Unverhofft radikal

Der Fall der Michele G. aus Los Angeles kam an die Öffentlichkeit. Sie war die nichtbiologische Mutter zweier Kinder, die sie gemeinsam mit ihrer Freundin aufgezogen hatte. Die beiden Frauen waren seit 1969 zusammen, und eines Tages zerbrach die Beziehung. Später verweigerte Nancy S., Micheles Freundin, ihr das Besuchsrecht für die Kinder. Das Gericht vertrat Nancys Position, daß es keine legitime Verbindung zwischen Michele G. und den beiden Kindern gebe, die Mutter zu ihr sagten. Das Gericht erklärte Michele G. zu einer »biologisch fremden Person«. Eigentümlicherweise war das Gericht außerdem der Ansicht, sie hätte eine Adoption versuchen sollen, obwohl es die Politik des Staates Kalifornien war, einen solchen Adoptionsantrag automatisch erst einmal abzulehnen.
Unsere Anwältin Abby Abinanti fand heraus, daß das Justizministerium die Anordnung des Hausbesuchs bei uns überhaupt nicht an das Jugendamt weitergeleitet hatte, und nun sollte unsere Sozialarbeiterin für vier bis sechs Wochen in Kur gehen. Wahrscheinlich konnte ich erst ab Mitte Mai damit rechnen, von ihr zu hören. Wieder raste es in meinem Hirn. Dieses Adoptionsverfahren dauerte so viel länger, als alle vorhergesagt hatten. Ich wußte, die Koalition der Traditionellen Werte bekämpfte den Antrag AB-101, das Gesetz für lesbische und schwule Bürgerrechte. Würde mein Fall derjenige sein, den der Justizminister aufs Korn nahm? Würde der Richter, der über meinen Fall entschied, nichts über lesbische Frauen wissen außer dem, was er aus Filmen oder aus Handbüchern der fünfziger Jahre über abartige, pathologische Persönlichkeitsstrukturen kannte?
Ich bekam Angst, die Adoption würde nicht durchkommen, und obwohl ich alles tat, um mir diese Angst nicht anmerken zu lassen, war es, als hätte Jesse irgendwo in seinem Herzen gespürt, daß etwas passiert war. In jener Woche drückte er mir seine Liebe deutlicher aus denn je. Er schaute mir direkt in die Augen, und er schien so selbstbewußt zu sein, so unerschütterlich, so seiner selbst gewiß. Mir fiel der Augenblick bei seiner Willkommensfeier wieder ein, als er gerade vier Tage alt gewesen war. Er hatte nach der weißen Nelke gegriffen, als wollte er mich anerkennen, bevor er wieder in die Welt des Neugeborenen zurücksank. In dem Moment hatte er mich gewonnen, und er hatte gewußt, wer ich war. Denselben Ausdruck fand ich nun wieder in seinen Augen, voller Sympathie diesmal. Das Problem war niemals seines, immer nur meines. Als ich ihn in dieser Woche zur Schule brachte, legte er einen Arm um meinen Hals und seine Hand auf meine Wange. »Tschü-üß, du Schöne«, sagte er. Kinder halten die Menschen, die sie lieben, immer für wunderschön.

Sie kamen mir sehr jung vor, um die Zwanzig, höchstens Dreißig, aber ich bin sicher, sie fühlten sich ziemlich alt, und mit meinen Vierzig muß ich steinalt auf sie gewirkt haben. Sie kamen als Vertreter der einzelnen Ableger von Queer Nation von den unwahrscheinlichsten Orten des Landes ins Frauenhaus nach San Francisco, ins Land der abartigen Lotosesser. Was als ein Phänomen von New York, San Francisco und Boston begonnen hatte, war inzwischen wirklich ein Medienspektakel mit landesweiter Basis geworden. Ich beobachtete das Aufbranden einer großen Energie, und es gab kein Zurück. Der Geist war aus der Flasche entwichen, ohne jede Vorstellung vom Kompromiß und niemals dezent.
Aus Shreveport, Louisiana, wurde ein Palaver der Queers vermeldet; New Orleans plante »Die Nacht ist queer« plus einen ganz eigenen Einkaufsbummel. Daß Gruppen in Chicago und Boulder, Houston und Detroit, Cleveland und Atlanta aus dem Boden geschossen waren, überraschte keinen, aber in Lincoln, Albuquerque, Tallahassee und Salt Lake City?
Wer waren die Mitglieder von Queer Nation, und warum machten sie so viele Leute so wütend? Ich fand, es war wie bei Käptn Hooks Frage an Peter Pan, als sie sich auf Leben und Tod duellieren: »Pan, wer und was bist du?« - »Ich bin die Jugend, ich bin die Freude«, sagt Peter. »Ich bin ein kleiner Vogel, der aus dem Ei geschlüpft ist.« Sir James kommentiert, daß Peters Antwort natürlich Blödsinn ist, daß Hook das weiß, und das wiederum ist der Beweis für Hook, daß Peter nicht im geringsten weiß, wer oder was er ist, »was bekanntlich der Gipfel guten Stils ist«.
Wenn man versuchen wollte, queer zu definieren, würden die Antworten so paradox ausfallen wie die Eigenschaften und philosophischen Haltungen, die Harvey Milk regelmäßig zugeschrieben wurden. Angenommen, jeder, mit dem ich sprach, hätte Harvey zutreffend beschrieben, dann wäre er ein autokratischer kapitalistischer Geschäftsmann, ein sozialistischer Demokrat, ein republikanischer Aktienmakler und ein Off-Broadway-Produzentenhippie zugleich gewesen. Unsere Akademiker werden ganz sicher ein massives Korpus kritischer Reflexion über eine queer zu nennende Ethik zusammentragen, über Identitätspolitik und die »Neue Schwule Ordnung«, wie die New Yorker Village Voice es genannt hat, aber ich glaube kaum, daß danach irgend jemand genauer sagen kann, was um alles in der Welt queer wirklich bedeutet. Für mich war es viel leichter. Ich erinnere mich an meine Großmutter, die auf ihrer geblümten Couch in Somerville, Massachusetts, saß, einen Rauchring in die Luft blies und mit ihrem singenden Akzent einen Gedanken oder ein Ereignis kommentierte. »Ist das nicht sonderbar?« pflegte Oma zu sagen, und dafür benutzte sie das Wörtchen queer. Und an der Art, wie sie ihren Kopf schräg legte und durchs Fenster in den Himmel schaute, gab sie dem Wort einen wunderschönen Klang, und das Kind, das ich war, hielt queer für etwas absolut Magisches und Aufregendes.
Woche für Woche ging ich zu Queer Nation, sagte nie viel und genoß jeden Augenblick. Ich fühlte mich wie eine närrische Tante, deren Herz vor bedingungsloser Liebe überfließt und die nicht merkt, daß ein paar der Kids Feuerwerkskörper an den Schwanz der Katze binden. Marty Mulkey spottete immer noch über das Engagement von Queer Nation, um »Queers in die Zahnpasta-Werbung« zu kriegen, aber ich war alt genug, um mich daran zu erinnern, wie die ersten Schwarzen auf den amerikanischen Bildschirmen ihre Zähne mit Crest geputzt hatten, ein Ereignis, das ebenso intensiv debattiert worden war wie die Frage, ob während der Kubakrise eine Blockade verhängt werden sollte oder nicht.
Die Aktionsgruppe HI MOM[13] ermutigte ihre Mitglieder, lange, medienwirksame Schlangen vor den Rekrutierungsbüros der Armee zu bilden und die Rekrutierungsoffiziere sämtliche langwierigen Formulare ausfüllen zu lassen. Das blockierte nicht nur die wertvolle Zeit des Offiziers, es war auch ein ideales Medienereignis: Jeder Anwärter gab am Ende des Vorgangs an, daß er homosexuell war, und mußte somit abgewiesen werden.
Ggreg Taylor war der sensationellste Aktivist von Queer Nation. Weiße Straßsteinchen klebten an seinem Mickymaus-Hut. Er organisierte eine Bustour nach Disneyland. Die Expedition »Lila Schnecke«, eine absolut gewaltfreie Gruppe, abgesehen von ihrem Make-up, wurde an der Einschienenbahn von Disneyland von einem Waggon voller Männer mit blauen Anzügen, Kopfhörern und Sonnenbrillen empfangen. Der Fahrer informierte Ggreg, hinter den Kulissen warteten zweihundert Sicherheitsbeamte, die sich offenbar auf eine massive, kämpferische Demonstration eingestellt hatten. Ggreg wußte genau: wenn 750.000 Lesben und Schwule einen Marsch nach Washington veranstalten, kriegen sie in der überregionalen Presse einen kleinen Füllselartikel auf der letzten Seite, aber wenn sich fünfunddreißig Fummeltrinen in einen Bus setzen und nach Disneyland aufmachen, um ein bißchen Karussell zu fahren, oder zu Senator Helms' Haus, um einen Obstkorb zu überreichen, dann fällt das auf.
Ich kam von Queer Nation nach Hause, ziemlich glücklich und aufgedreht von dem, was inzwischen zu meiner Hauptquelle der Unterhaltung, Ablenkung und Beruhigung geworden war. Cheryl saß mit verschränkten Armen auf dem Sofa im Wohnzimmer. Das Licht war zu hell, und ich war erstaunt, daß sie noch wach war.
»Was treibst du eigentlich?« wollte sie wissen.
Ich war vollkommen perplex über ihren Zorn.
»Ich war bei einem Treffen«, sagte ich.
»Du tust nichts anderes. Du gehst zu diesen Treffen. Nie gehen wir mal zusammen weg. Du kommst nach Hause, wenn ich schon schlafe. Du bist wie ein Mann, dem seine Karriere wichtiger ist als seine Familie.«
»Das ist überhaupt nicht wahr.« Ich tat es ab und ging in die Küche. Es machte mich wütend, daß sie mich mit einem Mann verglich. Wenn ich ein Mann wäre, hätten wir diese ganzen Probleme mit der Adoption nicht.
»Du verbringst auch nicht genug Zeit mit Jesse«, fuhr sie fort. »Es reicht jetzt wirklich.«
»Sei nicht albern«, gab ich zurück, da spielte sie ihre Trumpfkarte: »Ich will nicht, daß du Jesse adoptierst.«
Ich wurde fuchsteufelswild und geriet in Panik.
»Was redest du da?«
»Ich weiß, was du treibst«, sagte sie.
»Ich war bei einem Treffen. Ich wußte, daß du das tun würdest. Der Chauvinismus der biologischen Mütter. Das macht ihr alle.«
»Hör auf, mich zu analysieren.«
»Wieso bist du so wütend?«
»Du bist die ganze Zeit wütend«, sagte sie. »Du willst Jesse bloß adoptieren, damit du mich allein lassen und dein aufregendes Leben haben kannst - und immer noch Anrechte auf ihn. Das ist der einzige Grund.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie begann zu weinen.
»Das ist nicht wahr!« sagte ich, und es war auch nicht wahr, aber wir wurden beide langsam paranoid durch den Streß des Adoptionsverfahrens. Sie empfand mich als eine Person, die ihr emotionale Brosamen hinwarf, und ich war eifersüchtig auf ihren legalen Mutterstatus.
»Es tut mir leid, daß ich das gesagt habe«, meinte sie. »Du kannst ihn adoptieren, auch wenn du mich verlassen willst.«
»Ich will dich doch gar nicht verlassen«, beharrte ich.
»Ich glaube, das hast du schon«, sagte sie, wieder zornig. In gewisser Weise hatte sie recht. Distanzierung war meine Art, mit dem Gefühl umzugehen, ich sei eine Hochstaplerin, keine wirkliche Mutter, keine echte Familie, eben nur eine biologisch fremde Person.
»Du verstehst meine Gefühle nicht«, sagte ich.
»Nein, tu ich auch nicht. Ich kann nichts tun, damit es besser wird. Hast du etwas mit einer anderen?«
»Nein, das ist nicht meine Art. Im Gegenteil, ich habe mich noch nie in meinem Leben so einsam gefühlt.«
»Ich bin doch hier und für dich da, aber immer wieder entscheidest du dich dafür, woanders zu sein«, sagte sie, und die Wut stieg wieder in ihr auf.
»Dann droh mir nicht wegen Jesse«, sagte ich.
»Es tut mir leid. Ich verstehe dich einfach nicht.«
»Ich weiß.«
»Du hast nicht vor, mich zu verlassen?«
»Kein bißchen.«
»Liegt es an der Adoption?«
»Ja, Cheryl.«
Wir waren still.
»Ich liebe dich doch«, sagte sie. »Ich möchte, daß unsere Familie zusammenbleibt.« Wir hielten uns in den Armen, und ich sagte ihr auch, daß ich sie liebte, aber in meinem Kopf verhakten sich die Gedanken bei diesen drei Worten: biologisch fremde Person.

Beim Queer-Nation-Treffen am Abend des 10. April 1991 lag ein leuchtend grünes Flugblatt mit der Schlagzeile: »Psychokiller-Queers schlagen wieder zu!« auf dem Infotisch. Offenbar sollte demnächst ein Film mit dem Titel Basic Instinct in unserer Stadt gedreht werden, in dem gestörte bisexuelle und lesbische Frauen vorkamen. Ich war sicher, es handelte sich um irgendeine miese kleine Pornofilmgesellschaft, die einen schnellen Dollar machen wollte. LABIA beschloß, zu Informationszwecken erst mal eine Abordnung in eine Bar namens Rawhide zu schicken, wo am nächsten Morgen die Dreharbeiten beginnen sollten.
Pam Bates, Klempnerin von Beruf und eine Veteranin der Frauenbewegung, organisierte die Demonstration. Pam, eine Handvoll weiterer Frauen und ein paar Männer tauchten am frühen Morgen im Rawhide auf, der typisch graue Aprilhimmel zerrissen von Lichtstrahlen, die sich durchkämpften, als würde Gott schreien: »Film ab!«, bloß daß keiner so recht hinhörte, denn dies war San Francisco, und außerdem wurden die Cappuccinomaschinen erst aufgeheizt.
Pam und ihre Freunde tranken Kaffee aus Styroporbechern, und als Leute stehenblieben, um sich zu erkundigen, was für eine Aktion das war, sagte sie: »Ach, die drehen da drinnen irgendeinen Film über Homosexuelle, und die Lesben und Bi-Frauen sind mal wieder die Bösen.« Das war's schon. Pam plauderte auch mit einer Frau von der Filmgesellschaft, die auf sie zukam. Dann führte die Frau, die äußerst nervös wirkte, als sie von Pam wieder weghuschte, ein lebhaftes Gespräch mit ihrem kleinen tragbaren Telefon. Kurz darauf kam die Polizei mit fast dreißig Absperrungsgittern für zwölf praktisch schweigende Protestler. Es ging nicht darum, Sprechgesänge und Geschrei anzustimmen, sondern echte, alltägliche Lesben vorzuführen, viele in ihrer Arbeitskleidung, auf dem Weg zu ihren Jobs im Zentrum. Pam lächelte und winkte der Polizei zu, die einige Probleme damit hatte, die Absperrungen zusammenzubauen. Pam schlug vor, vielleicht sollte man bei der Polizistenausbildung einen Sonderkurs für das Zusammenbauen von Absperrungen einführen.
Die Filmcrew traf allmählich ein. Die Polizei mußte die Absperrungen beiseite räumen, um sie durchzulassen. Dann wurden die Absperrungen wieder zurückgestellt. Dann mußten sie wieder weggeräumt werden, um die Filmausrüstung durchzulassen. Und wieder aufgebaut. Und wieder weggeräumt. Und wieder hingestellt. Das Geräusch des auf dem Bürgersteig scharrenden Metalls ergab einen seltsamen, kontrapunktischen Hintergrund, während die Mitglieder von LABIA und Queer Nation über den Bürgersteig schlenderten, ab und zu stehenbleibend, um mit den Fingerspitzen die winzigen Styroporkügelchen zu entfernen, die anscheinend immer auf dem Kaffee herumschwimmen. Die Filmcrew und die Polizei arbeiteten fieberhaft, um die Absperrungen bis zum Ende des Blocks zu ziehen. Was erwarteten sie? Konnte es sein, daß die Arbeit an einem Film, in dem diabolische Lesben und bisexuelle Frauen vorkamen, bei der Filmcrew einige irrationale Ängste hatte aufkommen lassen?
Zwei weitere Mitglieder der Crew tauchten auf, stämmige weiße Männer.
»Ach du je, es ist zum Aus-der-Haut-fahren, das hat uns gerade noch gefehlt, ein Haufen Queers.«
»Ist das hier eine Gruppe von Schwuchteln?« fragte sein Kumpel, als wären die Frauen taub und könnten auch nicht von den Lippen ablesen.
»Sind wir eine Gruppe von Schwuchteln?« fragten sich die Frauen gegenseitig.
»Schwuchtellesben vielleicht«, schlug eine LABIA im Manageranzug vor.
Die Aktion im Rawhide war entschieden femme. Niemand schrie oder sprach Drohungen aus. Es gab nicht eine Sekunde der Konfrontation. Mit Passanten wurde nur gesprochen, wenn sie stehenblieben und fragten, was los war, auch die Schilder waren geschmackvoll: TESTOSTERON KILLT - NICHT LESBEN. Und gerade als die Polizisten endlich kapiert hatten, wie es mit der Absperrung funktionierte, und sich auf ihre Posten begaben, schauten die Demonstranten auf ihre Uhren und machten sich auf zu ihrer Arbeit. Einige gingen in ihre Versicherungsbüros und Werbeagenturen in der Innenstadt, andere zu Selbsthilfeorganisationen, die Aids-Patienten betreuten, wieder andere nach Hause zu ihrer Arbeit.
Es war ein wunderschöner Tag, die Lichtschlitze im grauen Himmel waren inzwischen aufgerissen zu großen sonnigen Flächen. Die Polizei öffnete die Absperrgitter und schloß sie wieder. Die Crew redete mit Walkie-talkies und tragbaren Telefonen. Sie lugten um die Ecken und auf die Dächer der angrenzenden Gebäude. Sie waren allein, sie waren unsicher, und sie tranken zu viel Kaffee. Sagte jedenfalls einer der Verpflegungslieferanten, der auch Mitglied von Queer Nation war.
»Die Schwanzlutscher denken, wir sind unfair zu ihnen«, antwortete ein Lkw-Fahrer, der zur Crew gehörte, als er gefragt wurde, warum Queer Nation vor der Bar protestierte. Das wurde von dem renommierten Filmkritiker Daniel Mangin berichtet. Die Wortwahl »Schwanzlutscher« als beschreibendes Substantiv für die überwiegend weibliche Gruppe war, wie Mr. Mangin bemerkte, ironisch. Er merkte außerdem an, daß so gut wie jede positive Darstellung von lesbischen Frauen durch die Hollywood-Produzenten herauszensiert oder delesbianisiert wird, weil die Testzuschauer nur zufrieden sind, wenn die lesbische Frau am Ende stirbt; in der Regel fühlen sie sich dann wohler.
Stadträtin Roberta Achtenberg fand es »geradezu absurd, daß so etwas vor unserer Nase gemacht wird.«
Stadträtin Carole Migden fragte: »Warum werden wir immer als pervers dargestellt?«
Stadträtin Angela Alioto, eine praktizierende Heterosexuelle und Tochter eines ehemaligen Bürgermeisters der Stadt, fand die Kommentare der Filmcrew unangebracht und schlug vor, sie in »Sensibilisierungskurse« zu stecken. Alioto hatte immer die typisch kalifornischen Lösungen parat, aber die Filmgesellschaft und die Fahrer schienen sich nicht besonders für Sensibilisierung zu interessieren. Was sie interessierte, war die Geheimhaltung der Drehtermine.
Das Ganze lief von Anfang an nicht besonders glücklich.
Queer Week berichtete: »Lesben auf dem Kriegspfad«, und eine Riesenschlagzeile im schwulen Bay Area Reporter parodierte die Regenbogenpresse: »Lesbophobe Verschwörung verdichtet sich.« Inzwischen hatten wir schon zwei neue Wörter, die hoffentlich im nächsten Webster Dictionary der englischen Sprache landen werden: »lesbophob« und »delesbianisiert«.
Jonathan Katz war bald Wortführer des Kampfes von Queer Nation gegen die Homophobie Hollywoods. Er richtete sich gegen die Darstellung von Lesben und Schwulen als gewalttätig und pervers, gegen die Weigerung, positive Bilder von lesbischen Frauen und schwulen Männern zu zeigen (es sei denn, sie sterben am Ende oder werden heterosexuell). Jonathan hatte kurz zuvor auf einer Konferenz lesbisch-schwuler Studien einen Vortrag über Jasper Johns und Robert Rauschenberg gehalten: »Kultur und Subkultur - Über den gesellschaftlichen Nutzen homosexueller Künstler in der amerikanischen Kunst des Kalten Krieges«. Er hatte an der Kunsthochschule von Chicago, am National Museum of American Art und in Harvard gelehrt. Er hatte auch das erste Doktorandenstipendium für lesbisch-schwule Studien bekommen, das vom Smithsonian National Museum of American Art ausgeschrieben worden war. Nicht lange, und jene Medien, die kämpferische Homosexuelle nicht mochten, würden ihn als ignoranten, kunstfeindlichen Neonazi beschimpfen, als einen Jesse Helms der Linken. Auf dem Rücken seiner Lederjacke klebte ein gelber Leuchtsticker mit schwarzer Aufschrift: MILITANT SCHWUL; das brachte die Medien erst richtig in Schwung. Jonathan war außerdem Vegetarier und dagegen, irgendein lebendes Wesen zu töten, aber das wurde natürlich nicht berichtet. (Als ich ihn neulich besuchte, krochen Ameisen in seinem Zuckertopf herum, und er löffelte seinen Zucker vorsichtig um die herum wimmelnden kleinen schwarzen Körper herum. Ich war erstaunt, daß jemand so Militantes derart sensibel sein konnte. Als ich das meiner Nachbarin Terry erzählte, grinste sie und meinte: »Wart mal ab, bis Jonathan Mäuse in der Küche hat. Dann erzähl mir, was er macht.«)
Als Jonathan nach seiner Vortragsreise in die Stadt der Verkleidungen zurückgekehrt war, rief er Mark Pritchard an, den Pressesprecher von HASH.[14] Diese neue Arbeitsgruppe von Queer Nation hatte sich gebildet, um gegen die Dreharbeiten von Basic Instinct zu protestieren. Ich erinnerte mich an Mark; er war »Pressemodel« (wie Ggreg Taylor es nannte) von Queer Nation gewesen, als Larry Leas zehntausend Gebetskrieger an Halloween in die Stadt kamen, um uns den Teufel auszutreiben. Dieses Teufels- und Dämonending wurde langsam alt. Mark fand, daß die Filmgesellschaft im Grunde das gleiche machte wie die Gebetskrieger: Sie kamen nach San Francisco, um es als Kulisse für ihre Phantasien zu benutzen, und sie taten es ungestraft, weil sie Geld hatten.
John Woods schickte emsig Faxe über die nächsten Aktionen raus und gab Mark als Kontaktperson an. Er machte seine Arbeit hervorragend, und Mark wurde überschwemmt von Presseanfragen, die sonst niemand entgegennehmen wollte. Als Jonathan ihn fragte, wie er ihm vielleicht helfen könne, krönte ihn Mark sofort zur »Medienkontaktperson«, und der Advokat der Politik des Chaos begann, mit Hollywood zu spielen. Jonathan wußte eines: Seine Gegner gehörten zu den Mächtigen der Filmindustrie, also konnte Queer Nation bei den nächsten Aktionen mit weltweitem Echo rechnen.
Ich aber war nur amüsiert und fühlte mich irgendwie über das Ganze erhaben. Bis ich erfuhr, daß die Filmgesellschaft keineswegs eine miese kleine Pornofirma war. Es handelte sich um Carolco Pictures, und der Besitzer Mario Kassar hatte dem Drehbuchautor drei Millionen Dollar bezahlt, die größte Summe in der Filmgeschichte, die je für ein Drehbuch auf den Tisch gelegt worden war. Der Regisseur kassierte fünf Millionen Dollar, und der Star dieser wüsten Story von den bösen Frauenzimmern war Michael Douglas, der vierzehn Millionen Dollar bekommen sollte, um diabolische Lesben und Bi-Weiber abzuwehren. Warum gab Michael Douglas, ein sozial bewußter Produzent und Schauspieler und Preisträger des Academy Award, den Star in einem Film ab, den Newsweek später eine »Küß-küß-schlitz-schlitz-Story von den biologisch Abweichenden« nannte?
GLAAD[15]  war eine Gruppe, die für ihre gemäßigte Linie bekannt war. Sticker in Leuchtfarben gehörten nicht zu ihren Accessoires. Die Leiterinnen des Büros von San Francisco, Jessea Greenman und Holly Conley, hatten das Drehbuch gelesen und fanden es äußerst homophob, doch ich beschloß, mit meinem Urteil zu warten, bis ich es mit eigenen Augen gelesen hatte. Aber langsam fing die ganze Angelegenheit an, mich zu ärgern.
Der Golfkrieg war vorüber, das Reich des Kommunismus war zerfallen, und es sah aus, als hätte kein Demokrat auch nur die geringste Chance, Präsident Bush zu verdrängen, der sich einer 90-prozentigen Zustimmung in der Bevölkerung erfreute. Mit anderen Worten, es gab keine Nachrichten. Und dann schickte die Göttin dem Volk »Queer Nation versus Hollywood«, und es fand Gnade vor den Augen von Entertainment Tonight. Der Hollywood Reporter schloß sich an. Und bald darauf folgten die schicken Magazine, das Fernsehen, die Tageszeitungen und das Radio, und auch vor ihren Augen fand die Story Gnade, und sie waren fruchtbar und vermehrten sie bis in die New York Times hinein, die Zeitung mit den Auflagenrekorden.
Das letzte Mal, daß mein Name im Nachrichtenteil einer Zeitung gestanden hatte, war 1961 gewesen; da war ich zehn Jahre alt, und die Wochenzeitung Somerville Record meldete, daß ich den Lügengeschichten-Wettbewerb vom Spielplatz in der Albion Street gewonnen hatte. Damit hatte ich eine größere Pressemappe als die meisten anderen von Queer Nation. Ich glaube allerdings nicht, daß mich das schon zur »Medienhure« machte, wie später einige sagten.
Es war nicht etwa so, daß Queer Nation irgendein brillantes, genialisches, mediencleveres Wunderkind hinter den Kulissen sitzen hatte. Es war viel einfacher. Wer bereit war, öffentlich zu sagen: »Ich bin queer«, und außerdem noch den Mut aufbrachte, die Frage zu stellen: »Was verursacht Heterosexualität?«, fiel eben auf.

Der Beruf des Bürgermeisters von San Francisco ist als eine Tätigkeit beschrieben worden, die dem Bewachen einer Horde Katzen ähnlich sei. Über den dunklen Paneelen der Eingangstüren im ersten Stock des Rathauses stehen die Worte DER BÜRGERMEISTER in Marmor gemeißelt. Am 15. April 1991, ein paar Tage nach der Rawhide-Aktion, saß ich in einem blauen Ledersessel im Empfangssaal des Bürgermeisterbüros und wartete darauf, ein Interview mit ihm zu machen. Achtarmige Messingkerzenleuchter mit nackten Lichtkugeln erleuchteten den eleganten Saal; acht Schreibtische standen in diesem Raum, und an einem der Tische im hinteren Teil führte eine untersetzte Frau ein erregtes Telefongespräch. Ihr langes dunkles Haar fiel über den Hörer. Am anderen Ende war jemand offenbar stinkwütend.
»Der Bürgermeister kann nichts dagegen tun. Keine Stadt kann eine Demonstration verhindern. - Warum treffen Sie sich nicht mit ihnen? - Sie bekommen die Unterstützung der Polizei, ganz gleich, ob Sie sich mit der Gruppe getroffen haben oder nicht. Sobald irgendwelche Demonstranten erscheinen, bekommen Sie Polizeischutz, kostenfrei. - Ich spiele das nicht herunter. Die Hände des Bürgermeisters sind gebunden, und meine ebenfalls.«
Die Frau legte auf. Augenblicklich klingelte es wieder.
»Robin Eickman«, sagte sie. Sie war die Vorsitzende des Filmausschusses, die Mittelsperson zwischen Hollywoods Produzenten und der Stadt.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß das passieren wird, Alan«, sagte sie. »Selbst wenn ich zu ihm gehe, was kann er schon tun? Es gibt niemanden hier, der diesen Ablauf verhindern kann. Der Bürgermeister kann die Leute nicht davon abhalten, ihre Bürgerrechte wahrzunehmen.«
Kein Zweifel, sie sprach von Basic Instinct und der Aktion im Rawhide. An diesem Tag trug ich ein geschmackvolles, damenhaftes Kostüm und sah ziemlich anders aus als bei den Treffen von Queer Nation in meiner Lederjacke. Vermutlich paßte ich genau zu den dunklen Holzarbeiten und der blauen Auslegware.
»Hören Sie«, sagte Eickman, »hat es irgendwelche Drohungen gegeben? - Dann kann ich Ihnen keinen Polizeischutz rund um die Uhr geben. Wenn es zu Morddrohungen kommt, sagen Sie mir Bescheid.«
Ich war platt. Pam Bates und Judy Helfand hatten mit Morddrohungen nichts am Hut. Auch Jonathan würde nicht so weit gehen. Er wollte ja nicht mal seine Ameisen umbringen. Sicher, Jean Harris hatte Ggreg Taylor und seinen Freunden mal eine Schachtel mit rohen Eiern in die Hand gedrückt, die sie auf einen Reisebus werfen sollten, der langsam durch das Castro-Viertel rollte, während die Touristen darin wie die Wilden drauflosknipsten, sobald sie zwei händchenhaltende Lesben oder Schwule ins Visier bekamen. Aber Morddrohungen? Das war bei uns nun wirklich nicht Tradition.
Der Bürgermeister erschien und führte mich in sein.Büro: Perserteppiche, poliertes Holz, Fahnen und ein prominent aufgehängtes Ölgemälde mit Obst drauf. Auf die Brusttasche seines weißen Hemdes war das Rathaus von San Francisco gestickt. Der Mann war unglaublich charmant. Er zog eine Schublade auf und zeigte mir seinen Baseballhandschuh aus Kindertagen. Auf dem Kaminsims lag ein Baseball, außerdem eine musketenartige Pistole, mit der sein Großvater in die griechische Revolution gezogen war, und eine uralte Laterne, die mit Olivenöl betrieben wurde. Seine Eltern hatten sie benutzt, als sie gerade in den USA angekommen waren. In einer Glasvitrine standen Hutmacherformen. Agnos' Vater hatte seinen Lebensunterhalt als Hutmacher für Herren und als Schuhputzer verdient.
»Das ist der einzige Baseballhandschuh, den ich in meinem Leben je gehabt habe«, sagte der Bürgermeister und boxte ein paarmal kräftig drauf.
»Ich wette, er ist schön geschmeidig und eingespielt«, antwortete ich.
Er grinste und setzte sich auf einen Stuhl neben mich. Offenbar wollte er sich nicht hinter dem massiven Holzschreibtisch von mir distanzieren. Er erinnerte an einen aggressiven, ehrgeizigen Jungen, der hochdiszipliniert und streng erzogen worden war. Er war äußerst intelligent und achtete genau darauf, was er zu mir sagte.
»Ich hätte mir nie träumen lassen - ich glaub's immer noch nicht - , daß ich der Bürgermeister bin«, sagte er. »Ich komme in dieses schicke Büro und sage nur >Heiliger Strohsack<.«
Es war tatsächlich erstaunlich, daß er Bürgermeister von San Francisco geworden war. Art Agnos konnte noch nicht mal Englisch, als sein Vater ihn auf die Grundschule schickte.
Es gab Leute, die sagten, seine Unterstützung für lesbisch-schwule Rechte sei reines politisches Kalkül, und andererseits gab es auch zahlreiche Lesben und Schwule, mit denen er eng befreundet war. Aus welchem Grund auch immer, der Bürgermeister hatte sich schon lange für unsere Bürgerrechte eingesetzt, denn er war überzeugt davon, daß Homosexualität angeboren ist, ein »biologischer Instinkt«, wie er es nannte.
»Es gibt noch keinen sicheren wissenschaftlichen Beweis dafür«, sagte er, »und ich glaube, die Gesellschaft hat Angst davor, das herauszufinden. Man stelle sich mal vor, es gäbe plötzlich wissenschaftliche, unleugbare Beweise dafür, daß Schwule und Lesben so geboren werden, wie sie sind, und nicht dazu gemacht werden, wie es all die traditionellen, stereotypen Erklärungsmodelle sehen. Die dominante Mutter, der schwache Vater und dieser ganze Quatsch. Ich glaube das nicht. Ich glaube, es ist ganz einfach so, homosexuelle Menschen werden so erschaffen, egal, wer uns Menschen nun erschafft und an welchen Gott man glaubt. Einer meiner Jungen könnte durchaus schwul werden, wenn sie so weit sind, ihre Sexualität zu entdecken, vielleicht auch beide. Vielleicht ist es schon längst so. Wer weiß? Es ist ein natürlicher, gottgegebener oder meinetwegen naturgegebener biologischer Instinkt. Also will ich, wie alle Eltern, an einer Welt mitarbeiten, in der meine Kinder ein glückliches, erfolgreiches Leben führen können, und dazu gehört auch, eine Umgebung zu schaffen, in der sie nicht wegen ihrer Sexualität diskriminiert werden.«
Und das sollte Jean Harris' Lesben- und Schwulenhasser sein? Harry Britts Plantagenbesitzer? Ich dachte, probieren wir mal was aus, und fragte ihn nach seinem schwierigen Verhältnis zu Queer Nation. Ich sagte, viele der Mitglieder von Queer Nation seien nicht die gräßlichen Enfants terribles, als die sie dargestellt würden. Er betrachtete mich nachdenklich.
Er war wütend, daß einige Leute von Queer Nation sein Haus eines Nachts mit pinkfarbenem Klopapier umwickelt und Kreidezeichnungen eindeutig sexuellen Inhalts in seiner Garagenauffahrt hinterlassen hatten; darunter stand die Zeile REFUGIUM FÜR QUEERS. Die Medien und der Pressesekretär des Bürgermeisters hatten zunächst angenommen, die Aktion ginge auf das Konto von homophoben, rechtsgerichteten Elementen, die Sorte Leute, die früher schon Agnos' Haus in Sacramento attackiert hatten, wann immer er versuchte, im Parlament lesbisch-schwule Bürgerrechte durchzubringen. Am meisten regte sich Agnos wegen seiner beiden kleinen Söhne auf. Es war schwierig, ihnen zu erklären, warum sich Queers gegen ihn wandten.
Außerdem sollte das ganze Gerede über Refugium und Asyl endlich aufhören; der Bürgermeister wollte den Ruf der Stadt als kriegsgegnerisch etwas herunterspielen. San Francisco hatte sich unter der Schirmherrschaft von Harry Britt zum Zufluchtsort für Wehrdienstverweigerer erklärt, die aus Gewissensgründen nicht in den Golfkrieg wollten. Kein Politiker, der irgendwann ein Amt auf Staats- oder Bundesebene anstrebte, wollte auch nur im entferntesten mit Kriegsgegnern in Verbindung gebracht werden. Die Handelskammer beschwerte sich schon, daß wegen der »Refugium-Einladung« Kongresse abgesagt wurden, und der Bürgermeister bezeichnete Britts Erklärung öffentlich als »nicht ernst zu nehmen«. Das hatte einige Aktivisten aufgebracht.
Der Angriff auf das Haus des Bürgermeisters war keine übereinstimmend unterstützte, also keine »offizielle« Aktion von Queer Nation. Ein paar Leute hatten am Ende eines Treffens, vor einem Monat, spontan die Idee gehabt. Als die Presse herausfand, daß einige Schlingel von Queer Nation die Aktion zu verantworten hatten, verglichen sie die Tat mit dem Reichstagsbrand, leicht übertrieben für pinkfarbene Klopapierschlangen.
»Nun, so wie es dargestellt und mir vorgetragen wurde«, sagte der Bürgermeister, »wollten sie, daß die Stadt zum Asyl für lesbische und schwule Menschen wird, und an den Stadtgrenzen sollten entsprechende Schilder aufgestellt werden. Ich konnte so eine Art Vorschlag nicht ernst nehmen, angesichts all der Arbeit, die wirklich getan werden muß, um den Einfluß der Lesben- und Schwulenbewegung voranzubringen und greifbare Resultate zu erreichen wie die Haushaltspartnerschaft, eine neue Familienpolitik, Erziehungsrecht und so weiter. Ich fand, daß eine symbolische Resolution über ein solches >Asyl< nur Energien abziehen konnte. Wir sind doch längst ein Asyl für Lesben und Schwule. Wer wollte das anzweifeln? Ich meine, das gibt's doch schriftlich. Ich denke, dies war eine politische Übung für Queer Nation, es war sexy und witzig, aber wenn Sie mich fragen, diese Gruppen mobilisieren manchmal eine Menge positiver, produktiver Energie für Fragen, die nicht gerade dringlich sind und bei denen auch nicht viel herauskommt. Was heißt denn das? Wer würde denn jemals irgendwen aus San Francisco verbannen? Ich möchte nicht die nächsten zwei Jahre damit verbringen, über solche Nebensächlichkeiten zu argumentieren oder sie zu verteidigen.«
Der Bürgermeister war ziemlich sauer und tigerte über seinen roten Perserteppich, also versuchte ich, der Sache die Spitze zu nehmen: »Immerhin hat kein Mitglied von LABIA Ihr Haus dekoriert. Wie fänden Sie es, zu einer Gruppe namens LABIA zu gehören?« Ich lachte, aber er nicht. Ich mochte ihn. Ich mochte es, daß er ein Bild vom Rathaus über sein Herz hatte sticken lassen. Ich mochte es, daß er seinen Baseballhandschuh in der Schublade hatte.
»Wenn einer meiner Söhne zu mir kommt und mir sagt, er ist schwul, dann sage ich, kein Problem, und ich werde ihm helfen, einen netten Mann zu finden«, erklärte der Bürgermeister, nunmehr enthusiastisch. Ich hatte noch nie einen heterosexuellen Mann so etwas sagen hören. Wir redeten noch eine Stunde, und als er mich zur Tür brachte, legte er mir eine Hand auf die Schulter und sagte: »Manchmal geht es mir einfach nicht in den Kopf, daß ich der Bürgermeister sein soll.«
Auch Harry Britt oder Jean Harris nicht. Es gab so viele Altlasten zwischen Britt und Agnos, der früher mal im Wahlkampf für den US-Kongreß Nancy Pelosi gegen Britt unterstützt hatte. Und 1976 hatte Art Agnos die unverzeihliche Sünde begangen, einen Sitz im kalifornischen Parlament zu gewinnen, und zwar gegen einen unbekannten Fotoladenbesitzer mit Pferdeschwanz namens Harvey Milk. Auf Harveys Wahlkampfpostern hatte der Slogan HARVEY MILK GEGEN DIE MASCHINE gestanden.
Doch ehe Roberta Achtenberg ihren Sitz im Stadtrat errungen hatte, war es Art Agnos gewesen, der sie an die Spitze seines familienpolitischen Ausschusses gestellt hatte, wogegen antihomosexuelle Gruppen allerdings vergeblich protestiert hatten, die ihre »Familienwerte« bedroht sahen, wenn eine lesbische Mutter diesen Ausschuß leiten durfte. Agnos wollte ein vernünftiges Spielfeld für alle Minderheiten in der Stadt schaffen, und die Statistiken zeigen, daß in seiner Amtszeit die meisten Lesben, Schwulen und Farbigen in wirklich einflußreiche Positionen im Rathaus gelangt sind. Er hatte dabei jedoch die üblichen Verbindungsleute zur lesbisch-schwulen Gemeinde umgangen, ein schlimmer Fehler, der ihn seine Wiederwahl kostete. Wer Katzen hüten will, insbesondere die Katzen von San Francisco, der braucht jede Hilfe, der muß seine Augen und Ohren überall haben.
Bürgermeister Agnos bemühte sich allerdings äußerst energisch um greifbare, in seinen Augen wichtige Ergebnisse, und er verachtete alles, was rein symbolisch blieb. Auf der intellektuellen Ebene verstand ich das, aber am Valentinstag hatte ich etwas gelernt. Das Symbolische bietet Hoffnung, und das ist auch ein Schritt zu einer wahren Veränderung. Auf der anderen Seite wußte ich, falls irgend etwas schiefging mit meiner Adoption, dann konnte ich Bürgermeister Art Agnos bitten, sich auf einer Pressekonferenz neben mich zu stellen, und er würde dasein.
Der Bürgermeister hatte zu mir gesagt: »Ich suche Leute mit den Herzen von Entwicklungshelfern und den Augen von Fußballverteidigern.« Ich stellte mir vor, ich hätte schwarz verschmierte blaue Augen und wäre der Bursche im Team, der nach dem nächsten Angriff Ausschau halten und immer bereit sein muß, ihn abzuwehren. Ich versuchte, die Evita in mir zu mobilisieren. Das war eine merkwürdige und schwer greifbare Seite von mir, aber notwendig, denn mittlerweile hatte ich begriffen: Während ich darum kämpfte, Jesses gesetzliche zweite Mutter zu werden, wurde ich zugleich unverhofft radikal.