Eine Woche nach der GHOST-Demonstration gegen die Gebetskrieger ereignete sich ein außergewöhnliches Phänomen an den Wahlurnen von San Francisco, das als der »Lila Erdrutsch« in den ganzen USA bekannt wurde. Drei offen homosexuelle Politiker und Politikerinnen wurden ins Amt gewählt, und die »Haushaltspartnerschaft« wurde anerkannt. Der Begriff »Haushaltspartner« bezeichnete zwei Erwachsene, die beschlossen hatten, ihr Leben in einer intimen und festen Beziehung der gegenseitigen Verantwortlichkeit zu teilen, die zusammenleben und die übereingekommen sind, beide gemeinsam für die Grundkosten des Lebensunterhalts, die während der Haushaltspartnerschaft entstehen, aufzukommen. Ironischerweise konnten, so wie das Gesetz formuliert war, Haushaltspartner theoretisch herangezogen werden, um Ärzte- und andere Rechnungen eines Partners, der starb, zu begleichen, ihnen entstanden jedoch keine materiellen Vorteile daraus.
Tom Ammiano wurde ins Schulamt gewählt. Er war ein schwuler Lehrer, der seit den frühen 70er Jahren mutig für eine Reform des Schulsystems von San Francisco gekämpft hatte. Auf seinen Wahlkampfplakaten standen sein Name, die Position, für die er sich bewarb, und ein leuchtendroter Apfel. Er hatte nicht viel Geld für seinen Wahlkampf, aber eine begeisterte Unterstützung von der Basis. Er bekam nicht nur seinen Sitz, sondern auch mehr Stimmen als jeder andere gewählte Kandidat. Er war der erste offene Homosexuelle des Landes, der im Schulamt saß, und diese Tatsache entging auch der radikalen Rechten nicht. Tom war vermutlich auch der erste Alleinunterhalter im Schulamt, was für lebhafte Auseinandersetzungen sorgte, während die Verteilung von Kondomen als Teil der Aids-Vorsorge für sexuell aktive Oberschüler diskutiert wurde.
Carole Migden, eine lesbische Frau, die seit Jahren bei den kalifornischen Demokraten aktiv war, wurde in den Stadtrat gewählt. Sie gewann in praktisch jedem Viertel der Stadt und saß schließlich auch in der Planungskommission der Demokratischen Partei. Ein weiterer Stadtratsposten ging an Roberta Achtenberg. 1989 war sie die Vorsitzende des familienpolitischen Ausschusses gewesen. Als Bürgermeister Agnos Roberta Achtenberg auf diesen Posten berief, gab es hitzige Einwände von Seiten der Konservativen. Im Juli 1990 veröffentlichte Achtenberg die Studie »Über Schutz und Wohlergehen der Familien von Lesben und Schwulen«. Sie vertrat die Position, sich für Homosexuelle einzusetzen, sei auch familienfreundlich. Später wurde sie in die hochrangige Programmkommission der Demokraten berufen, die nur aus zwölf Mitgliedern bestand und das Parteiprogramm für den Präsidentschaftswahlkampf 1992 formulieren sollte. Harvey Milks Traum wurde wahr: Lesbische Frauen und schwule Männer nahmen ihre Plätze bei Tisch ein.
Es gab Rückschläge, aber ohne Frage gab es auch Siege - und Entschuldigungen. In derselben Woche schrieb Robert Stempel, Präsident von General Motors, an die Stadtverwaltung von San Francisco und bezeichnete die Tatsache, daß in einem Ausbildungsvideo seiner Firma, wo ein in Japan produziertes Fahrzeug »dieser kleine Schwuchtel-Kombi« genannt wurde, als »unglücklichen Vorfall, der nicht Ausdruck der Firmenpolitik von General Motors gegenüber lesbischen und schwulen Menschen ist«. Gut möglich, daß seiner Entschuldigung durch die Drohung der Stadtverwaltung, einen 500.000 Dollar-Vertrag mit GM zu stornieren, etwas nachgeholfen wurde.
Unerfreulich für die lesbisch-schwule Gemeinde war, daß Pete Wilson die frühere Bürgermeisterin von San Francisco, Dianne Feinstein, im Kampf um den kalifornischen Gouverneursposten schlug, aber am Ende siegte sie doch, denn sie nahm den freiwerdenden, begehrten Sitz Wilsons im US-Senat ein. In derselben Woche hatte Queer Nation einen erneuten Auftritt in den Fernsehnachrichten. Demonstranten hatten eine Fahne des Staates Kalifornien in den Regenbogenfarben übermalt. Jonathan Katz, ein Sprecher der Gruppe, verkündete, die Fahne würde Pete Wilson im Januar bei seinem Amtsantritt als Gouverneur überreicht werden, zusammen mit einer Liste von Forderungen. Queer Nation, »Over The Rainbow« singend und Fotos von Judy Garland schwenkend, hißte eine Regenbogenfahne auf dem alten Behördenhaus des Staates Kalifornien, nicht weit vom Civic Center in San Francisco.
Am verblüffendsten an dieser Demo war ihr Humor. Die Aids-Katastrophe hatte der lesbisch-schwulen Gemeinde alles mögliche ausgetrieben, nur nicht ihren Sinn fürs Spielerische. Queer Nation erinnerte mich an Harvey Milk, an seine »Hundekacke-Attacke«. Milk war fest davon überzeugt gewesen, daß er zum Bürgermeister gewählt werden könne, wenn er es fertigbrächte, daß Hundebesitzer das »Geschäft« ihrer Hunde aufkehrten. Er ging sogar so weit, kurz vor einer in einem kleinen Park anberaumten Pressekonferenz ein Häufchen Hundekot ins Gras zu legen und am Ende der Konferenz »zufällig« hineinzutreten, um zu belegen, wie nötig dieses Gesetz war. Doch während Queer Nation zum ersten Mal seit Jahren wieder Humor in die Politik brachte, meldeten sich gleichzeitig jene tatsächlich militanten Homosexuellen zu Wort, die schon lange die Phantasie der Schwulenhasser bevölkerten: In New York rief Larry Kramer, einer der Begründer von ACT UP, zu einer anti-antischwulen Terroristengruppe auf, und damit schieden sich die Geister zwischen gesetzestreuer Bürgerinitiative und zivilem Ungehorsam.
Eine Woche nach dem »Lila Erdrutsch« rief Abby Abinanti an. Das Jugendamt hatte den Hausbesuch abgelehnt, wie erwartet. Es war die Politik des Amtes. Seine Begründung lautete, daß Jesse nicht zur Adoption freigegeben werden könne, da seine biologische Mutter ihn ja noch wolle. Irgendwie hatte ich wohl gedacht, ich könnte die Ausnahme in der Regel dieser Ablehnung sein, dieser »Politik«. Wenn wir uns durch Schlupflöcher zwängen mußten, war das etwa Fortschritt? Ja und nein.
Wir schrieben November 1990, es war der zwölfte Jahrestag der Ermordung von Harvey Milk und George Moscone. Wie jedes Jahr würde es eine Lichterkette geben, eine Gedenkdemonstration, doppelt so lang wie die Route am Tag ihres Todes. Seit jener ersten spontanen Demo hatte ich an den jährlichen Märschen nicht mehr teilgenommen.
Ich konnte nicht schlafen und fühlte mich fiebrig, aber das Fieberthermometer bestätigte dieses Gefühl nicht. Ich saß allein im Wohnzimmer, während Cheryl und Jesse schliefen. Das Adoptionsverfahren und die eingehenden Fragen nach meiner Vergangenheit hatten lang vergessene Bilder und Erinnerungen, lang unterdrückte Ängste in mir geweckt. Es gab eine andere Geschichte, die nicht auf den Formularen stand.
Ich war eine Schriftstellerin, und San Francisco ist eine Stadt für Schriftsteller. Ich kam 1976 mit vierhundert Dollar in der Tasche aus Massachusetts nach San Francisco und nahm mir ein Zimmer in der Jugendherberge. Ein paar Monate später bekam ich einen Brief. Die Frau, die ich liebte, lag im Koma, sie starb an Leukämie. Ich liebte sie, aber wir hatten eine schwierige Beziehung miteinander. Sie hatte oft romantisch von ihrem Tod gesprochen, und sie wollte nicht lesbisch sein. Sie wollte ihre Position in der Welt des Reitens nicht verlieren, wo sie Preisrichterin war und jungen Mädchen Reitstunden gab. Sie hielt ihre Beziehung mit mir geheim, fast hermetisch isoliert vom Rest ihres Lebens. Ich befürchte, ihre Leukämiediagnose war ihr geradezu willkommen.
Zur gleichen Zeit, im Frühjahr 1977, geschah etwas mit Anita Bryant, bekannt als Sängerin patriotischer Lieder und Sprecherin der Zitrusfrüchte-Kommission des Staates Florida: Sie »fand Jesus«. Ihr damaliger Mann, Bob Green, benutzte sie als Magnet und baute ein Finanzimperium auf, indem er die Organisation »Rettet unsere Kinder vor der Homosexualität« gründete, kurz »Rettet unsere Kinder« genannt. Bryants erstes Ziel war die Ablehnung des lesbisch-schwulen Bürgerrechtsentwurfs im Bezirk Dade County, Florida. Die Lesben und Schwulen von San Francisco engagierten sich kräftig im Kampf gegen Anita Bryant, schickten Geld und Leute. Ich konnte nichts tun. Ich war wie gelähmt vor Schock und Trauer über J.s bevorstehenden Tod. »Rettet unsere Kinder« schaltete ganzseitige Zeitungsanzeigen, in denen Homosexuelle beschuldigt wurden, »ein haarsträubendes Prinzip der Rekrutierung und schamlosen Verführung und Belästigung von Kindern« zu verfolgen. Was zu dem Thema in den Statistiken des FBI zu finden war, wurde auch hier schlicht ignoriert.
In San Francisco wurden einige Sponsorenparties veranstaltet, um der Lesben- und Schwulenbewegung in Florida zu helfen, darunter ein Anita-Bryant-Ähnlichkeitswettbewerb und eine »Mond über Miami«-Party im Castro Theater, einem Kino mit Sehenswürdigkeitsstatus in San Francisco. Bei dieser Party küßte Armistead Maupin, der schon damals stadtbekannte Autor der Stadtgeschichten, Bürgermeister George Moscone auf die Wange und verkündete, er sei ein unwiderstehlich »knackiger« Bürgermeister.
Am 29. April 1977 starb J., nur wenige Monate nach ihrer Diagnose und zwei Wochen nach ihrem vierunddreißigsten Geburtstag. Ich konnte niemals vergessen, daß Anita Bryant Homosexuelle als »menschlichen Abfall« bezeichnet hatte, weil ich diesen Ausspruch an dem Tag las, als J.s Leichnam verbrannt wurde.
In den folgenden Monaten verging meine Depression allmählich, und ich beschloß, das Castro-Straßenfest zu besuchen. Wie war es nur möglich, daß ich durch eine so riesige feiernde Menge lief und mich so einsam fühlte? Ich schlenderte die Castro Street in Richtung Neunzehnte. Harvey Milk saß vor seinem kleinen Laden »Castro Camera« in einer Jahrmarktsbude auf einem Klappbrett, das über einem Wasserbassin angebracht war. Er kandidierte für die Bezirksverwaltung vom 5. Bezirk, und er war bekannt als der schwule Bürgerrechtler mit dem größten Charisma. Ich sah zu, wie Softballs auf eine Metallzielscheibe in der Bude geworfen wurden; bei jedem Treffer klappte das Brett weg, und Harvey rutschte ins Wasser. Als ich sah, was auf die Zielscheibe geklebt war, konnte ich nicht widerstehen: ein Foto von Anita Bryant.
Ich zahlte meinen Dollar, stellte mich in die Schlange und nahm drei Softballs. Harvey Milk saß triefend in der kühlen Frühlingsbrise und starrte mich etwas trübselig an. Ich warf den ersten Ball hoch und weit, und er grinste. Ich konnte meine Augen nicht von seinen lösen. Er hatte etwas Besonderes an sich, eine ganz eigene Leidenschaft, die über den Ehrgeiz nach persönlichem Ruhm und Erfolg hinausging. Es wurde plötzlich ganz still rund um die »Tunk-Bude«. Ich war die einzige Frau an der Wurflinie, und das spielerische Necken und Aufziehen Harveys hatte aufgehört. Ich warf den zweiten Ball ein paarmal hoch und lächelte Milk an. Als ich den Ball auf Anita Bryants Gesicht schleuderte, legte ich all meine Kraft in diesen Wurf, aber ich traf daneben. Harvey grinste wieder mutwillig und plätscherte mit seinen langen Füßen im Wasser. Ich ließ ihn nicht aus den Augen und warf den dritten Ball absichtlich daneben. Ich brachte es einfach nicht fertig, ihn ins Wasser zu tunken, und er wußte es. Harvey Milk lachte, doch Sekunden später trat ein großer blonder Mann an die Wurflinie und traf das Bryantfoto frontal und mit aller Wucht. Ich blieb eine ganze Weile stehen und sah zu, wie Harvey mindestens hundertmal im Wasser landete.
Obwohl Harvey Milk an jenem Tag so unglaublich oft getauft wurde, siegten Anita Bryant und »Rettet unsere Kinder« in Florida mit überwältigender Mehrheit. Sie kehrte in ihrem monogrammgeschmückten Rolls Royce in ihr Anwesen von Biscayne Bay zurück, wo sie von einer begeisterten Menge mit ihrem Lieblingschoral begrüßt wurde. Als nächstes tanzte sie eine Gigue.
Dieser Tag wurde als »Orange Tuesday« bekannt, und das Abstimmungsergebnis brachte in San Francisco sechstausend Leute auf die Straße. Harvey Milk hatte für solche Gelegenheiten eine Marschroute durch die Stadt entworfen, die aus dem Castro-Viertel heraus und die steilen Hügel von San Francisco hoch bis zum Fairmont Hotel und der Grace-Kathedrale führte. Die Wut der Menge konnte sich beim Marschieren austoben.
Am 22. Juni 1977, wenige Tage nach dem »Orange Tuesday«, wurde ein Mann namens Robert Hillsborough in San Francisco von vier Jungen erstochen, die »Schwuchtel! Schwuchtel!« brüllten, während er zu ihren Füßen starb. Seine Mutter Helen Hillsborough verklagte Anita Bryant und »Rettet unsere Kinder« wegen Aufhetzung und Schürens von Gewalt, die zum Tod ihres Kindes geführt hatte. Robert Hillsborough war Gärtner gewesen. Am Christopher Street Day 1977, nur wenige Tage nach seiner Ermordung, legten Hunderte von Menschen spontan Blumen auf die Treppe vor dem Rathaus, um seiner zu gedenken. Ich stand neben der sitzenden Statue von Abraham Lincoln an dieser Treppe und sah zu, wie der Blumenberg wuchs und wuchs. Den Namen Robert Hillsborough werde ich niemals vergessen.
Am 2. Juli 1977 packten fünf Teenager einen schwulen Mann namens Charles Lewis, und während zwei Mädchen ihm Pistolen an den Mund hielten, wurde er über eine Mülltonne gelegt und von zwei der drei Jungen vergewaltigt, die schrien »Anita hat recht! Anita hat recht!« Er kam mit dem Leben davon. Anita Bryants Reaktion auf diesen Vorfall und den Mord an Robert Hillsborough war: »In San Francisco wird jeden Tag ein Homosexueller ermordet... Ich habe ein reines Gewissen.« Damit hatte sie der Redewendung »auf den Gräbern der Toten tanzen« eine neue Bedeutung gegeben. Sie veröffentlichte ein Buch mit dem Titel »Die Geschichte der Anita Bryant: Das Überleben der Familien in unserem Lande und die Bedrohung durch militante Homosexuelle«.
Die San Franciscoer ließen sich von Anita Bryant nichts vormachen. Im November 1977 wurde Harvey Milk in die Stadtverwaltung gewählt. Er war siebenundvierzig Jahre alt und hatte eine klare Zukunftsvision: Er sah die Gesellschaft als ein Ganzes und dachte darüber nach, wie die Lesben und Schwulen in dieses Ganze paßten. Er dachte über Koalitionen nach, und seine Traumvorstellung von der lesbisch-schwulen Bewegung ging über San Francisco hinaus, war landesweit. Seine Wahl entsetzte die homosexuellen Politclubs, die ihn als Eindringling, als Radikalen, als schwerwiegendes Imageproblem betrachteten. In Wahrheit war er nicht so auf den politischen Plan getreten, wie es ihren Vorstellungen entsprach: Er verbündete sich nicht nur mit der Mittelklasse, sondern auch mit den Schwarzen und dem Fußvolk von den Gewerkschaften. Doch abgesehen von dem engmaschigen Klüngel lesbischer und schwuler Politikerinnen war die Gemeinde insgesamt begeistert über seine Wahl. Hoffnung kam auf. Ich weiß noch, wie ich meine Stimme abgab, ich stach die Nadel mindestens ein dutzendmal durch die Nummer neben seinem Namen, um sicherzugehen, daß es auch deutlich war.
Harvey Milk war effizient in der Legislative. Im April 1978, nur vier Monate nach seiner Wahl, hatte er die nötigen Stimmen von der Stadtverwaltung beisammen und stand stolz daneben, als Bürgermeister George Moscone den lesbisch-schwulen Bürgerrechtserlaß unterschrieb und rechtskräftig machte.
Dann kam der kalifornische Senator John Briggs mit Antrag Nr. 6, der erklärte, daß alle lesbischen und schwulen Lehrer von den staatlichen Schulen fliegen sollten, damit die Kinder vor Verführung und Vergewaltigung geschützt waren. Doch Briggs ging bei dem Versuch, im Kielwasser von Anita Bryants landesweiter Kampagne seine Macht zu vergrößern, zu weit, und das war nur gut so. In der Briggs-Initiative stand auch, daß heterosexuelle Lehrer, die sich für lesbische und schwule Kollegen einsetzten, ebenfalls gefeuert werden sollten; Briggs und Bryant schraubten ihre Forderungen immer höher. Inzwischen war Anita Bryant im Sponsorenrausch. Sie bereitete, unter Zuhilfenahme »bibelinspirierter Techniken«, eine Reihe von »Beratungszentren« für die Behandlung »sexueller Perversionen und moralischer Probleme« vor. »Mit Gottes Hilfe«, sagte sie, »werden wir intensive Behandlungseinrichtungen auf Ranches und Farmen schaffen, die uns, wie wir hoffen, zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt werden.« Es blieb offen, ob diese »Ranches und Farmen« freiwillig aufgesucht oder der Polizei eines Staates unterstellt werden sollten. Im gleichen Juni rief Anita Bryant zu einer landesweiten Gebetsdemonstration, einem »Pray-in« am Christopher Street Day auf. Ihre Presseerklärung erläuterte, unser Feiertag sei »das Verachtenswerteste und Unerhörteste, was je in Amerika passiert ist. Es wird Zeit, daß die Christen unseres Landes sich vereinen, um mit spirituellen und gesetzlichen Mitteln gegen diese ansteckende Sittenlosigkeit anzukämpfen und sie zu beenden.« Doch immer noch gab es Hoffnung. In der Julinummer des Ladies' Home Journal stand, daß Teenager bei einer Umfrage in den Staaten Colorado, Indiana, Missouri, New York und Florida Adolf Hitler und Anita Bryant als die beiden Menschen benannt hatten, die »der Welt den größten Schaden zugefügt« hätten. Wenn Anita Bryant Aufmerksamkeit erregen wollte, dann war ihr das landesweit gelungen.
Im Hintergrund, in der Lokalpolitik von San Francisco, gab es noch jemanden, der verzweifelt Aufmerksamkeit erregen wollte. Er hieß Dan White, und er war neben Harvey Milk ebenfalls in die Stadtverwaltung gewählt worden. Dan White war ein unreifer Mensch, den man niemals in ein öffentliches Amt hätte wählen sollen. Als Jugendlicher drangsalierte er andere auf dem Schulhof mit rassistischen Übergriffen. Das war nicht die beste Voraussetzung, um emotional mit dem scharfen Wind umgehen zu können, der in der Politik von San Francisco wehte, wo ohne die Kunst des Kompromisses nichts ging. White wurde ständig von dem flamboyanten und effektiven Führungstalent Harvey Milks überflügelt, und er schäumte vor Neid und Wut. Er war der einzige Verwaltungsbeamte gewesen, der gegen den Bürgerrechtserlaß gestimmt hatte, und er warnte die lesbisch-schwule Gemeinde, der Wind könne bald umschlagen.
Als Briggs seine Kampagne startete, war J. noch kein halbes Jahr tot, und ich unterrichtete an der Lowell High School, dem staatlichen Gymnasium für Hochbegabte in San Francisco. Jeden Tag, wenn ich vor meiner Klasse stand, war mir bewußt, daß ich lesbisch war. Es war albern, das war mir klar, aber ich konnte nicht entspannt damit umgehen. Niemand in der Schule wußte über mich Bescheid, J. war tot, und meine Sexualität kam mir irrelevant vor, weil ich mir nicht vorstellen konnte, je wieder einen Menschen zu lieben. Es war zu dem Zeitpunkt auch einfacher, eine tote Frau zu lieben. Da konnte mir nichts weggenommen werden. Niemand konnte viel ausrichten. Keine Abstimmung, kein Gerichtsurteil konnte mir etwas anhaben.
Wenige Tage vor der Abstimmung über die Briggs-Initiative benutzte ein Junge in der elften Klasse, wo ich »Kreatives Schreiben« unterrichtete, den Ausdruck faggots.[6] Ich stand zu meinem eigenen Erstaunen auf und fragte mit meiner vollkommen distanzierten und rationalen Lehrerinnenstimme: »Weiß irgend jemand von euch, woher das Wort faggots in bezug auf schwule Männer kommt?« Nach meinem Ton zu urteilen, hätte ich genau so gut danach fragen können, wer den Göttern das Feuer stahl und es der Menschheit brachte.
Die Klasse war still, einige Münder standen offen. »Schwule Männer wurden als Brennholz benutzt«, erklärte ich. »Wie Reisigbündel oder Scheiterhaufen, auf denen Hexen verbrannt wurden. Viele der Hexen waren unverheiratete oder lesbische Frauen, und was sie besaßen, wurde konfisziert und den >normalen< Leuten, den >richtigen< Familien gegeben.«
Keiner rührte sich. Es war totenstill in dem heißen, sonnenüberfluteten Klassenzimmer.
»Ich dulde in dieser Klasse keine schwulenfeindlichen, rassistischen oder anderen diskriminierenden Bemerkungen«, sagte ich.
Und das war's. Dachte ich. Zurück zum kreativen Schreiben. Doch ein großer rothaariger Junge hob seine Hand und sagte: »Ich möchte etwas sagen.« Keiner rührte sich. Ich dachte, jetzt ginge es gegen mich.
»Ihr alle kennt mich, seit ich auf diese Oberschule gehe«, sagte er, »aber meinen Vater habt ihr nie kennengelernt. Ich möchte, daß ihr wißt, daß er schwarz war, und ich habe die Nase voll davon, daß ihr ständig >Nigger< sagt, wenn keine Schwarzen in der Nähe sind.«
Ich verstand nicht gleich, warum er diesen Zeitpunkt gewählt hatte, um etwas zu sagen, doch dann begriff ich, daß er über seine Unsichtbarkeit sprach, daß er es leid war, den Preis dafür zu bezahlen. Der Junge sah kein bißchen schwarz aus, und deshalb war seine Herkunft unsichtbar geblieben. Er war als »normal« durchgegangen, so wie ich jeden Tag durchging, aber er hatte den Mut, sein Schweigen zu brechen.
Das wäre die perfekte Gelegenheit gewesen, mich in der Klasse zu outen: »Ach übrigens, eure Lehrerin ist lesbisch«, aber ich schaffte es nicht. Es wurde allgemein mit Briggs' Sieg gerechnet; J. war tot; ich konnte meine Gefühle und Gedanken kaum weiter als ein paar Stunden im voraus überschauen; und Anita Bryant organisierte Ranches, die wohl wenig Ähnlichkeit mit Bonanza haben würden. Meine emotionalen Kräfte waren aufgezehrt, und ich wollte nicht auch noch meinen Lebensunterhalt verlieren. Aus all den Jahren, die ich mich versteckt hatte, wußte ich, wie tief Rassismus und Homophobie bei den Etablierten und Mächtigen verwurzelt waren. Zwar galt das so nicht für meine Familie an der Ostküste, aber meine Verwandten wußten trotzdem nur wenig und vage über mein Leben Bescheid. Die lesbisch-schwule Gemeinde war jugendorientiert; noch war die Zeit vor Aids, und es gab kein Bewußtsein vom Tod, es sei denn, durch Selbstmord oder Mord. Ich hatte einfach niemanden, mit dem ich hätte reden können. Mitten in der Nacht bildete ich mir ein, J. zu sehen oder sie sprechen zu hören, und wenn ich endlich einschlief, träumte ich von ihr. Ich fühlte mich labil. Unmöglich, mich der Basis anzuschließen, der konfrontativen Kampagne gegen Briggs, unmöglich, Dinge zu tun, wie zu meiner Bank zu gehen und dem Schalterangestellten eine kleine Karte zu geben, auf der stand: »Ich bin lesbisch. Bitte stimmen Sie mit Nein gegen Antrag Nr. 6.«
Ich war überzeugt davon, daß ich ohnmächtig und emotional unfähig sei, gegen die riesige Machtbasis der Briggs-Kampagne anzugehen. Ich wußte, daß Briggs viel Geld aufgetrieben hatte, Sponsoren wie etwa die San Francisco Chartered Bank of London und ARCO, die Atlantic Richfield Company. In der Stadt waren Schilder aufgestellt worden, auf denen stand: »Schwule, Lesben und andere Perverse RAUS«. Zwar konnte man davon ausgehen, daß viele derer, die solche Schilder aufstellten, nicht aus San Francisco stammten; mitten in der Nacht fuhren Leute in die Stadt, die »auf Jagd« gingen. Als die lesbisch-schwule Gemeinde versuchte, die Abstimmung dieses Antrags im Vorfeld zu verhindern, schrie Briggs »Repression« und »Zensur«. Das ist eine Taktik, die oft gegen die Bewegung angewandt wird und das liberale Establishment oft verwirrt, das sie ansonsten durchaus unterstützt.
Während all dies geschah, gründete Tom Ammiano die »Koalition lesbischer und schwuler Lehrer und Schulangestellter«. Er war der erste schwule Lehrer in den USA, der sein Schulamt provozierte, und er trug dazu bei, daß in das Curriculum des Schulsystems unter der Rubrik »Familienleben« positive Bilder schwulen Lebens einbezogen wurden, was angesichts des politischen Klimas mehr als ungewöhnlich war. Tom Ammiano war ein schlanker, redegewandter, leidenschaftlicher Mann italienischer Herkunft. Er war außerdem sehr witzig und setzte seinen Sinn für Humor als Schutzschild und Waffe ein. Ich sah ihn im Fernsehen und in der Presse, wie er Angriff auf Angriff abwehrte: »Hey, tolle Schuhe haben Sie! Schade, daß Sie so eine Scheißpolitik machen!« Obwohl mir mindestens ein Dutzend guter Gründe für mein Schweigen einfielen, kam ich mir wie ein Feigling vor, daß ich ihm nicht zur Seite stand. Nach allem, was ich gesehen hatte, stellte Sichtbarkeit von Lesben und Schwulen ein rotes Tuch dar, das den Untergang herausforderte, und ich hatte Angst unterzugehen.
Briggs attackierte Lesben und Schwule mit unglaublicher Bösartigkeit. Er verkündete: »Hier geht es nicht um Bürgerrechte«, und warnte alle, nur Antrag Nr. 6 könne verhindern, »daß Homosexuelle Zugang zu Ihren Kindern bekommen. Darum geht es: Wollen Sie, daß Homosexuelle Zugang zu Ihren Kindern bekommen, oder wollen Sie es nicht?«
Briggs, der nicht aus der Stadt war, stellte sich auf die Stufen des Rathauses und erklärte, San Francisco sei «die moralische Müllhalde der Nation«.
Kurz nach seiner Wahl nahm Harvey Milk ein Tonband auf. »Dies soll nur für den Fall meiner Ermordung abgespielt werden. Mir ist vollkommen bewußt, daß ein Mensch, der für das steht, was ich vertrete, (...) daß ein schwuler Aktivist zur potentiellen Zielscheibe für jemanden wird, der unsicher, ängstlich oder gestört ist. Im Bewußtsein der Tatsache, daß ich jederzeit ermordet werden kann...«
Milk bildete ein Team mit Sally Gearheart, einer Rhetorikprofessorin an der San Francisco State University, um die Opposition gegen die Briggs-Initiative anzuführen. Geduldig und gewandt leiteten sie Debatten und forderten Präsident Carter öffentlich dazu auf, die Menschenrechte, für die er sich so einsetzte, auch den Millionen lesbischer und schwuler Menschen in den USA zu gewähren.
Am Abend der Wahl saß ich um acht Uhr mit meinen Mitbewohnern vorm Fernseher und wartete auf die Ergebnisse. Zu der Zeit wohnte ich zwei Blocks von der Castro Street entfernt. Die Spannung war kaum auszuhalten. Niemand glaubte so recht daran, daß der Antrag Nr. 6 abgelehnt würde. Wir waren nicht mal sicher, ob das in San Francisco gelang. Als der Nachrichtensprecher verkündete: »Nach unseren Hochrechnungen sieht es aus, als hätte der Bezirk Orange County gegen die Briggs-Initiative gestimmt«, begriff ich die Bedeutung dieser Tatsache nicht sofort.
Doch meine Mitbewohnerin, die lesbische Tochter eines Fundamentalistenpredigers aus Orange County in Südkalifornien, erklärte mir, damit hätte die Initiative verloren, denn dieses County war der konservativste Bezirk des ganzen Staates. Wir gingen gleich zur Castro Street und zum Hauptquartier von »Nein zu Nr. 6«. Die Leute kamen aus ihren Wohnungen und aus den Bars und fielen sich in die Arme, einige weinten. Seit Harvey Milks Wahl hatte es keinen solchen Sieg gegeben. Dieser Erfolg war noch spektakulärer, er ging über San Francisco hinaus. Neue Koalitionen hatten sich gebildet. Ich war bewegt, als ich Harvey Milk sah, wie er im Hauptquartier der Kampagne die Bühne erklomm. Ich glaubte an diesen Mann, und ich wollte, daß mein Leben nicht mehr in ein Ghetto eingezwängt blieb. Als erstes nahm ich mir mein Coming-out in der Familie vor.
Der Antrag Nr. 6, die Briggs-Initiative, wurde am 8. November 1978 abgeschmettert. Neunzehn Tage später, am 27. November 1978, schnallte sich Stadtrat Dan White unter seiner Kleidung eine geladene Pistole um, steckte weitere Munition in seine Tasche und kletterte durch ein Kellerfenster ins Rathaus, um den Metalldetektor zu umgehen. Zuerst erschoß er Bürgermeister George Moscone, dann ging er zum anderen Ende des Rathauses, wo er seinen Kollegen Harvey Milk niederknallte. Er feuerte drei Kugeln auf den Bürgermeister und fünf auf Harvey Milk ab. Den letzten Schuß zielte er direkt auf Harveys Schädel, die Pistole an seiner Schläfe.
Innerhalb der nächsten Stunden verbreitete sich die Nachricht, daß sich alle beim Dunkelwerden mit einer Kerze einfinden sollten. Als die Nacht über San Francisco hereinbrach, ging ich die zwei Straßen bis Castro Street. Man konnte nicht übersehen, wie viele Menschen da waren. Ich hielt meine Hand über die Kerzenflamme, und meine Haut wurde vom Feuer versengt. Ich zog die Hand weg, schaute hoch und sah nur noch Tausende von blinkenden Lichtern in der Dunkelheit um mich her. Es war totenstill, und dann setzte sich der Zug in Bewegung. Die Leute standen da und beobachteten uns beim Vorbeimarschieren, viele mit gesenkten Köpfen, Hüte und Mützen in den Händen. Ab und zu wurde etwas geflüstert, aber eigentlich erinnere ich mich nur noch an das leise Geräusch der Schuhe auf dem Asphalt und an das ferne Schlagen einer Trommel, die die Prozession anführte. Ich wärmte mir die Hände an dem durchsichtigen Glasgefäß, in dem meine Kerze stand. Es war ein Marsch wie im Traum, ein Alptraum, der keine Angst machte, weil ich nicht allein und weil der Mord nicht unerwartet gekommen war. Es hätte mich eher überrascht, wenn Harvey Milk nicht umgebracht worden wäre.
Ich lief in der letzten Welle der Demonstration. Als ich mich dem Rathaus näherte, hörte ich die Sprecher, deren Stimmen durch die Stille schwebten, von den Fassaden des Civic Centers abprallten, kurz zitterten und sich dann über dem spiegelnden Bassin auflösten. Ich kannte den Klang genau. Es war das Geräusch brechender Herzen. Jetzt war ich nicht mehr allein in meiner Erfahrung mit dem Tod. Als ich um die Ecke zum Civic Center bog, hörte ich Joan Baez' unverwechselbare Stimme, die »Kumbaya« sang; ich stellte mich neben die Statue des sitzenden Abraham Lincoln an den Stufen zum Rathaus. Es war unmöglich, Baez zuzuhören und nicht von der Trauer gepackt zu werden. Als ihr letzter Ton verklungen war, hoben wir unsere Kerzen, und das Weinen der Menschen vermischte sich eigenartig mit dem Singen der Vögel in den Bäumen. Ich weinte, auf eine neue Art, die ich zu Hause im stillen Kämmerlein gelernt hatte. Es war weniger anstrengend, weniger schwer, die Tränen einfach laufen zu lassen und sich nicht um das ganze Begleittheater zu kümmern, die bebenden Schultern, die Qual. Zum ersten Mal sah ich den anderen Menschen der Prozession ins Gesicht und bemerkte, daß die Menge nicht bloß aus Lesben und Schwulen bestand. Viele »Normale« waren da, Kinder, ältere irische und italienische Damen mit verschleierten Hüten, ihre Lackhandtäschchen in der einen, die Kerzen in der anderen Hand. Ich dachte gerade, daß ich noch nie nachts die Vögel hatte singen hören, als ich links neben meinem Kopf sich bewegende Lichter bemerkte. Die Statue Abraham Lincolns strahlte im Kerzenschein. Die Trauernden hatten ihre Kerzen vorsichtig auf seine sitzende Gestalt gestellt, die sich vorbeugte, als hörte sie den Worten eines Bittstellers sehr aufmerksam zu. Die Kerzen standen auf Lincolns Schultern, seinen Händen und Knien, Wachs rollte über sein Gesicht, seine Wangen. Ich stellte meine Kerze neben einen seiner Füße.
In einer Gallup-Umfrage, die zwischen dem 1. und dem 4. Dezember 1978 durchgeführt wurde, wenige Tage nach der Beerdigung von George Moscone und Harvey Milk, rangierte Anita Bryant auf Platz 7 der von amerikanischen Erwachsenen meistbewunderten Frauen; sie war beliebter als Königin Elizabeth II. Ich knallte die Tür zu meinem Versteck wieder zu.
Bryant und Briggs waren nicht so erfolgreich, wie sie gehofft hatten, aber sie hinterließen eine Erbschaft. Sie spielten wichtige Rollen in der fundamentalistischen Armee, die eine politische und finanzielle Machtbasis aufbaute, von der aus die fanatischsten »Prämillennialisten« ihre Angriffe starten konnten. (Die Prämillennialisten glauben, daß alle, die nicht von Jesus Christus »gerettet« worden sind, bei seiner Wiederkehr vernichtet werden, während die Geretteten im Verlaufe dieser Vernichtung von der Erde gen Himmel fahren. Dieses sehnsüchtig erwartete Ereignis heißt »Entrückung«.) Die Finanzberater der Rechten entdeckten, daß sich mit der Verteufelung von Lesben und Schwulen außergewöhnlich erfolgreich Parteispenden mobilisieren ließen, das war viel wirksamer als der Sekretärinnen-»Mörder« Ted Kennedy. Es wurde immer deutlicher, daß es unterm Strich um Geld ging, man konnte ein Vermögen machen.
Bis 1980 hatten die Republikaner diese frisch politisierte Gruppe integriert und ihre Geschäfte mit ihr gemacht. Bis 1990 waren an Bryants und Briggs' Stelle der Fernsehprediger Pat Robertson, der Senator von North Carolina Jesse Helms und die »Koalition der Traditionellen Werte« getreten. Es gab immer jemanden, einen Gebetskrieger oder einen Präsidentschaftskandidaten, der sich an die Frontlinie drängelte, um die Homosexuellen anzugreifen. Die glühende Überzeugung, daß Lesben und Schwule um jeden Preis bekämpft werden müssen, beruht auf zwei Argumenten: Wenn Lesben und Schwule von ihren Bürgerrechten reden, stören sie damit den Prozeß der »Rettung« von Seelen, die ansonsten geeignet wären, an der »Entrückung« teilzuhaben; und sie bedrohen die amerikanische Familie. Doch es sind nicht diese radikalen Fundamentalisten, die mir kalte Schauer den Rücken hinunterlaufen lassen. Diese Ehre gebührt den politischen Erfüllungsgehilfen, die nicht mal selbst glauben, was sie verbreiten, sondern nur Befehle ausführen und auf Wählerfang unterwegs sind.
Auch 1990 kamen noch immer die Schläger mit Lieferwagen nachts in die Stadt, schrien »Scheißlesben!« und »Schwule Säue!« und prügelten Lesben und Schwule, manchmal zu Tode. So vieles hatte sich verändert - und so vieles nicht.
Die Stunden schleppten sich dahin, und der Tagesanbruch flimmerte grau am Horizont am zwölften Jahrestag der Ermordung von Milk und Moscone. Ich ging in Jesses Zimmer, zog seine Bettdecke hoch und setzte mich auf die kleine Couch an der Wand. Sein Zimmer war sehr klein, nur zwei mal vier Meter. Über seinem Bett hing eine Originalzeichnung mit dem Titel »Sternenbaby« von Maggie Wingfield, ein kleiner Junge vor dem tiefblauen Hintergrund des Kosmos. Auf seinem Kopf balanciert er das magische Sternenbaby. An der zweiten Wand hing eine kleine, braungerahmte Zeichnung von zwei Beaglewelpen. Dieses Bild hatte auch in Cheryls Kinderzimmer über dem Bett gehangen. Über einem Sekretär hing ein Foto von meinem Vater und Jesse, die sich umarmten.
Im Schlaf streckte Jesse seine Arme über den Kopf. Er wölbte seine Hände wie der Junge, der das Sternenbaby auf dem Kopf balancierte. Hinter meiner Dankbarkeit, daß es Jesse in meinem Leben gab, lag tiefe Wut auf ein System, das von mir Verständnis verlangte; Verständnis dafür, daß es bloß »die Politik des Amtes« war, mich für so unwichtig in seinem Leben zu erklären, daß das Gericht die Sozialarbeiterin zwingen mußte, einen Hausbesuch zu machen. Im übrigen wußte ich durchaus, daß in anderen Teilen Kaliforniens die Bemühungen, Hausbesuche zu erzwingen, erfolglos blieben.
Die Wogen der Liebe, die ich für Jesse empfand, brachen sich an einem Wall der Angst bei der Überlegung, wie verletzlich er möglicherweise durch meine Rolle in seinem Leben wurde. Ich hatte dazu beigetragen, daß dieser kleine Junge in die Situation gekommen war, zwei Mütter in einer heterozentrischen Welt zu haben. Nun hatte ich die Wahl. Ich konnte meine Gefühle für ihn und seine für mich verleugnen und die beiden Menschen, die ich am meisten auf der Welt liebte, verlassen - mit einem irgendwie heroischen Bild davon, wie ich sie durch meine Abwesenheit schützte; oder ich konnte hinaustreten in die Sichtbarkeit und alles tun, was ich konnte, um ihm den Weg zu glätten. Ich würde ihn niemals verleugnen können, unmöglich. Wenn ich daran dachte, übertraf der Schmerz alles, was ich bei J.s Tod empfunden hatte. Ich würde mich sichtbar machen, das war der erste Schritt. Ich würde damit anfangen, an diesem Abend am Gedenkmarsch für Harvey Milk teilzunehmen. Was ich aus Angst nicht tun konnte, brachte ich aus Liebe fertig.
Leise schloß ich Jesses Tür und stand einen Augenblick im Flur, wo ein gerahmtes Bild hing. Der Flur war die einzige Stelle im Haus, die kein direktes Sonnenlicht abbekam; auf diese Weise wollte ich das Bild vor dem Verblassen schützen. J. hatte mir in ihrem Testament einen Kunstdruck von Jean Cocteaus Zeichnung des jungen, zornigen Dichters Rimbaud hinterlassen. In einer Hand hält er ein Buch, einen grünen Zweig in der anderen, und sein katholisches Konfirmationsband ist um seinen rechten Arm gebunden. Um Rimbauds Porträt herum hatte Cocteau auf Französisch geschrieben: »Er hat die Heuchler in Brand gesetzt. Er hat die Spiele zerstört.«
An jenem Abend war die Luft klar und frisch, wie Novemberabende in San Francisco sein können, und der Nebel hing hoch oben über den Twin Peaks, oberhalb des Castro-Viertels. Ich hielt abrupt an der Ecke Noe/Market Street inne; beinahe wäre ich auf etwas sehr Merkwürdiges getreten. Vor meinen Füßen befand sich ein auf den Bürgersteig gezeichnetes Bild. Es hatte eine starke Ähnlichkeit mit Harvey Milks Kopf, der aber von einem Heiligenschein umgeben war. Seine Hände waren erhoben neben seinem Gesicht, das einen Ausdruck spöttischer Überraschung trug, als würde er gleich wieder in der Tunk-Bude getauft. Ich sah genauer hin und bemerkte zwei rote Farbflecken mitten auf seinen Handflächen, wie Stigmata. Über dieser sorgfältig ausgeführten, etwa sechzig mal sechzig Zentimeter großen Zeichnung stand die Frage: WAS WÜRDE HARVEY DAZU SAGEN ? Wozu denn, fragte ich mich. Etwas weiter stand noch etwas auf dem Bürgersteig: TAUSENDE MILITANTE HOMOSEXUELLE.
Anita Bryants Mythos vom militanten Homosexuellen wurde wahr, während sie selbst in der Bedeutungslosigkeit versunken war. Sie lebt heute in Eureka Springs in Arkansas und singt im Großherzoginnen-Saal des Four Runners Inn ihre Show zweimal pro Abend. Sie beendet jede Show mit den Liedern »Gott segne Amerika« und dem »Schlachtlied der Republik«; und obwohl seine Mutter sie nie vergessen wird, erinnert sie sich ganz bestimmt nicht mehr an Robert Hillsborough, den freundlichen Gärtner, der in der heißen Phase ihrer Haßkampagne ermordet wurde, weil er schwul war.
Die Menge wurde immer größer an der Ecke Castro/Market Street, die inzwischen in Harvey Milk Plaza umbenannt worden war. Mitglieder der Christopher Street Day-Marschkapelle trafen ein, beladen mit ihren Blasinstrumenten und Trommeln, und die langen weißen Federn auf ihren Hüten standen starr im Licht der Dämmerung. Sie sammelten sich hinter einem Triebwagen der Straßenbahn. Ich wußte, daß die meisten dieser Musiker eine neue Generation waren. Vor Jahren war Cheryl in der Kapelle marschiert, sie spielte die Pauke. Sie hatte diese Kapelle toll gefunden, und man hatte sie das Instrument ihrer Wahl spielen lassen, wahrscheinlich, so dachte sie, weil sie so begeistert waren, daß eine Frau beigetreten war. Die meisten der ursprünglichen Musiker, darunter auch ihr Leiter Jon Sims, waren inzwischen an Aids gestorben. Die Kapelle war seit der Nacht der Morde nicht mehr bei einem Gedenkmarsch für Milk und Moscone gewesen, und damals hatte nur eine Trommel geschlagen.
Lesbische und schwule Polizei stand am Rand der stetig anwachsenden Menge. Das Haar der Polizistinnen war perfekt gestylt und geschnitten; ihre Uniformen waren knackig, die Pistolen ruhten in den Hüftholstern. Diese Pistolen sahen in meinen Augen riesig aus, und ich fand es lustig, daß die Polizistinnen sich bewegten, als wären sie körperlich riesig. Der typische Bullengang, den ich bis dahin nur bei Männern bemerkt hatte.
Es wurde bald klar, daß diesmal nicht nur die üblichen paar Hundert Demonstranten zusammenkamen. Ich sah Tom Ammiano und wollte ihm zu seiner Wahl ins Schulamt gratulieren. Aber ich fühlte mich unbehaglich bei dem Gedanken, zu ihm zu gehen, weil ich ihm vor vielen Jahren in der »Nein zum Antrag Nr. 6«-Kampagne als lesbische Lehrerin nicht beigestanden hatte. Ich begab mich in die Menge und stand plötzlich neben der Kosmic Lady, einem exzentrischen Original von San Francisco. Sie erläuterte ihrem Publikum globale und galaktische Glasnost sowie persönliche und planetare Perestroika (Gorbatschow war noch im Amt). Da sah ich Gilbert Baker direkt auf mich zukommen. Er trug einen dunklen, konservativen Wintermantel und weiße Turnschuhe. Er hatte für den Abend seine Dornenkrone zu Hause gelassen. Seine Hände steckten in den Manteltaschen, und er lächelte wie ein glücklicher, übermütiger kleiner Junge. Er lief neben Cleve Jones her, der Harvey Milks Assistent im Rathaus gewesen war. Cleve war inzwischen einer unserer besten Sprecher; er hatte seine Idee vom Quilt umgesetzt, jenem episch langen Teppich, der an die Aids-Toten erinnerte; diese Idee wurde als »Projekt der Namen« bekannt.
Der Marsch setzte sich in Bewegung, die Atmosphäre war aufgeladen. Der »Lila Erdrutsch« hatte der Bewegung neue Energie gegeben. Spruchbänder verkündeten die Anwesenheit des Vereins Asiatischer Schwuler, des Demokratischen Harvey-Milk-Clubs, von ACT UP und Queer Nation. Es waren mittlerweile fast tausend Demonstranten dabei. Die ganze Zeit ging ich neben Gilbert Baker her. Während der gesamten Route der Parade kamen einzelne Leute zu ihm, als wollten sie ihm Ehre erweisen. Zahlreiche von den ganz Jungen, die bei Queer Nation mitliefen, kannten ihn, und obwohl er fast vierzig war, betrachteten sie ihn als einen, der dazugehörte. Warum auch nicht? Seine politische Zeichentrickgestalt hatte die Gebetskrieger bei der GHOST-Demo wahnsinnig gemacht und die Aufmerksamkeit der Presse erregt. Gilbert Baker stammt aus Kansas, ist der Sohn eines Richters, Fan von Barbra Streisand und ein Veteran der Vietnam-Ära. Er glaubt, daß jegliche Kunst exhibitionistisch ist, weil es darum geht, einen privaten Traum wahrzumachen. Er hält die Queer-Nation-Kämpfer für Engel.
»Was soll das eigentlich heißen >Was würde Harvey dazu sagen<?« fragte ich ihn.
»Das ist der Kampf zwischen den Anpäßlern und Queer Nation, zwischen denen unter uns, die sich nie verstecken könnten, und denen, die als >normal< durchgehen können.«
Er sah mich an, und ich wußte, was er dachte: »So wie du.«
Wir gingen unter der Autobahnbrücke durch, an der jemand ein Spruchband aufgehängt hatte: JEDE GESELLSCHAFT EHRT IHRE LEBENDEN KONFORMISTEN UND IHRE TOTEN UNRUHESTIFTER. Gilbert zeigte darauf und sagte: »Harvey Milk wurde von keiner schwulen Politclique unterstützt. Er wurde für zu radikal gehalten. Zu gefährlich. Das darfst du nie vergessen.«
Wir bogen um die Ecke, näherten uns dem Rathaus, und ich bemerkte, daß die Polizisten nicht mehr außerhalb der Menge marschierten, sondern Teil der Prozession geworden waren. Das war sehr bewegend, weil der Mörder Dan White Polizist gewesen war, bevor er in die Stadtverwaltung gewählt wurde. Ich hatte die T-Shirts mit der Aufschrift BEFREIT DAN WHITE nie vergessen, die damals einige Polizisten getragen hatten, aber in diesem Augenblick, als ich sah, wie die lesbischen und schwulen Polizisten sich der Demo anschlossen, begriff ich, daß es durchaus möglich war, innerhalb des Systems zu arbeiten.
Die Prozession kam an der Abraham-Lincoln-Statue vorbei. Mehrere junge Leute, die zur Zeit der Morde noch Kinder waren, stellten ihre Kerzen feierlich auf Lincolns Schultern und neben seinen Füßen ab.
»Ist das nicht eine schöne Tradition?« fragte ich eine junge Frau von Queer Nation, die ich an ihrer Lederjacke voller gelber Sticker erkannte. Sie starrte mich verständnislos an und steckte ihre Hände in die Taschen. Für jemanden mit einem Ohrring in der Augenbraue und dem Wort LABIA[7] hinten auf ihrer Jacke kam sie mir ziemlich schüchtern vor.
»Ach, das ist eine Tradition?« fragte sie.
Mir wurde klar, daß wir unsere Geschichte festhalten und weitergeben mußten, mit vielen verschiedenen Stimmen. Ich beschloß, mich auch als Schriftstellerin nicht länger zu verstecken. So wollte ich auch mein früheres Schweigen wiedergutmachen, vor allem während der Briggs-Attacke auf die Lehrer. Ich hoffte, daß ich danach auch die Frage »Was würde Harvey dazu sagen?« beantworten konnte. Und daß ich mir verzeihen konnte, damals, als er noch lebte, am Arbeitsplatz mein Coming-out nicht gewagt zu haben, wo dies das einzige war, worum er uns alle bat.
Am nächsten Abend war ich dran, Jesse ins Bett zu bringen. Er trug seinen blau-gelben Superman-Pyjama und hatte seinen Teddy im Arm.
»Lies mir Peter Pan vor«, befahl er.
Jesse konnte gar nicht genug kriegen von Peter Pan. Er liebte die Version von Mary Martin besonders, aber er mochte auch den Zeichentrick-Peter von Walt Disney, der so geschickt im Fechten war. Wir hatten das Videoband und die Kassette von Disney, mit dem Begleitbuch. Außerdem hatte er das Buch mit den Klangeffekten; man drückt beim Lesen auf den Rand neben den Bildern, und dann kommt Käptn Hooks Lachen heraus oder das Klirren der Schwerter.
An diesem Abend wollte Jesse aber das »große Buch«, eine aufwendig illustrierte Ausgabe der Originalversion von Sir James Barrie aus dem Jahre 1911, durch die wir uns langsam durcharbeiteten. Sir James sagte, daß Mrs. Darling jeden Abend den Kopf ihrer Kinder ordnete und für den nächsten Tag aufräumte, wobei sie ab und zu ein komisches Wort oder einen merkwürdigen Gegenstand fand. Ich wußte, daß es in Jesses Kopf nur so von Schwertern, Piraten und wilden Tieren wimmelte, und während ich ihm vorlas und seine Augenlider schwer wurden, spürte ich, wie eine andere Welt, wo Leben und Tod nicht wirklich waren, in seine eindrang und ihn in ihr Abenteuer hinüberzog.
Ich hörte an der Stelle zu lesen auf, wo Mrs. Darling einschläft, kurz bevor Peter in das Kinderzimmer kommt, um seinen Schatten wiederzuholen. Aber Jesse flüsterte: »Mehr Peter, bitte«, und so las ich weiter, bis Jesses Kopf vornüber und in eine Kindertrance fiel.
Sie träumte, daß das Nimmerland sehr nah herangekommen war und ein fremder Junge aus ihm ausgebrochen wäre - hierher. Der Junge erschreckte sie nicht, denn sie glaubte, daß sie ihn früher schon einmal gesehen hatte - in den Gesichtern vieler Frauen, die keine Kinder haben. Vielleicht ist er auch in den Gesichtern mancher Mütter zu finden. Im Traum hatte er den Schleier zerrissen, der das Nimmerland verbirgt, und sie sah Wendy und John und Michael durch das Loch im Schleier gucken.