle Züge des öffentlichen Nahverkehrs von und nach San Francisco zu blockieren. Auf den Gesichtern der geklonten Bodybuilder, der Statussymboltunten, der Luppies und der Lippenstiftlesben war große Verblüffung zu lesen, als er sagte, dies sei »Mega-ZU«. ZU stand für Zivilen Ungehorsam, inklusive Verhaftung.
Die Arbeitsgruppe DORIS-SQUASH teilte mit, sie wollten alle Medien, auch Radiostationen und Talkshows, dazu zwingen, Themen zu behandeln, die queer waren. Die Discotunten, Sportlehrer und Country-Western-Cowgirls kicherten.
Queer Peace[11] verkündete, daß sie am Tage, wenn Bushs Krieg beginnen sollte, gemeinsam mit anderen Anti-Kriegs-Gruppen San Franciscos Federal Building, das Bundesbehördenhaus, schließen wollten. Queer Peace würde für die Seite des Gebäudes verantwortlich sein, die an der Polk Street lag, und dort einen sicheren Raum für Queers schaffen. Einige der Antikriegsprotestler aus anderen Gruppen waren nämlich offenbar wilde Heteromachos, denen es gar nicht in den Kram paßte, neben Fummeltrinen zu demonstrieren.
Jonathan bat alle, die an der PUC-Aktion bei der Amtseinführung des Gouverneurs teilnehmen wollten, weitgeschnittene Kleidung zu tragen, damit sie Infomaterial hineinschmuggeln konnten, das sie später an die Teilnehmer verteilen konnten. Das fanden die Pullovertunten und die radikal-esoterischen schwulen Feen besonders spannend.
All diese Kundgebungen, im Grunde eine militante Wunschliste, wurden offen in einem Saal mit weit über vierhundert Leuten geäußert. Auch der Rang war inzwischen voll. Es war kaum zu fassen, daß die Veranstalter sich darauf verließen, keiner aus diesem Raum würde die geplanten Aktivitäten der Polizei melden. Die Mitglieder von Queer Nation gaben bei jeder Arbeitsgruppe ihren Namen, ihre Telefonnummer und den Ort strategischer Treffen (meistens das Haus oder die Wohnung von irgend jemandem) an die Queerline weiter, eine Telefonnummer, die jeder zu Infozwecken anrufen konnte. Die Polizei wäre überraschend unfähig gewesen, wenn sie die nicht im Blick behalten hätte.
Die Tagesordnung war chaotisch. Ich machte mir Sorgen über Queer Nation, vor allem wegen der jüngeren Mitglieder, die in etwas hineingerieten, das sehr leicht explodieren konnte. Es waren Leute von der RCP (Revolutionäre Kommunistische Partei) und der RWL (Revolutionäre Arbeiterliga) anwesend, die versuchten, sich Queer Nation wie so viele andere lesbische und schwule Basisgruppen einzuverleiben. Ich befürchtete, der Adrenalinstoß der gemeinsamen Offenheit bei Aktionen wie SHOP könnte verloren gehen. Die Tagesordnung war nicht nur chaotisch, es war schwierig festzustellen, wer sie überhaupt aufgestellt hatte.
Eine neue Arbeitsgruppe wurde gebildet und »Sybil« genannt, nach dem berühmtesten Fall multipler Persönlichkeit. Sybil hatte natürlich gar kein Arbeitsziel und wollte sich einfach auf dem Bürgersteig treffen. Ein merkwürdig passendes Ende für diesen Abend.
Ich fuhr nach Hause. Cheryl und Jesse schliefen schon. Ein Brief lag offen auf dem Küchentisch. Am 14. Januar um neun Uhr würde das Gericht entscheiden, ob es einen Hausbesuch anordnen wollte. Komisch, aber ich fühlte nichts. Ich hatte dichtgemacht.
Später, in den frühen Morgenstunden, explodierte eine Bombe am verlassenen Frauenhaus und zerstörte die Eingangstüren. Fünf Meter dahinter lag der Saal, wo sich Queer Nation immer traf. Bei dem Queer-Nation-Treffen am 9. Januar sah ich, wie eine Frau in einem Trenchcoat unter der Bühne hervorkroch und ihren Platz unter den Teilnehmern aufsuchte. Die diensthabende Frau vom Frauenhaus sagte, sie hätten zahlreiche Bombendrohungen speziell für unsere Gruppe bekommen. Es sei ihre Pflicht, uns zu warnen, damit jeder gehen konnte, dem das lieber war. Ein Bombenhund war nicht eingesetzt worden, und es waren auch keine Sprengstoffexperten da gewesen, aber Officer Sally de Haven, die Frau im Trenchcoat, war an diesem Abend zum Treffen gekommen, weil Freunde von außerhalb sie gebeten hatten herauszufinden, was Queer Nation eigentlich war. De Haven vom Polizeirevier im Mission-Viertel war den Betreibern des Frauenhauses bekannt, und sie hatten sie gebeten, den Saal zu durchsuchen. Das Treffen fing an, und die Veranstaltungsleiter fragten wie immer, ob Polizeibeamte, Überwachungsagenten oder Medienvertreter anwesend seien. Sally De Haven meldete sich und forderte die Teilnehmer auf, keine Taschen unbeaufsichtigt zu lassen, da sie erstklassige Bombenverstecke seien.
Auf der anderen Seite des Gangs, direkt hinter mir, stand Officer Lea Militello auf und meldete sich. Ich erinnerte mich, sie beim Gedenkmarsch für Harvey Milk gesehen zu haben, wo sie sich den Demonstranten angeschlossen hatte, anstatt am Rand zu bleiben. Heute abend war sie in Zivil. Obwohl sie ohne besonderen Grund gekommen war, ließen sich die Radikalen im Saal nicht davon überzeugen. Militello hatte schon einmal auf einem Treffen über einen Angriff auf einige Mitglieder von Queer Nation berichtet, und zwar in voller Uniform, mit Waffe und Schlagstock an der Hüfte. Die Atmo-Wächter hatten das Treffen unterbrechen müssen. Die Anwesenheit von Polizei im Saal hatte diejenigen empört, die Aktionen des zivilen Ungehorsams planten, denn alle Polizeibeamten waren per Weisung der Polizeidirektion gehalten, geplante Gesetzesverstöße zu melden, wenn sie davon erfuhren, ganz gleich, ob im Dienst oder nicht. Und das Abschalten internationaler Telefonleitungen, die Blockade des öffentlichen Nahverkehrs, die Besetzung des Federal Building oder die Unterstützung und Ermutigung der Blockade aller Verkehrsadern nach New York City fallen meines Erachtens schon unter diese Kategorie.
Lea Militello stand auf und sagte, ja, sie sei Polizeibeamtin, aber Queer Nation schließe doch niemanden aus. »Ich bin queer«, sagte sie, und sie hatte nicht ganz unrecht. Die Gruppe stand vor einem schweren Dilemma.
Lea Militello war außerdem Verbindungsfrau der Polizei zur lesbisch-schwulen Szene, und sie hatte einen Abschluß in Kriminalrecht. Sie war zweiunddreißig und hatte schon eine Tapferkeitsmedaille sowie drei lobende Erwähnungen vom Polizeibeauftragten des Bürgermeisters erhalten. Sie und ihr weiblicher Partner auf Streife hatten 1983 die Medaille bekommen, weil sie unblutig einen des Raubes Verdächtigen überwältigt hatten, der mehrfach versuchte, sie zu erstechen. Eine lobende Erwähnung erhielt sie dafür, daß sie einen als Nikolaus verkleideten Mann entwaffnet hatte, der gedroht hatte, einige Kinder zu töten. Sie beschrieb ihn als »einen Irren, der zufällig ein Beil und eine Flinte hatte«. Lea Militello war 1,67 groß und hatte einen Garfield-Sticker auf den Griff ihrer Magnum geklebt. Sie war schon oft in die Situation gekommen, den Revolver zu ziehen, aber sie hatte noch nie schießen müssen. Darauf war sie stolz.
Sie war im Jahr nach den Morden an Harvey Milk und George Moscone zur Polizei gekommen. Als bekannt wurde, daß sie lesbisch war, bekam sie »Präsente«, wie sie es nannte, in ihr Postfach. Nur Mitglieder der Polizei kamen an diese Postfächer heran. Zu diesen »Präsenten« gehörten gebrauchte Kondome und gleitgelbeschmierte Dildos. Manchmal wurden auch die Funkgeräte von Polizistinnen vom Sendeverkehr abgeschnitten, so daß sie keine Verstärkung anfordern konnten, falls sie welche brauchten. Das war schon kein beleidigendes Verhalten mehr, sondern lebensgefährlich. Später war Lea an der Erarbeitung von Anti-Diskriminierungs-Richtlinien beteiligt, die sich auch auf Diskriminierung wegen der sexuellen Präferenz erstreckten. An einem Lehrgang für ein verbessertes Verständnis von Minderheiten wirkte sie ebenfalls mit. Lea hatte vor kurzem ihren neunten Jahrestag mit ihrer Freundin gefeiert und war die nichtbiologische Mutter eines Jungen namens Ryan.
Und im Januar 1991 war Officer Lea Militello fest entschlossen, als Aktivistin bei Queer Nation akzeptiert zu werden, wenn auch als eine, die bei der Polizei war. Allerdings würde sie nie an einer Aktion des zivilen Ungehorsams teilnehmen, sie wollte innerhalb des Systems arbeiten. Da sich Queer Nation als Gruppe definierte, die Einigkeit unter allen fördern wollte, konnte niemand per se ausgeschlossen werden, auch keine Polizistin.
Ich meldete mich zu Wort. »Ich mache mir keine Sorgen über diejenigen, die sich gemeldet haben. Wir kennen sie sowieso. Wir sollten uns lieber Gedanken über diejenigen in diesem Saal machen, die sich nicht melden.« Ich meinte die Revolutionäre Arbeiterliga genau so gut wie das FBI. Fingerschnippen, weiterer Dialog. Die junge Frau, die für das Gebäude verantwortlich war, kam wieder, um uns mitzuteilen, daß eine neuerliche Bombendrohung eingegangen war, so daß wir uns entscheiden mußten, ob wir bleiben oder gehen wollten.
»Eins will ich Ihnen sagen«, fügte sie hinzu, »diese Polizistinnen bleiben hier, und wenn sie in der Eingangshalle stehen, es sei denn, ihr habt eine Arbeitsgruppe, die Bomben entschärfen kann.«
Den Birkenstocklesben stand der Mund offen, die Geklonten schuffeiten in ihren Kampfstiefeln unruhig hin und her, und eine Transsexuelle betrachtete nachdenklich eine Haarklemme, mit der sie nervös zwischen ihren langen Fingern herumspielte. John Woods beobachtete alles sorgfältig und sagte gar nichts. Er empfand die Anwesenheit der Polizei nicht automatisch als Ausverkauf an den Staat, und er hatte absolut nicht die Absicht, je verhaftet zu werden; als junger schwarzer Homosexueller konnte er an einer Verhaftung nichts Romantisches oder Anziehendes finden.
Jonathan saß auf seiner Stuhlkante. Er sah aus, als wollte er gleich abheben, und machte ein unglaublich glückliches Gesicht. Die Anwesenheit einer Polizistin, die sich als queer zu erkennen gab, stellte ihn vor ein intellektuelles Problem. Das soziale Laboratorium namens San Francisco hatte ihm den Beweis geliefert, daß auch der Griff nach der Macht zur Politik des Chaos gehört, da diese nun mal keinem festen Plan folgt.
Niemand verließ den Saal, und der Streit ging weiter. Ich stellte mich zu Gilbert an die Tür. Er hatte die Hände in die Taschen seines langen Wollmantels gesteckt und lächelte traurig.
»Es paßt alles zusammen«, sagte er.
»Was?«
»Ganz plötzlich gibt es Bombendrohungen, offensichtliche Polizeipräsenz bei den Treffen, im Persischen Golf steht der Ausbruch eines Krieges bevor. Merkst du was? Egal, was geschieht, die Gruppe ist kaputt. Sie hat sich gespalten, ganz klar.«
De Haven stand auf und sagte, sie würde draußen warten. Sie habe das Treffen nicht stören wollen. Falls irgend jemand mit ihr über Vorgehensweisen der Polizei reden wolle, könne man sie in der Eingangshalle finden. Militello folgte ihr widerstrebend. Man kam überein, daß es ein Vermittlungsgespräch für diejenigen geben würde, die die Polizeipräsenz bei dem Treffen ernstlich beunruhigt hatte.
Bei den Atmo-Wächtern standen die Leute Schlange. Ein wütendes Gespräch begann, während dessen jemand behauptete, keiner, der für den Staat arbeite, könne queer sein. Sie kannten ihre Geschichte nicht. Sie wußten nichts von dem zähen Kampf, den die Lesben- und Schwulenbewegung ausgefochten hatte, um Zugang zur Polizei zu bekommen, was die einzige Möglichkeit war, die gewohnheitsmäßigen Bürgerrechtsverletzungen der Polizei zu beenden. Schwule Männer waren regelmäßig gehetzt und gestellt worden. Nach einer feuchtfröhlichen Junggesellenparty 1979 hatten mit Bierflaschen bewaffnete Polizisten, die nicht im Dienst waren, beschlossen, zu Peg's Place zu ziehen und sich »die Lesben zu schnappen«. Als die Türsteherin die Männer warnte, sie werde die Polizei rufen, verkündeten sie: »Wir sind die Polizei, und wir können verdammt nochmal tun, wozu wir Lust haben.« Sodann schubsten und boxten sie sich in die Bar hinein, nahmen die Besitzerin in den Schwitzkasten und stellten den Laden auf den Kopf. Zehn Jahre war das her, und die junge Generation wußte nichts mehr von diesen Vorfällen.
Der nächste Antrag lautete auf fünfhundert Dollar für eine nicht näher benannte Aktion, die unbesehen von Queer Nation getragen werden sollte. Die Gruppe wurde aufgefordert, einfach Vertrauen zu haben, daß die Aktion es wert sei, unterstützt zu werden, auch wenn nicht verraten werden könne, was das werden solle. Viele im Saal hatten kein gutes Gefühl bei diesem Antrag, und bei den feministischen Femmes brannte die »Patriarchats«-Sicherung durch.
Marty Mulkey war wütend und frustriert. Sein langes Haar flog, der Ohrring in seiner Augenbraue blitzte. Er verlangte zu wissen: »Bin ich der einzige hier, dem es was ausmacht, daß wir keine direkten Aktionen mehr machen, sondern eine Selbsterfahrungsgruppe geworden sind? Eine Talkshow? ACT UP und Queer Nation wurden aus zivilem Ungehorsam gegründet. Wenn der nicht mehr stattfindet, was dann?«
Zwei Stimmen brachten den Streit auf den Punkt:
»Auf in die Einkaufspassagen!«
»Dies ist ein Krieg, keine Modenschau!«
Schließlich stimmte Queer Nation tatsächlich dafür, eine Aktion zu befürworten und mit fünfhundert Dollar zu unterstützen, die der Gruppe selbst unbekannt blieb. Keiner hatte sie blockiert, weil sich niemand mit den aggressiven Queer-Machos, die den Vorschlag vorgebracht hatten, auseinandersetzen wollte.
Queer Peace plante ein »Kiss-in für den Frieden« am Federal Building im Morgengrauen des 15. Januar, zum Kuwait-Ultimatum von Präsident Bush an Saddam Hussein; dort wollten sie sich mit anderen Antikriegsgruppen zusammenschließen. Vielen war unbehaglich zumute, weil sie sich im stillen Sorgen machten um ihre Freunde und Familienmitglieder in Israel, ihre Brüder und Geliebten bei der Armee. Sie gingen nicht zu den Atmo-Wächtern, aber viele dachten bestimmt an Robert White, den jungen Mann, der inzwischen auf seinem Schiff in Richtung Golf unterwegs war.
Als ich das Treffen verließ, nahm ich ein zusammengeheftetes Flugblatt mit, das auf dem Infotisch an der Tür lag. Auf der ersten Seite stand in großen Buchstaben: TU WAS. Drinnen lag eine Liste von Protestaktionen gegen »George Bushs Ölkrieg«. »Falls es zum äußersten kommt (KRIEG), allgemeines Treffen um 17 Uhr am Chevron-Haus, Ecke Fifth und Powell. Am Tag nach Kriegsausbruch um 6 Uhr 30 Blockade aller großen Gebäude, Straßen und Banken in der City.« Pamphlete und Flugblätter tauchten auf den Tischen auf, die nichts mehr mit Queer Nation und ihren Aktionen zu tun hatten; wie ich befürchtet hatte, stand keine Arbeitsgruppe von Queer Nation auf diesem Zettel.
In der Eingangshalle trafen wir auf Lea Militello, in gereizter Laune.
»Nun, Officer Militello«, sagte ich, »wenn Sie zu Queer Nation gehören wollen, werden Sie sich wohl einer Aktion anschließen müssen. Wie wär's mit einer Einkaufspassage?«
»Liebend gern«, sagte sie und küßte mich auf die Wange. Ich war noch nie von einer Polizistin geküßt worden. LABIA behauptete, wenn die Polizisten bei dem Treffen »knackige Typen« gewesen wären, hätte es keinen Protest gegen sie gegeben.
Ich beschloß, Cheryl nichts von den Bombendrohungen zu erzählen. Ich wollte sie nicht beunruhigen, und ich hatte auch nicht vor, den Treffen fernzubleiben. Ich fand, daß in diesem Saal etwas grundlegend Wichtiges geschah, und selbst wenn die Pferde scheuten - ich würde nicht kneifen.

Ich saß zu Hause am Telefon und wartete darauf, mit jemandem vom War Memorial Building verbunden zu werden, wo die Zeremonie, bei der Donna Hitchens als Richterin am Obersten Gericht des Staates Kalifornien eingeschworen wurde, stattfinden sollte. Die Operation Wüstensturm hatte um vier Uhr begonnen, und Donnas Zeremonie war für fünf Uhr angesetzt; ich wollte wissen, ob sie wegen des Kriegs abgesagt wurde. Auf dem Bürgersteig gegenüber von unserem Haus fuhr ein fünfjähriger kleiner Latino in einem motorisierten Militärjeep in Tarnfarbe unablässig hin und her. Wann hatten sie die grüne Tarnfarbe der Dschungelkriege gegen die sandfarbene Tönung des Wüstenkriegs gewechselt?
Ja. Um halb fünf sollte die Zeremonie beginnen, immer noch. Wenn Donna dabei blieb, würde ich auch hingehen. Es war ein zu wichtiger Augenblick für die lesbische Bürgerrechtsbewegung, um nicht dabei zu sein. Cheryl und ich hatten vorgehabt, gemeinsam mit Jesse hinzugehen, aber dann überlegten wir, es wäre vielleicht klüger, wenn sie mit ihm zu Hause bliebe. Mir fiel das TU WAS-Flugblatt wieder ein; fünf Uhr war auch die Zeit, zu der seine Verfasser die Blockade der Straßen angesetzt hatten.
Alles wirkte eigenartig leer draußen, als ich auf das War Memorial Building zu fuhr, das gegenüber vom Rathaus und einen Block vom Federal Building entfernt lag. Ich parkte den Wagen weit weg, jenseits der Market Street, einer Hauptverkehrsstraße durch die City. Sollten die Straßen von Demonstranten blockiert werden, konnte ich immer noch weg.
Ich nahm den Eingang zum Museum für Moderne Kunst, das ebenfalls im War Memorial Building untergebracht war. Die Zeremonie sollte in dem Saal des Gebäudes stattfinden, wo 1945 die Charta der Vereinten Nationen unterzeichnet worden war. Der Raum war elegant, mit fließenden roten Samtvorhängen und einer erhöhten, nicht zu großen Bühne. Anstelle der seltsamen Stille draußen nun klassische Musik, gespielt von zwei Geigerinnen und einer Cellistin. Mitglieder des Sheriff's Department von San Francisco in gelbbrauner Uniform mit goldenen Abzeichen standen in den Gängen des Saals. Es war eine rein weibliche Abordnung, so hatte es Sheriff Mike Hennessy bestimmt, der sich stets für lesbische und schwule Rechte stark machte. Die ersten sechs Reihen waren für Ehrengäste abgesperrt, vor allem für die Richter. Keiner trug eine Lederjacke, außer mir. Die Entscheidung war schwierig gewesen, aber ich glaubte, in Leder wäre ich auf den Straßen sicherer; später am Abend wollte ich nämlich noch zu Queer Nation. Ich irrte mich. Die Lederjacke war es schließlich, die mich zur Zielscheibe machte.
Das Licht im Saal wurde gedämpft, die Musikerinnen trugen ihre Notenständer und Instrumente in die Seitenkulissen. Es war halb sechs, und Präsident Bushs Ansprache wurde übertragen. Die Teilnehmer nahmen ihre Plätze auf der Bühne ein. Den afroamerikanischen Richter John Dearman - er war der erste Schwarze, der Vorsitzender Richter eines Obersten Gerichts wurde - schien es nicht sonderlich zu kümmern, was außerhalb dieses Saals vorging. Er erläuterte den Zuschauern mit einem merkwürdigen Ausdruck heimlicher Amüsiertheit auf seinen Zügen, daß Richter niemals Applaus oder Anerkennung bekämen, und deshalb wolle er, daß wir jeden einzelnen Obersten Richter, der gekommen sei, mit Applaus begrüßten, und die Richter sollten jeweils aufstehen und sich vor uns verbeugen. Dreiundzwanzig der neunundzwanzig Obersten Richter waren anwesend, und langsam arbeiteten wir uns klatschend durch die lange Reihe hindurch. Es war, als brächte Richter Dearman die anderen Richter ebenso dazu, uns anzuerkennen, wie umgekehrt. Es waren erstaunlich viele gekommen angesichts des ausbrechenden Krieges und des Schocks, ja, teilweise sogar der Panik, die Donna Hitchens' Wahl im Gericht hervorgerufen hatte.
Kurz nach Donnas Sieg gegen den Amtsinhaber hatten sich vierundzwanzig Richter der Obersten Gerichte versammelt. Richter Carlos Bea hielt einen Vortrag, bei dem er darlegte, welche Fehler der Amtsinhaber bei seiner Wahlkampagne gemacht hatte. (Bea wurde darauf hingewiesen, daß er selbst seine Wahl nicht gerade mit einem riesigen Vorsprung gewonnen habe.) Die Wahlkampfprospekte des unterlegenen Richters hatten die Familie besonders deutlich in den Vordergrund gestellt; seine Frau und seine Kinder wurden in einer für einen Richteramtskandidaten übertriebenen Weise vorgeführt, worin natürlich eine verschlüsselte Anspielung lag. Donnas Wahlkampfmaterial hatte nur aus Fotos von ihr selbst und einer beeindruckenden Liste von Befürwortern bestanden. Sie forderte Verschiedenartigkeit auf der Richterbank; der Amtsinhaber war einer von vielen weißen männlichen Bezirksanwälten. Donna betonte stets, daß sie absolut nichts gegen weiße männliche Bezirksanwälte habe, daß im übrigen aber Frauen und Minderheiten repräsentiert werden müßten. Richter Dearman, der Sohn eines Pachtbauern aus Texas, war zwar nicht bei Richter Beas Strategievortrag, bekam die Hysterie seiner Kollegen aber mit und fand es geradezu komisch, wie die schwarzen Richterroben durch die Säle flatterten, dunkle Vögel, die gegen Spiegel prallten.
Nachdem Richter Dearman seine Vorstellung der dreiundzwanzig Richter beendet und die Bedeutung von Donnas Wahl betont hatte, trat Barbara Brenner, Donnas frühere Kanzleipartnerin, ans Mikrofon. Sie beschrieb, wie Donna sich für alles, was anders war, interessierte, statt es nur zu dulden. Ich saß wie gebannt im Saal. Die Straße konnte warten. Straßenaktionen würde es immer geben, aber dieser Moment war einzigartig. Ich war mir sicher, Harvey Milk wäre begeistert gewesen.
Richterin Mary Morgan, die Partnerin von Stadträtin Roberta Achtenberg, machte sich bereit, Donna einzuschwören. Mary Morgan war vom damaligen Gouverneur Jerry Brown ans Amtsgericht von San Francisco berufen worden. Sie erzählte davon, wieviel Mut es in den frühen siebziger Jahren brauchte, in einen Gerichtssaal zu gehen, wenn man »Lesbisches Bürgerrechtsprojekt« im Briefkopf stehen hatte wie Donna Hitchens.
Donna leistete den Eid vor Richterin Morgan, und Nancy Davis, seit fünfzehn Jahren mit Donna zusammen, ihre beiden jungen Töchter Kate und Megan und Donnas Mutter und Stiefvater sahen zu. Dann legte Donna ihre schwarze Richterrobe an. Die Zuschauer im nahezu vollen Saal erhoben sich zu einer Standing ovation. Es war ein so langer, manchmal gnadenloser Weg gewesen. Sie und Nancy hatten vor Gericht gehen müssen und mit Roberta Achtenberg als Anwältin die erste Adoption durch einen zweiten Elternteil in Kalifornien durchgefochten. Jetzt würde Donna Hitchens in demselben Gerichtssaal sitzen, nicht um für ihre Familie zu kämpfen, sondern als Richterin.
Und doch war es ein schwieriger Augenblick für sie. Sie empfand die Zeremonie zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs auch als oberflächliche Selbstbeweihräucherung, obwohl es gleichzeitig einer der wichtigsten Tage in ihrem Leben und für ihre Gemeinschaft war. Sie sprach von ihrem verstorbenen Vater Walter, von seiner Fähigkeit, Autoritäten in Frage zu stellen, von seiner bedingungslosen Unterstützung für sie und von seiner Bereitschaft, Risiken einzugehen. Auch sein Einfluß hatte letztlich dazu beigetragen, daß sie es geschafft hatte, ins Oberste Gericht gewählt zu werden: nicht die traditionelle Karriere für eine fünfundvierzigjährige Lesbe aus der Arbeiterklasse, die sich immer mit sogenannten gesellschaftlichen Randgruppen politisch zusammengeschlossen hatte, schon seit den Bürgerrechtskämpfen der Schwarzen in den frühen sechziger Jahren.
Als die Zeremonie zu Ende war, schüttelten die Gäste Donna die Hand; ich ging nach oben in den Grünen Saal, wo schon viele Empfänge der Stadt San Francisco stattgefunden hatten. Dort gibt es einen Balkon mit Blick auf die Van Ness Avenue und weit darüber hinaus. Als ich eintrat, hörte ich das Rauschen von Sprechchören draußen, gedämpft durch die Granitwände des Gebäudes. Ich schob mich bis auf den Balkon vor, der von massiven Säulen eingefaßt ist. Überrascht sah ich dort mehrere Frauen mittleren Alters in schwarzen Cocktailkleidern stehen, die mit erhobenen Armen das Friedenszeichen machten. Eine Sekunde lang dachte ich, gleich würden sie in »Don't Cry for Me, San Francisco« ausbrechen. Ihre Ehemänner, darunter einige Oberste Richter, standen unbehaglich in den Türbögen hinter ihnen, immer wieder flüchtige Blicke in den Empfangssaal werfend, in der Hoffnung, ihre Kollegen würden das Tun ihrer Gattinnen nicht bemerken. Weiter links in Richtung Federal Building sah es ganz nach Leuchtkugeln aus, die nach oben geschossen wurden, und ein leichter Geruch von Schießpulver hing in der Luft. Tausende von protestierenden Demonstranten marschierten unten auf der Straße vorbei. Einige der Männer schrien wütend zu uns auf dem Balkon hoch: »Auf die Straße! Auf die Straße!« Irgendwie konnte ich mir diese Frauen mit ihren Cocktailkleidern und Stöckelschuhen nicht bei einem Protestmarsch auf der Straße vorstellen. Hubschrauber der Polizei und der Nachrichtensender beleuchteten den wogenden Protest mit hellen Scheinwerferspots. Die Hubschrauber schienen dort oben beinahe Walzer zu tanzen, vorsichtig, um nicht zusammenzustoßen. Ihre Lichter sahen aus wie bei einem großen Hollywoodereignis, das außer Rand und Band geraten war.
Ich verließ den Balkon. Im Grünen Saal knabberten die Richter und ihre Frauen - wenn sie nicht auf dem Balkon standen und zur vorüberziehenden Menge das Friedenszeichen machten - an den Hors d'oeuvres und plauderten mit lesbischen und schwulen Bürgerrechtsanwälten. Ihre distinguierten Stimmen klangen so hell wie aneinanderstoßende Sektgläser. Ich fragte eine Frau, die irgendwie offiziell aussah, ob sie wisse, wo Donna sei. Die Frau war angespannt, ihre Aufmerksamkeit ging zwischen dem Geschehen auf der Straße, das sich dem Chaos annäherte, und der Notwendigkeit, die Cocktailparty im Grünen Saal so würdig wie möglich zu erhalten, hin und her. Sie sagte, sie glaube, Donna sei in der Eingangshalle und verabschiede die Kinder. Ich ging hin und sah, wie sie jedes einzelne Kind mit derselben besonderen Aufmerksamkeit behandelte wie die Würdenträger auf der Bühne. Als das letzte Kind fort war, stand ich allein mit ihr da. Ihre burschikose Mütterlichkeit löste sich plötzlich auf. Sie wirkte wie unter Schock, zerrissen durch die Rolle, die sie an diesem Abend hatte spielen müssen. Ihr jüngstes Kind hatte sich während der Zeremonie an sie geschmiegt. Sie machte sich Sorgen darüber, wie die Kinder mit dem Krieg fertig werden würden, nicht nur ihre eigenen, auch die Kinder, auf die Bomben abgeworfen wurden.
»Ich muß jetzt hineingehen«, sagte sie. Es war sonnenklar, daß der Grüne Saal der allerletzte Ort war, wo diese Frau jetzt sein wollte.
Als ich das War Memorial Building verließ, sah ich, daß der größte Teil der Demonstration bereits vorübergezogen war. Ich brauchte nur den sich drehenden Scheinwerfern der Helikopter nachzuschauen, um zu wissen, wie weit sie gekommen war. Gerade ging es die Market Street hoch in Richtung Castro. Es war also kein Problem, über die Market Street zu kommen und das Frauenhaus zu erreichen. Vor dem Opernhaus, neben dem War Memorial Building, standen drei junge Männer mit Halstüchern über ihren Gesichtern und besprühten die Fassade mit roter Farbe. Als ich vorbeikam, sprayten sie gerade langsam die Worte SIE STERBEN JETZT hin. Da sahen sie mich und hielten inne, die Sprühdosen in der Luft, musterten mich und überlegten, ob sie weglaufen sollten. Sie hatten Angst vor mir, und ich hatte Angst vor ihnen. Ein Geschenk des Krieges. Ich drehte mich weg, und sie gingen wieder an ihre Arbeit.
Ich fuhr zum Frauenhaus, sorgfältig den ruppigen Straßenprotest vermeidend, indem ich auf Richtung und Winkel der Lichtstrahlen von den Hubschraubern achtete, die verrieten, daß der Marsch ohne vorgeplante Route verlief, willkürlich. An diesem Abend hielt Queer Nation das Treffen nicht in dem üblichen Auditorium ab, sondern in einem Raum im ersten Stock, von dem aus man die Straße überblickte. Es waren nur ungefähr dreißig Leute anwesend. Viele waren für den Krieg, da sie auch stark pro-israelisch empfanden; manche hatten Verwandte in Israel. Die Anwesenden bildeten einen Kreis und diskutierten. Zivilisierter hätte es nicht ablaufen können, und doch gab es große Meinungsverschiedenheiten. Auch John Woods war an diesem Abend da, nunmehr als Mediensprecher der Gruppe und Herausgeber des wöchentlichen Queer Week Newsletter. Sein Bruder befand sich auf dem Flugzeugträger Ranger im Golf, und John machte sich Sorgen um ihn, aber zugleich trat er für seinen militärischen Auftrag ein. John fand, es gebe eine Menge Leute in den Vereinigten Staaten, einschließlich vieler Mitglieder von Queer Nation, die nicht zu schätzen wüßten, was sie an diesem Land hätten.
»Viele Queers machen sich mehr Sorgen um ihr Haarspray. Sie wissen nicht mal, wo Haarspray herkommt oder wie es hergestellt wird. Und genauso bei Lackschuhen oder was sie sonst alles tragen«, meinte er. »Wir nehmen einfach viel zuviel als selbstverständlich hin. Saddam Hussein muß weg. Er bringt seine eigenen Leute um. Er vergast sie. Wir haben keine Wahl. Dieser Mann hat vielleicht Atomwaffen, und die wird er auch einsetzen, wenn es sein muß. Und was ist mit den Kuwaitis?«
Ein junger Mann trat John entgegen. »Kuwait ist ein Land mit reichen Ölvorkommen. Ein Land voller feudaler, rassistischer, homophober Sexisten.« Im Subtext stand der Vorwurf, daß John, obwohl er Afroamerikaner und schwul war, für ein Land eintrat, das Menschen wie ihn haßte.
»Trotzdem sind sie menschliche Wesen, die unter einem faschistischen Militärangriff zu leiden haben«, gab John zurück, »angeführt von einem Hitler, der womöglich versucht, die Welt mit Atomwaffen zu zerstören.«
Ich nahm an der Debatte nicht teil. Ich war erschöpft und setzte mich auf die Fensterbank mit Blick auf die Straße. Über dem Frauenhaus zischten plötzlich Hubschrauberrotoren, Lichtstrahlen tanzten am Himmel. Ich ging nach unten, nach draußen, um den vorbeiziehenden Marsch zu beobachten. Es war eine vorwiegend heterosexuelle Menge, aber die Lesben und Schwulen waren unübersehbar und einfallsreich mit ihren queer-witzigen Schildern: GELD FÜR MANIKÜREN, NICHT UM KRIEG ZU FÜHREN und PERVERSE FÜR DEN FRIEDEN. Halbherzig begann ich mitzulaufen, aber eigentlich wollte ich zu meinem Auto. In dem Augenblick hatte ich nur eine Gewißheit: Ich wollte nach Hause zu meiner Familie. Als ich an der Kreuzung Valencia/Achtzehnte Straße stand, sah ich, daß der Verkehr mehrere Minuten lang blockiert worden war. Die Autofahrer wirkten entnervt. Dann kam eine Lücke im Demonstrationszug. Vier Kinder, nicht älter als elf oder zwölf, schlenderten über die Kreuzung. Sie merkten offenbar gar nicht, daß sie mitten durch den Verkehr latschten. Ich trat auf die Straße, hob meine Hände hoch und schrie den Autos zu: »Warten Sie noch ein, zwei Minuten.« Ein weißer Pickup, am Steuer ein blonder Mann und eine Frau mit schmutzigen Haaren neben ihm, tauchten auf der falschen Straßenseite auf und machten Anstalten, den Wagen über die Kreuzung zu jagen. Fahrer und Beifahrerin waren beide Ende Zwanzig. Gerade kamen die Kinder vorbei, und ich machte einen Schritt vor den Pickup. »Warten Sie. Da sind Kinder, nur einen Augenblick noch«, sagte ich. Ich war wütend auf die Eltern, die an diesem Abend ihre Kinder auf die Straße ließen.
Die Frau in dem Wagen hatte eine Bierdose in der Hand. Sie nahm einen Schluck und schrie mir zu: »Was zum Teufel glauben Sie, wird das hier wohl bringen?« Ich sagte nichts; als ich sah, daß der Marsch fast völlig vorüber war, wandte ich mich ab und ging zum Bürgersteig zurück. Plötzlich trat der Fahrer des Wagens aufs Gaspedal und steuerte direkt auf mich zu. Ich versuchte so schnell wie möglich fortzukommen, aber der Kühlergrill des Wagens prallte gegen meinen rechten Oberarm und schleuderte mich zu Boden. »Lesbe!« hörte ich den Mann schreien. Ich konnte nur annehmen, daß es meine Lederjacke war, das Markenzeichen der radikalen Queers, die ihn darauf gebracht hatte. Der Asphalt war hart, und sein Schwarz kam mir viel schwärzer vor, als ich je gedacht hätte. Es schien darin zu glitzern. Ich sah auf und erblickte die Rücklichter des weißen Pickups, die sich über die Valencia Street entfernten. Jetzt kamen nur noch Nachzügler des Marsches, und sie liefen vorbei. Die Fahrer der vorderen Autos hatten gesehen, was passiert war, aber keiner rührte sich. Ich sah auf und versuchte mich hochzuziehen, als mein Blick und der einer vorbeikommenden Frau sich trafen. Sie sagte zu ihren beiden Freunden: »Halt. Die Frau ist angefahren worden.« Ich fühlte mich fast wie in einem Traum, als mir klar wurde, daß ich die angefahrene Frau war. Sie halfen mir auf den Bürgersteig und fragten, ob ich ins Krankenhaus gefahren werden wolle. Ich merkte, daß mein Arm nicht gebrochen war, nur böse geprellt. Ich bedankte mich bei ihnen und ging zu meinem Auto.
Zu Hause setzte ich mich zu Cheryl vor den Fernseher. Ein früherer US-Militäroffizier sagte: »Krieg ist voller Unwägbarkeiten.« Ich begann zu lachen, wahrscheinlich zu laut, denn Cheryl warf mir merkwürdige Blicke zu. Ich erzählte ihr nichts davon, daß ich angefahren worden war, weil ich nicht wollte, daß sie versuchte, mich davon abzuhalten, auf die Straße zu gehen. Aber vor ein Fahrzeug würde ich nie wieder springen, es sei denn, um mich umzubringen.
In dieser Nacht konnte ich kaum einschlafen. Ich schaltete dauernd den Fernseher wieder an, selbst mitten in der Nacht. Sie zählten die Bombereinsätze, die sie sorties nennen, als handelte es sich um nette kleine Ausflüge. Ich ging in Jesses kleines Schlafzimmer, setzte mich auf die Couch und sah ihm beim Schlafen zu. Ich konnte die Stimme des Nachrichtensprechers im Fernsehen hören. Es störte mich, wie er dieses besondere Wort benutzte. Es klang wie ein Tanzschritt.
Am nächsten Tag holte ich Jesse vom Kindergarten ab. Die Kinder waren draußen auf dem Spielplatz. Da gab es eine Zementfläche, wo die Kinder oft mit Kreide malten. Überall auf dem Gebäude waren Friedenszeichen in Kreide, das Symbol aus den sechziger Jahren, doch am Boden waren in Pastellfarben die Umrisse von Kinderleichen. Der Erzieher auf dem Spielplatz erklärte entschuldigend, bevor sie gemerkt hätten, was los war, seien die Kinder schon dabei gewesen, Krieg zu spielen und die Umrisse der »Toten« auf den Boden zu zeichnen. Überall waren kleine Todesposen in pastellfarbener Kreide. Ich entdeckte Jesse und versuchte mich zu benehmen, als wäre alles in Ordnung. Ich schaukelte ihn auf meiner Hüfte, und wir rieben unsere Nasen aneinander. Sein Lehrer berichtete, Jesse habe einen schönen Tag hinter sich, am Morgen hätten sie den Fahneneid aufgesagt, und dann hätten sie sich alle an den Händen gefaßt und »Give Peace a Chance« gesungen.
»Hat dir das Lied gefallen, Jesse?«
»Lieber Bauer im Tal singen«, antwortete er.
»Ist gut«, antwortete ich, »Bauer im Tal.«

Später an diesem Abend traf ich meinen Freund Larry Janssen. Larry ist Lehrer und eher ein moderater schwuler Mann. Er sah mich vollkommen erstaunt an, als er mir beschrieb, wie er sich benommen hatte, als wäre ein außerirdischer Geist über ihn gekommen. Er war auf dem Nachhauseweg von der Arbeit gewesen, und plötzlich, ganz impulsiv, lief er bei einem Antikriegsprotest mit. »Gestern abend bin ich fünf Stunden lang durch die Straßen der Stadt gelaufen, in meinen italienischen Lederschuhen, und als ich auf der Bay Bridge war, merkte ich, daß ich graue Hosen mit Bügelfalte aus einem Wolle-Rayon-Gemisch trug, dazu einen grauschwarzen Pullover und weiße Socken. Ist dir jemals aufgefallen, daß der Efeu bis auf die Brücke herunterreicht? Ich merkte, wo ich war, und als ich versuchte, von dort wegzukommen, rutschte ich mit meinen Schuhen andauernd auf dem Efeu aus. Da stand ich auf der unteren Ebene der Brücke, umgeben von lauter Leuten, die aussahen, als wären sie gerade Clockwork Orange entstiegen. Ich bin bloß wegen meiner Kleidung nicht verhaftet worden.«
Wir brachen in Gelächter aus. Es war die Art Lachen, wenn man vollkommen entspannt ist und einem alles so absurd vorkommt, daß nichts mehr einen Sinn ergibt. Wir saßen nebeneinander irgendwo im Castro-Viertel auf einer Treppe, und mein verletzter Arm pochte. Ein Freund blieb stehen und sagte: »Gerade haben sie Israel bombardiert. In Tel Aviv, Haifa und Jerusalem tragen die Leute Gasmasken.« Jedesmal, wenn ich im Fernsehen ein Kind mit Gasmaske sah, das vor Angst schrie, dachte ich an mein eigenes Kind und wie es mein Herz geöffnet hatte. Es gab nur einen Weg, wie so etwas passieren konnte, nämlich durch Verteufelung. Eine ganze Rasse wurde als böse bezeichnet, ein ganzes Volk als unmenschlich und demnach als ausrottenswert. Es schien, als gäbe es an diesem Tag niemanden auf der Welt, der nicht irgendwen dämonisierte.
An jenem Sonntag saßen Jesse und ich vor dem Fernseher, als Cheryl vom Bowling nach Hause kam und erzählte, eine der lesbischen Bowlingmannschaften, deren Mitglieder auch zur Nationalgarde gehörten, sei einberufen worden, um gegen Saddam Hussein in den Krieg zu ziehen. Wenn sie heimkehrten - falls sie überhaupt heimkehrten -, konnten sie jedoch als untauglich aus dem Dienst entlassen werden, selbst wenn sie Wüstensturm-Orden bekommen hatten. Der angesehene Journalist Randy Shilts[12] hatte berichtet, daß vom Pentagon die Devise »Verlust-Stopp« ausgegeben worden war. »Verlust-Stopp« bedeutete, daß selbst wenn jemand »gestand«, schwul oder lesbisch zu sein, dies kein Hinderungsgrund war, ihn oder sie in den Golf zu transportieren; die Entlassung aus der Armee wurde dann bis nach der Rückkehr verschoben. Für mich war das Erstaunlichste an all dem, daß die lesbische Bowlingmannschaft stolz auf die Ehre war, das Schiff in den Krieg nehmen zu dürfen.
Jesse stand vor dem Bildschirm und versuchte zu begreifen, wer der Böse war. Er konnte den Unterschied zwischen den amerikanischen und irakischen Soldaten nicht erkennen. Er baute kleine Flugzeuge aus den gekreuzten Stielen von Dauerlutschern und »bombardierte« seine Stofftiere. Er spielte nur, aber in seinem Spiel lag eine tiefe Angst. Ich sah ihm zu und war traurig, als hätte ich ihn an etwas verloren, das ich nicht kontrollieren konnte.
Am nächsten Abend kam ich mit beiden Armen voller Blumen nach Hause zurück, als könnten die mir helfen, meinen Jesse zurückzubringen. Das Haus lag still, die Lichter waren gedämpft. Cheryl saß auf der Couch, Jesse neben ihr. Er hielt eine lange braune Feder in der Hand und beobachtete sie unverwandt. Cheryl nähte gerade zwei grüne Filzflächen aneinander. Als sie fertig war, schnitt sie zwei Schlitze in die Seiten und half Jesse, die Feder durch die Öffnungen zu ziehen. Sie hatte ihm einen Peter-Pan-Hut gemacht.
Feierlich setzte sie den Nimmerland-Hut auf seinen Kopf, und er war verzückt. Das war ein Geniestreich von ihr. Vor meinen Augen verflog Jesses Angst. Er schaute mich an und sagte: »Wendy. Willst du fliegen?« Und so verbrachte Jesse, während der Krieg andauerte, viel Zeit als Peter Pan. Er beschloß, daß ich Wendy sei; Cheryl war natürlich Tiger Lily.

Unserem Antrag, den Hausbesuch zu erzwingen, wurde stattgegeben, und das Jugendamt erhielt die Anordnung, bis zum 4. Februar den Hausbesuch durchzuführen. Jeden Tag wartete ich auf Nachricht. Funkstille. Die Frist verstrich, das Amt reagierte einfach nicht. Langsam haßte ich die Macht dieses Amtes über mich. Abby riet zur Geduld, aber ich stellte mir natürlich irgendwelche Verschwörungen der Rechten vor, was leicht passieren kann, wenn man anfängt, auf jede einzelne Attacke zu achten.
Bombendrohungen waren bei den Treffen von Queer Nation inzwischen beinahe zur Routine geworden, aber anstatt mich davon abschrecken zu lassen, nahm ich die Treffen und meine Teilnahme daran nur um so ernster. Trotzdem äußerte ich mich nie als Mitglied der Gruppe. Es gab eigentlich keine Aktionen, an denen ich wirklich hätte teilnehmen wollen, aber ich schien auf irgend etwas zu warten, und ich hatte mitnichten vor, mich zurückziehen, ganz gleich, was die gemäßigten Lesben und Schwulen dachten. Inzwischen wurden ACT UP und Queer Nation für alle Schäden verantwortlich gemacht, die während der Antikriegsdemonstrationen passiert waren, und alle menschlichen Wesen in schwarzen Lederjacken wurden automatisch für Mitglieder der einen oder der anderen Gruppe gehalten. Meine vernünftigen Freunde mit vernünftigen Jobs, die etwas zu verlieren hatten, warnten mich, mein Ruf könne Schaden nehmen, wenn ich mich weiter mit den Enfants terribles herumtrieb, aber ich fand, sie waren die Kinder unserer Gemeinde, und auch wenn sie sich oft ungezogen aufführten, so gehörten sie doch zu uns.
Außerdem hatte ich mein eigenes kleines Problem: einen Wutpegel in mir, im Zusammenhang mit der Adoption, der langsam anstieg und der nirgendwo sonst hinpaßte. Wenn ich eine »normale« Stiefmutter wäre, müßte ich nur ein Formular ausfüllen, meine dreihundert Dollar bezahlen und mir die offizielle Bestätigung zuschicken lassen, daß die Adoption bewilligt worden war. Ich spielte nach »ihren« Regeln, legte intime Einzelheiten meines Lebens bloß, lud »sie« in mein Haus ein, um mich zu prüfen. Ich tat alles, was »sie« von mir erwarteten, und sie riefen nicht mal an. Während mein Zorn mich näher an Queer Nation heranführte, baute er eine Mauer zwischen Cheryl und mir auf. Wut ist niemals gesund für eine Liebesbeziehung. Es gab sogar etwas, das ich nur als eine unsichtbare, geisterhafte Barriere zwischen Jesse und mir beschreiben kann, eine Barriere, die ich nicht sehen konnte; aber mir kam der Verdacht, daß sie vielleicht immer schon dagewesen war.