Liebe Gisela,
vielen Dank für Deinen Brief. Ob ich auch Deine Aufforderung zur Mitarbeit an dem geplanten Frauenbuch in meinen Dank mit einbeziehen soll, bin ich allerdings nicht ganz sicher. Hast Du mir damit nicht vielmehr ein dickes Kuckucksei in mein so schön ruhiges Daseinsnest gelegt?! Wie kamst Du zu dem Titel: »Die Garbo für die Seele, die Dietrich für den Bauch«?! So haben wir tatsächlich damals »gelästert«. Wir, die Junioren, die Grünschnäbel, seinerzeit Anfang der dreißiger Jahre. Als ich gerade aus der Penne gekommen war und Lalla G. kennenlernte, eine jüdische Russin aus gutem Stall. Der Bruder war Professor an der Sorbonne in Paris. Sie wohnte bei den Eltern, ihr Zimmer war total schwarz tapeziert, und die honigfarbenen Biedermeiermöbel hoben sich sehr effektvoll davon ab. Lalla hatte - neben ihrem Studium der Individual-Psychologie (nach Adler) -einige Zeit in einer Berliner Fabrik gearbeitet, um das Arbeiter-Milieu ohne Tünche kennenzulernen, und war davon so stark tangiert, daß sie gleichzeitig auch »ehrenamtlich« die Rote Fahne auf der Straße ausrief und verkaufte. Das alles imponierte mir damals beträchtlich.
Lalla litt sehr unter der unglücklichen Liebe zu einer verheirateten Frau. Nun platzte auch ich nicht gerade vor Glück aus allen Nähten, und so besuchten wir eines Abends, um uns einmal »umzusehen«, eine sogenannte geschlossene Veranstaltung des Clubs Sonne, in dem sich ausschließlich Damen jeden Alters und jeder Schicht tummelten und fleißig das Tanzbein schwangen.
Diese Veranstaltung fand in den Räumen eines Logenhauses in Wilmersdorf statt. Jede Besucherin mußte sich ausweisen. Wir beide taten das mit unserem Schülerfahrausweis für die BVG (Berliner Verkehrsgesellschaft). Prompt fand auch eine der damals sehr gefürchteten Razzien durch die Kripo statt.
Es gelang uns, unbehelligt zu verschwinden, nicht ohne daß uns der Schreck darüber für einige Zeit ganz schön in den Knochen steckte. Zudem hatten wir die ganze Fete sowieso als ziemlich deprimierend empfunden, denn es waren dort in der Majorität solche »Krawalltypen« vertreten, daß einem alle Illusionen vergehen konnten. Für lange Zeit hatten wir die Nase voll von derartigen Abenteuern.
Jahre später hörte ich, daß bei solchen Razzien die Damen lastwagenweise zum Alexanderplatz (Polizeipräsidium) zum Verhör gebracht worden waren. Wahrend des Krieges wurde eine Freundin von mir, die auch seinerzeit am Alexanderplatz verhört worden war, von der Gestapo zu einer Vernehmung geladen und ausgequetscht, wie und warum sie zu ihrer Veranlagung gekommen sei. Und als man dann auch noch von ihr wissen wollte, auf welche Weise genau sie es denn treibe, verweigerte sie die Aussage. War aber jedenfalls danach sehr irritiert und verängstigt, zumal ein uns privat bekannter Kriminalkommissar erzählte, daß man Homosexuelle (weibliche und männliche) in sogenannte Umerziehungslager stecken würde. Konkretes hat man jedoch nie erfahren. Und so könnte man wie Großmutter aus dem Nähkästchen sagen: »Ja, so war das damals.« Im Rückspiegel besehen und im Vergleich zu heute muß ich gestehen, daß meine Generation (und natürlich auch die vorangegangenen) sich absolut angepaßt verhalten hat, was wegen der vorherrschenden »Moral« und dem Mangel an Verständnisbereitschaft und Toleranz auch gar nicht anders möglich war, wenn man nicht wie ein outcast verachtet oder zumindest bemitleidet werden wollte. Zum Kriegsende 1945 sagte mir einmal jemand nach einem Blick in meine Handlinien ziemlich indigniert: »Mein Gott, Sie führen ja ein Doppelleben!« Nach kurzem Überlegen mußte ich (innerlich) zustimmen. Ich führte tatsächlich eine Art von Doppelleben.
Da die Umwelt belogen werden wollte, erzählte ich zu Hause und im Verwandtenkreise Geschichten von Männerfreunden, auf die ich die Persönlichkeiten meiner Freundinnen umtransponierte. Ich zeigte beispielsweise Fotos des Bruders einer Freundin, mit dem ich angeblich zusammenlebte und den ich dann einige Zeit später in den Krieg schickte, d. h. ich ließ ihn einberufen werden.
Gegen Mitte des Krieges war ich nämlich von zu Hause weggezogen zu einer Freundin, ohne anzugeben, wohin. Da ich aber immer noch jeden Tag zum Essen kam, den Kontakt also nicht aufgegeben hatte, lediglich das heimatliche Bett, sagte ich nur, daß meine neue Adresse eigentlich ganz uninteressant für die Familie sei. Wir sahen uns ja täglich. Erstaunlicherweise wurde dies ohne großen Protest akzeptiert.
Als ich dann einige Zeit später den angeblichen Freund an die Front eilen ließ, zog ich, wie ich nun berichtete, zu seiner Schwester. Und zwar weil diese aus Furcht vor der zwangsweisen Einquartierung von Ausgebombten mich gebeten hätte, zu ihr zu ziehen. So war also mein »Auszug aus dem Elternhaus« legalisiert.
Auf Verständnis konnte ich in meiner Familie jedenfalls nicht hoffen. Ein Straferlebnis in meiner Kindheit hatte mich bereits - um es dramatisch auszudrücken - seelisch tätowiert. In kindlichem Überschwang mit etwa 10 Jahren hatte ich einmal einem etwa gleichaltrigen Mädchen aus unserem Bekanntenkreis anvertraut, daß ich eine junge Frau aus unserem Haus, die ich sehr anschwärmte, lieber habe als meine (etwas strenge) Mutter. Sie, diese junge Frau, nahm Gesangsunterricht, und wann immer ich ihr zuhören durfte, fühlte ich, wie Wonne und Verzückung, ausgelöst durch das seidig-warme Timbre ihres schönen Mezzosoprans, mich erfaßten. Sie mochte auch mich sehr gern und streichelte oft zärtlich mein Gesicht.
Beim nächsten sonntäglichen Frühschoppen informierte der Vater des Mädchens, das mein Geheimnis nicht hatte hüten können, meinen Vater über dieses »schlimme« Geständnis. Beim Heimkommen vollzog mein Vater noch schnell vor dem Sonntagsbraten sein Strafgericht an mir. In Gegenwart meiner stillschweigend zusehenden Mutter wurde ich mit Eisenklammergriff am Genick gepackt und geschüttelt, daß ich fast das Bewußtsein verlor, und dann donnerten die Schläge auf mich herab, mit der musikalischen Untermalung seines Gebrülls, ob ich mich denn überhaupt nicht schäme. Ich habe das nie vergessen, weder den Verrat noch die Strafe.
Intoleranz konnte aber auch in anderer Form unerträglich bzw. bedrohlich sein. Die Mutter einer Freundin fand eines Tages - es war kurz vor Kriegsausbruch - einen recht harmlosen Brief von mir, aus dem aber immerhin die Art meiner Gefühle hervorging. Ein trotzdem »infantiler Erguß« im Vergleich zu ähnlichen Stilübungen der Jetztzeit. Schäumend vor moralischer Entrüstung war die Dame danach bei meiner Mutter aufgekreuzt, hatte mit einer Klage bei Gericht gedroht, weil ich ihre (6 Jahre ältere!) Tochter verführt hätte, die Beweise dafür seien in ihrer Hand. Ha!!!
Meine Mutter, wenn auch etwas verstört, wies die Dame aus der Wohnung mit dem Bemerken, ich sei mündig und trage für mich selbst die Verantwortung. Und außerdem glaube sie ihr kein Wort. Peng!
Nun Komma - ein Prozeß fand nicht statt. Dafür erfuhr ich kurze Zeit später von einem unserer Chefdirektoren, daß Frau Sowieso bei ihm angerufen und meine sofortige Entlassung verlangt habe aus den vorgenannten Gründen. Zu meinem Glück war dieser Chef mir sehr gewogen, sprich: an mir interessiert.
Als ich es ablehnte, mit ihm zu schlafen, weil ich mir leider nichts aus Männern mache und alle bisherigen Versuche mit einer Pleite für alle Beteiligten geendet seien, meinte er mit der so typisch männlichen Selbstüberschätzung, den Beweis dafür könnte ich ihm nur im Bett liefern. Sinnigerweise hatte er mir zuvor einmal (fast stolz) von der erfolgreichen Behandlung seiner Paralyse im Tertiärstadium einer Lues erzählt. Wie delikat. Ich lehnte die erbetene Beweisführung ab und wurde trotzdem nicht entlassen.
Nun begann aber eine Art von Verfolgung. Wir, diese Freundin und ich, arbeiteten gemeinsam in einem großen Geschäftshaus in der Nähe des Brandenburger Tors im Tiergarten. Das Haus hatte glücklicherweise zwei Ausgänge, jeder führte auf eine andere Straße. Ich lief beispielsweise aus dem Hinterausgang zur übernächsten Bus-Haltestelle, um dort einzusteigen. Während meine Freundin vom vorderen Ausgang zur nächstfolgenden Haltestelle ging und dort zustieg. Auf diese Weise konnten wir wenigstens eine kleine Fahrstrecke beisammen sein. Sie mußte früher aussteigen, ich fuhr allein weiter.
Beide wohnten wir ja noch zu Hause, und unsere gelegentlichen abendlichen Verabredungen, bei denen wir meistens nur durch die Gegend spazierten, wurden laufend beobachtet. Morgens zählte ihre Mutter triumphierend alle Straßen auf, durch die wir gegangen waren. Es war enervierend und deprimierend zugleich. Man war so hilflos allem ausgeliefert. Auf die Dauer konnten wir der Zermürbung nicht standhalten, die Freundschaft zerbrach.
Noch ein Stück Kindheit also. Oder sagen wir konkreter: ich war etwa 17, als ich mich ganz doll verknallte in eine Freundin meiner Cousine. Sie war 13 Jahre älter als ich. Meine Cousine, der ich mich damals übervollen Herzens anvertraute, meinte dazu, daß sie mich gut begreifen könne, daß aber sonst wohl niemand dafür Verständnis haben würde. Liebe zwischen Frauen werde von der Gesellschaft abgelehnt, werde verdammt und gelte als lasterhaft. Ich begriff das überhaupt nicht! Reiner als meine Liebe konnte doch überhaupt nichts sein, noch dazu im Vergleich zu sogenannten »normalen« Beziehungen zwischen Mann und Frau, die ich als schweinisch empfand und die mich abstießen. Ich war also anfangs sehr glücklich in meiner Liebe zu Vera, die mich mit großem Verantwortungsgefühl wie ein Kind behandelte. Ich ahnte in völliger Unschuld nicht, mit welchem Aufwand an Selbstbeherrschung ihr Verhalten verbunden war. Wir verbrachten zauberhafte, gemütliche Abende miteinander, an denen sie mir aus ihren Lieblingsbüchern vorlas und wir Musik hörten. Es waren Stunden, in denen ich restlos glücklich war. Offenbar war ich ein totaler Spätentwickler, jedenfalls kam der Gedanke an etwaige »physische Bedürfnisse« überhaupt nicht in mir auf.
Und dann kam Silvester, das mit einem kleinen Kreis von Freunden bei ihr gefeiert werden sollte. Um dabeisein zu können, hatte ich zu Hause angegeben, ich sei mit meiner Schulfreundin Ekus, die an der Heerstraße wohnte, und mit mehreren uns bekannten Jungens in einer Wohnung am damaligen Reichskanzlerplatz verabredet und werde, da es zum Heimfahren zu spät sein würde, bei Ekus übernachten.
Als ich am Neujahrstag nun etwas angemüdet, aber fröhlich nach Hause kam, fand ich nur einen Zettel vor, mit dem alarmierenden Wortlaut »Wir sind auf der Suche nach Dir«. Hilfe! Mir fuhr der Schreck in alle Glieder. Aber ich war zu müde und ging sofort zu Bett, mich auf Ekus verlassend, die ja in alles eingeweiht war und der schon die richtige Ausrede einfallen würde. Ich sei gerade nach Haus gegangen und so. Etwas später wurde ich mit heftigen Schlägen aus dem Schlaf gerissen, Mutter und Großmutter trommelten wie wild auf mir herum und schrien »wo bist du gewesen, was hast du gemacht?!« Sie waren vor dem Haus mit Ekus' Eltern zusammengetroffen, und alles war herausgekommen, nur nicht, wo ich tatsächlich die Silvesternacht verbracht hatte. Nachdem sie meine Beichte endlich herausgeprügelt hatte, raste meine Mutter schnurstracks zu meiner Cousine, um dort weitere Aufklärung zu verlangen. Der Armen blieb nun nichts weiter übrig als zuzugeben, daß ich V. durch sie kennengelernt habe, worauf Onkel und Tante ihren Senf mit der Feststellung dazugaben: »Bei der spielt deine Tochter nur den Bubi.« Entzückend! Ich ahnte gar nicht, was das bedeutete.
Auf offener Karte! schrieb meine Mutter darauf an V., daß sie ihr den weiteren Umgang mit mir verbiete und nötigenfalls die Fürsorge einschalten würde. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt als erzieherische Autorität nicht mehr vorhanden, aber darüber später.
Ich mußte meinen Hausschlüssel abgeben und durfte nicht später als 8 Uhr abends nach Hause kommen. Irgendwann einmal hatte ich mich beim Arzt verspätet und kam erst nach 8 Uhr ins traute Heim. Da war meine Mutter bereits unterwegs zu V. Übrigens hatte sich mein Onkel erboten, das Haus, in dem sie wohnte, zu überwachen, falls ich dort auftauchen sollte. Ich weiß nicht, ob er es tatsächlich getan hat, vielleicht war es nur eine Drohung.
Gelegentlich schrieb ich kleine Gedichte, lyrische »Gesänge an V.«. Meine Mutter fand sie und ich litt natürlich unter dem Zynismus, mit dem sie sie mir vorzitierte. So fand ich heraus, daß meine Handtasche laufend kontrolliert wurde. Und jeden Morgen, gleich beim Aufwachen, bearbeitete mich meine Mutter, ich solle mich freiwillig beim Arbeitsdienst melden, sonst müsse sie es für mich tun. Ich weigerte mich standhaft, und schließlich gab sie es auf. Es war eine ziemliche Höllenzeit, dieser Abschnitt meiner Jugend. Hinzu kommt, daß mein Vater seit meinem 15. Lebensjahr mit einer plötzlich aufgetretenen, unheilbaren Geisteskrankheit in verschiedenen Anstalten war, ein für mich in diesem Alter tief deprimierendes Faktum. Schon aus diesem Grunde war ich ein ziemliches Nervenbündel. Außerdem befand ich mich zu dem Zeitpunkt, als die Schwierigkeiten mit meiner Mutter eskalierten, in der kaufmännischen Lehre und hatte zwei ausgesprochen inhumane Chefinnen, Mutter und Tochter. Letztere schwer hysterisch nach Ehescheidung, und die Mutter eiskalt und herrisch. Kurz und gut, eines Tages bestellten sie meine Mutter zu einem Gespräch, in dessen Verlauf sie ihr erklärten, daß ich untauglich für diesen Beruf sei und daß mir wohl nichts anderes übrigbliebe, als allenfalls als Verkäuferin zu arbeiten. Mehr sei bei mir an Intelligenz und Arbeitsfähigkeit nicht drin. Das Resultat dieser Unterredung war, daß meine Mutter total durchdrehte und ihre Aufregung und Ratlosigkeit auf mich ablud und mich voller Verzweiflung fragte, was nun aus mir werden sollte. Was hatte ich dem entgegenzusetzen?! Mich überschlich die Überzeugung, daß ich offensichtlich zu nichts nutze sei und doch wohl am besten ohne viel Aufsehen aus dem Leben verschwände. Ich wußte nur nicht genau, wie. Und so brach denn eine vollerblühte Neurasthenie bei mir aus, mit einem Tremor an den Händen, daß ich weder Messer noch Gabel halten konnte und beim Essen echte Schwierigkeiten hatte. Nun ja, ein verständnisvoller jüdischer Arzt half mir mit etlichen Injektionen eines Nerventonikums wieder auf die Beine. Gleichzeitig verordnete er aber sofortigen Urlaub. Er sah, daß Tapetenwechsel dringend notwendig war. Beides zusammen tat dann seine gute Wirkung. Bald danach bin ich aus der Lehre ausgestiegen, weil die Chefinnen im 3. Lehrjahr das vertraglich vereinbarte Gehalt angeblich nicht zahlen konnten. Durch Privatbeziehung hatte ich jedoch eine Sekretärinstellung gefunden mit mehr Gehalt und in angenehmer Atmosphäre. Plötzlich hatten die Dinge wieder ein gesundes Gesicht. Ich konnte also doch etwas leisten, siehe da, war also gar keine Niete. Meine Mutter hatte sich auch wieder gefangen und zeigte nun äußerste Großzügigkeit.
Ich hatte in diesem Urlaub einen Mann kennengelernt, der mein Vater hätte sein können und der wie ein Bernhardiner hinter mir herlief. Das heißt, er fuhr, und zwar einen großen Mercedes. Auch damals schon ein Status-Symbol. Er war Holzmakler und kaufte ganze Wälder auf. Und bei einem solchen Kaufgespräch mit dem Förster mitten im schönsten Wald in Mecklenburg hatte ich ihn kennengelernt. Mit ihm also durfte ich ausgehen bis spät in die Nacht, das machte gar nichts. Und das nutzte ich nun aus, indem ich meine Verabredungen mit V. mit ihm verband. Das bedeutete, daß ich beim Abendessen in einem schicken Restaurant plötzlich zu ihr gefahren zu werden wünschte. Mein Bernhardiner zahlte knurrend und fuhr. Dann wartete er brav im Wagen vor ihrem Haus und war oft längst eingeschlafen, wenn ich wieder ins Auto stieg und verlangte, nach Hause gefahren zu werden.
Natürlich war er verheiratet und der typisch unverstandene Mann, der ausgerechnet bei mir glücklich werden wollte. Sein Wunschtraum war, daß ich aufhörte zu arbeiten, um nur für ihn dazusein. In einer Wohnung, die er für mich mieten wollte. Klein-Frauchen, das hübsch im Käfig hockt, bis Lieb-Herrchen wiederkommt. Er hat ziemlich lange gebraucht, um zu begreifen, daß er - jedenfalls für mich - ein absoluter Spinner war. Schlicht und einfach ausgedrückt: ein Trottel. Aber ich bin sicher, hätte ich mit ihm geschlafen und ein Kind bekommen, meine Mutter hätte es toleriert. Unmoralisch wäre es in ihren Augen jedenfalls nicht gewesen. Toleranz gegenüber dem eigenen Kind sollte, so meine ich, etwas grundsätzlich Allumfassendes sein und nicht nur mit Einschränkung geübt werden.
Anschließend muß jedoch festgestellt werden, daß im Laufe der Zeiten die Ressentiments abgebaut werden konnten. Zunächst durch die immer weitergehende räumliche Distanzierung. Mein Auszug während des Krieges und dann der endgültige Weggang von Berlin nach der Blockade. Und schließlich gab eine entfernte Verwandte, mit der sowohl
meine Mutter als auch ich befreundet sind, vor wenigen Jahren einmal das Eingeständnis meiner Mutter ihr gegenüber an mich weiter, daß sie inzwischen erkannt habe, wie falsch sie mich behandelt hat, und wie sehr sie das bedauere. Früher nannten wir, meine Freunde und ich, wenn wir von meiner Mutter sprachen, sie ironisierend »die sanfte Taube« wegen ihrer heftigen Ausbrüche. Später ist sie es tatsächlich geworden, ist es noch heute. Lieb um mich besorgt, ohne jede Penetranz und ohne jemals aufdringlich zu sein, nicht neugierig, nicht taktlos, nichts, was einem irgendwie auf die Nerven gehen könnte. Ein extrem verwandelter Mensch. Zugegeben, die Eisbarrieren in meinem Herzen schmolzen. Eine letzte Gefühlsschranke im Herzen meines Herzens ist geblieben.
Deine Miro
Liebe Gisela,
hab vielen Dank für Deinen Brief. Du meinst also, ich sollte weiterschreiben, auch über meine freiberufliche Tätigkeit in der Nachkriegszeit.
Ja weißt Du, das war doch am Anfang eine recht mühsame und ertragslose Angelegenheit. Mit der abgedroschenen Platitüde gesagt: Ich bin dazu gekommen wie die Jungfrau zum Kind. Ich hatte nie im Traum daran gedacht, einen derartigen Job mir weder gewünscht noch gesucht, als eines Tages eine Freundin (sie war Steptänzerin) zu mir sagte: »In unserem Programm tritt ein duftes Gesangs-Ensemble auf, die suchen dringend Ersatz für eine Sängerin, die demnächst aussteigt. Ich könnte mir sehr gut vorstellen, daß Du das bringst, stimmlich und visuell. Komm doch mal in die Vorstellung und schau Dir das an.« Ich war zunächst ganz Ablehnung: »Was soll denn das - auf der Bühne - ich doch nicht - nein, kommt überhaupt nicht in Frage!«
Als ich mir »die Truppe« dann doch ansah und anhörte, fand ich das Ganze plötzlich recht reizvoll. Und schwer schien es auch nicht zu sein. Alles rollte so mühelos und leicht vor meinen Augen und Ohren ab. Und in Musik hatte ich doch immer eine Eins gehabt. O infantile Unterschätzung! Jedenfalls sprach ich nach der Vorstellung mit dem Leiter des Quartetts. Er war der Pianist, Arrangeur und Manager. Und nannte sich Kapellmeister. Wir verabredeten eine Gesangsprobe, meine Stimme gefiel ihm, und er gab mir einen Gesangspart mit, zum Lernen für die nächste Probe, bei der dann der ganze »Verein« zusammenkam. Ich sang mit zugeknöpften Ohren, krampfhaft und stur auf meine Noten konzentriert. Es schien zu klappen, ich war engagiert.
Ich gab meine bisherige Stellung auf und war nun Künstlerin, d.h. Sängerin, haha! Das hieß nun Proben, Proben und abermals Proben. Täglich viele Stunden, ohne eine müde Mark zu verdienen. Auf dem Schwarzen Markt wurde so manches wertvolle Stück verkloppt, um »überwintern« zu können. Miete mußte schließlich auch gezahlt werden. Inzwischen war ich stolzer Mieter eines Appartements geworden. Eine Kostbarkeit im damaligen Berlin. Nach einem halben Jahr endlich hatten wir ein Engagement in einer Art Variete-Theater, ziemlich weit draußen in Tempelhof, wo es noch fast dörflich war. Dort entdeckte uns ein leitender Musiker vom Funk, der von den Harmonien bzw. Akkorden, die wir sangen, ziemlich hingerissen war. Denn die Nummern (man sagte nicht »Schlager«), die wir sangen, waren im besten amerikanischen Stil arrangiert. Dieser Musiker also, der uns dort entdeckt hatte, veranlaßte die damalige Programmdirektorin des Funks, in eine unserer Vorstellungen zu kommen. Auch sie war sehr angetan von uns, und so kamen wir Anfang 1947 zu einem Produktionsvertrag mit jeweils 3 Titeln (3 Tonbandaufnahmen) für jeden Monat. Die ersten ersungenen Kohlen rollten! Aber was für kleine Briketts waren das noch! Vor allem, wenn man bedenkt, daß unser Manager 40% der Gage für sich beanspruchte und für jede von uns somit 15% blieben. »Abkochen« nennt man das in der Branche. Aber was war dagegen zu tun? Er war der Boß, und wir waren die von ihm Abhängigen. Und das spielte er auch aus. Wir hatten keinen schriftlichen Vertrag mit ihm. Es dauerte Jahre, bis er sich dazu bereit fand. Inzwischen stiegen immer wieder Quartettmitglieder aus, teils weil sie stimmlich nicht genügten, d. h. nicht »sauber« singen konnten, teils weil sie selber aus anderen Gründen nicht mehr mochten. Wir hatten also damals eine ziemlich lebhafte Fluktuation. Und so sagte er mir eines Tages unter vier Augen, er wolle mir, da ich inzwischen am längsten dabei war, mehr Prozent Gage zahlen, aber das müßte unter uns bleiben. Ich lehnte das aus Kollegialität und Fairneß den anderen gegenüber ab.
Nun ja, so lief der Laden weiter, und wir wurden langsam populär. Aber egal, ob wir nun beispielsweise beim Funk in Sendungen mitwirkten, bei denen andere Pianisten bzw. Arrangeure mit uns probten und aufnahmen, »der Alte«, wie wir ihn - und dies nicht aus Liebe! - nannten, kassierte seine 40%, die er effektiv im Schlaf verdiente, während wir die ganze Nacht vor dem Mikrophon zubrachten. Musikerkollegen, auch prominente Bandleader, fanden das skandalös, ja sittenwidrig, aber was sollten wir machen? Warum habt Ihr Euch das gefallen lassen, wirst Du fragen. Das ist einfach zu beantworten: Weil es keine Einigkeit unter uns gab, kein solidarisches Zusammenhalten. Sie waren zwar genauso unzufrieden wie ich und empört, wagten ihm gegenüber aber nicht den Mund aufzumachen. Ich versuchte, gegen ihn zu kämpfen, forderte eine gerechte prozentuale Verteilung der Honorare, vor allem auch Einblick in die Vertragsabschlüsse. Natürlich lehnte er ab und revanchierte sich, indem er mich bei den Proben schikanierte. Das heißt, er versuchte mich stimmlich zu verunsichern, fertigzumachen. Das mußt Du Dir vorstellen wie Drill auf dem Kasernenhof, wo der Spieß den Rekruten umher jagen kann, um ihn vor der Truppe der Lächerlichkeit preiszugeben. Ich weinte nie, diesen Triumph versagte ich ihm, aber meine Stimme verhärtete sich, verkrampfte sich in dem Bemühen, sauber und rhythmisch richtig zu singen. Wie schon gesagt, bekamen wir niemals einen Vertrag mit Dritten (Produzenten von Film oder Schallplatte, Theater oder Rundfunksender) oder eine Abrechnung zu sehen, woraus die Höhe unseres Gesamthonorars ersichtlich gewesen wäre. Und da passierte bei Playback-Aufnahmen für einen Film mit Fita Benkhoff u. a. in Hamburg folgendes: Wir waren mit dem Zug aus Köln gekommen, wo wir seit einer Woche Schallplatten-Produktion gemacht hatten und anschließend (ohne ihn) im Sender noch Aufnahmen für ein Lustspiel, also sozusagen nonstop »im Einsatz« gewesen waren. So kamen wir gegen 23 Uhr in der Musikhalle in Hamburg an, bekamen die Noten für die Nummern, die Takeweise [5] aufgenommen werden sollten. Man hatte auf uns gewartet, es sollte sofort geprobt und dann mit den Aufnahmen begonnen werden.
Unten im Parkett saß die Konkurrenz (ortsansässig), die es, wie es hieß, nicht geschafft hatte und die nun auf unseren »Einbruch« wartete. Wir probten ca. 15 Minuten am Flügel, anschließend mit dem Orchester. Dann begannen die Aufnahmen, Take für Take. Alles lief bestens, es flutschte nur so. Gegen Morgen war alles gelaufen. Der Produzent war sehr zufrieden, alle waren zufrieden, und wir wurden gefragt, wer denn nun das Honorar kassiere. Das tat ich und war - wenn auch mit Pokerface wie ein Profi - doch sehr überrascht, als einige Hundert Mark mehr ausgezahlt wurden, als der Alte uns gesagt hatte. Betrug! Da hatten wir ihn nun endlich! Helle Empörung auf allen vier Seiten. Ich schlug vor, daß wir ihn diesmal in die Falle rennen lassen sollten. Wir würden auf der Basis des von ihm angegebenen Betrages mit ihm abrechnen und dann ja sehen, wie er reagiert.
Aber es lief alles anders. Er kam uns bei dem nächsten Aufnahmetermin im Sender in Berlin feixend entgegen und sprach von einer inzwischen erfolgten Gagenerhöhung - wie erfreulich doch für uns alle. Was blieb außer großem Erstaunen zu sagen? Es gab also eine undichte Stelle im »Klangkörper«. Er war schon gewarnt worden.
Du siehst, Solidarität unter Frauen, vielleicht aber auch unter Männern? gegenüber dem Geldgeber, dem Vorgesetzten, was immer er darstellen mag, ist eine Illusion. Vielleicht kannst Du Dir vorstellen, daß die Schikanen sich gegen mich verstärkten. Ja, ich erfuhr auch so quasi »hintenrum«, daß er fieberhaft nach einem Ersatz für mich suchte. Warum bist Du nicht ausgestiegen, wirst Du wohl fragen. Da mußt Du die damalige wirtschaftliche Situation der vierziger und fünfziger Jahre in Berlin berücksichtigen, die äußerst prekär war. Die meisten meiner Freunde (vorwiegend Intellektuelle und Künstler) lebten von der Arbeitslosen- bzw. Wohlfahrts-Unterstützung. Dagegen war ich fast so was wie ein Großverdiener. Wenn auch dieses Geld nicht leicht verdient war, oft mit Tag- und Nachtarbeit, anfangs unter Verzicht auf Sonn- und Feiertage. Oft beneidete ich die »normalen Bürger« um ihr geregeltes Leben, Arbeiten von... bis..., sonntags frei (sonnabends wurde zwar noch überall gearbeitet). Aber sie wußten doch, wann sie »frei« waren. Und ganz gern wäre ich wieder umgestiegen in meinen alten Beruf, wenn sich nur eine Möglichkeit ergeben hätte.
Denn das Milieu in meinem »Gesangverein« kotzte mich allmählich immer mehr an. Lichtblicke brachten nur die Stunden, in denen man mit anderen Kollegen bei der Arbeit zusammentraf. Und ich habe unendlich viele und namhafte Kollegen kennen- und schätzengelernt. Die meisten reizend, und auch die Prominenten ohne Arroganz und Starallüre. Und da sich alles auf einem gepflegten Niveau abspielte, empfand ich diese Begegnungen als wohltuend und interessant. Ja, ich genoß es!!
Bei uns dagegen: kleinkarierte Gespräche,primitives Gequatsche über Bettgeschichten der einzelnen Kolleginnen mit Musikern aus den diversen Tanzorchestern und Bands, Austausch von Erfahrungen mit Detailschilderungen, Begutachtung der Potenz der jeweils genossenen Herren etc., was halt so dominierte in den Köpfen der Damen. Und was hatte ich dem entgegenzusetzen? Ich hatte nichts zu bieten an ähnlichen Erfolgserlebnisschilderungen. Keine Affären, keine Herren? Was war denn los mit mir?!
Und so wurde mir allmählich eine gewisse Negativ-Relevanz zuteil. Aber dazu muß ich im Kalender einige Zeit zurückblättern.
Kurze Zeit vor meinem Einstieg in die Gesangsszene lernte ich einen Mann kennen, der gleich mir sehr interessiert war an klassischer Musik. Er gehörte zu der Spezies von Konzertgängern, die mit der Partitur in der Hand die dargebotenen Orchesterklänge Note für Note verfolgen. Er brachte mir viele Schallplatten, die damals wieder neu erschienen. Sinfonien von Tschaikowsky, das Klavierkonzert in b-Moll, das ich so liebe etc. etc.
Leider hatte er sich in mich verliebt. Er besuchte mich oft, wurde dann fast hysterisch eifersüchtig wegen anderer Besucher, egal ob weiblich oder männlich. Einmal debattierten wir bis tief in die Nacht hinein, bis er mich weinend verließ, als ich ihm verständlich zu machen versuchte, daß eine Beziehung, wie er sie sich wünschte, für mich nicht möglich sei. Am nächsten Tag erschien er wieder mit einer Platte der Arie aus Rigoletto »Holdes Mädchen, sieh mein Leiden«! O Gott, es war so peinlich wie lächerlich und traurig. Ich begann, mich behutsam zurückzuziehen.
Monate später traf ich ihn zufällig auf dem Kurfürstendamm und erzählte ihm, daß ich jetzt in einem Gesangsquartett sei und, welch Glück!, die Lebensmittelkarte I bekäme. Die Lebensmittelkarte I war nämlich in dieser Nachkriegs-Elendszeit fast wie ein kleines Großes Los. Man bekam dafür beträchtlich mehr an Fleisch, Butter usw. In meiner Naivität hatte ich nicht vorausgesehen, wie sehr er sich giftete: »Das ist ja unglaublich, für eine solche Schmarrenmusik eine derartige Bevorzugung!« Mit wutverzerrtem Gesicht verabschiedete er sich.
Und ausgerechnet auf diesen Mann - er war inzwischen Produzent bei einer großen Schallplattenfirma in Berlin -stieß unser Manager bei seiner Anfrage, ob man an Aufnahmen mit uns interessiert sei. Als sich herausstellte, um welches Ensemble es sich handelte, lehnte »mein lieber Freund« ab mit der Begründung, solange ich in diesem Quartett sänge, käme eine Produktion für ihn nicht in Betracht.
Und dann führten die Herren, wie mir der Alte mit großer Häme berichtete, ein vertrauliches Gespräch über mich, in dem sie zu der gemeinsamen Überzeugung gelangten, wie bedauerlich und beklagenswert doch meine Veranlagung sei. Wie man halt so redet über einen unheilbar Kranken. Nicht zu überhören war die Genugtuung, mit der der Alte mir von diesem Gespräch erzählte, wobei er mir gleichzeitig den schweren Vorwurf machte, daß an meiner Person ein großes und erfolgversprechendes Geschäft gescheitert sei. Und damit der so lang erhoffte Durchbruch auf dem Musikmarkt.
Nun, es kamen andere Schallplattenaufträge. Bald sangen wir bei sämtlichen in der BRD existierenden Plattenfirmen, was insofern ein Nachteil war, weil nur ein Exclusiwertrag außer dem Honorar auch Tantiemen, also Gewinnbeteiligung am Umsatz bringt. Wir waren überall dabei, wie der Schnittlauch auf allen Suppen, bekamen unser Geld, und damit hatte es sich.
Aber zurück zur Person des Anstoßes. Das besagte Thema bekam also immer mehr Aktualität. Das große Murmeln zog Kreise. Anzüglichkeiten wurden mal schnell so eben in den Raum gestellt, wann immer sich eine Gelegenheit ergab. Eines Tages während einer Veranstaltung fragte mich hinter der Bühne ein Kollege, ein auch heute noch recht bekannter Schlagersänger, fast mit Bestürzung, jedenfalls tief besorgt:
»Sag mal, das ist ja traurig, was man da so hört von dir, stimmt das denn wirklich, du hast keinen Freund, keinen Mann? Ich kann das gar nicht glauben, eine Frau wie du?!«
Auch wenn Du jetzt vielleicht enttäuscht sein solltest - ich spielte Erstaunen und leugnete. Ich wollte kein outcast sein mein Privatleben wollte ich nicht in den Dreck ziehen lassen, das mußte unter allen Umständen tabu bleiben. Alles sei nur böswilliger Tratsch, sagte ich, und es war gar nicht schwer ihn zu überzeugen. Er war richtig froh, mich wieder im vermeintlich guten Licht zu sehen.
Aber so langsam hatte ich genug von meinem »Verein«. Außerdem hatte ich mir immer insgeheim ein Limit gesetzt. Mit 40 wollte ich die Szene verlassen, um, so hoffte ich dann noch die Rückkehr in den bürgerlichen Beruf zu schaffen. Vor allem wollte ich weg von Berlin, das einem auch in den fünfziger Jahren noch keine Chance bieten konnte, einen kaufmännischen Job zu finden.
Viele meiner Freunde hatten Berlin bereits den Rücken gekehrt, teils mit Verzweiflung, teils mit neuen Hoffnungen und saßen in Hamburg, München und sonstwo, einer in Kanada. 1954 war ich soweit. Ich verließ das Quartett und verließ Berlin. Ersteres auf Nimmerwiedersehen. Was sollte es auch...
Und heute, nach 28 Jahren - kein Blick zurück im Zorn nein nur mit einer unendlichen Gleichgültigkeit. Die kleinen Wunden sind ja längst vernarbt und die Narben verblichen »Menschliche Verluste« sind mangels irgendwelcher Relevanz nicht zu beklagen. Ich umarme Dich wie immer in alter Herzlichkeit
Deine Miro