Die Weimarer Republik hat meinem Leben ihren Stempel aufgedrückt.
Als Sechsjährige kam ich 1920 auf eine der wenigen Versuchsschulen, die später zu Lebensgemeinschaftsschulen umbenannt worden sind. Ihr Ziel war es, Arbeiterkinder zu fördern, einen integrierten Unterricht zu geben und pädagogisch moderne Betrachtungsweisen zu entwickeln. Als Dreizehnjährige wurde ich in eine ähnlich gestaltete Aufbauschule eingeschult, die in sechs Jahren Arbeiterkindern die Vorbereitung zum Abitur und damit auch zum Studium ermöglichen sollte. Diese Aufbauschule war ein Teil des Kaiser-Friedrich-Realgymnasiums in Berlin-Neukölln, stand unter der Leitung des Schulreformers Dr. Fritz Karsen und wurde 1930 zur Karl-Marx-Schule umbenannt. Diese Art Schule konnte es nur in der Weimarer Republik geben, war auch dort selten und experimentell, und ist dann auch - wie vieles andere - 1933 mit Hitlers Machtübernahme sofort aufgelöst worden. Sie war ein Ausdruck der Erwartungen der Arbeiterklasse, die das bestehende Bildungsprivileg durchbrechen wollte und eine sozialistische Gesellschaft forderte.
Wir wohnten im Neuköllner Arbeiterviertel in einer Einzimmerwohnung ohne Bad, im Seitenflügel. Die Gegend, in der Nähe von Treptow, war noch ziemlich unbebaut; wir sahen vom Fenster unserer Wohnung auf Schrebergärten. In diesen Laubenkolonien verbrachten wir so manchen Nachmittag, Wir halfen den Nachbarn in ihren Gärten, und Obst fiel dabei für uns ab. Auch durften wir die Hühner und Kaninchen füttern. In den Schulferien fanden oft Kinderfeste statt. Onkel Pelle - eine komische Figur - amüsierte die Kinder, eine Kapelle spielte zum Tanz auf, und manchmal durften wir selbst eingeübte Theaterstücke vorführen, für die es Preise gab. Wenn es dunkel wurde und die Sterne am Himmel standen, gingen wir mit Stocklaternen im Fackelzug durch die benachbarten Straßen. Das war unbedingt der Höhepunkt des Sonntags.
Von meinen Eltern bekam ich das Eintrittsgeld und fünf Pfennig für eine Pfefferminzstange. Wir zogen unser schönstes Kleid an; ansonsten trugen wir immer Schürzen, um das Schulkleid eine Woche lang sauberzuhalten. Schuhe waren kostbar und wurden geschont. Zum Spielen liefen wir barfuß.
Als mein Vater nach dem Ersten Weltkrieg nach Hause kam, war die Arbeitslosigkeit groß, und er nahm jede Arbeit an, die sich ihm bot. Ursprünglich war er als Musterzeichner (er hatte ein Stipendium gewonnen) ausgebildet worden, aber Arbeit war auf diesem Gebiet nicht zu finden. Es gelang ihm nach einigen Jahren, als Wachtbeamter an einer Bank anzukommen. Das war eine Vertrauensstellung, bedeutete eine gesicherte Position, und dort hat er den Rest seines Lebens gearbeitet.
Meine Eltern waren sehr fleißig und sparsam. Meine Mutter nahm Heimarbeit an und häkelte, und meinem Vater gelang es, als Teppichmusterzeichner Heimarbeit zu erhalten. So konnte er sein geliebtes Zeichnen weitermachen. Wenn er seine Muster ablieferte und dafür bezahlt wurde, konnte immer eine Tüte Bonbons erwarten.
Im Quergebäude und Seitenflügel lebten nur Arbeiter oder Arbeitslose, da die Miete billig war. Im Vorderhaus wohnten die Feinen, mit denen wir wenig Kontakt hatten. Aber die Kinder waren zahlreich, und an Spielgefährten hat es nie gefehlt. Wenn der Leierkastenmann auf unserem Hofe spielte, tanzten oft fünfzehn Kinderpaare miteinander.
In den ersten Jahren nach dem Krieg fuhren wir oft mit anderen aus der Hausgemeinschaft, einen Leiterwagen mitführend, vollgepackt mit Decken, Zeltbahnen und Essen, zum Müggelsee oder sonstwo in die Natur. Ich habe sehr schöne Erinnerungen daran.
Die Arbeiter waren aus dem Krieg zurückgekehrt, hatten den Kaiser verjagt, auch an den Straßenkämpfen teilgenommen und erwarteten ein gerechtes und besseres Leben für sich und ihre Kinder. Als die Lebensgemeinschaftsschule in der Rütlistraße in Neukölln 1920 eröffnet wurde (unter dem Hamburger Schulreformer Adolf Jensen), wurden verschiedene Kinder aus unserem Haus dort eingeschult.
Es war ein kind- und nicht stoffbetonter Unterricht, und neben dem deutschkundlichen Unterricht gab es Musik, Zeichen- und Werkunterricht, rhythmische Gymnastik und wöchentliche Wanderungen. Der Aufsatz stand im Mittelpunkt, und man hoffte, die Ausdruckskraft der Schüler zu entwickeln, indem man von ihrem eigenen Erleben ausging. Die Lehrer kooperierten mit den Eltern, und meine Eltern wurden in den Elternausschuß gewählt. Manche Eltern boten sich an, für die Kinder von Arbeitslosen zu sorgen, und ich teilte regelmäßig meine Brote mit einem anderen Mädchen, das auch nach der Schule zum Mittagessen in das Haus kam. Theater- und Opernbesuche wurden vom Klassenlehrer organisiert und auch ein Ferienaufenthalt auf der Insel Rügen durchgeführt, auf denen einige Mütter als unbezahlte Helferinnen mitkamen.
Zwar wurde 1918 der Monarchie ein Ende gemacht, aber wenig an den bestehenden Eigentumsverhältnissen geändert. Es hat aber nicht an Idealen gefehlt, eine neue Gesellschaftsordnung aufzubauen. Der Bund Entschiedener Schulreformer, der sich 1919 gebildet hatte, wollte nicht nur Menschen zu Demokraten oder Sozialisten erziehen - nein, wir sollten es in der Schule erleben.
Meine Schulbildung wurde im Alter von dreizehn Jahren auf der Aufbauschule fortgesetzt. Meine Eltern hatten etwas von ihrem revolutionären Schwung verloren, beeinflußt sicher auch durch die isolierende Arbeit meines Vaters, der Nachtarbeit machen mußte. Sie hatten mich mit zehn Jahren in einer Mittelschule angemeldet und hatten eine kaufmännische Ausbildung für mich geplant. Aber die Lehrer in der Rütlischule konnten meine Eltern überreden, mich in die Aufbauschule zu schicken. »Das Mädel muß Lehrerin werden«, forderte der Klassenlehrer - und so war meine Zukunft geplant.
Die Aufbauschule war koedukativ (als einzige höhere Schule in Berlin), aber wenige Eltern vertrauten ihre Töchter einer koedukativen Schule an; so war das Verhältnis von Jungen und Mädchen 3:1. Für die nächsten drei Jahre hatte ich als Klassenlehrerin Frau Hedda Korsch,[1] eine besonders begabte Lehrerin, die ich sehr liebte und mit der ich zeit meines Lebens in Verbindung geblieben bin. Es war ihre Aufgabe, diese vierzig Jungen und Mädchen zu einer Gemeinschaft zu schmieden. Verantwortungsgefühl und eine Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft sollte sich entwickeln können. Zu diesem Zweck haben wir neben Einzelarbeit oft in Gruppen gearbeitet. Die Schule war so organisiert, daß wir Wortführer in den einzelnen Fachgebieten hatten, die dafür sorgten, daß die einzelnen Gruppen Referate über ihre geleistete Arbeit hielten. Diese Referate dienten zur Information für den Rest der Klasse und waren eine Diskussionsgrundlage. Über Referat und Diskussion wurde Protokoll geführt.
Meine Schularbeiten machte ich am Küchentisch. Oft beneidete ich einen Schulkameraden, der sich ein Brett in die Speisekammer gebaut hatte, an dem er ungestört arbeiten konnte. Nicht immer hatte ich mein Referat fertig und mußte mir eine Halsentzündung erfinden, um Zeit zu haben, das Referat zum richtigen Datum vorzutragen.
Wir wählten Klassensprecher, die einen Schülerausschuß bildeten. Dieser diente als Schülervertretung im Rahmen der Schülerselbstverwaltung. In der Schulgemeinde war die gesamte Schule vertreten, die einen Schulgemeindevorsitzenden und Komiteemitglieder wählte, die das Programm der Schulgemeindesitzungen festlegten. Eine der ersten Schulgemeinden, die ich miterlebte, befaßte sich mit der Verurteilung von Sacco und Vanzetti - zwei in Amerika lebenden italienischen Anarchisten, die zum Tode durch den elektrischen Stuhl verurteilt waren. Nicht nur hörten wir Einzelheiten über ihr Leben, über ihre wahrscheinliche Unschuld, auch die Grausamkeit des elektrischen Stuhls wurde uns vor Augen gehalten und die Unabwendbarkeit eines vollstreckten Todesurteils. Es war typisch für unsere Schule, tagespolitische Themen im Schulrahmen zu behandeln.
Da die Schulbehörde auf Zensuren bestand, besprachen wir die Arbeit des einzelnen Schülers, seinen Beitrag zur Gemeinschaft und sein Wissen auf den verschiedenen Fachgebieten in der Klasse und stimmten über die jeweiligen Zensuren, die wir für richtig hielten, ab. Der Lehrer hatte in diesen Besprechungen auch nur eine Stimme.
Das war ein ganz neues und aufregendes Leben in der Schule für mich. Eine vollkommen neue Welt eröffnete sich mir. Die Arbeit und die eigene Selbstentwicklung war wichtig, begeisternd und vielseitig. Im Mittelpunkt unseres Unterrichts stand die Studienfahrt. Diese bestand aus einem jahresprojekt, das erst theoretisch besprochen wurde, damit die j»eweiligen Möglichkeiten des Studiums herausgearbeitet werden konnten. Dann teilten wir uns in Gruppen ein, die je ein bestimmtes Arbeitsgeblet erarbeiten sollten; diese Arbeitsgebiete untersuchten wir praktisch auf der Studienfahrt. Eine Jahresarbeit über das gewählte Gebiet folgte am Jahresende.
Im ersten Jahr meiner Schulzeit fuhren wir in die heimatliche Umgebung, in das Landheim Zossen, in dem wir heimat- und naturkundlich arbeiteten. Dieser Aufenthalt trug dazu bei, unseren Gemeinschaftssinn zu entwickeln. Im nächsten Jahr fuhren wir nach Thüringen und in das Erzgebirge, das uns neben geologischen und naturkundlichen auch soziale und wirtschaftliche Probleme erkennen ließ. Im dritten Jahr fuhren wir den Rhein und die Donau hinunter bis nach Wien, was uns nicht nur neue Arbeits- und Lebensbereiche zeigte, sondern auch kunsthistorisch von großem Interesse war.
Im ersten Schuljahr war die Beziehung von Jungen und Mädchen reibungsvoll; halb feindlich und bei Annäherung sehr unerfahren und unbeholfen. Als wir in Zossen waren, alle ungefähr dreizehnjährig, neckten mich die Jungen und stopften mir Heu in die Kleidung. Davon erzählte ich zu Haus, worauf meine Mutter prompt in die Schule kam und den Jungen ins Gewissen redete, daß man ihr Ernchen nicht so unzart behandeln dürfte. Ich wurde daraufhin ein Jahr lang Klein-Ernchen gerufen, was mich lehrte, erstens nicht so zimperlich zu sein und zweitens nicht alles meinen Eltern zu erzählen. Die zweite Lektion erhielt ich, als ich ein Tagebuch führte zu einer Zeit, als ich für einen Lehrer schwärmte (der natürlich nichts davon wußte). Meine Mutter fand es und las es und sauste mit dem Tagebuch zu dem Direktor der Schule. Von da ab führte ich ein Eigenleben, von dem meine Eltern nichts mehr wußten.
Im Laufe der Jahre spielte die Schule in meinem Leben eine immer größere Rolle und war der Mittelpunkt meines Seins. In jedem Jahr gingen einige Schüler von der Schule ab. In der Obersekunda waren aus den drei Klassen mit je vierzig Schülern nur zwei mit ungefähr fünfundzwanzig Schülern übriggebheben. Wir mußten uns auch entscheiden, ob wir uns auf die vorwiegend naturwissenschaftlichen oder auf die künstlerisch deutsch-geschichtlichen Fächer konzentrieren wollten. Ich wählte die naturwissenschaftliche Seite und verlor damit meine gute und sehr verehrte Klassenlehrerin Hedda Korsch. Sie nahm ein sehr persönliches Interesse an der Entwicklung ihrer Schüler. Nach einer häuslichen Krise mit meinen Eltern lief ich davon und landete nach einigem Herumirren bei Hedda Korsch. Sie hat mich nicht sofort zurückgeschickt, sondern meine Eltern benachrichtigt, daß ich bei ihr sei. Sie erbat sich außerdem meine Hilfe, da ihre Wirtschafterin in Ferien sei. Meine Eltern konnten die Bitte kaum ablehnen. Nach einigen Tagen begleitete mich Hedda Korsch zurück zu meinen Eltern und sorgte dafür, daß wir alle ein größeres Verständnis füreinander entwickelten.
Hedda Korsch, die sich mit sozialen Problemen beschäftigte, verdanke ich auch den Zugang zur Literatur. Sie hat uns die Werke von Zola, Hauptmann, Zweig, Toller, Andersen-Nexö, Tolstoi, Dostojewski und Gorki, Jack London und Upton Sinclair lieben gelehrt. Upton Sinclairs Buch Petroleum lasen wir mit dem zugefügten Feigenblatt (»Jeder sein eigener Zensor«, hieß es darauf), um es über mögliche anstößige Stellen zu legen.
Obwohl wir keinen parteldogmatischen Unterricht hatten, war doch die Grundlage eine marxistische Interpretation der geschichtlichen und politischen Ereignisse sowie das Studium der unterdrückten Gesellschaftsschichten. Auch die Literatur, die Musik und Kunst werden in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang beleuchtet. Persönlich lehnten wir die bürgerlichen Moralbegriffe ab, die doppelte Moral, die Männern sexuelle Beziehungen erlaubte, von den Frauen aber Reinheit bis zur Ehe und Treue erwarteten. Wir Mädchen wollten frei über unser Leben verfügen können und nicht als Besitztum oder als Anhängsel des Mannes betrachtet werden. Als ich fünfzehnjährig mit meiner Freundin darüber diskutierte, sagte sie, das sei gut und schön, aber sie würde bis zur Ehe keusch bleiben. Ich war entsetzt, obwohl dieses Problem nur ein theoretisches für mich war. Ich war fest davon überzeugt, nicht nur Meinungen zu vertreten, sondern auch danach mein Leben verändern zu müssen. Aber als das Problem an mich herantrat, in der Gestalt eines Arbeiterkurslers, riß ich aus. Unserer Schule waren Arbeiterkurse angeschlossen, die Arbeitern, die schon im Betrieb gestanden hatten, einen zweiten Bildungsweg ermöglichten. Dieser Junge war also schon ein Mann und hatte ein Wochenende vorbereitet, auf dem wir zusammen in einem Heuschober übernachten sollten. In der letzten Minute lehnte ich es ab, mit ihm zu reisen. Er bedrängte mich mit: »Rosa Luxemburg hat immer Mut bewiesen.« Ich war sehr beschämt, eine so schlechte Revolutionärin zu sein, aber meine Hemmungen waren doch größer.
Bald darauf freundete ich mich mit Heinz Lüschen an, der Vorsitzender der Schulgemeinde und ein politisch sehr aktiver Mensch war. Seine Mutter arbeitete als Köchin in der russischen Handelsvertretung, und sein Vater war schon seit Jahren arbeitslos. Wir blieben zwei Jahre miteinander befreundet, und er war es, mit dem ich in den Sozialistischen Schülerbund ging.
Die Probleme, die wir auf unseren Gruppenabenden besprachen, beschäftigten sich sowohl mit Schulreform wie auch mit prinzipiellen politischen Themen. Wir agitierten für eine Änderung des Schulwesens und forderten an allen höheren Schulen: Schülerselbstverwaltung; Koedukation; Abschaffung der Zensuren und Examen; Abschaffung des Schulgeldes. Wir hörten Vorträge über tagespolitische, sexuelle and psychoanalytische Themen. Ich erinnere mich an einen Vortrag von Wilhelm Reich, der lange diskutiert wurde, weil er eine Synthese von Marxismus und Psychoanalyse entwickelte. Wir verbreiteten die vom Sozialistischen Schülerbund herausgegebene Zeitschrift Der Schulkampf, der Schülerberichte aus vielen Schulen brachte und unter den Schülern sehr populär war.
Wir studierten das Kommunistische Manifest und waren überzeugt, daß der kapitalistische Staat historisch bedingt durch die Herrschaft der Arbeiterklasse ersetzt werden würde, da unsere Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist. Aber das Ziel war eine klassenlose Gesellschaft, und es wurde heftig diskutiert, ob sie auf evolutionärem oder revolutionärem Wege zu erreichen sei. Obwohl die Karl-Marx-Schule zeigte, wieviel man in evolutionärer Weise erreichen konnte, war ich mir doch ihrer Sonderstellung in unserer Gesellschaft bewußt. Nach den Erfahrungen von 1918 hielt ich eine Revolution für unabwendbar, um über das zeitbegrenzte Zwischenstadium der Diktatur des Proletariats zu einer klassenlosen sozialistischen Gesellschaft zu führen.
Wir gingen zu politischen Demonstrationen und Veranstaltungen. In der Neuköllner Hasenheide begeisterten uns Gedichte, die von Erich Weinert und Johannes R. Becher (kommunistische Dichter dieser Zeit) vorgetragen wurden. Auf diesen Veranstaltungen traten oft Agitprop-Gruppen auf, die tagespolitische Ereignisse widerspiegelten und die revolutionäre Handlungsweise demonstrierten. Am Gedenktag der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg marschierten wir zum Friedrichshain, und ich erlebte, wie die Polizei auf uns schoß, um uns auseinanderzutreiben, da die Demonstration verboten worden war. Heinz und ich flüchteten uns in einen Hausflur und zitterten vor Empörung und Angst.
Heinz und ich wollten unsere Beziehung vervollkommnen, und wir gingen gemeinsam zu Dr. Max Hodann, dem Stadtarzt von Berlin-Reinickendorf, der eine sexuelle Jugendberatungsstelle führte. Er sorgte für unsere Verhütungsmittel; zu unserer Zeit kannten wir nur Kondome und Pessare.
Unser sexuelles Zusammensein war selten und bestand aus gestohlenen Stunden. Es war manchmal im Haus möglich, wenn die Eltern mit Sicherheit in ein Kino gegangen waren. Es geschah, wenn wir auf Fahrt in die Wälder gingen. Es bedurfte einiger Schlauheit, die Verhütungsmittel im Haus zu verstecken und zur Zeit wiederzufinden - in einer Einzimmerwohnung, in der private Ecken begrenzt waren. Außerdem lebten wir, trotz der Verhütungsmittel, in Angst, ein Kind zu kriegen, und fühlten, daß wir darüber mit niemandem sprechen konnten.
Theoretisch vertraten wir unsere Meinungen über die bürgerliche Moral laut genug, aber die Eierschalen der kleinbürgerlichen Moral zu Haus ließen sich nicht so einfach abstreifen. Ich war voller Schuldgefühle. Mit meinen Freundinnen habe ich nie darüber gesprochen, obwohl ich mich oft wunderte, wie weit die anderen Mädchen in ihren Liebesbeziehungen gingen. Prüfend haben wir Mädchen unsere Brüste beim Nacktbaden betrachtet, ob sich etwas an ihnen verändert hätte.
Wir waren sehr beeindruckt von der modernen russischen Literatur, den Filmen und radikalen Theaterstücken. Der russische Film Der Weg ins Leben von Makarenko, der sich mit den verwahrlosten Jugendlichen in den Nachkriegsjahren und ihrer Umerziehung befaßte, wurde diskutiert als Basis der Sozialisierung von Kriminellen. Alexandra Kollontais Bücher, die sich mit der Rolle der Frau in der sozialistischen Gesellschaft befaßten, wurden mit Begeisterung gelesen; wir hielten Eifersuchtsgefühle für bürgerlich und typisch für den besitzliebenden Kapitalismus. Schon damals fanden wir, daß es das Recht jeder Frau sei, ein ungewolltes Kind abtreiben zu lassen. Wir kämpften gegen den Paragraphen 218 und besuchten das längere Zeit verbotene Theaterstück Zyankali, das sich mit einer illegalen Abtreibung befaßte.
Auf einer Klassenfahrt - unsere Klassengemeinschaft hatte sich inzwischen so gefestigt, daß wir auch in den Schulferien zusammen sein wollten - knüpfte sich eine neue Liebesbeziehung für mich an. Diese blieb noch jahrelang für mich von großer Bedeutung, obwohl sie damals nur ein paar Monate anhielt, da es sich um einen meiner Lehrer handelte, der überdies verheiratet war. Der arme Heinz war ganz fassungslos, da er »soviel Arbeit in unsere Beziehung gesteckt hatte«.
Zu meinen nahesten Freundinnen gehörte die Tochter von Karl und Hedda Korsch, Sibylle. Als wir beide frei von Liebesbeziehungen waren, gingen wir zusammen auf unsere erste Autostopp-Tour in die Lüneburger Heide. Frei und unbeschwert fühlten wir uns und waren aufnahmefähig für die Schönheit der Heide. In der Einsamkeit lernten wir uns näher kennen. Es war wohltuend nach den komplizierten erotischen Beziehungen mit Jungen, eine freundschaftliche und vollkommen ehrliche Beziehung mit einem Mädchen zu pflegen. In der Jugendherberge trafen wir zwei sozialistische Mädchen, die uns einen Besuch in Hamburg bei ihren Freunden vorschlugen. Dieser Hamburgbesuch hatte später für uns beide unter den Nazis noch Folgen.
Im deutschkundlichen Unterricht wurden regelmäßig Theaterstücke aufgeführt, manchmal auch von uns geschrieben und komponiert, mit Hilfe eines begabten Musiklehrers, Gustav Schulten. Ich erinnere mich besonders an einige Revuen, die sehr erfolgreich waren, wie Kuddel Muddel und Ruck Zuck. Wir hatten einige gute Orchester, auch ein Jazz-Orchester, und mit Hilfe unseres Zeichenlehrers Freese wurden das Bühnenbild und die Kostüme hergestellt. Die Aufführungen wurden abends in der Aula der Öffentlichkeit vorgeführt und in der Neuköllner Zeitung lobend erwähnt. Brechts Mann ist Mann führten wir auf. Auch seine Schuloper Der Jasager wurde zur Aufführung vorgeschlagen. Das Problem in dieser ursprünglich japanischen Fabel war, ob sich der einzelne für das Wohl der Gemeinschaft opfern sollte. Brecht fand ja (darum Der Jasager), aber der einzelne, in diesem Falle ein Knabe, wurde unter Druck gesetzt, sich zu opfern, weil traditionell die Antwort ja sein mußte. Es war nicht nur ein musikalisches Erlebnis für uns, da wir Chor sowie Orchester stellten, wir diskutierten auch das gestellte Problem in aller Tiefe. Es war grausam, den Knaben nicht freiwillig, sondern unter Traditionszwang zur Einwilligung seines Opfertodes zu bewegen. Eine Gruppe von Schülern trat mit Brecht in Verbindung, der sie nicht nur empfing, sondern auch zu uns in die Schule kam, um eine Diskussion darüber mitanzuhören. Dann bat er uns, in jeder Klasse die Oper zu diskutieren und für ihn im Protokoll festzuhalten. Tatsächlich hat Brecht auf Grund dieser Protokolle Einwände von uns aufgegriffen und eine neue Fassung des Jasagers geschrieben, die 1931 in der Schule uraufgeführt wurde.
Im letzten Jahr meiner Schulzeit suchte ich mir Arbeit, um etwas zu unserem Famillenetat beizusteuern. Ich holte die junge Tochter der Frau eines kommunistischen Reichstagsabgeordneten vom Kindergarten ab und behütete das Kind, bis die Mutter nach Hause kam. Für diese Arbeit bekam ich 30 Reichsmark im Monat, die ich meinen Eltern übergab. Fünf Mark durfte ich monatlich für mich behalten.
Die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland hatten sich inzwischen sehr verschlechtert. Der Kapitalismus befand sich in einer weltweiten Krise, die Arbeitslosenzahl ging in die Millionen, und der Faschismus wurde zu einer realen Gefahr. Der sozialdemokratische Schulleiter der Karl-Marx-Schule mußte sich gegen eine zunehmende reaktionäre Regierung verteidigen, der die Karl-Marx-Schule schon lange ein Dorn im Auge war. Er war außerdem dauernden Angriffen der kommunistischen Linken ausgesetzt. Es war die Politik der Kommunistischen Partei in diesen Jahren, die sogenannten Sozial-Faschisten (nämlich die Sozialdemokraten) für gefährlicher als die Faschisten zu halten. Das wirkte sich auch in der Schule aus. Der Sozialistische Schülerbund, der sehr unter dem Einfluß der Kommunisten stand, begann einen Kampf gegen den Leiter der Schule, der als Pseudoreformer und Verräter an der wahren sozialistischen Gesinnung verleumdet wurde. Ein kommunistisches Schülerblatt sprach sogar von der Karsen Kaserne. Die Beziehungen zu Klassenkameraden, die der sozialdemokratischen Schülergemeinschaft angehörten, wurden gespannter. Kurz, die politischen Verhältnisse fanden auch ihren Abklatsch in unserer Schule.
Heinz Lüschen machte 1931 das Abitur. Da er ein hervorragender Schüler war und auch politisch auf der richtigen Seite stand, wurde er mit einigen anderen Privilegierten ausgewählt, eine Lehrerausbildung in der Wolgadeutschen Republik in der UdSSR zu erhalten. Das war ein entscheidender Schritt; obwohl wir nicht mehr ein Paar waren, brachte ich ihn doch zum Bahnhof und er sagte mir schweren Herzens: »Was immer kommen möge, du wirst immer meine erste Freundin bleiben.« Er arbeitete nach der Ausbildung an der Internationalen Schule in Moskau, wurde 1936 im Laufe des stalinistischen Kesseltreibens verhaftet und in die Polar Region in ein Lager geschickt. Dort ist er, noch nicht dreißig Jahre alt, gestorben. Wolfgang Leonhard (Die Revolution entläßt ihre Kinder) erwähnt ihn. Buba Neumann, die Witwe von Heinz Neumann, übermittelte die Nachricht nach Berlin.
Am 30. Januar 1933 übernahm Hitler die Macht, und am 21. Februar legte unsere Klasse eine vorgezogene Abiturprüfung ab (vorgezogen, um eventuellen Nazi-Gegenmaßnahmen zu entgehen). Am nächsten Tag durfte der Schulleiter nicht mehr die Schule betreten. »Die Hochburg der marxistischen Unkultur gesäubert«, schrieb der Völkische Beobachter. Wir konnten es nicht glauben, versammelten uns vor der Schule zum Protest und wurden von der SA verprügelt und weggetrieben. Die Schule wurde dann im April 1933 endgültig gleichgeschaltet und in Kaiser-Friedrich-Realgymnasium umbenannt. Bald nach dem Reichstagsbrand im Februar wurde die KPD verboten und im Laufe des Jahres alle noch bestehenden Parteien und Gewerkschaften aufgelöst.
Kommunisten wurden verhaftet. Eine Wahl fand noch am 5. März 1933 statt, und wir steckten Wahlpropaganda durch die Briefkästen. Wir fingen im obersten Stockwerk der Häuser an und eilten treppabwärts, um nicht verprügelt oder verhaftet zu werden. Nach den Wahlen, in denen die NSDAP 44% der Stimmen erhielt, hatte sie noch immer keine Mehrheit. Durch Sondergesetz ermächtigt, verbot Hitler die Kommunistische Partei. Durch Beseitigung der kommunistischen Abgeordneten hatten die Nazis jetzt eine absolute Mehrheit und waren nicht mehr auf die Deutschnationalen angewiesen. Die Gewerkschaften wurden im April aufgelöst, und die anderen noch bestehenden Parteien, außer der NSDAP, im Juli 1933. Damit war es Hitler gelungen, das Parlament aufzulösen und Führer eines Einparteienstaates zu werden.
Für uns war diese Entwicklung unfaßbar. Wir hatten in einer Welt gelebt, in der wir die Revolution und eine sozialistische Gesellschaftsform in der nahen Zukunft für realisierbar hielten. Wir warteten auf eine Aktion - die ausblieb. Ich hatte mir sogar eingebildet, daß die Sowjetunion die deutschen Kommunisten in einem Kampf gegen die Nazis unterstützen würde. Ich schrieb auf der Schreibmaschine den Text von illegalen Flugblättern, die zum Streik aufriefen, u. a. für Heinz Brandt, der sich durch nichts abschrecken ließ und großen Mut zeigte. Im Hinterzimmer der Großmutter eines Freundes benutzte ich die Schreibmaschine. Die Großmutter dachte, es handelte sich um Schulaufgaben. Aber große Streikaktionen folgten nicht darauf. Illegale Literatur, die von Einzelaktionen berichtete, ging noch von Hand zu Hand. Diese Schriften waren klein gedruckt wie die heutigen Mikrofilme und wurden an Vertrauenswürdige weitergegeben. Ich habe sie im Küchenschrank versteckt, bis ich Gelegenheit hatte, sie zu verteilen.
Die ehemaligen >Karl-Marx<-Schüler versuchten, in einer Arbeits- oder Ausbildungsstätte unterzuschlüpfen. Ein Studium war unmöglich. Meine Freundin Sibylle und ich sind im Pestalozzi-Fröbel-Haus, zur Ausbildung als Kindergärtnerin und Hortnerin, angenommen worden. Das wurde erst nach einigen Monaten gleichgeschaltet und mit einem Nazikommissar gesegnet. Die unmittelbar erste Tat, die von uns, die wir als Freidenker erzogen worden waren, gefordert wurde, war der Eintritt in die Kirchengemeinde und eine nachträgliche Taufe und Einsegnung. Studenten ohne Kirchenangehörigkeit wurden zu der Zeit nicht zum Examen zugelassen eine Maßnahme, die sich nicht nur gegen Freidenker, sondern auch gegen Juden richtete.
Viele der Lehrer der Karl-Marx-Schule wurden relegiert. Mein Klassenlehrer wurde Reisender in Kaffee, andere emigrierten sofort. Unser begabter Musiklehrer wurde als Volksschullehrer auf ein Dorf versetzt. Der jüdische Vater einer Mitschülerin ist in den ersten Tagen der Machtübernahme von den Nazis erschlagen worden. Der Vater von Heinz Lüschen hat zwei Jahre im Konzentrationslager gesessen und ist mit zertretenen Nieren entlassen worden. An den Folgen ist er später gestorben.
Die Gestapo wollte Sibylle 1934 verhaften, als sie krank mit hohem Fieber im Bett lag. So ließ man sie zurück. Ihre Mutter befand sich gerade illegal im Land und wurde durch die Haushälterin von der versuchten Verhaftung der Tochter unterrichtet. Gemeinsam wurde sofortige Ausreise beschlossen. Beide wollten getrennt, aber im selben Zug, nach Kopenhagen fahren - getrennt, mit der Hoffnung, daß wenigstens eine von beiden durchkommen würde. Sibylle hatte sich beim Verlassen des Hauses einen Mantel direkt über das Nachthemd gezogen, falls sie von der Gestapo angehalten werden sollte. Sie wollte dann sagen, daß sie auf dem Wege zur Ärztin sei. Es gelang ihr aber, bis zum Bahnhof durchzukommen und auch einen Sitzplatz zu finden. Der Zug war sehr voll, und als die Mutter, eine ältere Dame, in der letzten Minute kam, hat ihr ein Eisenbahnbeamter einen Sitzplatz zuweisen wollen. Und wo war dieser Platz? Ein freier Sitz neben ihrer Tochter! Beide waren geistesgegenwärtig genug, nicht ihre Bestürzung zu zeigen, und saßen als Fremde nebeneinander, bis der letzte deutsche Grenzort vorbei war - dann fielen sie sich in die Arme - zur großen Verwunderung der anderen Fahrgäste.
Ich selbst wurde im Herbst 1934 zur Gestapo gerufen, und diese Aufforderung stand im Zusammenhang mit Sibylle und unserer früheren Reise nach Hamburg. Diese Freunde, die wir damals in Hamburg besuchten, hatten unseren Brief, den wir ihnen nach unserer Reise geschrieben hatten, aufgehoben. Bei ihrer eigenen Verhaftung ist er von der Gestapo gefunden worden. Sibylles Adresse war angegeben, und die Gestapo brauchte so lange, um ausfindig zu machen, wer die Erna war, die mitunterschrieben hatte. Man zwiebelte mich mit Fragen, dann wurde ich im Polizeiauto nach Moabit zum Gefängnis gebracht und einem offenbar mißhandelten Gefangenen gegenübergestellt (wie wir damals annahmen - einem Spitzel). Glücklicherweise waren wir uns unbekannt, und man ließ mich laufen mit der Bemerkung, daß ich ungeeignet sei, weiterhin als Volkserzieherin zu arbeiten.
So mußte ich meine Kindergärtnerinnentätigkeit aufgeben. Eine sehr einsame Zeit stand mir bevor; ich wagte nicht, meine alten Freunde - soweit es sie noch gab - zu treffen, falls
ich von der Gestapo beobachtet würde. Ich suchte mir Arbeit als Stenotypistin und versuchte, keine offizielle Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Neue Freunde wagte ich nicht zu machen, da man keinem über den Weg traute. Manchmal saß ich allein im Café, oft gesellte sich ein junger Mann dazu, manchmal erzählte man sich einen damals kursierenden Witz über die Nazis, vielleicht war dieser Mann kein Nazi - aber ich verabredete mich nie mit Fremden. Nach Monaten nahm ich wieder alte Beziehungen auf, aber die meisten der Freunde waren im Ausland oder verhaftet. Viele einsame Stunden habe ich in diesen Jahren verbracht.
Eines Tages traf ich den Lehrer, mit dem ich schon als Schülerin eine Liebesbeziehung hatte. Er arbeitete jetzt als kaufmännischer Angestellter. Der frühere Funke zündete wieder, und wir begannen eine sehr leidenschaftliche Beziehung. Er war noch immer verheiratet, und in dieser schweren Zeit mußten Menschen zusammenhalten. Ich traf seine Frau, und auf ihre dringende Bitte versprach ich ihr, die Beziehung zu ihrem Mann aufzulösen. Aber er flehte um meine Liebe und konnte mich nicht aufgeben, und ich brachte es nicht fertig, mein Versprechen zu halten.
Durch Zufall entdeckten meine Eltern diese Freundschaft. Sie bestellten den Mann zu sich in die Wohnung und verlangten die Scheidung von seiner Frau oder Trennung von ihrer Tochter. Wir konnten unsere Probleme nicht von meinen Eltern lösen lassen und versprachen nichts. Da gaben mir meine Eltern Hausarrest- ich durfte vier Wochen lang abends nicht das Haus verlassen. Da packte ich einige Sachen und zog in ein möbliertes Zimmer.
Aber mein Geliebter hatte Angst, daß mein Vater ihn anzeigen würde (was ich für ausgeschlossen hielt). Da er illegal tätig war, durfte er nichts riskieren. So saß ich allein in einer sturmfreien Bude und konnte nur noch von ihm träumen.
Inzwischen hörte ich von einem früheren Schulkameraden, Tully Glatzel, der auch in die Sowietunion gegangen war. Man hatte ihn nach Deutschland zurückgeschickt; an der Grenze wartete die Gestapo auf ihn. Er hatte unter Druck versprechen müssen, für die Nazis unter den ehemaligen >Karl Marx<-Schülern zu arbeiten, u. a. hatte er meinen Namen genannt. Er ließ mich aber durch Heinz Lüschens Mutter davon wissen. Kurz darauf verübte er Selbstmord, um nicht zu einem Verräter zu werden.
So war mein Name schon wieder bei der Gestapo als verdächtig erwähnt. Ich faßte die Nachricht als Warnung auf. Ich hatte ohnehin mit den Quäkern in Berlin Verbindung aufgenommen und nahm an ihren Englischstunden teil. Außerdem hatte ich Kontakt mit den ehemaligen >Karl Marx<-Schülern gehalten, die nach England emigriert waren. Diese besorgten mir eine Stellung in einer englischen Privatschule, und mit Paß und 10 Sperrmark in der Tasche stieg ich im Mai 1937 in einen Zug nach Holland. Still und zitternd saß ich im Zug, bis wir zur Grenzstadt kamen - einmal in Holland, atmete ich auf. Ich war draußen, frei, und ein neuer Lebensabschnitt begann.
So kam ich nach England. Ich werde nie vergessen, wie ich die erste Demonstration in England sah, auf der rote Fahnen wehten. Ich drehte mich um und wartete auf die Polizei, die sie auseinanderschlagen würde - aber man demonstrierte friedlich weiter. Es ist unvorstellbar für jeden, der nicht unter einer Diktatur gelebt hat, was es bedeutet, von diesem Druck der Angst frei zu sein. Wie man wieder aufgeschlossen anderen Menschen gegenüberstehen, Freundschaften schließen, Zeitungen und Bücher lesen kann.
Ich blieb eine Woche bei meinen Freunden in London wohnen und fuhr dann zu meiner Arbeitsstelle. Ich war als Deutsch- und Französisch-Lehrerin in einer Privatschule auf dem Land angestellt. Obwohl ich nur wenige Lehrstunden hatte und in der Hauptsache als Helferin für die Hausmutter beschäftigt wurde, hat mir diese Zeit auf der Schule doch viel Freude bereitet. Es war eine fortschrittliche Schule, A. S. Neill (Summerhill) nahestehend, und ich war sehr glücklich, wieder zurückgreifen zu können auf die selbst erlebten Methoden meiner eigenen Schulzeit. Die verhaßten volkstreuen disziplinierenden Erziehungsmethoden der Hitlerzeit lagen weit zurück.
Das Gehalt war gering, ebenso meine materiellen Ansprüche. Außerdem konnte ich so manches Wochenende, per Autostopp, nach London in die Wohngemeinschaft meiner früheren Schulfreunde fahren. In diesem Kreis traf ich auch Rosa Leviné-Meyer (Eugen Leviné und Im inneren Kreis) und ihren Sohn Genia. Auch Wolf Nelki traf ich dort, den ich später heiratete. Wolf lebte in Brüssel, und es war ihm bisher nicht gelungen, die Einreiseerlaubnis für England zu erhalten. Aber da seine Familie in London lebte, besuchte er London oft, und wir verliebten uns ineinander.
Über einige Dinge in England habe ich mich sehr gewundert. Erstens, niemand hatte in England von der >Karl-Marx<-Schule gehört; zweitens, alle progressiven Schulen in England waren experimentell in der Methodik, aber ohne politische Erziehung; drittens, es gab keine politische Jugendbewegung; viertens, die Engländer wußten kaum, was in Hitlers Deutschland vor sich ging. Die einzigen Zeitungen, die manchmal über die Konzentrationslager berichteten, waren The News Chronicle und der Manchester Guardian.
Es war die Zeit der Chamberlain-Regierung und der Kompromißbereitschaft mit Hitler. Meine Kollegen konnten meine Fassungslosigkeit nicht begreifen, wenn man Hitler erlaubte, noch ein weiteres Stück Land zu schlucken. Er schickte seine Flugzeuge nach Spanien und half, den spanischen Bürgerkrieg für die Faschisten zu gewinnen; er fiel in Österreich ein und besetzte 1938 das Sudetenland in der Tschechoslowakei. Hitler traf sich mit Daladier aus Frankreich und Chamberlain aus England in München, und der Westen glaubte, daß der Frieden in unserer Zeit geschmiedet worden sei.
Der Frieden dauerte ein Jahr. Ich erhielt Eilbriefe von meinen Eltern, zurückzukehren sie überschauten nicht die Gefahr, der ich mich aussetzen würde. »Du mußt nicht den Krieg im Feindesland verbringen«, schrieben sie. Ich aber blieb in England, bereit mitzumachen, was auch kommen würde.
Und es kam! Der Krieg brach aus. Ich war mit einigen Kindern von London auf das Land evakuiert, als nachts die englische Polizei kam und mich in das Londoner Frauengefängnis Holloway brachte. Sie internieren also alle Ausländer, dachte ich, und bekam erst einen wirklichen Schreck, als ich keinen meiner politischen deutschen Freunde dort sah. Wie ich später hörte, schrieben die englischen Zeitungen, daß alle deutschen Agenten sofort am Anfang des Krieges verhaftet worden wären - einer davon war anscheinend ich!
Für sechs Wochen waren wir in Einzelhaft - ohne Briefe, Zeitungen, Rechtsanwalt -, vergessen von der Welt. Morgens wurden wir für einen halbstündigen Spaziergang auf den Gefängnishof geführt (vor den kriminellen Gefangenen), ansonsten wurden die Zellen nur für Eimerausleerung, Wasser und Essen geöffnet. Man hatte uns Gürtel und Schnürsenkei abgenommen, das Licht wurde jeden Abend um acht Uhr zentral ausgedreht, und die Nächte auf dem Strohsack waren lang und beunruhigend. Tagsüber hatte ich ausschließlich Gelegenheit, die Bibel zu lesen; später standen uns zwei Bücher pro Woche von der mobilen Leihbücherei zur Verfügung. Bleistift und Papier durften wir nicht besitzen. Mit mir waren fünfundvierzig deutsche Dienstmädchen verhaftet. Außerdem eine Deutsche, die einen englischen Faschisten kurz vor Kriegsausbruch geheiratet hatte und damit englische Staatsbürgerin geworden war. Weiterhin war unter uns die geschiedene Frau des SS-Führers von Berlin, Gula Pfeffer, die durch die Deutsche Botschaft Geld von ihm überwiesen bekommen hatte; sie war klug, sprachbegabt und eine politisch sehr verdächtige Figur.
Die Gefangenschaft bedeutete für uns: vollkommene Abhängigkeit, eine aufgezwungene fremde Routine, keinerlei Beschäftigungsmöglichkeit außer Lesen und die vollkommene Abgeschnittenheit von allen Menschen, die einem nahestanden. Schließlich die vollkommene Unsicherheit unserer Lage und die Angst, gegen unseren Willen nach Deutschland ausgeliefert zu werden.
Eines Tages erhielt ich Besuch in meiner Zelle. Eine alte englische Dame kam und brachte mir Grüße von Wolf. Das war eine Erleichterung; er wußte also, wo ich war. Außerdem befragte sie mich nach meinem Gesundheitszustand, ob ich besondere Wünsche hätte, sie sei eine offizielle Gefängnisbesucherin und könnte helfen. Ich sah nicht ein, warum ich anders als alle anderen behandelt werden sollte, und bat um nichts. Dann kam sie mit der Sprache heraus: Meine Extrawünsche als Schwangere könnten berücksichtigt werden. Aber ich war nicht schwanger, was ich auch versicherte. Da ist sie betrübt abgezogen. Wie ich später hörte, hatte sich Wolf seit Wochen bemüht, ausfindig zu machen, wo ich war. Als er zufällig ein Schild >Kommission für Gefängnisbesucher< sah, hat er diesen Versuchsballon hochgehen lassen, um herauszufinden, ob ich möglicherweise in das Frauengefängnis eingeliefert worden sei. Mich hatte dieser Besuch sehr beruhigt: wußte ich nun doch, daß ich nicht mehr allein da stand.
Der morgendliche Spaziergang gab uns die einzige Möglichkeit, mit anderen zu sprechen. Die Wärterinnen waren nachsichtig und erlaubten uns sogar, Zigaretten zu rauchen, aber die englische Faschistin war die einzige mit Geld und konnte kettenweise rauchen. Bald darauf kriegten wir Schreiberlaubnis, und später durften wir sogar Eßpakete empfangen.
Zur gleichen Zeit kamen täglich weitere deutsche Frauen nach Holloway. Tribunale tagten in der Außenwelt. Obwohl ich meine jüdischen Freunde nicht in Holloway traf, kamen doch viele jüdische Frauen in das Gefängnis: solche, die den englischen Richtern unsicher erschienen waren. Sie waren deshalb sofort verhaftet worden.
Da war ein achtzehnjähriges jüdisches Mädchen, das ein Verhältnis mit einem Industriellen hatte; ein anderes Mädchen hatte sich mit einem Hochstapler eingelassen, gegen den eine Strafanzeige vorlag. Da war eine gute bescheidene jüdische Ärztin, die sich in England ihr Leben als Krankenschwester verdienen mußte. Von einer anderen Schwester war sie angezeigt worden, daß sie mit einer Taschenlampe den deutschen Flugzeugen Lichtsignale gegeben hätte.
Es war eine bizarre Gesellschaft von Menschen, die sich im Holloway-Gefängnis zusammenfand. Wieviel besser hatten es doch die irischen Mädchen, die wegen Feuerbombenwerfen in das Gefängnis gekommen waren. Sie waren auf einem Flügel neben uns untergebracht. Sie wußten, warum sie eingesperrt waren.
Da wir keine kriminellen Gefangenen waren, versuchten die englischen Behörden, unsere Haftzeit zu erleichtern. Die Zellen wurden tagsüber geöffnet, und ein Flur mit Tischen und Stühlen wurde unser Tagesaufenthaltsraum. Selbst eine kleine Küche mit Gasflamme wurde uns zur Verfügung gestellt, damit wir Tee oder Kaffee kochen konnten. Es war eine Erleichterung, aus der Zellenisolierung herauszukommen. Aber zwangsweise mit einhundert Frauen auf engem Raum zusammenzuleben, war auch anstrengend.
An meinem Tisch fanden sich fünf Frauen zusammen, die sich bald anfreundeten. Da war die schon oben erwähnte jüdische Ärztin, sehr lieb, aber ungeschickt mit Menschen; eine junge, lustige Frau, die mit einem Tschechen verheiratet war, einem früheren demokratischen Abgeordneten. Ferner die unglückliche Frau des Hochstaplers. Dann eine junge Nichtjüdin, die von zu Haus weggelaufen war und in großer Armut im Ausland gelebt hatte, bis ein alter englischer Hauptmann a.D. sie als Wirtschafterin engagierte. Für diesen Hauptmann ging sie durchs Feuer. Als der Krieg ausbrach, hatte man ihn in das Kriegsministerium gerufen. Daraufhin wurde sie interniert. Schließlich war ich da - eine politische Emigrantin. Wir fünf fanden uns zusammen, teilten unsere Eßpakete und tauschten unsere Privatgeheimnisse aus. In der Gefängnisatmosphäre waren gefühlsmäßige Bindungen absolut lebenswichtig! Ohne die wäre der Aufenthalt unerträglich gewesen.
Wir hatten die Idee, Puppen zu nähen und anzuziehen und durften zu diesem Zweck in eine offene große Zelle, so daß wir unter uns waren. Dort nähten wir, unterhielten uns und sangen Lieder zur Laute, die mir Freunde aus der Independent Labour Party inzwischen beschafft hatten.
Wir teilten unsere Hoffnung auf Befreiung, denn alle hatten wir jemanden, entweder eine Privatperson oder das jüdische Komitee, der für uns arbeitete. Selbst der alte Hauptmann versuchte, seine Wirtschafterin wiederzukriegen. Wolf war in England. Bei Kriegsausbruch hatte er sich in England befunden und wurde nicht nach Brüssel zurückgeschickt. Er schrieb mir einen Heiratsantrag in das Gefängnis, was mich sehr ermutigte.
Weihnachten kam und ging, unsere Puppen wurden an ein Krankenhaus weitergegeben. Nach Weihnachten hörten wir, daß unsere Internierung erneut von einem Tribunal untersucht werden sollte.
Im Januar 1940 kam ich vor dieses Tribunal, das meine Glaubwürdigkeit als politischer Emigrant beurteilen sollte. Auch Wolf Nelki wurde als Zeuge vorgeladen. In meinem Verhör, in dem ich über mein Leben ausgefragt wurde, sagte mir eine der Damen des Tribunals (eine liberale Abgeordnete), daß sie hoffte, daß das Kaiser-Friedrich-Realgymnasium bald wieder Karl-Marx-Schule heißen möge. Das ist englische Fairness.
Ich wurde wieder nach Holloway zurückgebracht und harrte auf das Resultat. Die Wochen zogen sich endlos hin. Die Freunde nahmen Anteil und versuchten, mich aufzuheitern. Eines Nachmittags wurde ich zur Gefängnisleiterin gerufen: »Hole deine Sachen und warte auf deinen Verlobten. Er wird dich abholen.« Niemals ist mir eine Stunde so lang wie diese vorgekommen, als ich dort im Vorraum des Gefängnisses auf Wolf wartete.
Ich zog dann zu Mitgliedern der Independent Labour Party (Unabhängige Arbeiter-Partei), die mich ohne Bezahlung aufnahmen. Wolf Nelki hatte Fenner Brockway,[2] den Sekretär der Independent Labour Party, bereits im Vor-Hitler-Deutschland auf einer Friedenskundgebung kennengelernt. Er hatte diesen Kontakt in England wieder aufgenommen. Die Independent Labour Party setzte sich für mich ein, als ich verhaftet wurde, und veranlaßte eine Anfrage im Parlament, warum ich verhaftet worden sei.
Die Independent Labour Party gehörte zur 2 1/2ten Internationale (Londoner Büro) und hatte sich seit 1933 für die Verfolgten der Nazis eingesetzt. Als ich aus dem Gefängnis kam, wurde ich Fenner Brockway vorgestellt. »Hallo, Brother«, begrüßte er mich, und diese brüderlichen Gefühle hat er zeit seines Lebens für alle Verfolgten der Welt gezeigt.
Einige Wochen nach meiner Entlassung heiratete ich Wolf Nelki. Beide besaßen wir keinen Pfennig. Das Aufgebotsgeld schenkte uns der Standesbeamte. Er nahm Anteil an uns, weil Wolf das Aufgebot angemeldet hatte, als ich noch im Gefängnis war. Er sorgte auch dafür, daß als Wohnsitz nicht »Holloway Prison« auf meiner Heiratsurkunde steht, sondern nur »X Parkhurst Rd.«. Unser Trauzeuge war Fenner Brockway.
Unsere Freunde luden uns zum Essen ein. Zwei Tage später fuhr ich aufs Land in eine Schule, in der ich mich erfolgreich um Arbeit beworben hatte. Wolf wohnte bei seiner Familie in London.
Das war im März 1940. Im April hatte ich Schulferien und kam nach London. Freunde bereiteten uns eine Hochzeitsfeier. Ein Freund brutzelte Pfannkuchen für uns, was er unermüdlich von nachmittags um 4 Uhr bis nachts um 2 Uhr machte. Es war beinahe eine Dreigroschen-Oper-Hochzeit. Vierzehn Tage taten wir so, als hätten wir einen eigenen Haushalt. Dann mußte ich zurück zu meiner Schultätigkeit. Unsere örtliche Trennung dauerte länger als erwartet. Was war geschehen? Die Kriegssituation hatte sich sehr für die Alliierten verschlechtert. Holland, Belgien und bald darauf Frankreich wurden von Hitler erobert. Infolge der allgemeinen Verschärfung des Kriegszustandes wurden feindliche Ausländer in England interniert. Im Mai 1940 wurden ungefähr 15 000 Männer und 3000 Frauen und Kinder zu der Insel Man transportiert. Männer und Frauen kamen in getrennte Lager. Wolf und ich waren dabei.
Ich habe einen ausführlichen Bericht über das Internierungslager im Anschluß an diese Aufzeichnungen geschrieben, so will ich hier nur einige persönliche Dinge hinzufügen. Auf der Insel Man habe ich einige meiner jüdischen Freunde wiedergetroffen und neue Freunde kennengelernt. Schätzungsweise wurden im Laufe des Sommers 1940 4500 Frauen und 30 000 Männer interniert, unter denen etwa 85% jüdische Emigranten waren. Sie hatten gehofft, in England eine neue Heimat zu finden. Sie waren nicht nur unglücklich, sie waren oft seelisch nicht imstande, mit einem neuen Ausgesetztsein fertig zu werden. Die allgemeine Erregtheit vertiefte die Leiden der Internierten. Infolge der schlechten Organisation des Lagers hatte man Nazis und von Nazis Verfolgte nicht voneinander getrennt. Oft hatte man sie in dasselbe Haus oder sogar in dasselbe Doppelbett gesteckt. Dazu kam die gefährliche Kriegssituation, die Angst vor einer Invasion Englands durch die Nazis, der Mangel an tatsächlicher Information. Da wir weder Radio hören noch Zeitungen lesen durften, wurden wir oft das Opfer von Gerüchten, die im Lager grassierten.
Auf dem Festland fand der Blitzkrieg statt. Englische Freunde beruhigten uns damit, daß wahrscheinlich die Insel nicht bombardiert würde. Aber das war kein Trost, denn wir wollten helfen, Hitler zu bekämpfen.
Ein Jahr lang war ich auf der Insel Man interniert. Ich war bei meiner Ankunft einer kleinen Pension zugewiesen worden und teilte Zimmer und Doppelbett mit einem neunzehnjährigen jüdischen Mädchen. Sie hatte als Dienstmädchen in England gearbeitet, und ihre Familie war in Deutschland zurückgeblieben. Sie war freundlich und großzügig und ging manchmal in das Dorf, von dem sie immer mit Schokolade und Zigaretten zurückkam, die ihr von den Inselbewohnern geschenkt worden waren. Sie teilte ihre Geschenke mit uns, und die Zigaretten waren immer sehr willkommen. Das ging so einige Wochen, bis mir auffiel, daß ich weniger Silbergeld in der Tasche hatte, als ich vermutete. Eines Tages fehlte sogar eine Pfundnote; nur Vera konnte sie genommen haben. Als wir sie dann stellten, gab sie es zu. Sie war ein so einsamer und verlorener Mensch, daß sie sich unsere Freundschaft mit Geschenken erkaufen wollte, für die sie uns das Geld erst einmal stehlen mußte. Wir waren ziemlich betroffen, zumal wir ihr nicht wirklich gram sein konnten. Wir beschlossen, daß sie das Pfund durch Landarbeit abarbeiten sollte.
Eines Tages sprach mich ein Mädchen an, das mich von der Karl-Marx-Schule her wieder erkannte. Sie war als Jüdin ausgewandert und hatte ihren nichtjüdischen Schulfreund zurückgelassen. Der war im Krieg in der deutschen Handelsmarine als Funker eingesetzt worden. Er hatte die erste Gelegenheit zu entfliehen wahrgenommen, um ihr nachzufahren. Er war vom Schiff in Singapore zum englischen Konsul gegangen und hatte den Engländern den deutschen Geheimcode angeboten. Die englischen Behörden brachten ihn nach England. Er war in einem englischen Gefängnis, sie war auf der Insel Man - aber sie waren im gleichen Land. Sie wurde, wie die meisten von uns, wieder entlassen. Er blieb im Gefängnis, was er zuversichtlich auf sich genommen hatte.
Dann aber - nach so langer Trennung von ihm - wollte sie nicht länger warten, sondern einen anderen Mann heiraten. Das nahm ihm allen Mut, und er machte einen Selbstmordversuch.
Im Laufe des Jahres ergaben sich Kontakte mit anderen politischen Emigranten, die unter dem Einfluß verschiedener Gruppen standen: Neu Beginnen; Internationaler Sozlalistischer Kampfbund (ISK); linke Sozialdemokraten und oppositionelle Kommunisten. Minna Specht, eine bekannte Pädagogin und Mitbegründerin des ISK (Internationaler Sozialistischer Kampfbund), befand sich im Lager. Sie ist nach dem Krieg als Leiterin der Odenwald-Schule in Deutschland tätig gewesen. Auch die deutschen Sozialisten, denen es gelungen war, auf demselben Schiff wie der norwegische König nach England zu flüchten, waren interniert. Unter ihnen war auch Käte Strobel, die später Gesundheitsminister geworden ist. Wir trafen uns, diskutierten die Lage, tauschten Nachrichten aus und sprachen uns Mut zu.
Aber natürlich wollten wir unsere Freiheit. Das wurde möglich aufgrund des zusätzlichen Paragraphen 19, der sich auf politische Aktivisten bezog, die gegen Hitler gekämpft hatten. Wolf wurde im Januar 1941 und ich im Mai 1941 entlassen. Das war eine glückliche Stunde, als ich Wolf auf der Eisenbahnstation in London wiedersah.
Im Juni 1941 griff Hitler Rußland an, und die unmittelbare Invasionsgefahr war gebannt. London hatte den Blitzkrieg überstanden, doch er hatte seine Spuren in den Docks und der City hinterlassen. Der Krieg sollte noch vier Jahre anhalten, doch wir erlebten ihn nun wie der Rest der Bevölkerung. Wolf wurde zur Munitionsarbeit verpflichtet; ich arbeitete als Stenotypistin. Seit unserer Heirat hatten wir zum ersten Mal eine gemeinsame Wohnung zwei Kellerzimmer mit zwei Gasringen als Kochgelegenheit.
Ich arbeitete die nächsten zwei Jahre bei einer in der Öffentlichkeit wirkenden, bekannten Engländerin, Eva M. Hubback. Sie hatte viele Interessen, u. a. die Erwachsenenbildung in der Armee, für die wir Diskussionsmaterial zusammenstellten. Sie war Frauenrechtlerin und setzte sich für >gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit< sowie für ein staatlich bezahltes Kindergeld ein, das an die Mutter direkt ausgezahlt werden sollte. Das wurde nach dem Krieg gesetzlich eingeführt und ist ihrer unermüdlichen Arbeit zu verdanken.
Mrs. Hubback befreite uns von den Kellerzimmern. Sie besorgte uns ein Domizil in Hampstead: eine Villa, die wir hüten sollten, während die Eigentümer evakuiert waren.
Während dieser Kriegsjahre war London ein internationales Zentrum, in dem sich die antifaschistischen Kräfte der westlichen Welt sammelten. Die verschiedenen Regierungen der
von den Nazis eroberten Länder hatten in London ihren Sitz. Auch die deutschen Gewerkschaften und antifaschistischen Parteien waren jetzt zugelassen. Wir gehörten den deutschen Gewerkschaften an, bei deren monatlichen Versammlungen sich alle Parteien und Splittergruppen trafen. Die Gewerkschaften beschäftigten sich mit Tages- sowie mit Nachkriegsproblemen. Ich gehörte dem Erziehungsausschuß an, der Richtlinien für die Erziehung in Deutschland nach der Niederlage Hitlers diskutierte.
Im kleinen Maßstab wirkte unser Haus in Hampstead als Forum für die sogenannten Heimatlosen Linken, nämlich all jene, die weder kommunistisch noch sozialdemokratisch parteigebunden waren. Unsere kommunistischen Ideale hatten starke Erschütterungen erfahren, besonders seit den Moskauer Prozessen 1936-1938, die wir oft diskutierten. Nicht zu glauben war die Behauptung, daß die Generation der alten Bolschewisten, die mit Lenin die Revolution organisiert hatten, nun zu Volksfeinden geworden sein sollten. Wir zweifelten die freiwilligen Geständnisse an, in denen sich die alten Genossen selbst beschuldigten. Der zweite Schlag war der Nichtangriffspakt zwischen Stalin und Hitler, der eine Woche vor dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossen wurde. Was würden dazu die illegalen Kämpfer in Deutschland sagen? Und ich hatte 1933 naiverweise geglaubt, daß die Sowjetunion den deutschen Kommunisten gegen Hitler Beistand leisten würde. Auch die neue Linie der Kommunistischen Partei, die den Krieg für imperialistisch hielt, bis die Sowjetunion angegriffen wurde, wurde diskutiert. Außerdem beschäftigten wir uns mit Problemen der englischen Kolonien, und zusammen mit Vertretern der Independent Labour Party hörten wir George Padmore von Ghana und Vertreter französischer Sozialisten. Unser großes Haus eignete sich gut zu solchen Treffen.
Wir organisierten auch eine deutsche Jugendgruppe, die aus elternlosen jüdischen Jugendlichen bestand, die mit einem Kindertransport nach England gekommen waren (Juden, die noch keine Auswanderungsmöglichkeit hatten, schickten oft ihre Kinder in die Sicherheit des Auslandes). Wolf, als ehemaliger Rechtsstudent, stellte eine Liste von Gesetzen zusammen, soweit sie Ausländer betrafen. Er hat durch seinen Rat vielen Menschen geholfen. Immer wieder sagten uns Freunde: »Meinen Erfolg verdanke ich in letzter Instanz euren Ratschlägen damals in Hampstead.« Seit zwei Jahren hatten Wolf und ich eine gemeinsame Wohnung, ein gemeinsames politisches Leben, das uns immer wieder versöhnte, wenn unsere verschiedenen Charaktere aufeinanderprallten. Wolf mußte dauernd mit vielen Menschen zusammenkommen. Ich aber, nachdem wir Wohnung und Stellung hatten, wollte ein Nest aufbauen. Für Wolf war England damals noch ein Notaufenthalt. Für mich war es ein Land, in dem ich Wurzeln schlagen wollte. Ich sehnte mich nach einem Kind. Das aber schien Wolfs Lebensplänen entgegenzustehen. So gab es manche Gegensätze in unserem Leben. Es waren Jahre der Krise. Schließlich konnte ich ihn doch zu einem Kind überreden. 1944 gebar ich mein erstes Kind, einen Jungen.
Im gleichen Jahr versuchte Hitler, mit der V1-Waffe England zu zerstören. Mütter und Kinder wurden aus London evakuiert. Ich fuhr mit drei Freundinnen und ihren Kindern oder zu erwartenden Kindern in eine Landarbeiterkate auf einem Bauerngut in Wales. Wolf schrieb nach wenigen Wochen seltener, aber desto entschiedener vertrat er die folgende Meinung: »Du hast Dein gewünschtes Kind; suche Dir Arbeit und baue Dir Dein eigenes Leben auf - aber ohne mich.«
Ich war kaum in einem Zustand, mich damit abfinden zu können. Ich brauchte meinen Mann und seine Hilfe mehr denn je. Doch Wolf fand, daß unsere Ehe an unseren scheinbar unlösbaren Problemen zerbrochen sei. Ich wartete vergebens auf einen versöhnenden Brief. Alle anderen Ehemänner kamen an manchen Wochenenden ihre Frauen besuchen Wolf kam nie.
Ich glaubte, Wolf verloren zu haben; zudem wollte ich mich ihm nicht aufzwingen. Was sollte ich tun? Ich fühlte mich machtlos und verhielt mich monatelang untätig. Ich war sehr unglücklich, trotzdem freute ich mich an meinem Baby. Wir teilten ein Zimmer, es schlief ruhig jede Nacht und weckte mich morgens mit glücklichen Lauten. Wir hatten alle nicht schwer zu arbeiten, verpflegten uns selbst und teilten die Arbeit untereinander auf. Einmal im Monat zogen wir bei Wind und Wetter mit Kinderwagen zur 8 km entfernten Babyklinik. Wir strickten Kleidung für die Kinder, halfen uns bei ihrer Pflege, und in der Freizeit lasen wir viel. Zwei Babys wurden in Wales geboren. Eine Mutter bekam ihre Wehen während eines tollen Gewittersturms. Wir mußten sie eine halbe Stunde lang über die Felder zum nächsten Dorf bringen. Alle zwei Minuten mußten wir anhalten, da sie sich vor Schmerzen krümmte. Endlich erreichten wir das bestellte Taxi auf der Hauptstraße. Von einer Hebamme begleitet kam sie noch rechtzeitig in die Geburtshilfeklinik.
Aber auf die Dauer konnte ich nicht so weiterleben und mußte den Unterhalt für mich und mein Kind verdienen. Obwohl meine Freunde eine Tätigkeit an einer Schule für mich vorschlugen, wollte ich doch mein Baby nicht in einem Internat aufwachsen sehen. Ich wollte mehr Kontakt mit ihm halten und nahm Arbeit als Kindermädchen in einer Familie an. Ich ging Anfang 1945 auch wieder nach London zurück, da die Luftangriffe nicht mehr so gefährlich schienen.
In den nächsten eineinhalb Jahren versuchte ich, mir und meinem Kind eine Existenz aufzubauen. Die Zeit als Kindermädchen war nicht sehr erfreulich und bedeutete viel harte Arbeit. Hatte ich doch insgesamt drei kleine Kinder unter fünf Jahren zu behüten. Damals trug ich ständig zwei Kinder auf meinen Armen. Sie wurden schwerer und schwerer und schwerer. Da der Vater im Krieg war, lebte die Mutter der Kinder mit deren Großmutter. Diese Großmutter mochte mich nicht. Ich war erstens nicht eine der üblichen Gouvernanten, die sie sich für ihre Enkel vorgestellt hatte. Überdies zählte sie mir die Happen vom Munde ab und fand, Deutsche essen zu viel. Ich kochte das Mittagessen für uns alle, oft auch noch das warme Abendbrot. Aber ich hatte zwei Zimmer für mich und mein Kind zur Verfügung, mein Essen und Gehalt. Mein Kind, das mich bis dahin ganz allein für sich hatte, begann Schwierigkeiten zu machen, weil es eifersüchtig war. Später hat es seine Gefährten liebgewonnen.
Ich benutzte die Zeit für einen Kurs in einer Abendschule, der, statt in zwei Jahren ganztägig, in vier Jahren durch Abendstunden zu einem Diplom als Sozialfürsorgerin führen sollte. Sechzehn schriftliche Arbeiten mußten pro Jahr eingereicht werden. Zudem war ein jährliches Zwischenexamen vorgeschrieben. Ich habe diesen Kurs mit Eifer mitgemacht. Er schuf für vieles Ausgleich, gab geistige Anregung, machte mich mit neuen Menschen bekannt und ermöglichte vielleicht eine neue Laufbahn in England. Die Vorbereitungsarbeiten fielen mir sehr schwer, weil meine Nächte oftmals von Kindergeschrei unterbrochen wurden. Schwierig war es auch, die richtigen Bücher zu besorgen, und meine Vorbereitungsfrist war sehr beschränkt. Aber statt abends unglücklich an das Haus gebunden zu sein, konnte ich mich nützlich beschäftigen. Ich habe das mit Schwierigkeiten erarbeitete Examen mit Erfolg bestanden.
Manchmal ging ich auch aus und war eingeladen, aber es ist nicht leicht, als Hausangestellte mit beschränkter Freizeit Beziehungen zu pflegen. Am traurigsten waren die Sonntagnachmittage, an denen ich stundenlang allein mit drei Kindern spazierengehen mußte. Nach einem Jahr gelang es einer Freundin und mir - wieder durch Mrs. Hubback -, eine kleine Wohnung zu finden. Zwei Kinder warteten auch dort im Haus auf mich, die ich nachmittags beschäftigen sollte. Die eigene Wohnung, geteilt mit der Freundin, gab mir endlich etwas Freiheit. Dann ergab sich die Gelegenheit, einen Kindergarten zu organisieren, zusammen mit einer anderen Dame, die die Räumlichkeiten hatte. So haben wir sehr erfreuliche drei Jahre zusammengearbeitet. Auch der Freundeskreis vergrößerte sich zusehends.
Was war inzwischen mit Wolf geschehen? Da ich in London wohnte, sahen wir uns gelegentlich. 1946 hatte er Gelegenheit, mit Fenner Brockway nach Deutschland zu fahren. Das war die erste Verbindung mit Deutschland, die einer von uns aufnehmen konnte. Wolf suchte nach Genossen, Freunden und Verwandten und besuchte auch meine Eltern.
Ich werde nie vergessen, wie erschüttert er von dieser Reise zurückkam - er hatte bis dahin nicht das Ausmaß der Vernichtungslager gekannt. Ebenso erschüttert war er über die Zerstörung der Städte und die Hungersnot, die er in Deutschland vorgefunden hatte.
Wolf war in Hannover, als Kurt Schumacher die Sozialdemokratische Partei Deutschlands neu gründete, und Fenner Brockway war der erste ausländische Sozialist, der als Sekretär der Independent Labour Party die Grüße der englischen Sozialisten übermittelte. Er wurde mit brausendem Beifall begrüßt. Das zu einer Zeit, als die Militärregierung noch auf Nonfraternisation bestand.
Nach seiner Rückkehr organisierte Wolf die Aktion >Essens-und Kleiderpakete< bei der ich ihm half. Beides wurde gesammelt, gepackt und über Genossen in der englischen Armee, die Zwanzig-Pfund-Pakete erhalten durften, an deutsche Familien weitergeleitet. Trotz Rationierung in England waren die Gaben sehr großzügig, und ich glaube, daß diese Aktion in Deutschland dankbar aufgenommen wurde. Meine Eltern ließen mir sagen, daß ich sie damit am Leben erhalten habe. Sie hatten mir verziehen, daß ich nicht nach Deutschland zurückgekehrt war.
Unsere gemeinsame Aktion, die gemeinsame Basis unserer Weltanschauung, das für Wolf immer interessanter werdende Kind und nicht zuletzt die ursprüngliche Anziehungskraft brachten Wolf und mich 1947 wieder zusammen. Wir nahmen unsere unterbrochene Ehe wieder auf. Welch weise Entscheidung das damals war!
Zusammen mit der Independent Labour Party organisierten wir auch die Kriegsgefangenen-Besuche. Deutsche Kriegsgefangene in den Vereinigten Staaten wurden nach Kriegsende nach England transportiert, in Kriegsgefangenenlagern untergebracht und als Landarbeiter beschäftigt. Wenn eingeladen, durften sie das Lager verlassen, aber es war ihnen verboten, öffentliche Transportmittel, Restaurants oder Läden zu betreten. Sie kamen in ihren Khaki-Uniformen behaftet mit einem großen Flecken, auf dem PoW (Kriegsgefangener) stand -, ihrer achtzig oder hundert angetrabt, um an den Veranstaltungen teilzunehmen. Da gab es Tee und Kuchen, Musik und Unterhaltungen und Diskussionen. Die englischen Genossen wollten zeigen, daß sie einen Unterschied zwischen Nazis und Deutschen machen können. Wir wollten sie auch mit anderen Meinungen als der doktrinären der Nazis bekannt machen. Wolf und ich betreuten sechs von ihnen, die ein Teil unseres Haushalts wurden. Wir haben noch heute einen Hampelmann, den sie für unseren Jungen bastelten.
In den Nachkriegsjahren mußten wir uns entscheiden, ob wir nach Deutschland zurückkehren wollten. Diese Entscheidung fiel uns sehr schwer. Deutschland war ein geteiltes Land, für welchen Teil sollten wir uns entscheiden? Unser Schicksal war ein so anderes im demokratischen England als das der Menschen, die Jahre unter einer Diktatur gelebt und gelitten hatten. Außerdem hatten wir beide Anteil am englischen Leben genommen und hatten begonnen, Wurzeln in England zu fassen. 1950 entschieden wir uns, die englische Staatsbürgerschaft zu beantragen.
Damit hörten wir auf, Emigranten zu sein. Es kam nun darauf an, einen zweiten Bildungsweg zu finden, um uns eine Existenz in England aufzubauen. Mir gelang es, meine englische Lehrerinnenausbildung nachzuholen - so >ist das Mädel doch noch Lehrerin geworden<, wie es die Lehrer vorausgesagt hatten. Mit meinem festen Gehalt konnte sich auch Wolf ein Zweitstudium erlauben. Er ist nach fünf Jahren Studium ein in England ausgebildeter Zahnarzt geworden. Inzwischen kam unser zweites Kind, ein Mädchen, auf die Welt. Ich habe bis zu meinem fünfundsechzigsten Geburtstag gearbeitet und habe jetzt das erste Mal Muße, über mein Leben nachzudenken.
Es mag als ein schweres Leben erscheinen, aber das Leben unter dem Faschismus und während des Krieges war für alle schwer, wo immer sie lebten. Wir sind mit dem Leben davongekommen. Viele sind in den Lagern der verschiedensten Länder umgekommen.
Schwerwiegender ist, daß der Idealismus unserer Jugend so schwer enttäuscht worden ist. Den Sozialismus, wie wir ihn uns damals ersehnten - die Diktatur des Proletariats, die vorübergehend bestehen sollte, um dem wahren Sozialismus Platz zu machen -, wie können wir darauf noch hoffen?
Juli 1980
Im englischen Frauenlager auf der Insel Man [3]
»Es hat viele Monate nach Kriegsausbruch gedauert, bis die britischen Behörden den Unterschied zwischen Faschisten und den von diesen verfolgten Juden und Sozialisten begriffen. Zu den gräßlichsten Erinnerungen meiner Lagerzeit gehört das nahe Zusammenleben mit den Nazis ... «
Der Schock
Am 27. Mai 1940 wurden ca. 3000 verdächtige Frauen deutscher Herkunft in Großbritannien von der Polizei aus ihren Wohnungen geholt. Wohin, das sagte man ihnen nicht. Für die meisten dauerte die Reise länger als einen Tag. Für die Nacht brachte man diese Menschen aller Jahrgänge, aller sozialen Schichten, in leeren Sportstadien unter. Da krümmten sie sich auf Stühlen oder lagen in dreckigen Kabinen: Alte Frauen, kranke Frauen, schwangere Frauen, Frauen mit kleinen Kindern. Die Toiletten waren verschmutzt. Die Waschgelegenheiten nicht ausreichend.
Während der Weiterfahrt durfte kein Schritt ohne Polizeibegleitung gemacht werden. Als besonders entwürdigend wurde empfunden, daß die Türen der Toiletten bei Benutzung offen bleiben mußten. Viele weinten oder bekamen Angstzustände. Keine wußte, wo sich ihr Mann befand, wer die Miete weiter zahlen würde, ob das Gas in der Küche ausgedreht war. Was sollte aus den Kindern werden, die in Internaten untergebracht waren?
Wir kamen in Liverpool an. Wurden mit Autobussen zum Hafen gefahren, was nicht ohne Anpöbelung seitens der Bevölkerung vor sich ging. Ein belgischer Dampfer, der früher den Ärmelkanal befahren hatte, war vollgeladen, weit über seine Fassungskraft und mit Sitzgelegenheiten höchstens für Schwangere und Greisinnen; er sollte uns auf die abgeschlossene Insel Man bringen. Auch auf dem Schiff waren die Toiletten bald verstopft. Und um das englische Essen rissen sich die Ausgehungerten. Den Schock dieser ganzen Blitzaktion haben eine Menge von ihnen nie überwunden.
Auf der Insel stand man Stunden, ehe die 3000 Frauen untergebracht waren. Man hatte uns in Port Erin und Port St. Mary ausgeladen. Wir mußten in einer langen Schlange aufmarschieren, um auf verschiedene Hotels und Pensionen verteilt zu werden. Aber wir waren zu viele. Am Abend sah ich z. B. eine junge Frau mit zwei kleinen Buben auf einer Bank am Meer auf ihre Zuteilung warten.
Wir schliefen mit wildfremden Wesen im Doppelbett zusammen. Die Wirte erhielten nur eine geringe Entschädigung für unsere Beherbergung und Verpflegung, aber andererseits brauchten sie keine Hausangestellten, da das zu unseren Pflichten gehörte. Außerdem waren auch alle Zimmer in den Wintermonaten besetzt. Des Krieges wegen gab es nur in einem einzigen Gemeinschaftsraum Licht. So mußte man sich im Dunkeln in die Betten der kleinen Zimmer tasten. Und allein, allein für sich konnte man nirgends sein.
Die beiden Orte unserer Behausung waren mit Stacheldraht abgezäunt. Er war jedoch so weit gespannt, daß man etwa zwanzig Minuten Auslauf hatte. Trotzdem bekamen viele infolge der Einsperrung Angstzustände. Gleich in den ersten Wochen rannte eine junge Frau ins Meer und ertrank.
Anfangs wußte niemand, was aus seinen Angehörigen geworden war. Täglich standen lange Reihen vor den Büros der Leitung in der Erwartung von Post. Vergebens! Später sagte man uns: In Liverpool hatte es sechs Wochen lang keinen Zensor gegeben. Darum ließ man die Briefe von oder an uns einfach liegen - und wir waren voll Ungewißheit, was aus unseren Familien geworden war. Dazu schwirrten Gerüchte über eine bevorstehende deutsche Invasion durch die Luft. Die Überreiztheit der eingepferchten Frauen stieg ständig an. Das Drängeln und Schubsen bei dem so häufigen Anstehenmüssen wurde unerträglich. Ein Fünfjähriger sagte zu seiner Mutter: »Hier gibt es gar keine Menschen, Mutti - nur Frauen.«
Weitere 1500 Frauen sind im Laufe des Sommers interniert worden. Sie wurden in Frauengefängnissen gesammelt; dort mußten sie auf einen Transport auf die Insel Man warten, was bis zu neun Wochen dauerte. Mütter mit Kindern hatte man beim Empfang in das Gefängnishospital eingewiesen. Am nächsten Morgen bezeichnete es die Oberschwester darin als zu grausam, Kinder in einem Gefängnis zu halten. Sie mußten weg, in Kinderheime! Als ob es weniger grausam wäre, sie jetzt von ihren Müttern zu trennen.
Aber auch das Gefängnis war schon überfüllt. Die meisten schliefen dort auf Holzbrettern. Das Haus war mit Verhafteten jeglicher Herkunft besetzt. Auch mit Nazis, die sich laut dazu bekannten. Eine Emigrantin, die als Politische bereits mehrere Jahre in deutschen KZ's gelitten hatte, bekam deswegen Angstzustände und Schreikrämpfe.
Im Juli brach eine wirkliche Panik im Lager aus. Am 2. Juli 1940 war ein unbewaffneter Transport internierter Männer auf dem Handelsschiff Arandora Star, unterwegs nach Kanada, von einem deutschen U-Boot versenkt worden. 1500 wehrlose Männer ertranken. Unsere Lager-Kommandantin machte uns unwahre Angaben darüber. Zuerst sprach sie von italienischen Kriegsgefangenen, dann waren es deutsche gewesen. Aber bestimmt keine Internierten. Und wenn, dann niemand, der in unserem Lager Verwandte hatte.
Nie werde ich Lotte vergessen. Ihr Mann, Karl Olbrisch, bis 1933 kommunistischer Reichstagsabgeordneter, war von begriff sstutzigen Richtern als naziverdächtig interniert worden und damit zur Verschickung bestimmt. War er auf dem Schiff gewesen? Die Liste der Umgekommenen machte man erst sehr viel später bekannt. Lotte hatte schon durch die Aufregungen der Internierung vorher eine Fehlgeburt gehabt. Die Opfer-Listen kamen endlich heraus. Sie hatte nicht nur ihr Kind, sondern auch ihren Mann verloren.
4000 Frauen organisieren sich
Von den 4500 Frauen, die inzwischen im Lager lebten, waren die meisten - 85% - jüdische Emigranten, wenige nicht jüdische Politische. Aber 12% Nazis!
Die Verteilung war ohne jede Sorgfalt erfolgt. Juden, in Deutschland verleumdet und gehetzt, mußten sich von den siegestrunkenen Naziweibern täglich Beschimpfungen gefallen lassen. Eines teilte das Doppelbett mit einem durch Kindertransporte herübergekommenes Geschöpfchen. »Geh weg, Jid, du stinkst«, wurde das junge Ding angeschrieen. Bis wir anderen ihre Verlegung erwirkten.
Als es zu Prügeleien kam, bewogen wir die Kommandantin dazu, das Hotel Bellevue rein arisch zu belegen. Sie hatte vorher nicht begriffen, daß Emigranten von drüben nicht alle Hitleranhänger waren. Später schufen die in jedem Haus gewählten Sprecherinnen noch manche Einrichtung, die mehr Ordnung ins Chaos brachte und besondere Wünsche erfüllte. Dazu gehörte die Bestimmung eines Hotels für orthodoxe Jüdinnen und eine Vertretung gegenüber uns besuchenden Abgeordneten und vieles andere.
Was aber sollte mit den 150 Kindern geschehen, die verwahrlost im Lager herumstrolchten oder gelangweilt bei ihren Müttern hockten? Unter den Acht- bis Zehnjährigen waren einige stark aggressiv und undiszipliniert. Sie hatten 1938 noch die Kristallnacht in Deutschland erlebt, hatten gesehen, wie ihre Väter abgeschleppt, Läden geplündert, Synagogen geschändet wurden. Sie kannten bisher nur Verfolger und die völlige Gesetzlosigkeit um sich herum.
Für die Kinder wurde durch die Lehrerinnen aus unserer Mitte ein regelmäßiger Unterricht begonnen. Wir stellten selbst einfache Lesebücher her, kauften Papier und Buntstifte, verwendeten Möwenfedern zum Malen.
Als führenden Kopf fanden wir eine weltbekannte Erzieherin, Minna Specht. Einst hatte sie mit Leonard Nelson den Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) gegründet. Über Dänemark war sie auf der Flucht nach Wales gelangt. Hatte dort eine Internationale Schule eröffnet, auf die auch viele Engländer ihre Kinder schickten. Aber da sie politische Emigrantin war, mit der Peace Pledge Union in Verbindung stand, erschien sie den Behörden verdächtig. Noch im Alter von sechzig Jahren steckte man sie mehrere Wochen ins Frauengefängnis von Manchester und internierte sie danach auf unserer Insel. Später, nach ihrer Entlassung, schrieb sie mehrere wichtige pädagogische Werke, von denen einzelne, über Nachkriegserziehung, auch in der BRD erschienen. Sie starb 1961 in Bremen.
Auch die Schwierigkeiten mit den gefährdeten Jugendlichen wurden mit Hilfe einer geschulten Sozialfürsorgerin verringert. So daß wir sogar darangehen konnten, es den Kindern zu erleichtern, sich nach dem Ende der Abschließung in die umgebende englische Gesellschaft einzuordnen. Entsprechende Einführungen schafften wir auch für Erwachsene: Sprach- und Literaturkurse, Unterricht in Geschichte, Biologie u. a. Das wurde noch erweitert durch die Bildung Von Theater- und Musikgruppen, durch verschiedenartige handwerkliche Ausbildung, durch die Lehre einer ans Englische angepaßten Einheitskurzschrift - und sogar durch Anleitung zu kosmetischer Praxis.
Eine der Frauen verstand es z. B., Gesichtscreme herzustellen. Sie braute sie über einer Spiritusflamme im Hotel und setzte sie an einen ständig wachsenden Kundenkreis ab. Allerdings besaßen nicht viele die erforderlichen Barmittel. Da erfanden wir ein Lagergeld, das nur im Innenverkehr verwendbar war. Alle Dienstleistungen wurden damit bezahlt. Wer wusch, wer kochte, wer schneiderte, wer strickte, wer frisierte, wer lehrte, wer schauspielerte - jeder erhielt entsprechend einer von uns ausgerechneten Bewertungs-Skala einige dieser Gutscheine für seine Leistung. Damit konnte er wieder andere Dienste honorieren, vermochte sich sogar Kaffee und Kuchen in einem von uns eröffneten Café zu gönnen.
Eine junge Frau strickte deutsche Trachtenjacken. Eine andere bastelte aus Muscheln Halsketten. Eine dritte sammelte Algen als Düngemittel. Wieder eine brachte Treibholz herein. All das wurde durch eine zentrale Dienststelle an die Bewohner der Insel verkauft. Selbst ein Schwein und seine Jungen konnten wir dank der Abfälle aus unseren Hotels aufziehen. Lief dann Bargeld ein, so kauften wir neue Rohmaterialien.
Das Verlangen nach Männern
Auf der Insel befand sich außer dem Lager der Frauen, weit von diesem entfernt, das der Männer. Eine Verständigung brauchte viel Zeit. Denn jeder Brief - zweiwöchentlich, mit höchstens je 24 Zeilen waren gestattet - ging per Schiff zum Zensor nach Liverpool und dann erst wieder auf die Insel zurück.
Am 26. Juli 1940 durften sich Eheleute einmal kurz wiedersehen. Und dies unter einem uns vorgetäuschten Blickpunkt: Umsiedlung. Wir sollten eine Auswanderung nach Australien vorbereiten. Dort würden wir auch wieder frei unseren alten Berufen nachgehen können. In Wahrheit wollte man uns aus dem einen Lager in ein entfernteres verpflanzen: Wir sollten uns freiwillig deportieren lassen. Unsere Aussprache darüber mit den Männern war kurz. Es wurde ein Sich-Sehen. Zum Austauschen von Zärtlichkeiten blieb keine Zeit.
Als wir später von unserer Kommandantin eine sichere Zusage verlangten, daß wir auf dem fünften Erdteil tatsächlich frei sein würden, da antwortete sie nur mit einer Verwarnung, unsere Gefährtinnen nicht aufzuwiegeln. Am Schluß ist dann keine einzige von uns verschickt worden. Mit den Männern allerdings verfuhr man härter. Annähernd 8000 mußten die Fahrt nach Kanada oder Australien antreten, oft unter Druck oder gegen falsche Versprechungen. Und in der anderen Hemisphäre wurden sie noch länger im Lager festgehalten als wir Inselbewohner.
Das Leben ganz ohne Männer - es fiel den meisten Frauen sehr schwer. So war es nur natürlich, daß sich lesbische Beziehungen entwickelten und Paare lagen oft Arm in Arm am Strand. Jedoch in den meisten Fällen handelte es sich um Frauen-Freundschaften, die dann die Nachkriegszeit überdauerten.
Manche Mädchen hatten sich mit Männern aus dem Dorf eingelassen. Auch mit Lieferanten. Der Schlächter oder der Bäcker wurden von den Wirtinnen zu einer Tasse Tee eingeladen und die Mädchen auch. Das übrige ging uns nichts an.
Die Fischersleute flickten tagsüber am Strand ihre Netze, die danach in Schuppen aufbewahrt wurden. Manches Mädchen verschwand dann ebenfalls einige Zeit in solchen Schuppen. Und bei uns im Lager selbst, wo doch junge Burschen bis zum 16. Lebensjahr bei den Müttern gelassen wurden, sollen nicht wenige von diesen ihre Unschuld verloren haben.
Die meisten der 4500 Mädchen oder Frauen hatten auf dem Kontinent Schlimmes durchgemacht. Als Masse konnten sie zuweilen rücksichtslos oder hysterisch erscheinen. Als einzelne jedoch waren sie empfindsam und aufopferungsbereit. Die Jüngeren, mit Kindertransporten in englischen Heimen untergebracht, wurden völlig sinnlos nach Vollendung des fünfzehnten Lebensjahres dort herausgerissen und ins Lager gesteckt. Als ich z. B. eine von ihnen kennenlernte, hatte sie noch nicht einmal geahnt, daß sie als einzige von einer zwölfköpfigen Familie übrigbleiben würde.
Wir sind nicht verbittert
Inzwischen hatten sich im britischen Parlament die Anfragen gehäuft, warum man die Gegner Hitlers hinter Stacheldraht verwahre. Ende August 1940 wurde beschlossen, sowohl die wissenschaftlich oder kulturell Bedeutsamen unter ihnen als auch einwandfrei Naziverfolgte und solche, die in Deutschland oder Spanien gegen den Faschismus gekämpft hatten, freizulassen. Ein Tribunal unter Sir Cecil Hurst sollte jeden einzelnen Fall untersuchen.
Daraufhin nahm ab 1941 die Zahl der Entlassungen schnell zu. Wir hatten inzwischen einzusehen versucht: Die Tatsache, daß die Nazis einen Überfall auf England vorbereiteten und dafür mit Spionen in Verbindung standen, hatte die Briten zu den überstürzten, unvernünftigen Massen-Internierungen und Verschickungen getrieben. Diese waren grausam gewesen und hatten manche Tragödie zur Folge gehabt. Aber als einen Akt des Selbstschutzes mußten wir sie unserem Wirtsvolk zugute halten.
Eine junge Internierte, die vorher bereits drei Jahre in deutschen Haftanstalten erduldet hatte, war erst spät, im Jahre 1941, vor das Entlastungs-Tribunal gerufen worden. Man brachte sie nach London, wo sie wieder in einem Frauengefängnis auf das Verhör warten mußte. Sie schreibt:
» ... Meine schlimmste Erinnerung war der Moment, als ich von neuem in eine Zelle gesperrt wurde. Aber mein glücklichster Augenblick war, als mir Sir Cecil Hurst am Ende des Verhörs sagte: >I apologize for the trouble we caused you. I hope it will not embitter you against this country...[4]
Nein, wir sind nicht gegen England verbittert.