Gilbert Baker alias Pink Jesus hatte sich Jeans und ein Rolling-Stones-T-Shirt angezogen. Ich half ihm, in den Lagercontainern des Rathauses - Harvey Milk nannte es immer »Schrathaus« - nach ein paar Fahnen in rot, orange und pink zu suchen, die er zur Amtseinführung von Bürgermeister Art Agnos gemacht hatte. Dieses Jahr zum Valentinstag sollte es möglich sein, eine sogenannte Haushaltspartnerschaft offiziell registrieren zu lassen; das heißt, jedes Paar in einer festen Beziehung, ganz gleich welcher sexuellen Präferenz, konnte sich bei der Stadtverwaltung von San Francisco eintragen lassen. Zum ersten Mal war so ein Gesetz in den Vereinigten Staaten durch ein Referendum angenommen worden.
Ich haßte es. So wie das Gesetz formuliert war, hatte kein Paar greifbare Vorteile davon, sich registrieren zu lassen. Man bekam ein Stück Papier, auf dem stand, daß jeder für den Lebensunterhalt seines Partners verantwortlich war, und das war's. Die Haushaltspartnerschaft hatte in punkto Krankenversicherung, Erziehungsberechtigung für die Kinder, Erbschaft oder Steuern nicht das geringste Gewicht vor dem Gesetz. Ich fand, es war ein Heiratsschwindel für die Parias.
Die internationale Presse und ein Heer von Fernsehkameras und Fotografen lungerte am Rathaus herum, wild auf lesbische oder schwule Paare, die sich von ihnen aufnehmen ließen. Sie mußten nicht lange warten. Den ganzen Tag über trugen sich Hunderte von Paaren ein. Es wirkte wie eine Ironie, aber hie und da, auf den Galerien des Rathauses postiert, eingerahmt von blau-goldenem, poliertem Schmiedeeisen, waren Trauben von Heterosexuellen anzutreffen, die echte Hochzeiten inszenierten. Mir war nicht klar gewesen, daß es eine Tradition gibt, am Valentinstag im Rathaus zu heiraten. Ich hatte immer in die Gegenrichtung geschaut. Warum sollten Lesben und Schwule sich die Mühe machen, etwas zu veranstalten, das für mich nur Theater war? So dachte ich auch jetzt noch, vor allem angesichts dieser glücklichen Hetero-Paare vor unserer Nase, die sich unter Applaus küßten und den Segen des Staates empfingen.
Ich begann zu filmen. Die Videokamera auf meiner Schulter vermittelte mir das Gefühl, ich sei eine falsche Journalistin. Ich stand an der Brüstung der Galerie im ersten Stock, vor dem Büro des Bürgermeisters. Während ich mit einem Schwenk die heterosexuellen Paare aufnahm, die gerade dabei waren, ihr Eheversprechen zu leisten, verharrte die Kamera auf Jean Harris. Sie war siebenundvierzig Jahre alt, kräftig und athletisch, und jedes graumelierte Haar lag an seinem Platz. Sie stand mir direkt gegenüber auf der anderen Seite der Rotunde, vor den massiven geschnitzten Eichentüren der Räume, wo der Stadtrat tagte. Sie ging zum Treppenabsatz der sechsunddreißig Marmorstufen, die sich mit einem großzügigen Schwung hinab ins Erdgeschoß auffächern.
Jean überwachte die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten der Haushaltspartnerschaft. Stühle wurden unten an die Treppe gestellt, Blumen wurden arrangiert, ein Verstärkersystem angeschlossen, und Gilbert hängte seine Fahnen auf. Jean ließ ihren Blick durch die Rotunde schweifen, und ihre Augen gingen hoch zu der massiven Kuppel, die einen Durchmesser von über dreißig Metern hat und neunzigtausend Tonnen wiegt. Als Harvey Milk und George Moscone ermordet wurden, entwarf Gilbert ein Plakat des Rathauses, eine Außenansicht, auf der die spektakuläre Kuppel in einem 90°-Winkel abgehoben war und ein breiter Lichtstrahl aus dem Inneren des Gebäudes in den Himmel emporschoß.
Es sah aus, als beobachtete Jean Harris das Licht, das durch die vielen Fensterflächen an der Basis der Kuppel hereinsickerte und über die Oberflächen der verzierten Voluten, der gemeißelten Köpfe und einer Menge skulpturalen Obstes huschte. Harvey Milk hatte dieses Gebäude geliebt, und er hatte uns immer aufgefordert, die große Treppe zu benutzen.
Damals arbeitete Jean Harris als Volontärin für Stadtrat Harry Britt. Man kann Jean leicht für einen Mann halten, was zu ihrem Charme gehört. Sie ist die einzige Angestellte in der gesamten Geschichte des Rathauses, die konsequent in Männerkleidung geht, und ich habe sie einmal allen Ernstes sagen hören, Heterosexualität sei eine angelernte Reaktion. Es ist schwer zu sagen, ob sie das wirklich glaubt oder etwas von der Macht der Übertreibung begriffen hat. Ich kannte ihr Büro im Rathaus, dasselbe, in dem Harvey Milk ermordet wurde. Es war das ehemalige Büro seines Mörders gewesen. Das letzte, was Harvey im Leben sah, war die Oper auf der anderen Straßenseite. Es gab keine Gedenktafel, nichts sagte einem, daß in diesem kleinen Zimmer jemand in den Lauf der Geschichte eingegriffen hatte. Ich ertappte mich dabei, nach irgendeinem Zeichen des brutalen Mordes zu suchen - nach irgendwelchen Spuren auf dem Teppich oder an der Wand -, aber die Innenarchitekten hatten längst alles wegrenoviert. Es war allerdings etwas spürbar in diesem Raum, das schon, und wenn es nur Jean Harris' Wut war.
»Ich trage einen Schlips, weil ich will, daß jeder Mann, der mich sieht, eines kapiert: Ich trage den Schlips, ich bin hinter eurer Macht her, ich will euer Geld, und ich will eure Frauen. Alles klar? Ich trage den Schlips, und ich wedele den Männern damit vor der Nase herum«, sagte sie. »Ich bin nicht irgendein Mädchen, das mit vernünftigen Pumps und einem netten kleinen Kleidchen in ihr Büro reinkommt, um die nette kleine Dame zu spielen, die sich hinsetzt und alles tut, damit die Jungs nett zu ihr sind. Sie wissen von Anfang an, ich bin eine Lesbe, ich bin tough, hier bin ich, ich will genau wissen, was Sache ist, und wenn ihr die Macht habt, dann werde ich alles tun, um sie euch wegzunehmen.«
Als Kind war sie Anführerin einer Gang, und ihr Lieblingsspiel war Abschlagen. Es gab zwei Banden, und die eine mußte versuchen, die andere abzuschlagen. Das Ziel war, jedes einzelne Mitglied der anderen Bande zu kriegen. Ein Abschlagen-Spiel konnte stundenlang dauern. Jean Harris spielte dieses Spiel immer noch. Dank ihrer Geschicklichkeit und Zähigkeit schaffte sie es, den amtierenden Bürgermeister von San Francisco »abzuschlagen«, der einfach nicht kapierte, mit wem er es zu tun hatte.
Bei einem der Gedenkmärsche mit Lichterketten für Harvey Milk war Jean dabei, ihre Kerze in der Hand. Später erzählte sie darüber: »Damals verwünschte ich den toten Harvey in Grund und Boden: >Ich habe keine lesbische Vorbildfigur. Nun sag mir mal, was ich ohne dich tun soll.< Und ich schwöre, er flog über den Marschierenden entlang und sagte zu mir: >Das wird dir keiner abnehmen, Jean. Kümmer dich selber drum. Tu es. Tu du es doch. Du mußt es selber tun.<« Jean Harris war alles andere als spiritistisch angehaucht oder Seancen-Fan. Aber nun fing sie an, sich dauernd wie besessen »Im Namen der Hoffnung« anzuschauen, den preisgekrönten Dokumentarfilm über Harvey. Im Grunde erlebte sie eine Wiedergeburt als Queer. Ich glaube, meine Lieblingsanekdote über Jean ist die Geschichte, als sie im Harvey Milk Democratic Club, dessen Präsidentin sie damals war, ins Mikrofon schnauzte: »Wir sind ein freundlicherer, liebenswürdigerer Menschenschlag, verdammt nochmal.«
Ich beobachtete vom Balkon aus, wie sich Jean gegen das goldpolierte Schmiedeeisen der Balustrade oben an der Marmortreppe lehnte, die weißen Hemdsärmel aufgekrempelt, die Krawatte schief um den Hals. Sie schaute sich die Heiratszeremonien an und bohrte ihren Blick dann in die Stelle am Fuße der Treppe, wo Harvey Milks Leichnam neben George Moscones gelegen hatte, feierlich aufgebahrt, die Mahagonisärge mit weißen Chrysanthemen und roten Rosen überhäuft.
Harry Britt trat hinter Jean an die Stufen, sagte nichts und kehrte wieder in sein Büro zurück, das auf dem engen Flur dem ihren gegenüberlag. Harry arbeitete seit zwölf Jahren in diesem Zimmer; die damalige Bürgermeisterin Dianne Feinstein hatte ihn ernannt. Harry meinte, Feinstein sei genau wie die englische Queen nach dem Zweiten Weltkrieg, die immer alles richtig machen wollte nach all dem Blutvergießen. Trotz der Tatsache, daß Feinstein, eine klassische Moderate, und Milk, ein Progressiver, politisch meistens entgegengesetzter Meinung waren, wollte sie jemanden zu seinem Nachfolger ernennen, der ihm politisch so nahe wie möglich stand, jemand, der Harveys Arbeit fortsetzen würde, auch wenn das im Gegensatz zu ihrer eigenen Politik stand - damit Dan Whites Kugeln nicht den Sieg davontrugen. Dianne Feinstein war zur Zeit der Morde Stadtratsvorsitzende gewesen, sie saß sogar in ihrem Büro neben Harveys Büro (und gegenüber dem von Dan White), als die fünf Schüsse in aller Ruhe auf ihn abgefeuert wurden. Dank ihrer Selbstbeherrschung, Stärke und Sensibilität gab es nach den Morden keinen Aufruhr in der Stadt.
Auf dem Tonband, das nur für den Fall seiner Ermordung abgehört werden sollte, benannte Harvey Milk unter anderen Harry Britt als möglichen Nachfolger. Er hatte sicher gedacht, wenn überhaupt, würde George Moscone dieses Band abhören; Harvey wäre niemals darauf gekommen, daß der Bürgermeister zusammen mit ihm ermordet würde.
Harry Britt war in Port Arthur in Texas aufgewachsen, und sein wichtigstes Rollenvorbild war Liberace. Er war Methodist, und als frühreifer Vierzehnjähriger gab er Bibelunterricht im Sommerlager. Unter seinen Schülern war ein kleines, sieben oder acht Jahre altes Mädchen, eine Baptistin. Sie war sehr ungezogen, und Harry empfand sie als echtes Disziplinproblem. Das war Janis Joplin. Harry und Janis waren vermutlich die beiden unpassendsten Kinder von ganz Port Arthur.
In Harrys Büro waren die Wände gepflastert mit Fotos vom ersten Gedenkmarsch, von Harvey, von Filmstars wie Jane Fonda, die sich mit ihrem Einfluß dafür eingesetzt hatten, Wahlkampfspenden für lesbische und schwule Politikerinnen zu organisieren, bevor all ihre Kräfte davon in Anspruch genommen wurden, Gelder für die Aids-Forschung zu sammeln. Am Tag, nachdem Harvey gewählt wurde, sagte er morgens um halb acht zu Harry, daß er damit rechnete, umgebracht zu werden. »Da
erlebt er den größten Triumph seines Lebens, die Erfüllung«, bemerkte Harry zu mir, »und er denkt daran, daß er vielleicht umgebracht wird. Das zeigt einem, wie sehr er mit dem Tod und dem Schwulenhaß gelebt hat, wie argwöhnisch er war. Er hat den Schwulen mit aller Kraft zugeredet, in die Politik zu gehen, und gleichzeitig wußte er um das Risiko, wie ein General, der seine Truppen in den Krieg schickt.«
Harry Britt verachtete diejenigen Schwulen, die »sehr geschickt darin sind, sich bei ihren Herrn und Meistern einzuschleimen«. Er nannte sie »Hofschwuchteln« und war überzeugt, daß viele liberale heterosexuelle Politiker sie um sich scharten, wenn sie eine Bestätigung dafür brauchten, daß eine Extrawurst für die Rechte der Lesben und Schwulen unklug oder unmöglich war, jedenfalls bis zur nächsten Wahl. Für Harry Britt fiel Bürgermeister Art Agnos in diese Kategorie der Heterosexuellen.
Harry hatte zwölf Jahre gebraucht, um den Antrag zur Haushalts -Partnerschaft durchzubringen, den Bürgermeister Agnos unterschrieb. Harry behauptete, Agnos hätte ihn nicht unterzeichnet, wenn dadurch Paare, die nicht aus San Francisco kamen, ebenfalls ihre Partnerschaft hätten registrieren dürfen. Das Büro des Rechtsreferenten der Stadt befürchtete »lila Scheinehen« und einen neuerlichen Schwall platter Witzeleien in den Spätabend-Talkshows. Harry ging auf Agnos' Vorbehalt ein, ließ aber ein Schlupfloch. Nicht in San Francisco Ansässige sowie Bürger der Stadt, die lieber nicht auf einer Liste erscheinen wollten, konnten sich die Formulare schicken und dann selbst notariell beglaubigen lassen. Zwölf Jahre lang hatte Harry Britt für ein Gesetz der Haushaltspartnerschaft gekämpft. Er hatte selbst kein Interesse daran, einen Mann zu heiraten, aber er wußte, es mußte einen Weg geben, um vor dem Gesetz zu beweisen, daß wir existierten, und er schwor sich, im Amt zu bleiben, bis ein solches Gesetz durchgebracht war. Zwölf Jahre lang hatte er zugesehen, wie der Valentinstag kam und ging, und schließlich hatte er es geschafft. Zwölf Jahre Haßpost. Zwölf Jahre Morddrohungen. Zwölf Jahre lang die Überlegung: Was würde Harvey dazu sagen? Mit zweiundfünfzig konnte sich Harry nun mit ruhigem Gewissen Gedanken über seine Pensionierung machen, einen Rückzug ins Inkognito.
Als Jean und Harry beschlossen, den Valentinstag im Rathaus zu feiern, ließ der Standesbeamte durchblicken, es könne wegen der traditionell zahlreichen heterosexuellen Hochzeiten an diesem Tage bei der Bearbeitung der Formulare der homosexuellen und anderen Haushaltspartnerschaften zu Personalengpässen kommen. Er meinte, vielleicht könnten wir uns einen anderen Tag überlegen. Den Tag vorm Valentinstag. Oder danach. Der Valentinstag war schon besetzt.
Ganz offensichtlich hatten diese Leute keine Ahnung, mit wem sie es zu tun hatten. Jean Harris beharrte unerschütterlich darauf, daß auch wir ein Recht auf den Valentinstag hatten, und sie organisierte Volontäre, an Regenbogenarmbändern zu erkennen, die im Büro des Standesbeamten arbeiten würden.
Ich stand gegenüber vom Rathaus und filmte die Zeremonie zur Bestätigung der Partnerschaft, die auf der Eingangstreppe abgehalten wurde, eingerahmt von dorischen Säulenkolonnaden. Zufällig stand ich zwischen ein paar heterosexuellen Männern, offenkundig obdachlose Alkoholiker. Sie waren sehr erregt, wutentbrannt, daß Perverse in einer öffentlichen Feier heirateten. Ein Mann erboste sich ganz besonders über ein Schild, das ein Schwuler auf der Treppe hochhielt: GOTT IST SCHWUL.
»Die kriegen es mit mir zu tun«, sagte er. Seine Kumpel stimmten zu, und ich verfolgte durch das Objektiv meiner Kamera, wie sie immer näherrückten. Doch die Art der Feier hielt sie auf. Ein glaubensübergreifender Gottesdienst fand statt, den die lesbische und schwule lutheranische Priesterschaft auf die Beine gestellt hatte.
Unter den Zuhörern befand sich auch ein lesbisches Paar mit ihrem zwei Wochen alten Baby. Ich filmte sie gerade, als ein Auto voller Teenager hinter ihnen vorbeifuhr, Jungen und Mädchen, die Obszönitäten brüllten. Das Paar beachtete die Schreie nicht und hörte weiterhin dem Hohen Lied Salomos zu.
Jean Harris erschien in einem schwarzen Frack auf der Treppe. Sie wirkte wie entrückt, all ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf die Zeremonie, und sie sang mit bei Cris Williamsons »Lied meiner Seele«.
Öffne die Augen mir, denn dadurch sehe ich
Spuren der Wahrheit, die du hältst bereit für mich,
Öffne die Augen mir und dann erleuchte mich,
Geist unsres Herrn
Jetzt stand ich oben an der Treppe und filmte die Menge. Sie hielten Blumen in der Hand, und sechs Meter hinter ihnen fuhr ein vollbesetzter Lkw vorbei, diesmal mit weißen Männer in den Dreißigern. Sie verlangsamten die Fahrt und schrien: »Schwuchteln! Lesben!«
Jean Harris starrte den Lkw direkt an, als er davonraste, aber sie schien ihn nicht zu sehen - wie alle anderen -, und sie sangen weiter, fröhlich und wundersam unempfänglich für die Pfiffe und Rufe und das Gestikulieren.
Liebe meines Lebens, ruf ich,
sterben nicht, nein, tanzen will ich;
tanzen ganz allein im Wahnsinn,
denn es existiert kein Trübsinn,
nur dies Lied in meiner Seele.
Als das Lied verklungen war, sollten wir uns alle für ein Gebet einhaken. Ich hörte auf zu filmen und hakte mich zufällig bei dem Mann unter, der das Schild mit GOTT IST SCHWUL trug. Als ich aufsah, quer über die Menge hinweg, traf mein Blick den des Mannes, mit dem wir »es zu tun kriegen« sollten. Er kochte, und da stand ich, Arm in Arm mit seinem Ziel. Ich war sehr froh, daß er kein Gewehr hatte.
Jean hat recht, dachte ich. Wir sind ein freundlicherer, liebenswürdigerer Menschenschlag.
Ich begleitete mit der Kamera ein lesbisches Paar, das sich eintragen ließ. Die beiden mußten an drei Männern Ende Zwanzig vorbei, die sich bei den Eingangstüren aufgebaut hatten, nur um sich über die Paare auf ihrem Weg in die Rotunde lustig zu machen und hinter ihrem Rücken eindeutige Gesten zu vollführen. Auch dieses Paar sah oder hörte die Beschimpfungen nicht. Lag es daran, daß ich alles durch das Objektiv meiner Videokamera wahrnahm und mir deshalb Dinge auffielen, die mir sonst vielleicht entgingen? Langsam fing ich an zu glauben, daß eine mächtige Fee irgendeinen Zauberstaub überall in diesem prachtvollen Gebäude verstreut hatte, der unsere Paare schützte.
Ich folgte dem lesbischen Paar in den Saal des Stadtrats oben an der Galerie im ersten Stock, am Ende der großartig geschwungenen Treppe. Dieser Saal ist ein Juwel aus geschnitzter Eiche; glückliche Paare saßen auf den Bänken und warteten voller Aufmerksamkeit, Arm in Arm, nervös und aufgeregt. Die unterschiedlichsten Menschen aller Rassen und Altersgruppen waren versammelt. Sie waren so verwundbar, und ich begriff immer noch nicht, warum sie das taten. Es war rein symbolisch, und das fand ich schlimmer als gar nichts.
Ich kehrte auf die Galerie vor dem Büro des Bürgermeisters zurück und richtete meine Kamera auf die Treppe. Gilbert stand neben mir; er konnte sich rühmen, heute der einzige Mann in einem roten Ballkleid zu sein. Wir standen links und rechts von einem Scheinwerfer, den Gilbert sorgfältig auf das obere Ende der Treppe richtete, wo dann jedes Paar in einem Lichtkegel stehen würde.
Jean trat an das Mikrofon am unteren Ende der Treppe, und gerade als sie verkündete: »Harvey Milk schwebt in diesem Augenblick über uns in dieser Rotunde«, öffneten sich die Türen zum Saal. Die Paare kamen heraus und bildeten eine Kette; ein Orchester aus Streichern und Klavier stimmte »The Shadow of Your Smile« an. Genau wie eine richtige Hochzeit, dachte ich, bis hin zur schlechten Musik. Während die Paare die Treppe hinabschritten, sagten Kurt und Jean abwechselnd die Namen der Paare an.
»Tom Ammiano und Tim Curbo.« Tom, Vizepräsident des Schulamts, und Tim, seit vierzehn Jahren sein Partner und ebenfalls Lehrer, gingen die Treppe hinunter. Hunderte standen unten, um an der Feier teilzunehmen, und ihr Jubel hallte im Gebäude wider. Und ein Paar nach dem anderen kam. Unglaublich, wie viele unterschiedliche menschliche Wesen es gab, im Frack, im Kleid, in Leder, in ACT-UP- oder Queer-Nation-Aufzug.
Ich sah Jonathan dort unten stehen, die Arme vor seiner trainierten Brust verschränkt, QUEER NATION prangte auf seinem Hemd. Zusammen mit anderen Gruppenmitgliedern war er durch Dutzende Wahlkreise gezogen - auch diejenigen, die bisher immer als zu konservativ rechts liegen gelassen worden waren -, um für den Antrag zur Haushaltspartnerschaft zu werben. Während die Prozession der Paare weiterging, begriff ich, daß dies in gewisser Weise wie die Modenschau im Shopping Center war, nur daß dort nicht im entferntesten solche massiven Gefühlswogen in mir aufgestiegen waren wie jetzt.
Ein Mann ging die sechsunddreißig Stufen allein hinunter. Sein Freund lag im Krankenhaus und starb an Aids, und so machte er den Weg für sie beide. Sechs heterosexuelle Paare waren dabei, eines mit einer neunjährigen Tochter. Zwei blondgefärbte Jungen gingen Hand in Hand, jeder von ihnen in einem T-Shirt mit der Aufschrift TRAUMPRINZ. Ein anderes Männerpaar kam nur langsam voran, Arm in Arm, einer von ihnen wirkte schwach und stützte sich auf einen Gehstock. Der Applaus brandete über sie hinweg, und der sterbenskranke Mann lächelte mit solch brennendem Glück in den Augen, daß er sicher keinen Schmerz verspürte.
Zwei alte Burschen, über sechzig, in zerknitterten, ausgebeulten Hosen und Farmerhüten stapften gemächlich die Treppen hinunter, ihre abgearbeiteten Hände ineinander geschlungen, die Augen gesenkt. Sie sahen aus, als wären sie direkt von ihrer Farm hergekommen. Ich warf einen Blick auf Gilbert, der sich mit einem weißen Taschentuch und dramatischer Geste die Augen abtupfte.
»Was ist los?« fragte ich.
»Ach, Hochzeiten«, sagte er und tupfte wie wild, und obwohl er es übertrieb, hatte er echte Tränen in den Augen. Gilbert tat gerne so, als wäre er nichts als ein politischer Zeichentrickfilm, der über jeder Gemengelage der Gefühle stand, aber das stimmte nicht. Ich bemerkte es immer wieder. Was da im Rathaus geschah, war echt, und die einzige Erinnerung an das, was in der Welt draußen geschah, waren die Worte auf einem großen Herz aus Papier, das Gilbert an sein »Dekollete« gesteckt hatte: »Dieser Krieg bricht mir das Herz.«
Die Namen der Paare erschollen immer noch, und sie schritten die Marmorstufen hinab, auf denen sich vor ihnen Könige, Königinnen und Staatschefs die Ehre gegeben hatten.
»Simone Dorman, Anne Dorman und ihre Tochter Elizabeth Simone Dorman.«
Die Familie stand oben an der Treppe, als ihre Namen verlesen wurden. Anne Dorman hielt ihre blonde, dreijährige Tochter auf dem Arm, und als sie losgingen, begann ich zu begreifen, warum diese Familien das taten. Unten angekommen, unter den Blitzen der Fotokameras, nahm Anne Simones Hand und küßte sie. Mir stiegen die Tränen in die Augen.
»Gail Brown, Lucinda Young und ihre Tochter Mara Young.« Mara war Teenager. In dem Alter ist es schwierig, wenn man anders ist als die Gleichaltrigen, und doch war Mara mit ihren beiden Müttern die Treppe hinabgeschritten.
»Lori Feldman, Marcia Baum und Baby Maya.« Maya war weniger als zwei Wochen alt. Liebevoller Applaus rauschte, während sie behutsam ihren Weg machten, und ich merkte, daß ich weinte. Diese Leute waren große Auftritte, Blitzlichter, Fernsehen und Pressegedränge nicht gewöhnt. Und doch hatten sie sich bereit gefunden, an diesem überaus öffentlichen Akt teilzunehmen, um ihre Liebe zu erklären, ohne jeglichen materiellen oder praktischen Gewinn für sie.
Die meisten der Paare, die an diesem Tag die Treppe hinunterschritten, waren niemals auf Demonstrationen gegangen und würden es wohl auch niemals tun. Sie hatten das Wort queer niemals gebraucht und hatten das auch genausowenig vor, wie sie öffentlich der Koalition der Traditionellen Werte oder Präsident Bush entgegentreten würden, die sie für unmoralisch und unfähig zum Aufziehen von Kindern erklärten. Sie sind unsere schweigende Mehrheit. Nur so, nur um ihre Liebe füreinander auszudrücken, war ihnen ein solch öffentlicher Auftritt möglich.
Als das letzte Paar unten angekommen war, trat ein tief bewegter Harry Britt aufs Podium. »Die Wähler dieser Stadt haben mit überwältigender Mehrheit das Recht lesbischer und schwuler Paare anerkannt, aus dem Schatten zu treten und sich in aller Öffentlichkeit als liebende, fürsorgliche und engagierte Menschen zu zeigen. Indem Sie Ihre Liebe hierhergebracht haben und gemeinsam diese Treppe heruntergekommen sind, haben Sie alle einen wichtigen Tag im Leben der amerikanischen Familie mitgestaltet.«
Dann ergriffen lesbische und schwule Persönlichkeiten das Wort: Stadträtin Roberta Achtenberg, Tom Ammiano, Stadträtin Carole Migden. Tom Ammiano verkündete: »Ich habe mich besonders über die heterosexuellen Paare gefreut, die heute gekommen sind. Ich bin durchaus für Mischehen.« Jean kehrte ans Mikrofon zurück, blendend aussehend in ihrem Frack, und sagte Richterin Donna Hitchens an, als wäre sie der lesbische Sokrates.
»Ich rufe sie gleich aufs Podium«, sagte Jean, »damit sie ihres Amtes waltet. Begrüßen Sie: Richterin Donna Hitchens!«
Alle waren begeistert von Donna Hitchens, und sie konnte den Applaus nicht zum Schweigen bringen. Sie trat für einen Augenblick vom Podium und applaudierte uns. Donna Hitchens ist klug und liebevoll, eine seltene Erscheinung auf dem Parkett des öffentlichen Lebens.
»Dies ist nicht gerade die Hochzeit im trauten Kreise, die unsere Eltern für uns geplant hatten«, sagte sie. »Aber es ist wahrlich ein froher Anlaß. Ich habe die Menschen beobachtet, die die Treppe herunterkamen, und ich habe Tränen gesehen... Heute haben Sie mit Ihrer Unterschrift erklärt, daß Sie in einer festen Liebesbeziehung mit gegenseitiger Fürsorgepflicht leben. Am heutigen Tag werden diese Partnerschaften öffentlich gefeiert, Ihre persönliche Partnerschaft. Für die meisten von Ihnen markiert der heutige Tag nicht den offiziellen Beginn Ihrer Partnerschaft, sondern bekräftigt die Beziehung neu, die sie über die letzten fünf, zehn, fünfzehn, dreißig, ja, fünfunddreißig Jahre geführt haben. Und ich stehe hier, um Ihnen im Namen der Stadt und des County San Francisco zu gratulieren. Und ich möchte Ihnen außerdem etwas wünschen: Möge Ihre Nähe zueinander nicht abnehmen, sondern Ihre individuelle Persönlichkeit und Ihre Lebensklugheit stärken, die Sie als Geschenk anderen Menschen entgegenbringen. Viele Dichter haben gesagt, Liebe verlangt nichts, doch ich sage Ihnen heute, Liebe verlangt alles.«
Ich kaufte Nelken, Rosen und Süßigkeiten und ließ all meinen Ärger und Zynismus für den Abend im Kofferraum. Ich fuhr nach Hause und schenkte Cheryl die Blumen. Sie hielt sie in den Armen, aber sie rührte sich nicht vom Fleck.
»Warum bist du so weit weg von mir?« fragte sie.
Ich sagte ihr, ich wisse es nicht. Aber ich liebte sie und brauchte es, daß sie mir vertraute, daß sie mir glaubte, daß ich sie immer lieben würde, aber daß ich ihr im Augenblick nicht mehr bieten könne. Das Adoptionsverfahren drängte mich emotional in die Ecke.
»Du bist seine Mutter«, sagte sie. »Weißt du das nicht? Warum machst du dir was daraus, was die anderen denken?«
»Tu ich halt.«
»Ich versteh das nicht«, sagte sie, aber sie legte trotzdem ihre Arme um mich.
Das Flüstern unseres Kindes drang vom Boden zu uns.
»Ich habe das Gift getrunken.«
Jesse lag flach auf dem Teppich, die Arme von sich gestreckt, mit geschlossenen Augen.
»Was macht er da?« fragte ich, etwas besorgt.
»Er stirbt gerade«, sagte sie sachlich. »Das macht er schon den ganzen Abend.«
»Das Gift, ich habe das Gift getrunken«, röchelte Jesse und tat so, als würde er das Bewußtsein verlieren.
»Er hat gerade Mary Martins Peter Pan geguckt«, sagte Cheryl. »Käptn Hook tut Gift in Peters Milch, aber Tinker Bell trinkt sie und liegt im Sterben.«
Ich nahm Jesse hoch, und das imaginäre Gift zog das Leben aus ihm, während er in meinen Armen lag wie eine Pietà und alle viere von sich streckte. Dieser Knabe ist sowas von dramatisch.
»Ich glaube aber an gute Feen, ich glaube aber an gute Feen«, sang ich immer wieder, Cheryl klatschte in die Hände, und Jesse erwachte wundersamerweise wieder zum Leben.
In dieser Nacht schlief ich zum erstenmal, seit das Adoptionsverfahren begonnen hatte, richtig gut. Dieser Valentinstag war einzigartig gewesen. San Franciscos Rathaus ist ein Gebäude mit einem eigenen Zauber, aufgeladen mit seiner Geschichte; es ist über einen Friedhof gebaut und sieht aus wie der Invalidendom in Paris, wo Napoleon begraben liegt. Wenn ich bedenke, wie machtvoll die Atmosphäre so eines Ortes ist und wie ungerührt die Liebenden und die Familien gegenüber all dem Spott und Hohn der Ignoranten an diesem Valentinstag 1991 blieben, dann kann ich nicht mit Bestimmtheit behaupten, Harvey Milks Geist wäre nicht in dieser Rotunde herumgeflogen.