Nachts singen die Vögel in San Francisco

All die Pläne, die wir in der Maybe-Baby-Gruppe geschmiedet hatten, zerstoben schnell. Eines Tages, als Jesse fast drei Monate alt war, kam ich nach Hause und fand Cheryl in Tränen aufgelöst vor, das Baby an sich gepreßt. Sie hatte einen Kindergarten von der sorgfältig vorbereiteten Liste angerufen und gehört, wie im Hintergrund mehrere Säuglinge schrien. Cheryl stand auf und reichte mir das Baby. Ich ging durch die Zimmer in unserem kleinen Haus und spürte, wie sie mich beobachtete. Ich wußte, woran sie dachte und worum sie mich bat. Es ging einfach nicht, daß Cheryl zu Hause blieb. Sie mußte zurück an ihre Arbeit als technische Ingenieurin bei Rolm, einer Tochterfirma von IBM, nicht nur wegen des Einkommens, sondern wegen der Krankenversicherung. Ich konnte Cheryl nicht sagen, bleib du bei Jesse zu Hause, was sie ja gerne getan hätte, weil ich ihn mit meiner Krankenversicherung nicht abdecken konnte. Rechtlich war ich gar nichts für ihn, eine biologisch fremde Person. Weil Jesse so klein war, gab es noch keine realistische Möglichkeit für den Versuch, seine zweite gesetzliche Mutter zu werden, dann hätte ich ihn nämlich mitversichern können. Ungewöhnliche Adoptionsanträge dieser Art hatten unter der Betreuung der Bürgerrechtsanwältin Donna Hitchens Erfolg gehabt. Auf uns übertragen, hieße das, Cheryl behielt ihre natürlichen Rechte der leiblichen Mutter, während mir der gesetzliche Status eines Adoptivelternteils zugesprochen wurde. Auf diese Weise hätte Jesse zwei gesetzliche Mütter, und mir würde gestattet, ihm alle Vergünstigungen zuteil werden zu lassen, auf die er einen natürlichen Anspruch hätte, wenn Cheryl und ich ein heterosexuelles Ehepaar wären. (Ironischerweise würden Cheryl und ich nach der Adoption immer noch keine juristische Beziehung zueinander haben, jede von uns aber einzeln zu Jesse.) Kurz bevor Jesse geboren wurde, hatte Donna Hitchens, die auch unsere Anwältin war, uns davon abgeraten, die Adoption allzu früh zu versuchen, bevor wir beweisen konnten, daß ich ihn miterzog und finanziell und emotional für ihn da war.
Drei Jahre wurden als eine sinnvolle Zeitspanne betrachtet, in dem Alter würde er auch mit dem Gericht sprechen können. Familienrichter herrschen nahezu feudalistisch, da ihr Urteil, was »dem Wohl des Kindes dient«, weitgehend subjektiv ist. Aus diesem Grund gingen die Anwälte Fall für Fall vor, zäh und diskret. Sie unternahmen nichts, was die Familien in Gefahr bringen konnte, und sie wußten, daß sie sich nicht vor das Tribunal der öffentlichen Meinung begeben durften, sondern individuell, Richter für Richter, vorgehen mußten. Darüber hinaus gaben sie allerdings unabhängige Studien in Auftrag, um feststellen zu lassen, ob lesbische Eltern die Entwicklung und vor allem die geschlechtsspezifische Entwicklung des Kindes negativ beeinflußten. Die klare Antwort war »nein«. Doch Jesse war erst drei Monate alt, und wir konnten vor keinem Gericht beweisen, daß ich für ihn auch ein Elternteil war. Ehrlich gesagt, ich glaubte selbst nicht daran. Die Entscheidung wurde getroffen. Ich wollte das Risiko auf mich nehmen und auf meine Versicherung verzichten, während Cheryl an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte und Jesse voll versichert war. Immer noch trug ich stets das Dokument mit Cheryls Zustimmung bei mir, daß ich in Fragen von Jesses medizinischer Behandlung entscheidungsbefugt war. Dieses Stück Papier in meiner Brieftasche gab mir Macht und demütigte mich zugleich. Als mir klar wurde, was es hieß, Jesse rund um die Uhr zu versorgen, stellte sich nur mildes Erstaunen ein. Ich hatte gewußt, daß es so kommen würde. Ich hatte gewußt, daß die wunderhübschen Kreisdiagramme zur Zeitaufteilung aus der Maybe-Baby-Gruppe in sich zusammenbrechen würden, sobald das Kind Wirklichkeit geworden war. Aber da war noch mehr: Ich wollte es wirklich tun. Ich wollte bei ihm sein und herausfinden, wer er war, weil ich ihn liebte. Alles war prima, solange ich im Haus blieb. Kaum setzte ich einen Fuß nach draußen, in den Supermarkt oder auf den Spielplatz, wurde ich schon befangen. Ich konnte keine Sekunde lang vergessen, daß ich automatisch für »normal« gehalten wurde, für Jesses leibliche Mutter. Manchmal fühlte ich mich, als beginge ich Betrug, da ich in keinem legalen Verhältnis zu ihm stand; in meinem Innern fühlte ich mich als Hochstaplerin.
Die Leute reden mit Frauen, die kleine Babys haben. Ich mag es überhaupt nicht, mit Fremden zu reden. Ich bin alles andere als zugänglich. Während ich im Supermarkt in der Schlange stand und hastig versuchte, in der Fernsehzeitschrift einen Artikel zu überfliegen, fragte mich eine Frau, wie ich denn niedergekommen sei. »Mit dem Fallschirm«, sagte ich.
Ich wollte gerade ein Stofftier gegen eine Packung Pampers umtauschen, da fragte mich die Dame am Umtauschschalter, ob ich ihm die Brust gäbe. »Ich bin seine Tante.« »Gibt Ihre Schwester ihm die Brust?« »Sie ist nicht meine Schwester.« »Schwägerin?« »Er ist einfach in meinem Haus gelandet, ja? Kann ich jetzt diesen Umtausch hier machen?«
Und der Spielplatz.
»Sieht er seinem Vater ähnlich?« »Woher soll ich das wissen?«
Jesse wurde größer, und wir erfanden ein System, wie er sich selbst unterhalten konnte. Ich setzte ihn in seinen Kinderstuhl mit Crackers und einer Flasche mit warmer Milch. Dann machte ich es mir neben ihm mit einem guten Buch und einer Tasse Tee bequem, und er hörte sich Pavarotti an, während ich Essays von Susan Sontag las. Wir hatten gerade unser Ritual beendet. Pavarotti und Jesse blökten gemeinsam das Finale. Jesse sah mich an und lächelte. »Mama«, sagte er. Ich schaute ihn an und legte das Buch ab. Er lächelte voller Befriedigung. Dieses Wort hatte er noch nie gesagt. In meinen Ohren klang es süß, aus einer anderen Welt. »Nein, Liebes«, korrigierte ich ihn. »Tante, Tante.« Er lächelte, sagte aber nichts. »Tante«, sagte ich. Er warf den Kopf zurück und lachte. »Mama, Mama.« Ich versuchte, ihn abzulenken, indem ich ihm sein Spielzeugtelefon gab. Er machte mich nach, lachte sich schief und plapperte dann in das Telefon. »Mama«, sagte er, als er mir den Hörer wieder entgegenstreckte. Ich legte den Hörer auf die Gabel und nahm Jesse in den Arm.
Bald wurde Cheryl »Mudder« getauft. Später, als er in der Sprechentwicklung weiter war, wurde aus Cheryl »Mama Cher«, ich war »Mama Phyllis«.
Während dieser Entwicklung sagte Cheryl nichts. Sie hatte gewußt, daß es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis ich begriff, wer ich war. Ich rief meine Eltern an. »Ich bin jetzt Mama Phyllis.« »Das wußten wir, meine Liebe«, sagte meine Mutter und rief meinem Vater im Hintergrund zu: »Wir sind Großeltern! « Jesse wußte, wer ich war, Cheryl wußte, wer ich war, selbst meine Eltern wußten es. Und doch brachte ich keine bessere Formulierung zustande, als zu sagen, ich sei seine »andere« Mutter, wie ein Reservereifen oder so.
Ende Mai 1989 rief eine Reporterin vom San Francisco Examiner an. Freunde hatten ihr meinen Namen gegeben. Der Examiner plante eine bahnbrechende, sechzehnteilige Serie namens »Gay in America«, und es wurden lesbische Mütter gesucht, die sich fotografieren und interviewen ließen. Ob wir zufällig ein Paar kennten, das im Juni, während der Lesbian and Gay Pride Week, ein Kind erwartete? Jesse war am 22. Juni geboren worden, sein erster Geburtstag würde also in diese Woche fallen, aber nein danke, wir mochten lieber nicht interviewt werden.
Ich las die Serie fasziniert, aber ein Artikel darin machte mir Sorgen. Er handelte von dem Kampf einer nichtbiologischen Mutter in St. Petersburg, Florida, um das Kind, das sie gemeinsam mit ihrer Freundin aufgezogen hatte, die plötzlich an Lupus, einer tuberkulösen Hautflechte, gestorben war. Die Eltern der Toten hatten für eine gewisse Zeit das Sorgerecht für das Kind bekommen, entgegen dem ausdrücklichen Wunsch der verstorbenen Mutter, doch nach zwei Prozessen, die vier Jahre dauerten, war das Kind schließlich zu seiner nichtbiologischen Mutter zurückgekehrt. Mir fiel auf, wie die Reporterin im Schlafzimmer des kleinen Mädchens eilfertig »lauter blaue und weiße Rüschen« entdeckt hatte. Sicher wollte sie hilfreich sein und ihre Leser beruhigen, daß das kleine Mädchen, obwohl die nichtbiologische Mutter etwas butch wirkte, eine anständige Geschlechterrollenerziehung bekam. Ich ging in Jesses Zimmer und sah, daß auf seiner Tapete kleine goldene Vögel und winzige Blümchen waren. Ich entschied, daß die Blümchen butch waren.
An seinem erstem Geburtstag kam Jesse nicht im San Francisco Examiner groß raus. Wir fuhren mit ihm ans Meer. Er raste beharrlich auf allen vieren am Wasser entlang wie immer: Kopf nach unten, Augen nach vorn, wie eine Babyramme. Er war sehr kräftig, und er hinterließ eine krebsartige Spur im Sand. Als er das leid war, gab er uns beiden je eine Hand, und wir wanderten über den Strand. Er schaute zu den Möwen hoch, hüpfte und schaukelte zwischen uns hin und her, schrie »Vooogel!«. Dann brachten wir ihn nach Hause, wickelten ihn und steckten ihn ins Bett, und als Schlaflied sangen wir ihm »Happy Birthday to you« vor.
Als Jesse fast zwei Jahre alt war, im Juni 1990, forderte Donna Hitchens einen Richter im Amt heraus, den der Gouverneur auf einen frei werdenden Posten berufen hatte. Diese Richter müssen zwar bei den nächsten allgemeinen Wahlen für ihr Amt kandidieren, aber für gewöhnlich tritt kein Gegenkandidat an. Und die Macht der Amtsinhaberschaft ist so groß, daß sechzehn Jahre lang kein amtierender Richter am Berufungsgericht von San Francisco geschlagen wurde. Donna hatte die Projektgruppe für lesbische Grundrechte gegründet, aus der später das Nationale Zentrum für lesbische Rechte hervorging. Sie war viele Jahre lang Bürgerrechtsanwältin gewesen und fand breite Unterstützung bei den ethnischen Minderheiten, den Liberalen und den Progressiven. Sie hatte das Anwälteteam zusammengestellt, das den ersten Bürgerrechtsfall gegen die Feuerwehr von San Francisco gewann, die wegen Diskriminierung von Frauen und Farbigen verklagt worden war.
Die lesbisch-schwule Gemeinde stellte sich hinter sie; ihre Kampagne richtete sich nicht so sehr gegen den Amtsinhaber, sondern trat vielmehr für eine größere Vielfalt auf der Richterbank ein. Nie zuvor hatten sich die Lesben mit solcher Entschlossenheit hinter eine lesbische Kandidatin für ein politisches Amt gestellt. Aber als das Wahlergebnis bekanntgegeben wurde, hieß es zunächst, der Amtsinhaber habe gewonnen. Zu der Zeit leitete ich ein Seminar in »Kreativem Schreiben« an der San Francisco State University, und an jenem Tag ging ich mit einem resignierten Gefühl in meinen Unterrichtsraum; doch als die Seminare des Tages vorbei waren und ich das Gebäude verließ, gab es neue Schlagzeilen. Das endgültige Endergebnis stand fest, und zum ersten Mal in der Geschichte war eine offen lesbische Frau in allgemeiner Wahl in ein Richteramt gewählt worden, ohne den Bonus der vorherigen Amtsinhaberschaft durch Ernennung. Hitchens, eine Meisterin der Koalitionspolitik, hatte einen amtierenden Richter geschlagen.
Im Januar 1991 sollte sie seinen Platz einnehmen. Je sichtbarer wir jedoch wurden, das sollte ich bald lernen, je mehr Macht wir übernahmen, desto leichter wurden wir zur Zielscheibe für die radikale Rechte, deren Vertreter zum Teil die Todesstrafe für Lesben und Schwule forderten. Am letzten Sonntag im Juni wurde traditionell die Christopher Street Day-Parade abgehalten, zur Feier der Lesben- und Schwulenbewegung. Normalerweise marschierte ich mit der einen oder anderen Gruppe, aber ich beobachtete immer gern den Anfang der Demo und schloß mich dann an. Die Phalanx von Hunderten im Frauen-Motorrad-Konvoi, informell auch »Dykes on Bikes« (Lesben auf heißen Ofen) genannt, führte die Parade an, gefolgt vom VeranstaltUngskomitee, welches das Banner trug. Doch diesem wurde heute nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie sonst. Weiter hinten befand sich ein Rudel Fotografen, die in die Gegenrichtung starrten. Als ich das Objekt ihrer Neugier wahrnahm, war ich zunächst entsetzt: ein Mann, der haargenau aussah wie ein Jesus vom Andenkenstand, nur daß sein Körper pink angemalt war.
Er trug als Lendentuch eine US-Fahne und eine Dornenkrone in Pink. Auf seinen Schultern lastete ein Kreuz, ebenfalls pink, mit einer grünen Schriftrolle obendran, auf der stand: MÄRTYRER FÜR DIE KUNST. Hinter ihm spannte sich ein Spruchband quer über die Straße, auf dem in Großbuchstaben zu lesen war: NICHT VON Jesse HELMS[3] GESPONSERT. Alle paar Meter hielt »jesus« inne und posierte. Er schokkierte mich wirklich. Er war unglaublich blasphemisch. Auch in meiner Nähe blieb er stehen, und ich sah nichts anderes als diesen gräßlichen Scherz. Meine Augen gingen nach unten, er hatte auch noch Stöckelschuhe in Pink an. So etwas Bizarres hatte ich noch nie erlebt. Pink Jesus hatte große, weiche braune Augen, die Augen eines Irren oder eines Theatergurus. Unmöglich zu sagen, ob er ein Genie oder ein Wahnsinniger wan Was auch immer, ein Künstler war er, der sich bis ins kleinste vorbereitet hatte. Während ich ihn anstarrte, ging mir auf, daß Pink Jesus in Wahrheit Gilbert Baker war, der Schöpfer der Regenbogenfahne, die in der ganzen Welt als Symbol lesbisch-schwulen Selbstbewußtseins gilt. Diese Fahne war ein Geniestreich gewesen, aber Pink jesus hielt ich für keine besonders gute Idee. Wie sollten wir mit so schrägen Gestalten wie diesem Mann von der breiten Mehrheit der Gesellschaft als ihresgleichen akzeptiert werden? Wir bekamen Macht in die Hand. Donna Hitchens würde als Richterin vereidigt werden. Ich hatte das Gefühl, ein Pink Jesus bedrohte alles, wofür die Bewegung so hart gearbeitet hatte. Ich wollte in Ruhe mein Leben leben. Ich gehörte nicht zu irgendeinem Zirkus. Ich wollte nicht vor den Augen der Welt von diesem Medienjunkie repräsentiert werden, egal, wie wirkungsvoll das Bild war.
Im September bekamen wir einen Brief von Donna Hitchens' Büro mit einer Liste von Anwälten, aus der wir uns ihre Nachfolgerin aussuchen konnten. Wir entschieden uns für Abby Abinanti, mit der Cheryl bekannt war. Anfang Oktober rief Abby an und empfahl uns, nunmehr sofort mit dem Adoptionsverfahren zu beginnen. Die lesbischen Anwältinnen waren besorgt über die bevorstehenden Gouverneurswahlen. Das Jugendamt, unter der Dienstaufsicht des kalifornischen Justizministers, hatte sich bisher in Adoptionsfällen durch gleichgeschlechtliche »Stiefeltern« flexibel gezeigt, aber niemand wußte, ob das bei einer neuen Administration so bleiben würde. Der Gouverneur konnte zwar grundsätzlich jede Entscheidung seines Justizministers überstimmen, aber wir hatten alle so ein Gefühl - mit dem wir leider recht behielten - daß Gouverneur Pete Wilson nicht zu trauen war. Es gefiel mir überhaupt nicht, daß meine gesetzliche Elternschaft, die Jesse schützen sollte, derart abhängig von einer Wahl war. Es gab eine Menge Anzeichen dafür, daß sich die Situation allmählich besserte: Barbara Bush hatte sich sogar für die P-FLAG[4]-Gruppe stark gemacht. In einem Brief an sie schrieb die First Lady: »Ich bin der festen Überzeugung, daß wir keinerlei Diskriminierung gegen Einzelne oder Gruppen in unserem Land dulden dürfen, denn eine solche Haltung ist verletzend und verstärkt nur Haß und Intoleranz. Ich danke Ihnen, daß Sie mich über Ihre Organisation und Ihre Ziele informiert haben. Ihre Worte drücken Ihre Liebe und Ihr Einfühlungsvermögen gegenüber allen homosexuellen Amerikanern und Amerikanerinnen und ihren Familien aus.« Konservative kritisierten Barbara Bush heftig für diesen Brief und dafür, daß sie im Zusammenhang mit einer Aids-Mahnwache Kerzen im Weißen Haus angezündet hatte.
Einige dieser Angreifer waren Dinnergäste bei Pete Wilsons republikanischer Sponsorenparty. Den Zwischenfall mit der Regenbogenfahne fanden sie besonders witzig. Am 11. Oktober 1990, am Nationalen Coming-out-Tag, flatterte die Regenbogenfahne stundenlang über dem Kapitol des Staates Kalifornien; dann ließ der damalige Gouverneur Deukmejian sie entfernen, obwohl das Kontrollkomitee der kalifornischen Legislative zuvor offiziell gebilligt hatte, daß sie gehißt wurde. Ein Anwalt aus Sacramento zeigte sich besonders schockiert über ihre Entfernung, denn »da oben hat doch schon alles mögliche geflattert, bis auf die Piratenflagge«. Auf Wilsons Party forderte der Zeremonienmeister die Gäste auf, sich zu »erheben zum Fahnenschwul - äh, Fahnenschwur«. Einige konnten kaum stehen vor Lachen. Als sie mit dem traditionellen »Freiheit und Gerechtigkeit für alle« endigten, schrien ein paar noch »ohne Ansehen der sexuellen Neigung« hinterher. Das war verwirrend. Wie kam es, daß wir solche Fortschritte erzielten und dann so lächerlich gemacht wurden? Aber diese Leute wohnten in Sacramento, außerhalb der Stadtgrenzen von San Francisco. Sie würden da bleiben, und ich würde für irnmer mit meiner Familie hier leben, fertig. Am 12. Oktober 1990 reichte Abby Abinanti mein Adoptionsgesuch beim Familiengericht von San Francisco ein. Unter anderem stand darin, daß ich eine ledige Frau sei.
Es gefiel mir nicht besonders, als Single aufzutreten, aber meine Freunde beschworen mich, das Ganze »von einer übergeordneten Warte aus« zu sehen, nämlich im Hinblick darauf, was ich im Endeffekt erreichen wollte: Jesse den Schutz eines zweiten gesetzlichen Elternteils zu verschaffen und sicherzugehen, daß, sollte Cheryl jemals etwas zustoßen, er mir nicht weggenommen werden konnte. Diesen Alptraum hatte ich im Geiste bis zur Erschöpfung durchgespielt. Ich hatte mich mit ihm in Paris und London versteckt, so oft, daß ich ihm schon mal ein paar Worte Französisch beibrachte, für den Fall der Fälle.
Diese Vision, abtauchen zu müssen, wurde von den politischen Kämpfen um den Gesetzentwurf lesbisch-schwuler Bürgerrechte, AB-101, angestachelt. AB-101 hatte es immerhin von den Fachausschüssen auf die Tagesordnung des kalifornischen Parlaments geschafft. Der Politiker Lou Sheldon und seine Gruppe, die »Koalition traditioneller Werte«, wehrten sich mit Zähnen und Klauen gegen den Antrag. Sie verdammten Bürgerrechte für Lesben und Schwule als familienfeindlich. Sie äußerten vor dem Parlament, daß dieses Gesetz dasselbe wäre, als ob man besondere Privilegien für Sodomie, Päderastie und sexuellen Mißbrauch von Kindern vergäbe. Sheldons Taktik bestand daraus, die Extremsten unter uns herauszufischen und der Öffentlichkeit als Beispiel für die homosexuelle Bedrohung vorzuführen - als wollte man Heterosexuelle wegen 13onnie und Clyde für unfähig erklären, Kinder aufzuziehen.
Zwar zeigten alle Kriminalstatistiken, ob regional oder landesweit, deutlich, daß 90 bis 95 Prozent aller Fälle sexuellen Mißbrauchs von Kindern durch heterosexuelle Männer begangen werden, doch diese Tatsache ließ einen Lou Sheldon völlig kalt. Die Verteufelung von Lesben und Schwulen war sein Trittbrett zu Ruhm und Reichtum. Mir war klar, daß ich die Adoptionsprozedur durchstehen rnußte, ganz gleich, wie sehr sie unsere Privatsphäre beeinträchtigen würde. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß Cheryl womöglich irgend etwas zustieß und ich Jesse verlor. Und so gut war mein Französisch nun auch wieder nicht. Genauso bewußt war mir, daß es beinahe unmöglich ist, eine vollzogene Adoption außer Kraft zu setzen. Selbst Lou Sheldon würde das nicht schaffen. In dem Adoptionsantrag stand unter anderem folgendes:

»Das Kind hat keinen gesetzlichen Vater.
Die Entscheidung, Jesse zu zeugen und zu gebären, wurde gemeinsam von der Antragstellerin und ihrer Partnerin getroffen.
In jeder Hinsicht haben seit der Geburt des Kindes beide als gleichwertige Elternteile für das minderjährige Kind gehandelt.
Sie erziehen das Kind gemeinsam. Sie teilen sich die Verantwortung für Aufsicht und Pflege des Kindes ebenso wie den finanziellen Unterhalt für das minderjährige Kind.
Die Antragstellerin erfüllt in jeder Hinsicht ihre Elternpflicht dem minderjährigen Kind gegenüber, und das Kind betrachtet die Antragstellerin als Elternteil.
Deshalb ersucht die Antragstellerin ... «

Als ich den Antrag las, verspürte ich eine unglaubliche Dankbarkeit. Zum ersten Mal wurde meine Beziehung zu Jesse offiziell behauptet; und in gewisser Weise galt das sogar für meine Beziehung zu Cheryl. An jeiiem Abend war ich mit Jesse allein zu Hause. Er wollte tanzen. Ich hielt i li ii in meinen Armen, und wir walzerten durchs Wohnzimmer. Es war eine warme Nacht, untypisch für San Francisco, und die Fenster standen auf Kipp. Die Luft stand still, und plötzlich hob Jesse den Kopf und tat einen schnellen, tiefen Atemzug. »Mama Phyllis!« sagte er.
Ich hielt inne mit dem Tanzen, um zu sehen, was los war. »Mama Phyllis! Die Vögel singen! « Und obwohl es dunkel war, hatte er recht. Manchmal singen nachts die Vögel in San Francisco. Keine Ahnung warum.
Eine Woche später bekam ich mit der Post den sogenannten »Fragebogen zur Unabhängigen Adoption«, der für ledige Adoptionswillige gedacht war. Jemand hatte vergessen, einen gelben Pitch-Zettel vom Fragebogen abzumachen. Darauf stand: »Priscilla. Noch so ein Inseminierungsfall.« (Aus Gründen der Diskretion will ich die Sozialarbeiterin für Adoptionen hier Priscilla Ludkins nennen.) Ich hatte ein unbehagliches Gefühl, als mir klar wurde, daß die Abteilung offensichtlich Listen über uns führte und unsere Fälle von anderen trennte, warum auch immer. Unsere Adoptionsverfahren liefen nicht normal ab, sondern wurden eigens kategorisiert. Und warum? Wenn sie uns finden wollten, war das leichter mit einer speziellen Liste. Jede Zeile des »Fragebogens für Unabhängige Adoptionen« stellte ein Problem dar. Ich konnte meinen Namen an zwei mögliche Stellen schreiben: unter »Mann«, wo der Nachname gefragt war, oder darunter, unter »Frau«, bitte mit Mädchenname. Ich brauchte eine Viertelstunde, um zu entscheiden, wo ich meinen Namen eintragen sollte, denn das Feld des Mannes implizierte, daß er die adoptierende Hauptpartei war, was zwar auf mich zutraf, aber ich wollte nicht, daß die Sachbearbeiterin dachte, ich litte an »Geschlechtsverwechslung«. Abgesehen von diesem Problem war das Formular für den Fall entwickelt worden, daß man das Kind einer Fremden adoptieren wollte.
Die einfache Stiefelternlösung ließ sich auf mich auch nicht anwenden, weil Cheryl und ich nicht heiraten durften. (Andererseits besagte nichts im kalifornischen Zivilrecht, daß die Eltern eines Kindes verschiedenen Geschlechts sein mußten.) Einige der Fragen implizierten sogar, daß Cheryl Jesse zur Adoption weggab, was sie natürlich in Schrecken versetzte, und ich mußte sie beruhigen, daß dieser Fall nicht eintreten würde. Ich strich das Feld »Mann« auf dem Formular und machte aus »Mädchenname der Frau« schlicht »Name«. Und das war erst die erste Frage. Es wurde unübersehbar deutlich, daß ein offiziell verheiratetes heterosexuelles Ehepaar die einzige akzeptable Variante adoptierender Eltern darstellte.
Jemals irgendwelche traumatischen Erfahrungen gemacht? fragte der Fragebogen. Nein, schrieb ich hin. Die Lou Sheldons dieser Welt schrien auf. »Päderasten! Kindesverführer! Sodomisten!« Irgendwelche besonderen Anpassungsprobleme? Nein. Überhaupt nicht.
In dieser Nacht schrak Cheryl aus einem Alptraum hoch. Sie raste aus unserem Bett und in Jesses Zimmer. Ich folgte ihr und fragte, was geschehen sei. Sie wachte auf. Sie war geschlafwandelt. »Ich hatte einen Traum«, sagte sie. »Ein Heteropaar klopfte an die Tür. Sie wollten Jesse abholen. Sie sagten, das Kind wäre ihnen vom Gericht zugesprochen worden, weil ich unterschrieben hätte.« Ich versicherte ihr, daß ich den Antrag zur Adoption Jesses auf keinen Fall weiterverfolgen würde, wenn es auch nur das geringste Anzeichen dafür gäbe, daß man ihn ihr wegnehmen wolle. Am nächsten Morgen ging ich mit dem Fragebogen in einen Kopierladen, einen Block von Abbys Kanzlei entfernt. Die Frau im Laden war verschlafen, als sie den Fragebogen in den automatischen Einzug legte. Ich wartete geduldig auf einem Stuhl am Spiegelglasfenster. Als ich das Geräusch zerreißenden Papiers hörte, fing ich an, mich aufzuregen. Ich ging zum Ladentisch und sah, daß der Fragebogen einen Papierstau verursacht hatte. Die Frau riß langsam das erste der sieben Blätter in Stücke, während sie versuchte, es aus der Maschine zu entfernen. »Was tun Sie da?« »Es sollte sein«, antwortete sie. Sie war eine Hindufrau und trug ihren traditionellen Sari. »Hören Sie auf!« Tränen liefen mir übers Gesicht, und ich raste vor Wut.
Sie war verblüfft, als ich hinter den Ladentisch und zum Kopierer ging, und wich einen Schritt zurück, als ich die verbleibenden Papierfetzen so vorsichtig wie möglich herauszog. Aber es hatte keinen Zweck. Sie hatte das Blatt in mehrere Stücke gerissen.
»Das ist ein wichtiges Dokument. Ein Adoptionsformular für mein Kind!« »Es sollte so sein! Nichts geschieht, was nicht hat sein sollen! « »Bitte behalten Sie Ihre religiösen Überzeugungen für sich, vielen Dank.«
Ich hielt die Stücke in der Hand und konnte meine Tränen nicht unterdrücken. Die Frau brachte mir Klebeband, und ich fügte die Papierfetzen sorgfältig wieder zusammen. Mein Benehmen war mir peinlich, und ich setzte eine Sonnenbrille auf, um meine Augen zu verdecken. »Es ist schwer, wenn man um ein Kind kämpft«, sagte die Frau. »Es tut mir leid wegen Ihrem Papier.« »Sie haben es ja nicht absichtlich getan.«
Ich verließ den Laden und ging zu Abby Abinantis Kanzlei, die über dem Cafe Commons liegt. Es war mir richtig peinlich, so außer Fassung zu sein. Als Erwachsene hatte ich noch nie in der Öffentlichkeit geweint und war auf solche Gefühle nicht vorbereitet. Ich mochte es nicht, daß ich die Obrigkeit um etwas bitten mußte. In vielen Staaten der USA verstieß ich als lesbische Frau gegen das Gesetz, in vielen Ländern der Welt mußte ich mit der Todesstrafe rechnen. Es erschien mir nicht sehr klug, sichtbar zu sein, aber Jesse würde die Tatsache, daß er zwei Mütter hatte, ebensowenig verbergen können. In Abbys Büro nahm ich meine Sonnenbrille nicht ab, aber natürlich sah sie, in welchem Zustand ich war. Ich erzählte ihr, was passiert war; sie nahm das zusammengeklebte Formular und sagte: »Wir kopieren das hier einfach und schicken die Kopie hin.« »Geht das denn?« »Na klar.« Es gibt Augenblicke, da muß rnan einfach beschließen, daß man den Fähigkeiten eines anderen Menschen vertrauen will. Während Abby den zerrissenen und zusammengeklebten Fragebogen kopierte, bemerkte ich ein eingerahmtes Foto von ihr auf einem Bücherregal. Es zeigte sie bei einem indianischen Ritual mit ihrem Stamm, den Yurok, die aus Nordkalifornien stammen. Abby Abinanti ist eine schöne Frau, groß und anmutig und auf eine Weise in sich ruhend, wie es nur eine Person schafft, die auch die dunkle Seite der Welt kennt. In Nordkalifornien hatte der Ku-Klux-Klan vor dem Haus ihrer Mutter ein Kreuz verbrannt, und als Kind hatte Abby ständig verbale rassistische Angriffe erlebt; als Teenager hatten ihre Klassenkameraden aufgehört, sie zu Parties nach Hause einzuladen.
Als sie ihren ersten Universitätsabschluß machte, drängten sie die Frauen im Beratungskomitee für Indianische Projekte, ein jurastipendium für indianische Studenten zu nutzen. Sie hatte nicht das geringste Bedürfnis, Jura zu studieren. Doch damals gab es keinen einzigen indianischen Juristen in Kalifornien (heute sind es knapp ein Dutzend), deshalb betrachtete sie es als ihre Pflicht, Anwältin zu werden. Während Abby in New Mexico Jura studierte, machte sie ein Gerichtspraktikum in der Kanzlei des Bezirksstaatsanwalts, wo gerade der Fall einer Indianerin anstand, die vergewaltigt worden war; diese wollte aber nicht mit ihm darüber sprechen. Der Bezirksstaatsanwalt fragte den Richter, ob Abby als indianische Frau nicht besser die direkte Befragung übernehmen solle, und der Richter antwortete, Abby könne unmöglich eine Indianerin sein, da sie doch auf dem Wege sei, Anwältin zu werden. Offenbar konnte der Richter sie nicht als Indianerin identifizieren, da sie nicht betrunken und in eine Decke gewickelt war... Sie merkte erst nach ihrer juristischen Ausbildung, daß sie lesbisch war. Das begeisterte sie nicht besonders. Sie war eine Frau. Sie war eine Indianerin. Sie hatte keinen Bedarf für die dritte Kategorie.
Doch ihre Philosophie war: Was passiert ist, ist passiert. Sie würde hinnehmen, was ihr das Schicksal zugeteilt hatte, in der Überzeugung, daß schon irgendein Sinn dahinter steckte. Hat keinen Zweck, sich aufzuregen, sagte sie sich.
»Hat keinen Zweck, sich aufzuregen« ist eine philosophische Haltung. Ich wünschte, ich könnte sie für mich in Anspruch nehmen. Es liegt in meiner Natur, mich aufzuregen. Es war einen Tag vor Halloween. ich hatte ein weiteres Päckchen vom jugendamt erhalten. Darin standen Anweisungen, wie ich meine Fingerabdrücke abnehmen lassen konnte, die ich sodann dem kalifornischen lustizministerium zuzusenden hatte. Früh an jenem Morgen ging ich in ein Maklerbüro, wo man so etwas machen lassen konnte. Als der Angestellte meine Finger über die Karte rollte, fragte er, wozu ich die Abdrücke denn brauche. »Adoption«, sagte ich. »Das finde ich aber gut von Ihnen. Ich habe eine Hochachtung vor Leuten, die adoptieren«, sagte er. Ein netter Mann, Mitte Vierzig, mit zurückweichendem Haaransatz. Ich glaubte nicht eine Sekunde lang, daß er immer noch so bewundernd gewesen wäre, wenn er die Wahrheit erfahren hätte. Vielleicht war das ungerecht, aber alles wurde immer mehr zu »Wir gegen sie«, während ich mich auf meinen Tag vor Gericht vorbereitete. Am späten Vormittag saß ich am Küchentisch, trank meinen Kaffee und las die erste Seite des Wall Street Journal. Ich glaubte zuerst, die Druckerschwärze färbte meine Fingerspitzen, bis mir klar wurde, daß es die Reste der schwarzen Tinte von der morgendlichen Fingerabdrucksitzung waren.
Es lag etwas Primitives darin, daß ich einen Teil meines Körpers identifizieren lassen mußte, um eine Gefühlsbindung legalisieren zu können. Auf der Titelseite des Wall Street Journal stand ein Artikel über San Francisco. Ungeladene Gäste wollten zur Halloweenparty der Stadt kommen: Larry Lea, ein aus Texas stammender Fernsehprediger, und Richard Bernal, Pastor des Jubilee Christian Center von San jos~, würden ihre Gebetskrieger in die Schlacht gegen die hochrangigen bösen Geister führen, die San Francisco verseuchten. Das waren nämlich nicht bloße Alltagsteufel, warnte Lea, sondern überaus mächtige und gefährliche Dämonen. Larry Lea schwor, er würde der Stadt ihre Teufel austreiben, und sein Hauptziel war die lesbisch-schwule Gemeinde. Ich fand das alles zunächst zum Lachen, bis ich im nächsten Absatz las, daß sie vorhatten, zehntausend Krieger per Bus hierherzuschaffen. Zehntausend, das kam in ir wie eine Unmasse vor! Ich war daran gewöhnt, hie und da mal einem zLi begegnen, der am Christopher Street Day ein Schild trug oder an der Straßenbahn-Drehscheibe, Kreuzung Powell und Market Street, herumstand und mir zurief, ich solle bereuen oder in der ewigen Verdammnis braten. Immer dasselbe.
Cheryl beachtete solche Leute nicht, aber ich sah sie jedesmal. Ich war ein Großstadtkind und wußte stets, was hinter meinem Rücken vor sich ging, anders als Cheryl, die aus einem kleinen Städtchen in Ohio kam. Sie war mit Fundamentalisten groß geworden. Die kannte sie und tat sie ab. Ich hielt es für besser, Leute nicht zu ignorieren, die der Oberzeugung waren, wir wären vom Teufel besessen, und die darauf warteten, daß Gott sie darüber informierte, was sie am besten dagegen unternehmen sollten. jahrelang hatte ich mich kaum mit den Fundamentalisten auseinandergesetzt, aber jetzt überlegte ich, ob sie Jesse aufs Korn nehmen könnten, der in ihren Augen vielleicht nicht recht menschlich war. Es hatte offenbar in ihren Kreisen längst Diskussionen darüber gegeben, ob so ein Kind wie Jesse eine Seele habe oder nicht. Laut dem Wall Street Journal war Larry Leas Parole, mit der er seine Gefolgschaft zu den Waffen rief. »Es ist schrecklich, in einer Stadt zu leben, wo man leichter ein Kondom bekommt als eine Bibel.« Das fand ich tirkomisch, doch als nächstes gelobte er, »den starken Mann zu fesseln«. Dieser merkwürdige Akt hatte wohl was mit Exorzismus zu tun. »Dann werden wir sie beim Namen nennen«, fuhr er fort, »über sie kommen, das Urteil der Schrift an ihnen vollstrecken und ihnen befehlen, uns zu gehorchen.«
Leute wie Lea und Bernal waren tatsächlich mal geladene Gäste im Weißen Haus gewesen. Der einzige Trost war die Vorstellung, daß sich Barbara Bush vermutlich nicht sehr auf dieses Abendessen gefreut hatte. Ich trank meinen Kaffee und wartete auf Cheryl und Jesse, die mir ihre Halloween-Kostüme vorführen wollten, am selben Nachmittag veranstaltete Jesses Kindergarten ein Fest. Dieser Kindergarten hatte mich für sich gewonnen, als die Erzieherinnen mir versicherten, es gäbe mehrere »alternative Familien« bei ihnen. In der Absicht, unterschiedlichen Wirklichkeiten gerecht zu werden, brachten sie den Kindern einen leicht abgewandelten Text des bekannten Kinderliedes »Der Bauer im Tal« bei. Statt der Zeile »Und der Bauer nahm ein Weib« sangen sie »Und der Bauer fand 'nen Partner«.
Jesse wollte Clown sein. Ich hatte vier Stunden damit zugebracht, alles für sein Kostüm einzukaufen, was eine umfassende Erfahrung im SPielzeugkaufhaus Toys R Us beinhaltete. Ich war vor seiner Geburt noch nie in Toys R Us gewesen, und es verschlug mir die Sprache, wie ahnungslos ich gewesen war, daß es eine intensive Werbeindustrie gab, die sich nur an das amerikanische Kind richtete. Hunderte Eltern und Kinder stöberten hier durch die Kostümstapel, doch wie es aussah, wollten alle Jungen Ninja Turtles sein und alle Mädchen Märchenprinzessinnen. Cheryl und Jesse fanden Halloween und die Möglichkeit, sich zu verkleiden und etwas vorzuspielen, ganz toll, also machte ich mit. Es war auch nicht unspannend, auf Cheryls Kostüm zu warten, denn sie konnte als beinahe alles auftauchen.
Es gibt den Mythos, nur schwule Männer verstünden etwas davon, im Fummel aufzutreten; Cheryl beherrscht diese Kunst ebenso meisterhaft. Als wir uns noch nicht lange kannten, schaute ich einmal aus dem Fenster des kleinen Häuschens im HaightAshbury-Viertel, wo ich damals lebte, und sah in meinem Garten eine Reinkarnation von Marilyn Monroe, die zwischen den herabhängenden Fuchsien stand und mir zuwinkte. Jahrelang hatte Cheryl versucht, mein Interesse an Halloween zu wecken, aber für mich war das Ende der Fahnenstange erreicht, als sie mir an jenem Morgen ein Dinosaurierkostüm präsentierte, das ich tragen sollte. Es bestand aus einem schwarzen Ganzkörpertrikot, auf dessen Rücken an der Wirbelsäule entlang große hellgelbe Zacken aus Schaumgummi genäht waren. Die Eltern wurden dazu ermutigt, auch verkleidet zu kommen, aber ich weigerte mich, öffentlich gelbe Schaumgummizacken zu tragen. Cheryl hatte überlegt, ob sie in schwarzem Leder auf Jesses Halloweenparty gehen sollte. Sie dachte, die Kinder fänden es bestimmt toll, und sie hatte recht, aber ich verbot es ihr strikt. Ich achtete sehr auf Äußerlichkeiten, weil ich wollte, daß Jesse in der »normalen« Welt akzeptiert wurde. Cheryl in Leder, das Haar mit Pomade zurückgeschmiert, als Billy-Idol-Imitation - das gehörte ganz sicher nicht zu meinem Katalog öffentlicher Auftritte. Ich würde wissen, daß es für Cheryl ein Spiel war, aber die anderen Eltern vielleicht nicht. Die heterosexuelle Welt war sicher nicht überlegen, aber ich mit meiner langen Erfahrung im Versteckspielen, ich glaubte weiterhin an den Erfolg der Diskretion.
Wer in Lederklamotten in den Kindergarten kam, hatte sicher wenig Chancen, sich einzufügen. Während ich auf Cheryl und Jesse wartete, ließ mich der bohrende Gedanke an zehntausend Gebetskrieger, die gerade im Bus nach San Francisco saßen, nicht mehr los. Es war ein Gefühl, als schliefe ich nachts mit offener Tür in einer gefährlichen Gegend. Das Wall Streetjournal berichtete, daß die Gebetskrieger eine Erlaubnis beantragt hatten, direkt durch die Viertel von San Francisco zu marschieren, die sie für besonders teufelsbesessen hielten, zum Beispiel das Schwulenviertel, damit sie einen um so effektiveren Massenexorzismus bei den »sexuell Perversen« durchführen konnten. Anpfiff für den Exorzismus war vierzehn Minuten nach sieben am Abend; Larry Lea behauptete, dieser Zeitpunkt sei durch Kapitel 7 Vers 14 im Zweiten Buch der Chronika bestimmt worden, einen alttestamentarischen Vers, in dem Gott Salomon verspricht, die Sünden seines Volkes zu vergeben und seinein Land Heilung zu bringen, wenn sie beten und von ihren schlechten Wegen umkehren. Daß die Invasion einer friedlichen Gegend vielleicht auch unter »schlechte Wege« fallen konnte, war den Gebetskriegern noch iiie in den Sinn gekommen. Die Stichtag-Atmosphäre des 31. Oktober 1990, 19 Uhr 14, erhöhte die Aufregung.
Es war sehr schlau von Lea, San Francisco am Halloweenstag zu seinem Ziel zu machen, denn unsere Stadt diente seit langem vielen Leuten - vom Touristen aus dem Mittleren Westen bis zum Produzenten aus Hollywood - als Kulisse für ihre Phantasien. Das Journal berichtete außerdern, daß Art Agnos, der Bürgermeister von San Francisco, die ersten zwei Tage seiner Ferien betend und fastend iii einem griechischen Kloster verbracht hatte. Nachdem seine beiden Tage herum waren, hatten einhundertfünfzig Mönche ihm versprochen, daß sie für San Francisco beten wollten. Der Pressesprecher des Bürgermeisters gab bekannt, er würde mit diesen hundertfünfzig Mönchen jederzeit gegen zehntausend Gebetskrieger ankommen. Jesse hatte seinen Auftritt in der Küche, und ich schenkte ihm meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Er war begeistert über sein rot-goldenes Narrenkostüm mit den königsblauen Bommeln vorne dran, die von oben bis unten gingen. Eine kleine Narrenkappe saß keck und schräg auf seinem weißblonden Haar. Er rannte auf mich zu, blieb kurz vorher stehen, seine kleine Brust stolzgeschwellt, seine grünblauen Augen kugelrund vor Erwartung, sein schönes Gesicht geschmückt mit zwei großen roten Punkten auf den Wangenknochen. Es war manchmal nicht leicht, sich angestrengt in die Gesellschaft einzupassen, aber für Jesse lohnte es sich. »Ich bin Clown«, sagte er und nickte langsam, wozu ein allwissender Ausdruck über sein Gesicht huschte. Dann erschien Cheryl auf der Türschwelle zur Küche.
Dort stand sie geziert, eine Schönheit des Südens: in einem langen weißen Kleid mit Rüschen, kurzen weißen Handschuhen und einer Perlenkette. Ihr blondes Haar war lockig und auftoupiert. Jesses und Cheryls Ähnlichkeit war so frappierend, daß es mir manchmal so vorkam, als wäre kein Mann an Jesses Zeugung beteiligt gewesen, ein Gedanke, den unsere radikaleren lesbischen Freundinnen mit einiger Freude aufgenommen hätten, da sie immer noch auf die Parthenogenese warteten. Draußen tänzelte Cheryl die Stufen zum Bürgersteig hinab, wo sie natürlich auf mich wartete, damit ich ihr die Wagentür aufhielt. ich war von ihrem Kostüm beeindruckt. Es sah weniger nach gepflegtem Hausfrauenlook als vielmehr nach Laura aus der Glasmenagerie von Tennessee Williams aus. Bevor sie zu hinken anfängt. Jesse kletterte auf seinen Kindersitz, ich schnallte ihn an, und auf ging's zur Party. Als wir ausstiegen und über den Bürgersteig auf Jesses Kindergarten zusteuerten, wurde mir klar, daß ich vielen der anderen Eltern zum ersten Mal begegnen würde, und ich wurde argwöhnisch. Auf dem Vorplatz schwebte Cheryl von dannen, um unsere Törtchen auf dem Desserttisch abzusetzen und sie, vermutlich, mit denen der anderen Mütter zu vergleichen, wenn sie nicht aus ihrer Rolle fallen wollte, was ich nicht annahm. Ich stand bei Jesse auf dem Spielplatz, wo er im Sand grub, als ein heterosexuelles Paar, das als steptanzende Rosinen verkleidet war, auf mich zukam.
Offenbar war ihr Kind besonders dick mit Jesse befreundet, und sie wollten Jesses Eltern treffen. Ich stellte mich vor, und in diesem Augenblick glitt Cheryl an meine Seite, eine perfekte TennesseeWilliams-Figur. Ich konnte dabei zusehen, wie sie langsam aufs Territorium der Blanche Du Bois überwechselte. Sie lächelte und legte gekonnt ihren Kopf schief, als sie sich bei mir einhängte, wo sie hängenblieb wie ein Blatt Laub an einem feuchten Nachmittag. Sie neckte mich gern, vor allem in der Öffentlichkeit. Das Bemerkenswerteste an Cheryls Auftritt war ihr absolut leerer Gesichtsausdruck; sie sah aus wie eine lesbische Fernsehansagerin. Die Mutter und der Vater wurden nervös, dann äußerst zuvorkommend. Ich glaube, Cheryl und ich waren ihr erstes lesbisches Paar, und sie waren ganz bestimmt nicht vorbereitet auf Cheryls besondere Inkarnation dieses Tages. Vielleicht hätten sie mit Billy Idol in Leder besser umgehen können oder wären zumindest nicht so überrascht gewesen. Im Bemühen, freundlich zu sein, fragte mich die Frau: »Welche von Ihnen ist denn die wirkliche Mutter?« Jesse war in Hörweite. Er unterbrach sein Buddeln im Sandkasten und schaute zu mir hoch. »Wirklich in welchem Sinn?« fragte ich, nur der Hauch einer Spitze in meiner Stimme, ich lächelte durchaus. Schließlich redete ich mit steptanzenden Rosinen, und ich selber trug ein goldenes Satinhemd und einen dreizackigen Piratenhut aus Filz mit drei großen Pfauenfedern, die aus der Krempe sprossen.
Cheryl gab ein kleines Kichern von sich und drückte meinen Arm ganz bezaubernd. »Wir sind beide ziemlich wirklich«, sagte Cheryl höflich. Mit einem kleinen Touch Scarlett O'Hara, kurz bevor Tara abbrennt und vom Winde verweht wird, wandte sie sich Jesse im Sandkasten zu und ließ sich im Sand nieder; ihr Kleid schwebte zu Boden wie eine pilzförmige Wolke, und Jesse schrie vor Lachen. »Ich bin seine nichtbiologische Mutter«, erklärte ich den anderen Eltern, »und Cheryl ist seine leibliche Mutter. Wir ziehen Jesse gemeinsam auf. Jesse nennt mich Mama Phyllis und Cheryl Mama Cher.« Das Paar wirkte dankbar, daß ich nicht beleidigt gewesen war, und in Wahrheit hatten sie es auch nicht so gemeint. Ein vollkommen neues Vokabular ist im Umfeld alternativer Familien entstanden, und es ist noch nicht in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. Da ich selbst noch nicht ganz begriff, wer ich war, konnte ich das kaum von ihnen erwarten. Wir plauderten eine Weile über Kostüme und wie lang die Schlangen im Toys R Us waren. Eigentlich konnte ich sowas ziemlich gut, wenn ich Lust dazu hatte, aber während wir sprachen, beobachtete ich mich zugleich von außen. Die Frage, ob ich Jesses wirkliche Mutter war, ließ mich nicht los. Immer wieder wurde sie gestellt. Über die Köpfe der beiden hinweg sah ich Cheryl, die mit Jesse im Sandkasten spielte. Mir fiel auf, daß dieses Paar, das Cheryl noch nie gesehen hatte, offenbar nicht merkte, daß sie ein Kostüm trug und eine Rolle spielte.
Ihre Darstellung war so perfekt, daß die meisten sie für »wirklich« hielten. Und das, obwohl sie mit ihren weißen Handschuhen und Perlen Jesse sehr gespreizt beim Graben hal£ Ich wollte den Eltern von Jesses Freund, die Cheryl beobachteten, eigentlich erklären, daß sie verkleidet war und eine Figur darstellte, aber ich gab den Gedanken auf. Den ganzen Nachmittag hielt Cheryl ihre Rolle durch, und das ist einer der vielen Gründe, warum ich sie liebe: Sie weiß zu spielen. Jesse schloß sich den anderen Kindern für das Finale, die Kostümparade, an. Die unzähligen Ninja Turtles und Märchenprinzessinnen beunruhigten mich. Diese Bilder bekamen die Kinder nicht in der Kirche und nicht im Kindergarten, sondern aus dem Fernsehen, aus dem Kino. Iminerhin waren sie nicht angezogen wie Larry Leas Gebetskrieger. Die durften nicht ignoriert werden. Wenn man ihnen das durchgehen ließ, würden sie nur eine weitere Eskalation betreiben. Ich erinnerte mich allzu gut daran, wie Anita Bryant sich 1977 an die Spitze einer Sponsorenkampagne gestellt hatte, um »Rehabilitationslager« und »Ranches« für Lesben und Schwule einzurichten. Larry Lea war vielleicht eine neue, effektivere Ausgabe von Bryant.
Ich hatte Angst, mich an jenem Abend dem Civic Center zu nähern, verfolgte aber aufmerksam die Berichterstattung in den Medien, die so intensiv war wie bei einem Endspiel der Footballmeisterschaften: Die radikale Linke und die radikale Rechte fallen in Flippy City übereinander her. An diesem Abend wurde der GHOST [5] -Sprecher Mark Pritchard in den 17 Uhr-Nachrichten interviewt. Er wurde als Mitglied von Queer Nation vorgestellt. Queer Nation war entschieden keine moderate lesbisch-schwule Bürgerrechtsgruppe, längst jenseits von »progressiv«. Pritchard sagte zu dem Reporter: »Sollten irgendwelche Fundamentalisten oder Schwulenklatscher auf die Idee kommen, im Castro-Viertel einzufallen, um uns zusammenzuschlagen, dann werden wir uns verteidigen.« Ich war verblüfft, daß jemand sich tatsächlich selbst als »queer« bezeichnete, ja, sogar so weit ging, dieses Wort als Namen für eine Organisation zu benutzen. Würde ich »Mitglied von Queer Nation« in meinen Lebenslauf schreiben?
Die 10 Uhr-Nachrichten brachten einen ausführlichen Bericht über den Höhepunkt des Zusammenstoßes. Die meisten Krieger waren aus den Vorstädten mit Bussen ins Zentrum gebracht worden. Sie reckten ihre Hände in die Luft, wedelten mit Bibeln und sprachen in Zungen, während die farbenfrohen Demonstranten schrien: »Wir sind andersrum/Uns dreht keiner um!« Gelbe Busse mit der Aufschrift VERSAMMLUNGEN GOTTES in fetten schwarzen Lettern, darin Hunderte von Gebetskriegern, fuhren am Auditorium vor. Beim Höhepunkt der Konfrontation am Eingang des Civic Center Auditoriums standen über zweitausend Demonstranten den Sicherheitskräften Larry Leas gegenüber. Eine kräftige Tenorstimme verschaffte sich Gehör: »Wer trägt die Verantwortung für diesen Saal? Ich will den Veranstalter sprechen. Auf der Stelle.« Um die Türen drängte sich die Presse besonders heftig, und die hellen Scheinwerfer der Fernsehkameras blitzten auf und erleuchteten das Gesicht von Pink Jesus. Da war er wieder. Er wurde am Eingang zum Gebetstreffen abgewiesen und schrie etwas von Verletzung eines Erlasses.
Dieser sogenannte Unruh-Erlaß des Staates Kalifornien schützte vor Diskriminierung an öffentlichen Orten wie dem Civic Center Auditorium, indem er für illegal erklärte, irgend jemandem willkürlich den Zutritt zu einem öffentlichen Ort zu verbieten. »Keine Kostüme!« brüllten die Sicherheitskräfte. »Keine Kostüme?« schrie Pink Jesus zurück, ihnen mitten ins Gesicht. »Und was ist mit denen und ihren Kostümen?« Er zeigte auf das Meer von Polyesteranzügen und Hemdblusenkleidern, die in der Eingangshalle des Auditoriums zu erkennen waren. Er drehte sich um und beantwortete die Frage eines Reporters, die schlecht zu verstehen war. »Wir wollen mit Humor schockieren«, erklärte Pink Jesus. »Wir sind lebendige politische Comicfiguren.« All das war früher an diesem Abend geschehen. Ein einsamer Nachrichtenreporter berichtete, daß nun am Civic Center Ruhe eingekehrt sei. Er stand vor einem riesigen Spruchband, das auf dem Rasen gegenüber vom Auditorium eingepflockt war. Auf dem Spruchband stand: WEG MIT DEN WIEDERGEBORENEN BETBRÜDERN. Es wehte sacht in der Brise, während in der Ferne Schreien und Trommelrasseln zu hören war, das in Klangsplittern auf den großen Schaumgummigrabsteinen niederging, die im Gras aufgestellt waren. Unter den Namen auf den Steinen fanden sich Larry Lea, Jimmy Swaggart, Lou Sheldon und der Ku-Klux-Klan.
Und wieder stand Gilbert Baker als Pink Jesus da. Ich hatte immer noch ein unbehagliches Gefühl seinetwegen, aber ich war nicht mehr kategorisch gegen seine Taktik. Wenn zehntausend Fanatiker ungestraft nach San Francisco kommen durften, in der Absicht, böse Geister der Spitzenklasse aus meiner Seele zu vertreiben und das emotionale Gleichgewicht meines Kindes zu bedrohen, war das etwa Befreiung? War das der sichere Ort, wo ich Jesse aufziehen wollte? War dies eine Stadt der Zuflucht? Und doch erschien mir Gilbert Bakers Strategie zu radikal, kurz davor, außer Kontrolle zu geraten und in die Hände der anderen zu spielen. Video- und Fotoaufnahmen von Pink Jesus beim Christopher Street Day und auf der GHOST-Demo sollten mehrere Jahre lang wichtiges Instrument zur Geldbeschaffung und zur politischen Mobilisierung der politischen Rechten sein. Ich fragte mich, ob Gilbert eine Todessehnsucht hatte. Er mußte doch begreifen, daß irgend jemand mit Leichtigkeit einen Schuß auf ihn abfeuern konnte, und Stöckel und Lendenschurz in Pink würden eine Flucht auch nicht gerade erleichtern.
An diesem Abend kam es kaum zu Gewalt. Die Gebetskrieger waren offenbar am Civic Center geblieben. Es hatte nur einen Zwischenfall im Castro-Viertel gegeben. Vier junge Soldaten in Khaki-Tarnanzügen hatten eine Schlägerei mit einigen lesbischen Frauen und schwulen Männern begonnen, doch sie waren verhaftet, abtransportiert und ihrem vorgesetzten Offizier übergeben worden. Ich half Jesse derweil beim Sortieren seiner Bonbons, Lutscher und Gummibärchen. Castro und Pink lesus waren nicht weit, nur auf der anderen Seite des Hügels, aber sie hätten genausogut auf der Venus liegen können. An diesem Abend waren die Gebetskrieger am Civic Center von einer neuen Kraft herausgefordert worden, von der das Land gerade zum ersten Mal hörte und die erst seit Mitte Juli in San Francisco existierte. Ihr Motto lautete »vor eurer Nase«. Sie spielte mit Geschlechterrollen und mit der Macht, und sie nannte sich Queer Nation.
Ein paar Tage nach Halloween bekam ich meinen ersten Anruf von der Sozialarbeiterin des Jugendamtes, Priscilla Judkins. Sie stellte sich vor und fragte, ob ich jemals verheiratet gewesen sei. Ich verneinte. Sie klang sehr munter. Sie fragte, ob es zutreffe, daß Jesse keinen gesetzlichen Vater hätte, und ich bestätigte das. Dann sagte sie: »Nun, das war's.« Verwirrt umklammerte ich den Telefonhörer, als wäre er ein Fisch, der mir aus der Hand glitschen könnte. Sie machte eine Pause und unterstrich: »Nehmen Sie es nicht persönlich.« »Natürlich nicht«, erwiderte ich. »Es ist einfach die Politik des Amtes. Verstehen Sie?« »Ja«, sagte ich. »Einfach die Politik des Amtes.« »Sie werden noch schriftlich benachrichtigt.« »O ja, natürlich. Vielen Dank. Ja, herzlichen Dank für Ihren Anruf, und natürlich verstehe ich, daß es einfach die Politik des Amtes ist, ich nehme es nicht persönlich.« Ich hängte ein und setzte mich mit Abby Abinanti in Verbindung. Anscheinend wurde auf der Grundlage dieses Telefongesprächs darüber entschieden, ob wir Anspruch auf einen Hausbesuch der Sozialarbeiterin hatten. Ja, das ist das Verfahren. Mach dir keine Sorgen. So redeten alle. Nur das übliche Verfahren. Das mußt du verstehen. Sei nicht so dramatisch. Es wird schon in Ordnung gehen. Wahrscheinlich wird es erst einmal eine Ablehnung geben.
Sobald die offizielle erste Ablehnung eintrifft, wird eine Anhörung beantragt, und zu diesem Zeitpunkt wird dann der Richter aufgefordert, eine Anordnung zu unterschreiben, die einen Hausbesuch verlangt. Mit anderen Worten, der Richter würde das Jugendamt zwingen, sich immerhin mein Haus anzusehen. Ich versicherte allen, daß ich sehr freundlich zu Mrs. Judkins gewesen sei, sie habe mich sogar um Verständnis für die Politik ihres Amtes gebeten. War das nicht nett von ihr? fragte ich meine Freunde und Freundinnen. Ich konnte mich ziemlich aufregen, aber es war doch wahnsinnig ermutigend, daß ich auch... nett und ruhig sein konnte - ja, wenn möglich, jemand anders als ich selbst. Ich hatte ein Gefühl, als stünde das Zimmer in Brand und die einzige Tür nach draußen wäre abgeschlossen. Ich haßte die Vorstellung, daß jernand vom Staat in mein Heim kommen, jedes Detail meines Lebens unter die Lupe nehmen und in meine Intimsphäre eindringen sollte. Und doch war ich willens, vor Gericht zu gehen, damit dieser Akt des Eindringens stattfinden konnte.
Später an diesem Nachmittag holte ich Jesse vom Kindergarten ab. Ich fuhr, aber es fühlte sich an, als säße jemand anders am Steuer.
Ich war ungewöhnlich vorsichtig. Perfekt. Ich hob Jesse in die Luft, wie immer, und küßte ihn, wie immer, aber ich fühlte mich wie ein ungewollter Gast bei jemand anders zu Hause.