Wie Frauen Kriege bewältigten

Gespräche mit der Generation unserer Großmütter

I. Geschichte von Frauen - Frauengeschichte

Warum wir uns mit alten Frauen beschäftigt haben

Wir suchen neue Wege und Perspektiven für ein Leben als Frau, ein Frauenleben. Denn die sozial vorgegebenen Muster haben ihre überzeugende und legitimatorische Kraft verloren. Gesellschaftlich anerkannt ist Frauenidentität nur als Identitätslosigkeit, das meint: Frausein bestimmt sich nicht durch eigene Fähigkeiten, Möglichkeiten und Merkmale, sondern durch den anderen - den Mann, die Kinder. Unsere Mütter leben noch unhinterfragt nach diesem Modell und wollen es an uns weitergeben. Deshalb haben die Schwierigkeiten, die viele von uns Frauen in der Beziehung zu ihrer Mutter haben, nicht allein psychologische Ursachen; sie lassen sich nicht nur mit der Konkurrenz von Mutter und Tochter um das Liebesobjekt, den Vater, erklären. Die Gründe liegen auch in einem sozialen Konflikt zwischen Mutter und Tochter, in zwei sich ausschließenden Modellen der Frau: dem klassischen Frauenbild, nach dem sich die Frau über den Mann und die Kinder definiert, und dem sich abzeichnenden Bild von Frauen, nach dem die Frau aus sich selbst heraus ihre gesellschaftliche und individuelle Identität gewinnt.
Dennoch brauchen wir für die Stärkung dieses neuen Frauenbildes auch eine Verankerung in der Vergangenheit. Denn wir können die Kontinuität von Frauengeschichte nur brechen, wenn wir durch das Bewußtsein hindurchgegangen sind, selber Moment dieser Kontinuität zu sein. Bei einem Gang in die Geschichte mußten wir allerdings leider feststellen, daß Frauengeschichte unbekannte Geschichte ist. Sie ist also nicht nur aufzuarbeiten, sie ist erst einmal zu schreiben. Wie Frauen Kriege bewältigten, was sie für die Aufrechterhaltung des Alltagslebens geschafft haben, wieviel unbezahlte oder nicht einmal als Arbeit angesehene Arbeit sie geleistet, und welche ökonomische Bedeutung sie wirklich gehabt haben, darüber ist wenig bekannt. Diese Tatsache ist auch in der spezifisch weiblichen Haltung des »Nichts getan und deshalb nichts zu sagen Habens« begründet. Unser Versuch, Frauengeschichten aufzudecken und zu schreiben, ist der der vergleichenden Lebensgeschichte.[1] Wir haben die Lebensgeschichten von sechs Frauen in Frankreich, die zwischen 70 und 90 Jahre alt sind, aufgespürt und sie in einem kollektiven Prozeß als Porträts verarbeitet.[2]
Die Erarbeitung von Frauengeschichte kann sich nicht mit der Komplettierung der offiziellen Geschichte zufriedengeben; sie fügt nicht die andere, etwas vernachlässigte Seite hinzu. Sie läßt sich nicht adäquat durch Daten, Sozialstatistiken, Orden oder Berufskarrieren zum Ausdruck bringen, denn dazu ist sie viel zu tief in der Wirklichkeit des Alltags vergraben. Für Frauen ist deshalb die Anfertigung von Sozialbiographien [3] im Sinne von Porträts eine angemessene und lebendige Geschichtsschreibung.
Dabei wollen wir nicht die Romantik der schönen alten Zeit konservieren, die so schön ja auch nicht war. Wir wollen auch nicht Großmutters Rezepte sammeln, was als Vermarktung von Alter in letzter Zeit Mode geworden ist. Wir wollen die Erfahrungen und Lebenswege der Generation von Frauen festhalten, die zwei Kriege, zwei Epochen und die Umbruchsphase zum technologischen Alltag erlebt haben. So handelt unsere Arbeit von Lebenswegen, nicht nur von Alten und Altern. Alter sehen wir als eine Phase der individuellen und gesellschaftlichen Konstitution von Leben an. In unserer industrialisierten Gesellschaft ensprechen sich die Modelle von Jugend und Alter: die Jugend ist ewig, und das Alter ist das, wovon man nicht spricht. Altsein ist schändlich, Altsein ist schlimmer als der Tod, Alte sind senil, Alte sind a-sexuelle Wesen, so lauten die gängigen Vorstellungen und Urteile über alte Menschen; Weisheit, Lebenserfahrung und Reife im und mit dem Alter sind aus unserer Wertordnung gänzlich gestrichen. In anderen Zeiten und Gesellschaften sind diese Werte und damit alte Menschen anerkannt, allerdings häufig genug unter dem Vorzeichen von Herrschaft und Macht der Alten (Männer)[4] Das Lebensmotto unserer Gesellschaft, >Ich möchte noch mal zwanzig sein...<, stimmt nicht für uns beide und auch nicht für die alten Frauen, mit denen wir gearbeitet haben. Es ist eher so, daß man alt gemacht wird, als daß man alt wird, daß die soziale Bestimmung von Alter eine stärkere Wirkung hat als die unzweifelhaft bestehenden biologischen Veränderungen. Mit 40 Jahren wird man schon zum alten Eisen gerechnet, und die Alten werden zur Nutzlosigkeit gezwungen, obwohl die durchschnittliche Lebensdauer durch medizinische Fortschritte immer größer wird. Und die Alten selbst machen sich diese verbreitete Vorstellung der Nutzlosigkeit zu eigen und nehmen sich selbst zurück. Frauen fühlen sich zu nichts mehr zu gebrauchen, wenn die äußerliche Schönheit vergangen ist und die Kinder aus dem Hause sind. Wie oft haben wir gehört: »Das kann ich doch nicht mehr machen. Was würden denn die anderen sagen. Dazu bin ich doch zu alt.«
Da wir Frauen immer im falschen Alter sind, zu jung, um Karriere zu machen und unser Leben zu leben, zu alt, um nach der Erziehung der Kinder wieder Arbeit zu finden, und da ab 50 sowieso alles zu Ende ist, können wir uns gleich entschließen, das Alter nicht so wichtig zu nehmen - dafür aber uns und unser Leben. Die Vorstellungen, die über Alte verbreitet sind, sind eher Vorurteile und Ängste als Urteile. Die alten Frauen, mit denen wir zwei bis drei Monate lang intensive Gespräche geführt haben, sind trotz Alterskrankheiten und der Nähe des Todes voller Energie. Sie haben Bedürfnisse der Liebe und Zuneigung, klare Vorstellungen, noch nützlich sein oder sich endlich ausruhen zu wollen und sind offen uns jungen Frauen gegenüber. Mit unserer Arbeit beabsichtigen wir, einen Dialog zwischen jung und alt zu eröffnen, aus denen sich Vorstellungen und Ansprüche für ein offensiveres und humaneres Altern entwickeln: ein Alter und Altern ohne Segregation, ohne brachliegende Lebenserfahrungen und mit Entfaltungsmöglichkeiten, gleichzeitig aber auch mit dem Bewußtsein von Sterben und Tod. Vor allem gegen ein Altern im Widerstand gegen den sozialen Zwang zum Alt = senil = Unnütz-Sein. Die Frauenbewegung hat dieses Problem bislang noch nicht erkannt, sie fühlt sich nicht betroffen. Wir sind die erste Generation von Frauen, die ein anderes Altern fordert, damit nicht die neuen Lebenswege, die von uns beschritten werden nur bis zum fünfzigsten Lebensjahr gelten. Bei unserer Suche nach Perspektiven haben wir in den USA vor allem eine Gruppe besucht, die eine unseren Vorstellungen nahestehende Leitidee praktiziert, die Grey Panthers. Die Grey Panthers sind ein Zusammenschluß von alten und jungen Frauen und Männern, die gegen die Segregation der Rassen, Altersgruppen und Geschlechter eintreten, gegen ageism, sexism, racism, die für mehr Geld, bessere medizinische Versorgung und mehr politische und gesellschaftliche Verantwortung für Alte und Junge kämpfen, dieses in ihren Projekten Wohnen, Ökologie, Pensionierung auf freiwilliger Basis.[5] Die alten Menschen, die wir seit drei Jahren durch unsere Arbeit getroffen haben, sind weder bekannt, berühmt oder außergewöhnlich. Dennoch haben wir viel von ihnen gelernt, vor allem von den sechs Frauen, mit denen wir gearbeitet haben.
Olga Varni, die Nichtklassifizierbare, Francoise H., die Bäuerin, Madeleine Dissais, die Arbeiterhausfrau mit sechs Kindern, Aline Lucas, die unverheiratete Serviererin, Madame Lehmann, die Witwe aus dem Großbürgertum, und Jeanne Humbert, die Intellektuelle und Politische.

Mit welchen Frauen wir gearbeitet haben

OLGA VARNI:

Ich schaue nur nach vorn, ich schaue nie zurück

Als wir Olga, 85 Jahre, anriefen, um ihr die Arbeit mit uns vorzuschlagen, sagte sie sofort, »Ja, denn da lerne ich sicher noch etwas!«
Sie wohnt in einem Vorort von Paris, in der Nähe des Dekorationsgeschäftes, in dem sie mit ihrem Sohn Jean arbeitet. Die Wohnung ist klein und hell, ohne nostalgische Schnörkel. Der runde Tisch, an dem wir sitzen, füllt den Raum, und Olgas Katze hat es auf unser Tonband abgesehen. Meistens hat sie es eilig, weil sie sich spät abends noch in einem Cafe nebenan mit Freunden trifft, zum Essen, zum Kartenspielen, manchmal sogar zum Tanzen. Oder aber sie verbringt den Abend gemütlich mit ihrem 25jährigen Liebhaber Claude.
Zwischen sechzig und siebzig Jahren begnügte sich Olga mit der Einsamkeit der Angler. Dann begann sie wieder zu arbeiten, verliebte sich und beschloß zu leben, bis sie stirbt.

FRANCOISE H.:

Wir dachten nicht, wir arbeiteten nur

Es dauerte Monate, bis eine Freundin aus dem Nachbardorf Madame H. überzeugte, uns zu sehen, und mit uns zu arbeiten. Sie sagte: »Ich habe doch gar nichts zu erzählen.« Madame H. ist 85 Jahre alt. Ihr ganzes Leben verbrachte sie in einem Weiler in der Normandie. In ihrer Jugend war sie Tagelöhnerin. Sie hat sich den kleinen Hof, den sie mit ihrem Mann bewirtschaftete, vom Mund abgespart. In ihrer wortkargen Art sagt sie: »Die heutigen Bauern sind Prinzen!«
Nach dem Tode ihres Mannes lernte sie durch eine Zeitungsannonce den auch verwitweten Maurermeister Paul kennen, mit dem sie - entgegen strenger französischer Bauernmoral -unverheiratet zusammenlebt. Er umhegt sie liebevoll, und es fiel ihm manchmal schwer, im Garten zu bleiben und nicht in unser Gespräch einzugreifen.
Einige Zeit nach unserer Arbeit wurde Madame H. mit Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert. Sie konnte nicht sprechen. Als wir sie besuchten, nahm sie unsere Hände und versuchte, etwas zu sagen, was wir verstanden. Denn durch unsere Gespräche wußten wir um ihre Angst vor dem Krankenhaus und um ihren Wunsch, friedlich zu Hause zu sterben - >Zur Erde zurückzukehren< wie sie sagt.

ALINE LUCAS:

Meine Mutter war alles für mich

Aline ist unverheiratet und hat keine Kinder. Sie arbeitete fünfzig Jahre lang als Serviererin in vielen Restaurants. Mit über siebzig Jahren ist sie frisch und lebhaft. Sie treibt Sport, trifft sich mit ihren Freunden und tanzt leidenschaftlich gern-jeden Freitagnachmittag in ihrem club d'dge d'or. Sie will die ihr noch verbleibenden Lebensjahre als kleine Rentnerin genießen. Ihre Geschichte ist die einer alleinstehenden unabhängigen Frau, die mutig mit allem fertig wird. Durch diese Erfahrung fühlt sie sich mit den Mühen anderer Frauen solidarisch. Aline ist die einzige Frau, die auf unsere Frage »Sind Sie Feministin«? über sich selbst erstaunt sagt: »Ja.«

JEANNE HUMBERT:

Immer, wenn ein Alter abgeht, geht eine Bibliothek mit ihm

Jeanne Humbert ist 91 Jahre alt. Sie arbeitet als Journalistin und schreibt Artikel in Le Refractaire, einer antimilitaristischen Zeitschrift, die dem mouvement libertaire anarchiste angehört.
Wir besuchen sie in ihrer kleinen, aber eleganten Kellerwohnung, in der sie mit ihrer verwitweten Tochter, die Antiquarin ist, lebt.
Während unserer Gespräche sitzt Madame Humbert immer neben dem großen Ölbild ihres Mannes Eugene, der, selbst fünfunddreißig Jahre nach seinem Tod, immer noch anwesend ist. Denn Zentrum ihres Lebens war und ist bis heute noch das politische Engagement mit ihrem Mann in der neomalthusianischen Bewegung. Als seine Lebensgefährtin hat sie an der Herausgabe der Zeitschriften Generation Consciente und La Grande Reforme sowie an allen neomalthusianischen Aktionen wie dem Gebärstreik, der Propaganda gegen den Krieg, aktiv mitgewirkt. Sie hat, wie ihr Mann, aufgrund ihrer politischen Arbeit, mehrere Monate ihres Lebens im Gefängnis verbracht. Seit dem Tode ihres Mannes 1944 versucht sie, das gemeinsame Lebenswerk fortzuführen, so in ihren Büchern über Eugene Humbert, Sebastien Faure und Paul Robin, aber auch in ihren Arbeiten wie Gegen den kommenden Krieg (Contre la guerre qui vient).

MADELEINE DISSAIS:

Meine Kinder sind mein Lebenswerk

Madeleine ist eine Arbeiterhausfrau aus Bordeaux. Sie ist siebzig Jahre alt. Wir treffen sie in ihrem Seniorenclub (club de Vage d'or), wo sie fast jeden Nachmittag anzutreffen ist. Sie leitet die Theatergruppe und macht bei der Gestaltung der Clubzeitung mit. Schwätzen und Kaffeeschlürfen interessieren sie nicht, denn für Madeleine vergeht die Zeit zu schnell.
Madeleine hat sechs Kinder großgezogen. Ihr Mann starb, als die zwei Jüngsten noch klein waren. Bis zu ihrem 65sten Lebensjahr arbeitete sie als Hausschneidenn und Putzfrau. Sie hat es schwer gehabt und möchte jetzt, in ihrem Leben mit ihrem zweiten Mann, alles nachholen und das Leben genießen.

MADAME LEHMANN:

Werden Sie nie eine starke Frau

Das ist ihre Botschaft an uns, auf ihr eigenes Leben zurückblickend. Madame Lehmann empfängt uns in ihrer großräumigen, sonnigen Wohnung. Wir versinken in roten Seidensofas, umgeben von alten Möbeln, Bronze und Gemäldesammlungen, die die Geschichte ihrer Familie und ihres Lebens erzählen.
Überall stehen Fotos von ihren zwei Söhnen und ihrem Mann, der ganz zu Anfang des Zweiten Weltkriegs von den Deutschen gefangengenommen und umgebracht wurde. So hat sie als junge Witwe ihre beiden Kinder in der Erinnerung an ihren Vater ganz allein erzogen.
Madame Lehmann ist Mitteilhaberin einer bekannten französischen Firma, in der sie auch bis zum siebzigsten Lebensjahr Mitglied des Aufsichtsrates war. Daneben hat sie fünfzig Jahre in Heimen und Kindergärten für uneheliche Kinder als freiwillige Sozialhelferin gearbeitet, um auszugleichen, daß sie auf der sonnigen Seite der Welt geboren ist, wie sie sagt.
Madame Lehmann hatte von sich aus Kontakt mit uns aufgenommen, da sie unbedingt mit uns arbeiten wollte »Denn ich bin dreiundachtzig Jahre alt, und in drei Wochen lebe ich vielleicht nicht mehr!«
Während das für uns beide als Deutsche schwierige Gespräch über Krieg und Faschismus, eine Zeit, in der sie so besonders gelitten hat, war sie es, die uns verstehend tröstete und klarmachte: »Vergessen Sie nicht, die Deutschen sind ein großartiges Volk!«

Mit jeder der sechs eben vorgestellten Frauen haben wir zwei bis drei Monate an insgesamt elf Themenkomplexen gearbeitet, zu denen wir jeweils Frageleitfaden entworfen hatten. Das Thema Krieg wollen wir hier vorstellen.

II. Gespräche über Krieg

Frageleitfaden

Der 1. Weltkrieg
Wie alt waren Sie 1914?
Können Sie uns die Begebenheit erzählen, die Sie am meisten beeindruckt hat?
Wie ist Ihre Mutter mit den Schwierigkeiten im Krieg fertig geworden?
Und wie sind Sie mit den Schwierigkeiten im Krieg fertig geworden?

Der 2. Weltkrieg
Wie haben Sie und die Frauen in Ihrer Umgebung das tägliche Leben in Abwesenheit der Männer organisiert?
Gab es einen schwarzen Markt und andere Formen des Tauschens?
Wo war Ihr Mann während des Krieges, und was hat er gemacht?

  1. Nach dem Krieg
    Hat nach dem Krieg jeder in der Familie genau denselben Platz eingenommen, dieselben Funktionen ausgeübt und dieselben Verantwortungen getragen wie vor dem Krieg?
    Gab es klare oder untergründige Konflikte oder Veränderungen in den Ehen?

  2. Ein typisches Bild für das Verhalten von Frauen ist für uns folgendes:
    Sobald der Mann ins Auto steigt, übergibt ihm die Frau das Steuer, obwohl sie selbst fahren kann.
    Wie erklären Sie dieses Verhalten?

  3. Welche Frauen haben Sie im Krieg bewundert?
    Beschreiben Sie sie ein wenig?
    Welche Frauen waren zu der Zeit berühmt?
    Erinnern Sie sich an Filme oder Bücher, die Sie im Zusammenhang mit dem Krieg beeindruckt haben?

  4. Glauben Sie, daß die Frauen,
    wenn sie die Macht mit den Männern teilen würden, versuchen würden, den Krieg zu verhindern?
    Glauben Sie, daß wir Frauen pazifistisch sind, weil wir Mütter sind und Leben geben?

  5. Glauben Sie, daß der Opferwille die Frauen,
    vor allem in Deutschland und in Italien, dazu getrieben hat, den Faschismus zu unterstützen?

  6. Hat es während des 1. Weltkrieges Kollaboration mit dem Feind gegeben?
    Was wußten Sie von der Kollaboration im 2. Weltkrieg?

  7. Glauben Sie, daß während des Krieges die Beziehungen zwischen den Menschen
    enger waren, daß es größere
 Solidarität untereinander gab?
    Vielleicht haben Sie eine gute Erinnerung, die Sie uns erzählen können?

Berichte

OLGA VARNI

  1. Mein siebzehnter Geburtstag war am 14. Januar 1914. Damals waren wir in Acheres. Dort gab es einen Rangierbahnhof, durch den Züge voll von Verwundeten fuhren. Wir jungen Mädchen servierten den Soldaten Kaffee und Bouillon. Einmal kam ein Zug, in dem sich Soldaten befanden, die erstickten, die nach ihren Müttern riefen, die in einem furchtbaren Zustand waren, und niemand wußte, was sie hatten. Es waren die ersten Opfer der Stickgasbomben. Während wir die Soldaten aufnahmen, gab es einen schweren Bombenangriff. Zwanzigjährige Jungen sind in meinen Armen gestorben. Es war schrecklich, und ich erinnere mich euretwegen daran, sonst denke ich nie zurück. Während des Angriffs habe ich Schrot in mein Knie bekommen. Den habe ich mir nie herausnehmen lassen, sondern ihn als Andenken behalten. Dieses war mein erster Eindruck vom Krieg, gleich 1914.
    Meine Mutter war in Lothringen geboren. Man nannte sie la boche,[6] und es hat eine furchtbare Geschichte gegeben. Es wurde behauptet, daß sie in einem Cafe, in aller Öffentlichkeit gesagt haben soll: »Wäre der Poincare nicht so viel herumgereist, dann hätten wir keinen Krieg.« Sie wurde wegen mauvaise parole [7] angeklagt. Das war 1914 eine sehr ernste Sache. Man sagte: »Der Feind hört mit.« Man machte meiner Mutter einen Prozeß. Sie wurde für schuldig befunden und zur Zahlung eines symbolischen Francs verurteilt. Der Präsident Poincare selber hat sie später begnadigt. Bonnet Rouge, eine rote, kommunistische Zeitung, hat meine Mutter verteidigt. Die anderen Zeitungen haben sich diese Geschichte angeeignet und schrieben, daß meine Mutter nachmittags in Freudenhäusern war. Die Deutsche hin, die Deutsche her. Ich selber wurde auch überall la boche genannt, und ich schlug mich mit den Leuten in Maisons Laffittes. Mein Vater hatte eine Pferdezucht, so brauchte meine Mutter nicht zu arbeiten. Aber im Volke, wo die Frauen Geld brauchten, gingen alle in die Fabrik arbeiten. Da haben sie angefangen, sich die Haare abzuschneiden, weil es bei der Arbeit praktischer war. Das war der Anfang der Frauenbewegung, die heute weitergeht. 1919 war der erste Streik der Frauen, die erste Demonstration pour nos vingt sous,[8] bei der ich mitmarschiert bin.
    Im Krieg haben die Frauen die Arbeit der Männer gemacht. Sie haben Kanonen und Munition hergestellt. Und sie haben zu Hause die Väter ersetzt, denn der Erste Weltkrieg war ein Krieg, in den alle Männer gegangen sind.
  2. Während des Zweiten Weltkrieges war ich in Italien. Mein zweiter Mann war Italiener, und er wollte zu Anfang des Krieges in sein Land zurück. Ich selber bin immer Französin geblieben. Ich habe Leuten geholfen, aus Italien herauszukommen. Das waren so die kleinen Dinge, die ich getan habe. Ich war Dolmetscherin bei der Rinascente, einem großen Kaufhaus in Mailand. Dort gab es eine kleine Gruppe von Belgiern und Franzosen, die versuchten, denen, die nicht in den Krieg wollten, zu helfen. Denn in Italien gab es viele, die Verwandte in Frankreich hatten, die nicht gegen Frankreich kämpfen wollten. Wir Frauen, da waren es besonders die Frauen, haben uns organisiert, um ihnen zu helfen. 1940 sind bei weitem nicht alle in den Krieg gegangen. Es haben sich viele gedrückt.
    Im Alltag waren wir etwas beschränkt. Es gab wenig Brot, wir hatten Lebensmittelkarten, wie in Frankreich. Es fehlte an Salz, und natürlich gab es keinen Kaffee. In einer Nacht wurde Mailand ganz zerstört. Die Rinascente lag am Boden. Ich hatte keine Arbeit mehr. So bin ich nach Chiavennah gezogen, wo wir eine Hühnerzucht angefangen haben. Ich war auf Seiten der Partisanen, die lange Haare und einen Bart trugen. Wir wohnten drei Kilometer von der Schweizer Grenze entfernt. Die Partisanen kamen, um Butter und Eier zu holen. Ich gab sie ihnen heimlich, denn mein Mann war Faschist. Er war Offizier, fühlte sich sehr zum Faschismus hingezogen und hätte eigentlich in den Krieg gewollt. Aber seine Schwester Abna war die Geliebte von Badoglio,[9] dem großen Chef, und sie hat es immer verhindert, daß er weggeschickt wurde. Und ich habe seine Parteikarte zerrissen und ins Klo geworfen - so war endlich Ruhe. Ich fuhr nach Mailand, kaufte dort Stoff, den ich an die Bauern weiterverkaufte, und sie gaben mir Butter und Milch. Es war ein Tausch, wie man ihn in Frankreich auch kannte. Es war Handel, kein Schwarzmarkt. Es gab einen Witz, den man sich erzählte. »Hallo, haben Sie noch schwarzen Stoff?« »Ja!?« »Dann tun Sie mir drei Kilo beiseite.« Der schwarze Stoff war Kaffee. Ich konnte leider nicht auf dem Schwarzmarkt kaufen, meine Mittel erlaubten es mir nicht. Aber wir haben auf dem Land nicht so schlecht gelebt. Mein Mann und ich gingen jeden Morgen fischen. Wir fingen Forellen, die wir dem Fleischer brachten. Der Fleischer gab uns Rindfleisch. Wir kochten das Rindfleisch in einer Suppe. Das Kind bekam das beste Stück, dann kam ich, dann mein Mann, und der Knochen war für den Hund. Reste wurden für die Hühner zerhackt. So ging nichts verloren.
    Während des Krieges hatte sich nicht viel verändert. Die Männer waren im Krieg, aber sie waren nicht lange weg. Erstens, weil der Krieg in Italien ein Jahr später anfing als in Frankreich, und dann sind alle vor dem Feind auseinandergerannt und waren bald wieder zu Hause.
    In Italien habe ich keine Frauen mit Kindern gesehen, denen es wirklich schlecht ging. Ich kann auch nicht sagen, daß ich im Krieg Frauen gesehen habe, die wirklich Verantwortung auf sich genommen haben. Dazu waren die Italienerinnen nicht in der Lage. Sie haben nur ihre Kinder erzogen.
  3. Es gab viele Schwierigkeiten, als die Männer zurückkamen, weil es schwer ist, sich wieder daran zu gewöhnen, zu zweit zu leben. Im Ersten Weltkrieg hatten wir ein Dienstmädchen, Alice. Ihr Mann war lange Gefangener gewesen. Als er zurückkam, sagte er ihr, daß er nicht mehr mit ihr leben wolle. Er war homosexuell geworden. Dabei hatten sie zwei schöne Kinder. Das ist ein Fall, den der Krieg verursacht hat, und es hat viele gegeben.
    Man war daran gewöhnt, daß es der Mann ist, der bestimmt, obwohl die Frau für den Haushalt jeden Monat Geld bekam und die Ausgaben einteilte. Heute gibt die Frau Geld für den Haushalt, der Mann gibt Geld, und manchmal geht der Mann sogar einkaufen. Früher waren es immer die Frauen, die einkauften, und der Arbeiter sagte zärtlich-stolz: »Meine bourgeoise geht einkaufen.«
  4. Daß die Frauen nach dem Krieg wieder ihre alten Rollen eingenommen haben, das kommt daher, daß sie von ihrer Großmutter, ihrer Urgroßmutter, ihrer Mutter auf diese Weise erzogen worden sind. Und vielleicht auch aus einem Gefühl von Weiblichkeit. Frauen lieben es, einen Beschützer um sich zu haben. Auch im Bett ist es wichtig zu wissen, daß man einen richtigen Mann bei sich hat. Ich glaube, daß die Frauen deswegen wieder ins alte Gleis getreten sind. Es gab Ausnahmen, die Intellektuellen, die angefangen haben, sich zu verändern, sich in Frage zu stellen. Aber die meisten Frauen haben hingenommen, was sie immer hingenommen
haben, die Unterwürfigkeit. Während des Krieges haben Frauen Verantwortung getragen, weil es nötig war, aber sowie die Männer zurück waren, haben sie die Verantwortung an sie zurückgegeben und gesagt: »Jetzt, wo du zurück bist, wirst du damit fertig!« Und ich finde das gut so. Heute ist das anders. Heute ist Unisex. Die Frauen tragen Hosen, sie denken anders.
  5. Während des Krieges habe ich die Fliegerin Maryse Bastie [10] bewundert. Sie ist als erste Frau Fallschirm gesprungen. Für Frauen wie mich, die ein bißchen jungenhaft waren, war sie toll. Ich bewunderte sie; wäre gern selber Fallschirm gesprungen. Denn wir hatten schon die heutige Veränderung
in uns. Ich boxte mit meinen Brüdern, ich hätte gern richtig geboxt. Kein Junge in Maisons Laffittes war so schnell wie ich im 100-Meter-Lauf. Heute wäre das ein Rekord. Damals schlugen Frauen keine Rekorde. Sie trieben keinen Sport. Eine andere Frau, die ich bewundert habe, ist die Tennismeisterin Suzanne Lenglen. Sie war eine große Giraffe mit phantastischen Beinen, und sie spielte wie ein Mann. Als sie in
Wimbledon gespielt hat, war ich vor Aufregung krank. Alle Frauen hofften, daß die Lenglen gewinnen würde. Ob sie es war oder der Georges Carpentier, als er in Amerika die Weltmeisterschaft im Boxen gewonnen hat, bei so was waren wir echten Französinnen patriotisch.
    Vor dem Ersten Weltkrieg gab es Episodenfilme wie Le Mystere de New York mit Shirley Temple. Jede Woche ging man ins Kino, um die Fortsetzung zu sehen. Danach gab es einen außergewöhnlich guten Film, den ich gesehen habe La sedio de l'Alcazar. Es war ein Film über den spanischen Krieg mit Mireille Baiin. Der Film wurde verboten, als sich die Deutschen mit den Italienern verbündeten. Eigentlich war es kein antideutscher Film, eher ein kommunistischer.
  6. Ich glaube nicht, daß die Frau Pazifistin ist. Sie ist fast zufrieden mit dem Krieg, sie nimmt sich Freiheiten, wird mit allem fertig, tut, was sie will. Das war 1914 sehr deutlich. Es war ein schlimmer Krieg. Alle Männer waren weg, auch die Juden, die im Zweiten Weltkrieg nicht mitkämpfen durften, weil sie verpönt waren. 1914-18 haben sie sich wie die anderen geschlagen. Da gab es keine Religionsfrage. Es gab
auch keine Kollaboration mit den Deutschen. Ich sehe sie noch, wie sie abmarschiert sind, mit einer Blume am Gewehr. Ich weiß nicht, ob die Jugend heute reifer ist, aber ich finde das Wahlrecht mit achtzehn Jahren viel zu früh. Daß die Frauen mit achtzehn wählen, da bin ich einverstanden. Aber Männer sind bis zum fünfundzwanzigsten Lebensjahr Kinder.
    stumme generation
    Während des Krieges erschien Henri Bordeaux' Buch Mein Körper gehört Dir [11] Das Buch war ein Skandal. Das war die Zeit des Charleston, der kurzen Haare, der Befreiung. Für mich waren es die Folgen des Krieges. Vor dem Krieg gab es Häuser für die Prostituierten. Sie standen nicht auf der Straße wie heute. In den Häusern gab es eine Patronne, die sehr korrekt, die verheiratet sein mußte. Die Männer kamen, tranken etwas, gaben sich mit den Mädchen ab, zahlten, und das war alles. Die Mädchen wurden vom Gesundheitsamt kontrolliert, sie hatten einen freien Tag, sie arbeiteten wie in der Fabrik. Ich bin wütend auf die Marthe Richard,***490.2.12** die diese Häuser schließen ließ.
  7. In Italien waren die Frauen faschistisch. Sie trugen Schwarz und waren patriotisch. Mussolini hat viel für Italien getan, materiell und finanziell, aber auch vom Standpunkt der Moral. Es gab weniger hohe Tiere, wie die Commendatore, als vor seiner Zeit, weil er ein Mann aus dem Volke war. Er hat ein wenig Gerechtigkeit wieder hergestellt. Vielleicht war Hitler für die Deutschen auch nicht so schlecht. Ich kenne Leute, hier in Boulogne, die für Hitler sind. Sie tragen Leder mit Nägeln und Hakenkreuzen überall. Ich habe auch einen Kameraden, der für Chirac [13] ist. Er sagt: Wir brauchen jemand, der Autorität hat. Vielleicht hat er nicht ganz unrecht. Viele sagen, daß Chirac ein zukünftiger Hitler ist, und bewundern ihn deshalb. Sie sind antisemitisch. Wir sind alle ein wenig antisemitisch. Ich vertrage mich sehr gut mit den Juden. In der Arbeit, in der Familie sind sie bewundernswert gut. Sie sind gar nicht so ekelhaft, wenn man sie näher kennt.
    Die Frau hat den Faschismus unterstützt. Sie ist immer für Worte empfänglich. Mussolini sprach einmal in der Woche. Wir mußten die Fenster aufreißen und zuhören. Und man muß Mussolini erlebt haben, wenn er sagte: »Was, es gibt nichts zu essen!? Italien ist voller Früchte! Meine Damen, essen Sie Obst! Sie werden schön sein! Sie werden eine schöne Haut haben!« Alle Frauen waren hingerissen. Er war kein häßlicher Bursche, der Mussolini. Aber ich, ich sagte: Er kann mir den Buckel runterrutschen, ich esse doch lieber Fleisch!

FRANCOISE H.

  1. Anfang des Ersten Weltkriegs war ich neunzehn Jahre alt und schon ein Jahr verheiratet. Mein Mann war Bauer. Er arbeitete auf dem Hof seiner Eltern. Dann ist er eingezogen worden. Mein Bruder war auch an der Front. Mein Mann ist bis zum Ende des Krieges weggeblieben. Mein Bruder ist gefallen. Das war schwer; wir haben viel mitgemacht.
    Ich lebte mit meiner Mutter. Wir haben immer zusammen gelebt. Es gab für uns keine andere Arbeit außer Tagelöhner, um unser Leben zu verdienen. Wir arbeiteten, wenn wir Arbeit finden konnten, aber das war nicht jeden Tag. Damals gab es einfach zu viele Leute. Es waren schwere Zeiten. Wenn ich Glück hatte, ging ich auswärts waschen und nähen. Und das war alles.
  2. Mein Mann wurde nicht in den Zweiten Weltkrieg eingezogen. Er war zu alt. Wir Bauern versuchten, so gut es ging, weiterzuarbeiten. Das Schwerste war, jemanden zu finden, der die Männer ersetzte. Alle waren weg. Wir haben das Tauschen gelernt. Wir hatten ein paar Kühe, Geflügel und Kaninchen. Die Eier wurden beschlagnahmt. Wer so und so viele Hühner hatte, der mußte so und so viele Eier abgeben. Jede Woche holten sie die Eier ab. Wenn man welche für die Freunde behalten wollte, mußte man sie verstecken. Ich hatte immer Angst, ich war bei so etwas nie sehr mutig. Wenn Leute kamen und mir sagten, daß sie dies und das wollten, dann sagte ich immer: »Ja, und wenn wir geschnappt werden.« Aber so ein bißchen habe ich dann doch mitgemacht.
  3. Im Ersten Weltkrieg hatte meine Mutter drei kleine Felder. Ich kann mich noch genau daran erinnern, daß ich eigenhändig Korn mähte und Heu sichelte. Das war Schwerstarbeit. Erst am Ende des Krieges hatten wir unsere erste Kuh und unser erstes Pferd gekauft. Meine Mutter nahm einen Gehilfen, der ihr die Felder pflügte und säte. Und ich mußte das Korn schneiden. Aber ich kann mich nicht mehr erinnern, wer mir die Sichel schärfte.
    Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, gesund zu sein. Ich hatte eine schwere Operation. Man hat mir einen Magenschnitt gemacht, einen der ersten zu der damaligen Zeit. Alle Ärzte aus Chartres sind gekommen, um sich meinen Fall anzusehen. Als die Schwestern und Ärzte in weißen Kitteln um mich herumstanden, habe ich mich gefragt, was sie wohl mit mir anstellen würden.
  4. Nach dem Krieg war es nicht selbstverständlich, daß die Frau die Schwerstarbeit weitermacht, wenn der Mann wieder da war. Das ist nicht ihre Aufgabe. Die Arbeit in der Landwirtschaft ist zu hart. Als die Männer aus dem Krieg kamen, hat es in den Ehen Schwierigkeiten gegeben, leider. Aber heute wäre es viel schlimmer, mit der Lasterhaftigkeit. Wir, wir sind streng erzogen worden.
  5. Ich habe die Frau unter uns bewundert. Im Zweiten Weltkrieg hat sie den Hof ganz allein geschmissen. Sie hat sich wirklich Verdienste erworben.
  6. Ich kenne die Leute von heute im Grunde nicht. Wir waren damals gegen den Krieg. Ich glaube nicht, daß es welche gab, die den Krieg wünschten. Aber ich glaube, daß man jetzt dabei ist, etwas zusammenzubrauen wie 1939. Wenn man sieht, wie der Giscard [14] herumreist, muß man an Chamberlain [15] denken. Das ist kein gutes Zeichen.
  7. Ich weiß nicht, warum die Frauen den Faschismus unterstützt haben. Man muß schon herzlos sein, um seine Leute in den Krieg zu schicken. Unglücklicherweise gab es welche, die sich ihre Männer vom Halse schaffen wollten, die ganz schön zufrieden waren und sagten: »Hau ab, meinetwegen kannst du krepieren!« Für die Kinder war das das gleiche. Ich habe Leute sagen hören: »Ich schicke meinen Sohn in den Krieg, aber es ist ganz schön, seinen Sold zu bekommen.« Das sind keine Mütter.
    Es ist nur menschlich und natürlich, daß man immer bat und hoffte, daß die Kinder nicht in den Krieg ziehen müssen. Aber wissen Sie, das ging so schnell mit dem Ersten Weltkrieg, daß man nicht viel über all das nachgedacht hat.
  8. Ich erinnere mich nicht, daß es im Krieg 1914-18 Kollaboration gegeben hat. Im Zweiten Weltkrieg soll es hier in der Gegend Kollaboration gegeben haben. Nur, wir wußten nichts davon. Wir waren von der Welt abgeschnitten.
  9. Wir hatten nicht viel Nachbarn da oben auf unserem Hof. Nur Felicite ist während des Krieges immer gekommen. Wir waren uns gegenseitig behilflich. Sie ist wie eine Tochter für mich geworden.

JEANNE HUMBERT

  1. 1915 war ich 25 Jahre alt. Während des Angriffs fielen Bomben auf unseren Stadtteil. Ich werde mich immer an die Angst erinnern, die ich gehabt habe, als ich meine vor ein paar Tagen geborene Tochter an mich nahm und in den Garten rannte, um dort vor den Bomben Schutz zu finden. Meine Angst war so groß, daß ich sofort Humbert schrieb, ich würde zu ihm nach Barcelona kommen. So verbrachten wir die vier Kriegs jähre in Spanien. Als Libertaire wollte Humbert den Krieg nicht mitmachen. Er war Antimilitarist, er war gegen die falschen Gründe, die die Regierungen angaben, um Kriege zu machen. Er hatte eine Erklärung abgegeben, in der er sein Verhalten begründete, und er ist noch vor der offiziellen Kriegserklärung nach Spanien gegangen. Auf dem Wege, in Limoges, erfuhr er von Jaures[16] Ermordung. Zu dieser Zeit wurden die Kriegsdienstverweigerer nicht offiziell anerkannt, außer in England. Als mein Mann nach dem Krieg zurückkam, gab es zwei Klagen gegen ihn. Sein Prozeß war doppelbödig: es war eher ein Prozeß gegen den Neomalthusianer als ein militärischer. Es war ein politischer Prozeß. Man sagte, daß er als engagierter Neomalthusianer Frankreich ganze Bataillone weggenommen hätte. Das war 1920, zur Zeit, wo das Gesetz gegen die neomalthusianische Propaganda gerade herausgekommen war. Humbert wurde zu fünf Jahren wegen Kriegsdienstverweigerung und zu zwei Jahren wegen Propaganda verurteilt. Und ich als Neomalthusianerin mit ihm.
    Humbert wurde auf eine etwas komische Weise begnadigt. Alle unsere Freunde, Schriftsteller, Abgeordnete hatten sich vergeblich für seine Freisetzung eingesetzt. Eines Tages wollte jemand aus der Begnadigungskommission einen fahnenflüchtigen Pfarrer begnadigen lassen. Humberts Freunde sagten: »Wenn ihr euren Pfarrer wollt, müßt ihr uns den Humbert geben.« Und so geschah es denn auch. Da die beiden Verurteilungen zu einem einzigen Strafmaß zusammengefaßt waren, saß Humbert 36 Monate ab und ich ungefähr 18 Monate.
    Solange unser Prozeß dauerte und wir noch nicht verurteilt waren, durften wir uns schreiben. Mein Mann schrieb mir jeden Tag aus dem Gefängnis La Sante und ich schrieb ihm jeden Tag aus Saint-Lazare. Nach der Verurteilung durften wir uns nicht mehr schreiben, weil wir nicht verheiratet waren. Meine Tochter war noch sehr klein. Die Mutter meines Mannes, die in Nancy lebte, hatte sie aufgenommen. Eines Tages kamen sie mit einer Besuchserlaubnis im Gefängnis an. Meiner Schwiegermutter sagte man: »Aber Sie sind ja gar nicht verwandt, die beiden sind nicht verheiratet!« Meine arme Schwiegermutter ist zusammengebrochen: »Ich bin aber doch die Großmutter ihrer Tochter!« weinte sie. Man hat mir das Kind gebracht. Das Sprechzimmer war eine Art Käfig. Zwischen uns war ein doppeltes Gitter. Meine Tochter erkannte mich nicht, denn die Häftlinge mußten eine Haube tragen. Sie sagte: »Bitte, nimm' die Haube ab.« Ich antwortete: »Ich kann nicht!« Die Wärterin ging hinter mir auf und ab. Ich fragte die Kleine, wie sie gekommen sei, und da erzählte sie mir, daß man ihre Großmutter nicht hineinlassen wollte.
    Humbert und ich haben nach unserer Freilassung geheiratet. Für unsere Tochter und nach all den Schwierigkeiten, die wir gehabt haben, wollten wir eine klare Situation. Es war für uns ja nur eine Formalität, und so haben wir mit unseren Freunden viel dabei gelacht.
  2. 1940 konnten wir nichts mehr tun. Die letzte Nummer unserer Zeitung ist in Rohfassung geblieben. Als unser Schwiegersohn, der Zahnarzt war, in den Krieg eingezogen wurde, bat er uns, nach Lisieux zu unserer Tochter zu ziehen. Wir sind den ganzen Krieg in Lisieux geblieben. Und dort hatte Humbert diese Geschichte mit einem Mann aus der Gegend. Seine Frau war schwanger, sie hatten schon mehrere Kinder. Sie stritten sich, er schlug seine Frau. Da sie unsere Zeitungen gelesen hatten, dachten sie, sie könnten sich einfach an uns wenden, und wir würden ihnen helfen. Mein Mann schrieb ihm, daß er nichts für sie tun könne. Der Mann war beharrlich. Am Ende schickte mein Mann ihm ein Buch Die Bevölkerungsfrage,[17] das die neomalthusianische Theorie enthielt und Informationen über Verhütung und Abtreibung gab. Einige Zeit danach wurde Humbert zu Gericht vorgeladen. Die Frau hatte ihren Mann angezeigt, weil er sie schlug. In ihrer Unterhaltung mit dem Richter sagte sie: »Und wissen Sie, er wollte sogar, daß ich abtreibe!« Der Richter spitzte die Ohren. Man unternahm eine Untersuchung und fand das Buch und auch die Briefe meines Mannes, in denen er von der Abtreibung kategorisch abriet. Es war nichts zu machen. Humbert wurde wegen Beteiligung an Abtreibung zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Dabei hat es gar keine Abtreibung gegeben, und die Frau erschien mit dem Kind zur Verhandlung.
    Mein Mann kam nach Amiens. In dem Gefängnis waren sie zu sieben oder acht Häftlingen pro Zelle. Humbert wurde schwerkrank. Der Professor, der ihn pflegte, versprach ihm, daß er ihn nicht nur pflegen und retten, sondern daß er ihn bis zu seiner Freilassung im Krankenhaus behalten würde, damit er nicht in diese Zelle zurückmüsse.
    Bombenangriffe kamen über die Normandie, Wolken von Flugzeugen, die den Tod brachten. Während eines Angriffs wurde die ganze Stadt Lisieux zerstört. So beschloß ich, nach Paris zurückzufahren, in mein kleines Haus in Belleville. Ich erwartete meinen Mann, der endlich gesund und frei aus Amiens kommen sollte. Die Concierge brachte einen schwarzumrandeten Brief aus Amiens: »Es tut mir leid, Sie in diesem Zusammenhang kennenzulernen...« Der Brief war von Humberts Krankenschwester. Sie brachte mir bei, daß er bei dem Angriff, der am 25. Juni 1944 das Krankenhaus Amiens getroffen hatte, umgekommen war. Es war ein Angriff der Alliierten. Es sind die Alliierten, die meinen Mann umgebracht haben. Ich habe es nie akzeptieren können.
  3. Der Krieg zerstört alles. Er hat viele Ehen zerstört. Wir hatten ein Dienstmädchen. Als ihr Mann aus dem Krieg zurückkam, wollte sie ihm nicht einmal die Haustür aufmachen. Er kam in die Küche. Sie war beim Essen. Sie ist nicht aufgestanden. Er hat sie nicht anfassen dürfen. Sie sagte mir: »Ich kann sogar seinen Atem nicht mehr ertragen.« Es war eine schreckliche Geschichte.
  4. Der Krieg brachte manchen Frauen eine Befreiung, aber nicht eine wahrhaftige Emanzipation, denn sie befreiten sich nur, um sich in eine andere Abhängigkeit zu begeben. Als ich ein Kind war, war der Mann der Herr. Der Ehemann sicherte das Einkommen der Familie. Heute sind die Frauen oft gezwungen zu arbeiten. Das haben sie erreicht. Aber nun haben sie eine doppelte Belastung. Die der Arbeit im Büro, in der Fabrik und die Arbeit im Haus, wenn sie abends nach Hause kommen. Ich finde nicht, daß die Frauen in letzter Zeit etwas dazugewonnen haben. Früher waren sie oft die Seele des Hauses, sie trafen ihre Entscheidungen heimlich, unauffällig. Man muß nur in der Geschichte lesen, um den Einfluß der Frau in allem zu erkennen. Deshalb bin ich immer etwas skeptisch, wenn man vom Feminismus spricht.
  5. Ich bewunderte Frauen, die wir kannten, Nelly Roussel,[18] Madeleine Pelletier,[19] die Ärztin, Frauen, die sich für die Emanzipation eingesetzt haben, und das in einer Zeit, wo die meisten Frauen gar nicht so begeistert davon waren. Obwohl unsere Propaganda, unsere Treffen für sie waren, kamen nur zwei Frauen auf hundert Männer. Frauen waren sogar gegen die Verhütung, und es waren die Männer, die darauf achten mußten.
    Für das kulturelle Leben sind Kriegszeiten tote Zeiten. Alles dreht sich nur um das Essen. Es ist das einzige, das zählt, wofür die Leute sich mobilisieren.
  6. In Friedenszeiten sind alle Pazifisten. Aber wenn der Krieg kommt, machen alle mit. Ich glaube nicht, daß Frauen Pazifistinnen sind. Jedenfalls nicht die Masse der Frauen.
  7. Die Frauen sind sehr reaktionär. Natürlich, wir sind eine kleine Gruppe, die fortschrittliche Ideen hat. Aber wenn Sie mit Frauen auf der Straße sprechen, dann sehen Sie, was los ist.
  8. Kollaboration gab es immer. Die Arbeiter, die im Faschismus Granaten herstellen, die ihre Kameraden in den Schützengräben umbringen, sind Kollaborateure. In diesem Sinne haben alle mitgemacht. Aber im Krieg von 1914 hatte man ein Ideal. Die Männer dachten, daß sie kämpfen, um den Krieg ein für alle Male auszurotten. Sie glaubten, es sei der letzte Krieg. 1940 gab es keine Begeisterung bei den Soldaten. Sie gingen mit dem Wissen an die Front, daß man sie hintergangen hatte, daß dieser Krieg von der Regierung aus Profitgründen, aus Ausbeutungsgründen geführt wurde, daß es ein politischer Krieg war.
  9. Früher war das Leben nicht so schwer. Es waren Zeiten, wo man sich mit den anderen verbunden fühlte. Heute sind die Menschen Egoisten geworden, weil sie an der Gurgel gepackt werden. Es gibt so viele Belastungen, daß sie, bevor sie an ihre Mitmenschen denken können, gezwungen sind, an sich zu denken. Man hat uns Steuern aufgezwungen, die es früher nicht gab, Sozialversicherung, Mehrwertsteuer usw. Wir waren ein Land von Landarbeitern und Handwerkern. Es ist das Industrieleben, das Frankreich und die Franzosen verändert hat.
    Eine komische Geschichte aus dem Krieg? - Aus der Normandie schickte ich Butter und manchmal ein Stück Fleisch an meine Pariser Freunde. Damit sich das Fleisch hielt, wickelte ich es in Kohlblätter ein. Später schrieben mir meine Freunde: »Wenn du wüßtest, wie gut die Suppe geschmeckt hat, die wir mit den Kohlblättern gemacht haben!«
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ALINE LUCAS

  1. 1914 war ich sechs Jahre alt. Ich ging zur Schule. Zwei Jahre nach Anfang des Krieges sind die Amerikaner gekommen. Sie haben ihr Lager in unserer Nähe aufgebaut. Während der Pause saßen sie auf der Schulmauer, schenkten uns Bonbons, und wir fanden das prima.
    In der Sarthe war nicht viel los. Wir waren weit weg vom Krieg. Im letzten Kriegsjahr nahm man die Männer, damit sie die Eisenbahnschienen bewachten. Mein Vater zog eine Uniform an, und meine Mutter wünschte sich ein Photo von ihm, so gut sah er als Soldat aus. Er war nicht an der Front, weil man im Krieg die Bahnarbeiter an ihrem Posten braucht. Die Züge waren voller Verwundeter. In vollgepfropften Güterwagen nahmen sie die Schwerverletzten in die Bretagne mit. Mutter machte sich Sorgen um Vater, wenn er die Schienen bewachte, aber es war nicht so schlimm, als wenn er an die Front gemußt hätte. Es gab so viele, die hinmußten! In der Schule brachte uns die Lehrerin bei, für die Soldaten in den Schützengräben zu stricken.
    Im Ersten Weltkrieg haben wir nicht gehungert, weil die Bauern ihr Brot machten und uns ihre Brotkarten gaben. Man half sich gegenseitig. Wenn die Bäuerin krank war, ging meine Mutter ihre Kühe melken und half ihr im Haus. Es war Nachbarschaftshilfe.
  2. 1940 machte ich manchmal Vertretung. Ich arbeitete anstelle der Männer, die von den Deutschen für ihre eigenen Restaurants beschlagnahmt worden waren. Ich sagte dem Inhaber: »Ich bin bereit, für Sie zu arbeiten, aber Sie dürfen mich nicht deklarieren.« Denn wenn er mich deklarierte würde mein Name auf Listen erscheinen. Und die Deutschen nahmen sich von diesen Listen manchmal Frauen für ihre Kantinen. Mit so was wollte ich nichts zu tun haben. So habe ich inkognito gearbeitet und jahrelang Punkte, die für meine Rente angerechnet worden wären, verloren. Aber es war mir lieber so.
    Keiner wurde gegen seinen Willen nach Deutschland verschickt, aber trotzdem hatten wir davor am meisten Angst Unter mir arbeitete eine kleine Serviererin, die nach Le Bourget, zu den Deutschen geschickt worden war. Schließlich hatte sie einen als Freund, aber es war eine schwere Zeit für sie. Ich wollte lieber solche Geschichten vermeiden. Die Restaurants hatten Arbeit, obwohl es nur Grünkohl und Kohlrabi gab. Ich mochte die Restaurants nicht, in denen Schwarzmarkt betrieben wurde, weil die Deutschen ihre Nase da reinsteckten, und wenn sie eins getrunken hatten hop, für ein Ja, für ein Nein nahmen sie einen mit und steckten einen ins Kittchen. Das war mir nicht sicher genug Ich hatte meine Mutter, und ich wollte nicht, daß mir etwas passiert, damit sie nicht allein bleibt. Als die Amerikaner kamen, war ich bei ihr, und als die Deutschen vordrangen habe ich Paris verlassen und bin zu ihr nach Dreux gezogen Dreux wurde schwer ausgebombt, und so sind wir nach Vienne gezogen.
    Es gab keine Butter, kein Fleisch. Aber man hatte immer Kartoffeln im Garten, Gemüse und Kaninchen. Vor allem die Butter fehlte. Es ist immer dasselbe: Wenn wir etwas gehabt hätten, das wir mit den Bauern gegen Butter hätten tauschen können, dann hätten wir von den Bauern Butter bekommen Aber die Bauern haben das Geld lieben gelernt. Im Loiret ist es wie in der Normandie, da lieben sie das Geld, und sie geben nichts umsonst. Vielleicht hätte man es an ihrer Stelle genauso getan.
    Schwarzmarkt ist kein Verbrechen. Was ich unverzeihlich fand, das waren die Leute, die andere anzeigten. So was gab es überall. Eigentlich war es ein politischer Krieg. Es war wie Tag und Nacht, verglichen mit dem Ersten "Weltkrieg. Da kämpfte ein Franzose, da hätte er nicht kollaboriert. In dieser Zeit hatten die Menschen eine bessere Moral. Im Zweiten Weltkrieg wurden Leute angezeigt; manche sah sie nie wieder. In Paris, Avenue d'Orleans, gab es ein großes Tabakwarengeschäft. Die Inhaber hatten einen einzigen Sohn. Irgendeiner hatte etwas gegen diese Leute und hat sie angezeigt. Eines Tages wurde der Sohn abgeholt. Die Eltern haben ihn nie wiedergesehen. Das nenne ich ein Verbrechen.
  3. Der Krieg hat viele Leben zerstört. Es gibt Ehepaare, die fünf Jahre lang getrennt waren. Während dieser fünf Jahre hat sich der Mann im Krieg, in der Gefangenschaft sehr verändert. Er hat einen anderen Charakter bekommen. Die Frau hat ihn in Erinnerung, wie er vor dem Krieg war. Sie konnte ihn nicht wiedererkennen. Es war, als sei es ein anderes, ein neues Ehepaar. Es gab viele, die sich getrennt haben. Die Frauen haben sich während des Krieges >entpuppt<. Die, die sinnlich und temperamentvoll waren, sind eines Tages der Versuchung erlegen, und danach gefiel ihnen ihr Mann nicht mehr. Im Grunde ist das nur menschlich. Die Männer, wenn sie in der Gefangenschaft eine Gelegenheit hatten, betrogen die Frauen auch. Nur, in dieser Zeit bildeten sich die Männer ein, daß sie das Recht hätten, Dinge zu tun, die ihre Frauen nicht tun durften. Das hat sich sehr verändert. Deswegen finde ich das Leben der jungen Menschen von heute viel besser. Sie arbeiten zusammen. Wenn sie abends nach Hause kommen, dann ist es genausogut der Mann, der die Waschmaschine anstellt, der mit dem Kochen anfängt, wie die Frau. Bei meinem Neffen ist das so. Sie vertragen sich gut. Den Männern fällt es nicht mehr ein, sich zu sagen: »Wenn ich einen Besen in die Hand nehme, dann bin ich entehrt.«
  4. Es gibt Männer, die ihren Frauen überlegen sein wollen. Sie können es nicht hinnehmen, daß die Frau ganz gleichberechtigt ist. Und wenn eine Frau einen Mann liebt, dann läßt sie ihn in seinem Glauben. Schön wäre es, wenn jeder abwechselnd bestimmen würde. Die Frau sollte sich um den Haushalt kümmern. Selbst, wenn der Mann ihr hilft, ist sie es, die den Haushalt führt. Ein Mann, der die Kinder spazierenfährt, während die Frau arbeiten geht, das geht zu weit. Die jungen Frauen arbeiten heute, und das ist eine große Befreiung. Sie spielen nicht mehr die kleinen Damen, die mit ihren Freundinnen Tee tranken. Das waren unbedeutende Frauen. Das war ein unbedeutendes Leben. Und wenn der Mann einen Unfall hat, dann sind diese Frauen ganz hilflos. Die Frau, die gekämpft hat, um ihr Leben zu verdienen, weiß, wie man mit Schwierigkeiten fertig wird. Diese Frau ist viel stärker.
    Es gab Frauen, deren Kinder noch klein waren, als der Mann in den Krieg eingezogen wurde. Manche Männer sind nicht zurückgekommen. Diese Frauen mußten hart arbeiten, um ihre Kinder großzuziehen. Sie gaben sie zu einer Tagesmutter, wenn ihre eigene Mutter sie nicht nehmen konnte. Viele Frauen haben sich zugrunde geschuftet. Sie haben viel mitgemacht, und es gab keine Unterstützung wie heute.
  5. Berühmte Frauen im Krieg waren Madame Delattre und Madame Leclerc. [20] Es waren große Damen, die es immer vermieden haben, daß man von ihnen sprach. Ich ging in die Filme mit Victor Francen, Louis Jouvet, den großen Künstlern dieser Zeit. Man mochte die Filme, in denen sie spielten, gern, weil sie immer ein bißchen das Leben von jemandem erzählten. Heute haben die Filme mit dem normalen Leben nichts mehr zu tun. Man ist immer im Bett, küßt sich ab. Am Ende ist das langweilig. La grande Illusion,[21] Carnet de Bai, diese guten Filme habe ich alle gesehen. Ich ging zweimal in
der Woche ins Kino.
  6. Während des Krieges sagte man sich: »Ich muß mich vor dem da in acht nehmen, denn wenn etwas passiert, weiß man nicht, ob er auf Seiten der Deutschen ist.« Man konnte niemandem trauen. Vor allem wegen des Geldes. Sogar in der Bretagne haben sie Flüchtlingen für Wasser Geld abgenommen. Der Krieg hat den Charakter der Leute verändert. Das Geld war das wichtigste, und seitdem ist es so geblieben. Ich kenne ein Restaurant gegenüber der Seine, Le Coq Hardi. Der Besitzer hatte reiche, jüdische Kundschaft. Während des Krieges kamen die hohen Tiere der deutschen Besatzung zu ihm. Er besorgte den Juden Ausweise, damit sie nach Amerika gehen konnten. Er nahm ihnen den Schmuck ab, um ihn angeblich in Sicherheit zu bringen. Hintenherum zeigte er die Juden an. Es war bekannt, denn die Leute, die im Autobus am Coq Hardi vorbeifuhren, ballten die Faust.
  7. Die Frage 7 wurde nicht beantwortet.
  8. Die Frage 8 wurde nicht beantwortet.
  9. Einmal hatte ich Angst, weil ein angetrunkenes Mädchen in das Restaurant gekommen ist, in dem ich arbeitete. Sie fing an, die Deutschen zu beschimpfen. Oft war ein Deutscher da, der einen hohen Grad hatte und der zur Polizei gehörte. Er war ein Adeliger, kam in Zivil und war immer sehr nett zu uns, das muß ich schon sagen. Ihm haben wir es zu verdanken, daß wir nicht festgenommen worden sind, als die deutsche Polizei kam. Wir haben ihn gefragt: »Wie kommt es, daß Sie so gut französisch sprechen?« Er antwortete: »Vor dem Krieg bin ich oft nach Frankreich gekommen. Meine Frau hatte hier ein Hutgeschäft.« Da habe ich ihm gesagt: »Vielleicht sind Sie ein kleiner Franzose vom letzten Krieg?« Und wir haben gelacht. Eines Tages in der Metro höre ich >Aline, Aline!< rufen. Ich sehe mich um, und da ist mein Deutscher mit lauter Orden. Das war er - in Uniform gekleidet. Ich sagte mir: »Verflixt! Ich hoffe, es erkennt mich keiner! Ich hoffe, die Bahn kommt gleich, damit ich schnell weg bin!«

MADELEINE DISSAIS

  1. 1915 war ich drei Jahre alt. Ich kann mich noch genau daran erinnern, als die Amerikaner gekommen sind. Sie haben uns Kaugummi und Schokolade geschenkt, und das war toll, denn wir bekamen nie Süßigkeiten.
    Mein Vater war eingezogen worden, und meine Mutter ging jeden Monat nach Bordeaux, um seinen Sold abzuholen. Sie fuhr morgens mit dem Zug ab und war abends zurück. An diesem Tag ließ sie uns allein. Vor allem verbat sie uns, auf die nahe gelegene Landstraße zu gehen. Wir verbrachten den Tag in Vorfreude auf ihre Rückkehr. Diese Rückkehr war ein wunderbarer Moment. Denn unsere Mutter brachte jedem von uns immer eine Überraschung mit. Sie trug ein Netz, und wir konnten schon von weitem sehen, was sie darin hatte. Apfelsinen, die waren damals etwas Außergewöhnliches, Schokolade, Kekse, Murmeln für meine Brüder und ein kleines billiges Geschenk für mich. Dieses ist eine der schönsten Erinnerungen meiner Kindheit! Als Mutter zu Hause ankam, sprangen wir um sie herum, sie mußte ihr Netz auf die Erde legen, und wir plünderten es mit Eifer aus. Es war unbeschreiblich. Meine Großmutter, eine strenge Frau, nörgelte: »Meine arme Louise, du solltest lieber dem da, der barfuß läuft, ein Paar Schuhe kaufen!« Meine Mutter antwortete: »Oh, Mutter, das stimmt schon, aber wenn die Kinder groß sind, dann erinnern sie sich an das, was ich ihnen hier mitgebracht habe. Ein Paar Schuhe vergessen sie schnell.« Und sie hatte recht, denn mir kommen noch heute die Tränen, wenn ich davon erzähle.
  2. Während des Zweiten Weltkrieges haben wir furchtbar an Lebensmittelknappheit gelitten. Mein Mann wurde nur in den ersten Kriegsmonaten eingezogen. Wegen der drei Kinder wurde er zehn Jahrgänge zurückgestuft und nicht an die Front geschickt. Im Januar 1940 sprach man darüber, daß die Männer mit drei Kindern an die Front geschickt werden sollten, es sei denn, sie könnten einen Schwangerschaftsnachweis vorbringen und so beweisen, daß ihre Frau ein viertes Kind erwartet. Ich habe nicht gezögert und mir ein viertes Kind machen lassen. Als im Juni der Waffenstillstand kam, da habe ich mir gesagt: »Nun, da es passiert ist, bekomme ich das Kind einfach.«
    Die Frauen arbeiteten in den Fabriken so gut sie konnten; sie arbeiteten auch auf den Feldern, um die Männer zu ersetzen, und es war harte Arbeit. Für mich hat sich in dieser Zeit nicht viel verändert. Ob mein Mann da war oder nicht - ich habe immer die Zügel des Haushalts geführt. 1939 war mein Mann Straßenbahnschaffner. Sowie die Männer eingezogen wurden, nahmen sie Frauen. Ich habe die Stelle meines Mannes genommen und bin ein Jahr lang Straßenbahn gefahren. Als mein Mann zurückkam, hat mir die Straßenbahngesellschaft vorgeschlagen, mich zu behalten. Aber mit dem Baby habe ich nicht mehr gearbeitet. In dieser Zeit waren die drei Ältesten auf dem Land. Das hat sie vor den Bombenangriffen geschützt. Sobald es möglich war, habe ich meine Kinder wieder zu mir genommen. Ich war nicht glücklich ohne sie, und sie waren nicht glücklich ohne mich.
    Zwischen 1941 und 1943 gab es gar nichts zu essen. Da habe ich Erinnerungen in meinem Gedächtnis, die sich nie auslöschen lassen. Es war 1943, wir hatten für alles Lebensmittelkarten, sogar für Gemüse. Eines Tages habe ich meine Rationen abgeholt. Einen halben Kohl, ein paar Mohrrüben und eine Kohlrabi habe ich dafür bekommen. Und das für sechs Personen. Als die Kinder aus der Schule kamen, hatten sie Hunger. Ich habe den Kohl, die Rüben und alles zusammengekocht und den Kindern gesagt: »Wenn ihr jetzt eßt, dann habt ihr heute abend nichts mehr. Also geht lieber spielen. Wir machen ein frühes Abendbrot, und dann geht ihr ins Bett.« Beim Einschlafen hatten sie noch Hunger. »Mutti, ich habe Hunger!« Es ist die traurigste Erinnerung meines Lebens. Nichts konnte ich ihnen geben, nicht die kleinste Brotkrume. Da bin ich zu meiner Nachbarin, der Bäckerin, gegangen, um sie um etwas Brot zu bitten. Die Arme war von allen Seiten so geplagt, daß sie, als ich auch noch kam und sagte: »Fräulein Yvonne, haben Sie nicht ein wenig Brot für mich?« mich anfuhr: »Aber was habt ihr denn alle!? Wo soll ich das Brot denn hernehmen?« So bin ich ohne Brot nach Hause gegangen. Nach ein paar Tagen ruft sie mir auf der Straße zu: »Ich sehe Sie nicht mehr, Frau Madeleine! Haben Sie den Bäcker gewechselt?« Ich sagte ihr: »Nein. Aber als ich letztens abends zu Ihneif kam, da haben Sie mich zum Teufel geschickt.« Natürlich habe ich da geweint. »Und seit drei Tagen haben Sie kein Brot für die Kleinen?« sagte sie. »Ja sicher, woher soll ich es denn haben?« Da kamen auch ihr die Tränen, und wir haben zusammen geweint, und seit jenem Tag habe ich wenigstens immer etwas Brot bekommen. Einen Winter habe ich Glück gehabt. Ich habe von einem Bauern 600 kg Kartoffeln kaufen können. Überall hatte ich sie: unter den Betten, in Kisten, überall. Sie trieben durch die Matratzen hindurch Keime. Manche faulten, und es stank. Man mußte sie andauernd auslesen. Wir haben sie gekocht, gebacken, als Brei gegessen, und als wir Rinderschmalz hatten, haben wir sie als pommes f rites gegessen, was wir sehr gut fanden.
    Ab 1943 hatte sich der schwarze Markt organisiert. Es gab geheime Schlachthäuser. In der Nacht holte mein Mann ein viertel Rind. Als er zurückkam, legte er das Fleisch auf den Tisch, und ich zerschnitt es mit einer Säge und allen möglichen Werkzeugen. Es verkaufte sich schnell. Der Verdienst, den ich hatte, war das Fleisch, das ich mir so für meine Kinder leisten konnte. Es hat nicht lange gedauert, weil wir angezeigt worden sind. Aber die Polizei war unser Komplize, sie kauften unser Fleisch. Die Polizisten sagten zu meinem Mann: »Mache dir keine Sorgen. Wenn etwas schiefgeht, sagen wir dir Bescheid.« Eine Nacht hat es geklopft. Ich hatte immer Angst, daß es die Deutschen sein könnten. Es war die Polizei, die uns sagte, daß man die Schlächter gefangengenommen hatte.
  3. Ich hatte in meiner Ehe große Sorgen. Mein Mann hatte einen Hang zum Trinken. Er war kein richtiger Alkoholiker, aber er hätte nie mit dem Trinken anfangen sollen. Er vertrug es nicht. Es war ein Verhängnis. Er trank aus Mangel an Nahrung und von der Schwerarbeit erschöpft. Das nahm ihn wiederum mit, und ich schrie ihn an. Indirekt hat so der Krieg zur Zerstörung unserer Ehe beigetragen.
  4. Der Platz der Frau ist im Hause. Es war unsere Berufung. Man heiratete, um Kinder zu bekommen, um eine Familie zu gründen. Ich habe nur gearbeitet, als es wirklich nötig war, während des Krieges, als mein Mann krank war, oder weil ich unbedingt zuverdienen mußte. Aber ich wäre lieber zu Hause geblieben, um meine sechs Kinder zu erziehen. Meine ältesten Kinder habe ich so erzogen. Ich arbeitete zu Hause, nähte für auswärts, machte meinen Haushalt. Wenn die Kinder aus der Schule kamen, war die Mutter da. Sie erkennen an, daß das sehr wichtig für sie war. Die zwei Jüngsten haben das nicht gekannt, weil ich außerhalb arbeiten mußte. Es hat ihnen sehr gefehlt.
  5. Ich kenne keine Frauen, die in der Resistance waren. Ich kenne keinen, der den Juden geholfen hat. Am Anfang wußte ich nichts von der Resistance, sonst hätte ich mich sicher engagiert, so patriotisch war ich. Bei der Straßenbahn gab es besondere Fahrkarten für die Deutschen. Sie brauchten nicht zu zahlen. Das war ein Abkommen zwischen der Besatzung und der Verwaltung. Aber ich gab ihnen die Freikarten nicht, und ich beschimpfte sie. Meine Kameraden sagten: »Eines Tages nehmen sie dich mit und bringen dich in das Gefängnis von Fort du Ha.«
  6. Ich bin sicher, daß die Frauen versuchen würden, den Krieg zu verhindern. Von Natur aus sind wir Pazifistinnen, überlegter, vernünftiger als die Männer. Der Krieg ist ein Grauen und hat den Menschen nie etwas gebracht. Die Männer, die für den Krieg verantwortlich sind, sind wahrhaft unverantwortlich. Wenn es wieder Krieg gäbe, wäre es schmerzlich für mich, meine Kinder in den Krieg ziehen zu sehen. Aber ich fände es selbstverständlich, daß sie ihr Vaterland verteidigen. Ich bin eine Frau, ich würde alles tun, um mein Land zu verteidigen, aber zugleich würde ich alles tun, um den Krieg zu verhindern.
  7. Frage 7 wurde nicht beantwortet.
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  8. Ab 1940 begannen die Denunziationen; es war etwas Schreckliches. Ich habe Kommunisten gekannt, die bei der Gestapo angezeigt worden sind und erschossen wurden.
  9. Während des Krieges war das Leben nicht leicht. Früher habe ich den ganzen Tag laut vor mich hin gesungen - seit 1939 nie wieder.

MADAME LEHMANN

  1. 1914 hat mich am meisten das Krankenhaus beeindruckt. Ich war sechzehn Jahre alt und arbeitete mit meiner Mutter, die eine ganze Abteilung unter sich hatte. Sie pflegte die Schwarzen, die Belgier, die Nordafrikaner, die, die keiner wollte. Ich habe da Dinge erlebt, so schrecklich, so traurig, in jeder Beziehung. Arme Eltern, die inmitten des grauenhaftesten Gestanks tagelang am Bett ihres Kindes wachten, das an Blutvergiftung starb. Das hat mich verändert, hat mich stark gemacht. Da mein Vater nicht wollte, daß ich dieses tue, daß ich jenes tue; daß ich studiere, daß ich arbeite, habe ich beschlossen, mich sozial zu betätigen. Und das hat mich wirklich interessiert.
    Meine Mutter hat die Schwierigkeiten des Krieges sehr mutig überlebt. Das Leben hatte sich natürlich für alle verändert. Aber meine Mutter war eine ziemlich verwöhnte Frau, und auf einmal hatte man nicht mehr so viel Bedienung und auch weniger Heizung. Und man hatte Mühe, sich Lebensmittelkarten zu besorgen. Vor allen Dingen lebte man in Sorge. Meine Mutter hatte drei Brüder an der Front, und wir warteten auf ihre Briefe.
    Nach der Arbeit im Krankenhaus von Grandville in der Normandie bin ich nach Paris zurückgekehrt und habe meine Literaturstudien wieder aufgenommen. 1918 habe ich mich, wie alle, ins Tanzen gestürzt. Jeder tanzte, sogar die alten Leute, und natürlich noch mehr die jungen. Mit dem Tanzen hat das zwei Jahre lang gedauert.
    Sehr wenige von uns haben 1917, 1918 mitbekommen, was der Krieg für die Zivilbevölkerung bedeutet. Sie ist das wirkliche Opfer des Krieges. Diese armen Leute, die man wie Vieh in die Züge stopfte, schon fast tot, waren ein so trauriger, so unmenschlicher Anblick. Wenn sie abends in Evian ankamen, war es der Pfarrer, der sie empfing. Die des anderen Zuges wurden vom Bürgermeister begrüßt. Man ließ sie die Marseillaise singen. Es war tragisch. Am Anfang des Zweiten Weltkrieges habe ich zu meinem Mann gesagt: »Es wird ein Krieg der Zivilen sein.« Und so war es auch.
  2. Vor 1914 waren wir rachsüchtig, fahnenfreundlich. Ich war doppelt beeinflußt, weil mein Großvater aus Ostfrankreich kam und den Krieg 1870 mitgemacht hatte. Ich hatte das Gefühl, daß mein Rachewunsch berechtigt war, weil ich nicht direkt beteiligt war. 1940 habe ich mir das nicht erlaubt, denn da war ich direkt beteiligt. Mein Mann ist von den Deutschen verhaftet worden. Er wurde 1942 umgebracht. Trotz der Zeit, die inzwischen vergangen ist, fällt es mir schwer, davon zu sprechen. Meine Kinder habe ich nicht mit einem Haßgefühl im Herzen erzogen. Niemals! Ich habe sie erzogen im Sinn der Bewunderung, die sie ihrem Vater schuldeten, im Sinne des Vorbildes, das er ihnen gegeben hat. Ich wollte, daß sie Männer sind wie er. Nie ist ein Wort des Hasses über meine Lippen gekommen. Ich hatte nicht das Recht dazu. Ich hätte mich an manchen Leuten rächen können, die an mein Portemonnaie gegangen sind, aber ich fand das unwichtig. Nach der Befreiung habe ich erlebt, daß Menschen ungerecht verfolgt wurden, oft aus finanziellen Motiven. Was mich sehr verletzt hat, das waren die Franzosen, meine Landsleute, die so viel Mieses getan haben. Ich sagte mir: »Es gibt viele, die Gutes getan haben. Man muß nur diese sehen und die anderen vergessen.«
    Während des Krieges habe ich mich um unser Familienunternehmen, die Ateliers Lefranc, gekümmert. Es hat Spaß gemacht, und ich habe viele Freunde gewonnen, die ich bis heute behalten habe. Wegen des Todes meines Mannes wurde ich zur Verwalterin benannt. Ich besaß zu dieser Zeit ein Drittel der Gesellschaft. So konnte ich die Waage aus dem Gleichgewicht bringen. Deshalb mußten die beiden anderen Teilhaber, meine Vettern, mir schmeicheln und mir sagen, daß ich sehr intelligent sei.
    Ich habe erfahren, daß alte, treue Kunden von uns, wie Waroqier und Asselin, Maler dieser Zeit, unseren Einzelhändlern Eier und Butter bringen mußten, um Aquarellfarben kaufen zu können. Ich habe gesagt: »Der Spaß hat lange genug gedauert. Unsere alten Kunden sollen zu uns kommen Man wird ihnen Farben geben, und sie brauchen sich nicht mehr die Nahrung vom Mund abzusparen.« Ich habe eine kleine Inspektionsreise gemacht, von einem Kunden zum anderen. Ich war bei Gen Paul, bei allen Malern dieser Zeit habe mich mit vielen angefreundet und ihnen Bilder abgekauft.
    Der Schwarzmarkt funktionierte nach dem Prinzip von Mund zu Mund. Zum Beispiel sagte eine Freundin: »Ich kenne einen, der Nudeln verkauft. Ganz toll.« Dann kam der Mensch zu einem. Es war unbeschreiblich. Man sah unglaubliche Typen. Ich hatte einen Halbargentinier, der mir sagte-»Wissen Sie, der Schwarzmarkt ist mein Lieblingshobby« Ich glaube, der arme Kerl ist im Gefängnis gelandet. Ich habe bemerkt, daß mein Sohn Albert von einem viel älteren Jungen verleitet wurde, in die Resistance zu gehen Albert war dazu zu jung. Er war achtzehn und hatte gerade sein Abitur gemacht. Ich fand, daß mein Mann es nicht gewollt hätte. Oder sagte ich mir: Ich habe meinen Mann verloren, ich will meine Kinder behalten!? Es ist möglich Vielleicht waren es beide Gründe. Ich habe Albert in die Schweiz geschickt. Nachts, übers Wasser, in einem Boot ist er über die Grenze gegangen. Ich habe ihn erst nach der Befreiung wiedergesehen.
    Marcel war dreizehn Jahre alt, ein Alter, in dem man viel wächst. Ich konnte ihn nur schwer ernähren. Ich habe ihn in die Landes geschickt, mit meiner alten Zofe. Er ist ein Jahr dort geblieben. Ich besuchte ihn von Zeit zu Zeit. Marcel hing sehr an mir, und die Trennung ist ihm sicherlich schwergefallen. Glücklicherweise hatte er diese Frau bei sich, die ihn seit der Geburt kannte, die ihn sehr gern mochte und mit der er sich begnügt hat.
    Den ersten Winter habe ich meine Kinder mit Fisch ernähren können, weil ich mich mit einer Fischhändlerin angefreundet hatte, die wirklich lieb war. Ich mußte Schlange stehen wie alle anderen, aber ich kam mit Fisch zurück. Und es gab die Pakete vom Land. Ein gewisser Fleischer hat mir zwei Jahre lang regelmäßig Fleisch geschickt. Ich habe den Herren nie kennengelernt. Dann hatte ich noch eine Bretonin, die mir Butter schickte. Sie war die Freundin meiner Köchin die achtundzwanzig Jahre bei mir gearbeitet hat. So etwas gibt es heute nicht mehr. Ich hatte auch eine Tante, die mir Eier schickte. Und ich habe eine Abmachung mit meinem Vetter gemacht, der einen großen Besitz an der Loire hatte. Er gab an, daß er mir ein Feld vermietet hatte, so daß er mir Kartoffeln schicken konnte. Das alles war nicht überwältigend, aber ich habe mir ganz schön zu helfen gewußt. Ich war jung, nie müde. Es machte mir nichts aus, Schlange zu stehen oder Fahrrad zu fahren.
  3. Nach dem Krieg hat jeder seinen Platz wieder eingenommen, war alles wieder beim alten. Was mich am meisten entmutigt hat, war, bei der ersten Einladung zum Abendessen nach dem Krieg dasselbe Menü wiederzufinden, dieselben petit-fours und dasselbe schlechte Mokka-Eis.
  4. Im Ersten Weltkrieg waren die Schwierigkeiten auf dem Lande noch sichtbarer als in der Stadt. Dieser Krieg wurde von den Bauern gemacht. Man braucht nur auf den Denkmälern der kleinsten Dörfer Frankreichs die Zahl der Toten zu sehen. Es waren alles Bauern. In der Vendee habe ich Frauen gesehen, die zwei, drei Jahre lang große Güter mit einem einzigen vierzehnjährigen Burschen bewirtschaftet haben. Später hat man ein paar Gefangene hingeschickt. Leider hat es manchmal Scherereien gegeben, wenn der Ehemann zurückkam.
    Auf dem Lande trägt die Frau große Verantwortung. Der Mann kümmert sich um die Felder, das Säen usw. Die Frau verwaltet das Geld. Sie führt die Wirtschaft. Sie muß mit dem Geld, das die Schweine und das Geflügel einbringen, die Kleidung für alle bezahlen und alle ernähren. Das war auf dem Lande immer sehr deutlich. Die Frau ist Herrin im Haus. Der Mann ist gut und brav, er arbeitet viel, aber es ist die Frau, die über alles bestimmt.
  5. Während des Krieges habe ich nur Frauen gekannt, die sich gut verhalten haben. Aber keine war außergewöhnlich. Es gab bestimmt welche, die Bewundernswertes getan haben, aber wir wußten es nicht. Da kann man eine Parallele zu
bestimmten Deutschen ziehen, die sagten: »Ich habe von nichts gewußt.« Ich will folgende Geschichte erzählen: Wir hatten einen Freund der Familie, der im Ersten Weltkrieg junger Offizier war. 1940 war er Leiter eines Rangierbahnhofes. Er wurde, wie alle anderen, gefangengenommen und als ancien combattant im September 1941 mit verletzten Offizieren nach Hause geschickt. Er hat sein altes Leben wieder aufgenommen. Eines Tages erklärte er mir: »Ein französischer Offizier ist sich etwas schuldig. Ich zum Beispiel, ich machte in der Gefangenschaft jeden Morgen meine Gymnastik, dann wusch ich mich mit kaltem Wasser und wusch auch jeden Tag meine weißen Handschuhe. Ich wollte, daß ein französischer Offizier gegenüber den Deutschen doch nach etwas aussieht.« 1941,1942,1943,44,45. Am Ende des Krieges fragte er mich: »Sag' mal, hast du davon gewußt, daß es die Resistance gab?«
    Ich habe Leute in der Resistance gekannt, die man auch die >Kleine< Resistance nannte. Ich habe jüdischen Freunden geholfen. Ich habe ihnen falsche Papiere ausstellen lassen, ich habe sie beherbergt. Es ist nicht viel, und man redete nicht von dem, was man tat. Und nach dem Krieg, warum davon reden?
    In der Zeit der Befreiung hat man geradezu brutales Handeln gegen die Kollaborateure und als solche Verdächtigte beobachten können, darunter ekelhafte persönliche Rachen. Als ich während des Kriegs nach Compiegne ging, um zu sehen, was in diesem grauenvollen Lager vorging, fuhr ich im Zug -zweiter Klasse, weil die erste Klasse voller Deutscher war. Da habe ich ein Gespräch zwischen zwei Frauen gehört. Die eine sagte: »Weißt du, die X da bekommt ein Viertel Milch, auf die sie kein Recht hat. Aber das regeln wir alles nach dem Krieg!« Da habe ich mir gedacht: »Nach dem Krieg wird's sicherlich hoch hergehen.« Und so war es auch. Und da habe ich dann beschlossen, gewisse Leute zu verteidigen. Ich hatte einen Freund, der als angeblicher Kollaborateur einen Prozeß bekommen hat. Man wollte ihn an Stelle des Leiters der Zeitung, für die er arbeitete, verfolgen. Er wiederum wollte seinen Chef nicht verleugnen. So hat er gesagt: »Ich habe dasselbe Los wie er.« Er bekam einen harten Prozeß, ist aber mit heiler Haut davongekommen. Ich habe für ihn gezeugt. Es waren gute Leute, die während des Krieges eine Menge getan haben. Seine Frau hat mich angerufen, ich habe sie beraten und ihren Mann bei mir versteckt. In der Zeit war es wichtig, nicht von den Franzosen geschnappt zu werden.
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  6. Ich bedauere, sagen zu müssen, daß ich dem Pazifismus der Frauen nicht traue. In all diesen Zeiten, wo sie etwas für das Urwichtigste hätten tun können - verhindern, daß man ihre Kinder, Männer, Geliebte nimmt -, haben sie nichts getan.
    Die Frau hat das Recht, Schwangerschaften zu unterbrechen, die nicht gewünscht sind, Kinder nur zu bekommen, wenn sie sie haben will und kann. Die Frau muß Herrin über ihren Leib sein. So denke ich, seit ich zwanzig Jahre alt bin, also werde ich mich nicht mehr verändern. Aber für mich kommt es erst einmal darauf an, zu wissen, wer die moderne Frau ist, denn ich kenne sie kaum. Im Moment ist sie ein wenig so, wie sie ein jeder haben möchte. Sie sucht, sie will ihre Freiheit, sie will dies, sie will jenes. Aber was ist ihr eigentliches Ziel? Ich bin ohnehin etwas besorgt, weil die Frau so stark ist und die armen Männer es so wenig sind. Auch bekümmert mich die Freiheit, die man heute so jung hat. Sicherlich bin ich im Unrecht. Zwar bin ich nicht dafür, daß die jungen Mädchen bis ins hohe Alter Jungfrauen bleiben, wie zur Zeit meiner Großmutter, wo sie strik-kend neben Mama saßen. Aber ich frage mich, ob diese große sexuelle Freiheit, die man heute so jung hat, eine wirkliche Befreiung bedeutet.
  7. Ich glaube, daß es möglich ist, daß Frauen den Faschismus sowie den Kommunismus unterstützen. Die Frau tritt viel stärker in eine Bewegung ein. Ich habe das bei den Croix de feu [22] einer faschistisch orientierten Bewegung, die wir in Frankreich hatten, beobachtet. Auch wenn ich manchmal zu Frauentreffen ging, sagte ich mir auf dem Weg nach Hause: »Mein Gott, es wäre gut, wenn sie nicht merken würden, daß ich nicht so bin wie sie. Sie würden mich zerschnitzeln.« Die Frau wird schnell fanatisch, wie die Frauen zur Zeit der Revolution, weil sie mehr Kraft hat als die Männer. Und wenn es nötig ist, ist sie es, die die Kerle antreibt.
  8. Im Ersten Weltkrieg gab es keine Kollaboration. Man kann Kriege nicht vergleichen, aber dieser war ein heroischer Krieg, der noch den Napoleonischen Kriegen ähnelte. Im Vergleich dazu war der Zweite Weltkrieg furchtbar, weil es Petain gab und Laval [23] und Franzosen wie Darquier de Pellepoix[24] und seine Freunde, darunter der Polizeikommissar meines Viertels. Diese waren widerliche Leute, die einem einen Personalausweis mit dem Wort Jude darauf ausstellten, nur weil es ihnen Spaß machte. Manche arbeiteten Hand in Hand mit der Gestapo.
    Um seine arische Herkunft zu beweisen, mußte man Geburtsschein, Taufschein, Beerdigungsbescheinigung vorweisen können. Es war nicht so einfach. Ich war beim Pfarrer in der Kirche Saint-Roch, wo meine Großmutter väterlicherseits beerdigt ist. Der Pfarrer sagte mir: »Es tut mir leid, Madame, aber der einzige Band, der uns fehlt, ist der des Jahres, in dem Ihre Großmutter beerdigt wurde.« Da sagte ich: »Aber Herr Pfarrer, Sie sind für diese Bände verantwortlich, und Sie wissen, daß, wenn Sie mir diese Bescheinigung nicht geben, Sie mich dazu verurteilen, vielleicht morgen verschleppt zu werden.« Und trotzdem hat er mir die Bescheinigung nicht gegeben. An einem bestimmten Augenblick war alles so kompliziert, daß ich zu einem Freund von Herrn Darquier de Pellepoix gehen sollte, der die Macht hatte, einen für arisch zu erklären. Man mußte zuerst 20 000 Francs zahlen, sich dann ausziehen und um einen Tisch herumhopsen. Dann erklärte er einen für arisch. Diese Leute waren Kranke. Für meine Kinder hatte ich dieselben Sorgen. Man mußte seine Papiere Leuten anvertrauen, die kaum schreiben konnten. Ich sagte mir: »Mein Gott, wenn sie sich verschreiben...!« und hatte Todesängste.
  9. Man lebte viel verbundener mit Freunden und Familie. Es gab eine Art Herzlichkeit, man lebte nicht so auseinander wie heute. Wir hatten dieselben Sorgen, dieselben Ängste. Natürlich gab es einerseits die Petainisten und andererseits die, die für La France libre waren. Das Furchtbarste war das wegen Petain zweigeteilte Frankreich, wovon wir immer noch nicht geheilt sind. Auch wenn man heute davon spricht, flammt noch der alte Haß wieder auf.
    Man kann keine gute Erinnerung an den Krieg haben. Aber es gab Menschen, die wirklich gut zu mir waren, und wir sind nach dem Krieg Freunde geblieben. Das hat mir große Freude gebracht. Aber man lebte in ständiger Angst. Trotzdem war ich stärker als im Ersten Weltkrieg, obwohl ich meinen Mann verloren hatte, obwohl ich von meinen Kindern getrennt war. Ich hatte so viel um mich herum zu tun, so vielen Menschen zu helfen, daß ich gar nicht gemerkt habe, wie tief ich die ganze Zeit in Angst gelebt habe.
    Ich bin von einem finanziellen Standpunkt her gesehen nicht gut aus dem Krieg herausgekommen, weil ich mich, als es auf die materiellen Verluste ankam, nicht verteidigt habe. Diese Verluste waren nur relativ, und sie hatten ihren Sinn für mich verloren. Aber ich bin ohne Haß aus dem Krieg gekommen, und ich glaube, daß ich mich deshalb wieder aufbauen konnte. Man muß es wollen, und ich habe es im Andenken an meinen Mann gewollt, der Haß nicht kannte. Er war ein wunderbarer Mann.
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III. Und was lernen wir daraus?

Aus den Berichten wird sehr deutlich, daß alle sechs Frauen durch die beiden Weltkriege stark geprägt wurden. Vor allem der Erste Weltkrieg, in dem sie als junge Mädchen zum ersten Mal in ihrem Leben mit Hunger, Tod, Elend und Grausamkeit konfrontiert wurden, hat sie emotional sehr getroffen. Während des Zweiten Weltkrieges hingegen waren sie schon gefestigte Frauen mit Kriegserfahrungen. Ersatz ist das Schlüsselwort für die Rolle der Frau im Krieg. Ihre Leistungen, ihre Arbeit, ihr Mut werden nicht direkt als ihre eigenen anerkannt, sondern in bezug auf den Mann als Ersatzleistungen gesehen. Deshalb kann auf Ruhm und Ehre später verzichtet werden, und deshalb sehen die Frauen selbst ihre Leistungen nur als Ersatz an - allerdings sehr häufig verbunden mit dem Wissen um ihre eigenen Stärken und Fähigkeiten und um die Schwächen und Unfähigkeiten der Männer.
Bei der Aufzählung der Toten, der Kosten, der Helden und Medaillen kommen Frauen kaum vor. Nur durch mühsames Suchen findet man Daten und Informationen über die politische und ökonomische Rolle der französischen Frauen in den beiden Weltkriegen.
Landläufig wird davon ausgegangen, daß erst mit dem Ersten Weltkrieg die Frauen angefangen haben, in den Fabriken zu arbeiten. In Wirklichkeit war Frauen- und Kinderarbeit seit der Industrialisierung weit verbreitet. Nur in Krisenzeiten, wie vor dem Ersten Weltkrieg, werden die Frauen zurückgeschickt, zu den drei K's - Kinder, Küche, Kirche. Die Frauen bilden eine elastische, zahlreiche und unendlich anpassungsfähige ökonomische Reservearmee, die vor allem in Kriegszeiten eingesetzt wird. So sind 1914 32% der Fabrikarbeiter Frauen, und zu Ende des Krieges steigt die Zahl auf 40% an. Auch diese zusätzliche weibliche Arbeitskraft stammt aus der Arbeiterbevölkerung und nicht aus dem Bürgertum, die zur Unterstützung des Vaterlandes Schwerarbeit leistet, wie die Propaganda für Frauenarbeit aus dieser Zeit glauben macht.
Die Frauen, die schon immer gearbeitet haben, sind also Arbeiterfrauen. Was sich für sie in den Kriegsjahren verändert hat, ist, daß sie nach einer kurzen Anlernzeit und der Prüfung ihrer moralischen Gesinnung als qualifizierte Arbeitskräfte eingesetzt wurden, die die Männer ersetzten, und zum ersten Mal für gleiche Arbeit gleichen Lohn erhielten. In der Metallindustrie arbeiten über eine halbe Million Frauen, allein bei Renault und Citroen sind 60% der Arbeiter Frauen. Es wurde gesagt, daß die Frauen Frankreichs ihr Land mit schmelzenden Metallen nährten.
Die großen feministischen Bewegungen nutzten diese einmalige Situation, daß das Vaterland auf massenhafte Frauenarbeit absolut angewiesen war, aus, um ihre Ideologie, ihren Kampf für die Arbeit der Frau durchzusetzen. Dieses war nur möglich, weil der Bedarf der Nation und das Ziel der Feministinnen übereinstimmte. So wurden bis zu Ende des Krieges einige Arbeitserleichterungen durchgesetzt; ein freier Tag in der Woche, Sonderurlaub, wenn die Ehemänner für ein paar Tage nach Hause kamen. Frauen bekamen zum ersten Mal das Recht, in Nachtschicht zu arbeiten, was vorher aus moralischen Gründen verpönt und verboten war; dadurch reduzierte sich die Arbeitszeit von 12 auf 10 Stunden, was ihnen erlaubte, tagsüber ihre Kinder zu versorgen.
Um die Produktivität zu erhöhen, wurden Kontrollsysteme eingeführt: Stechuhren und Taylorismus vermehrten sich. Die Produktivität in der Schießpulverindustrie wurde während des Krieges verdreifacht. Um Zeitverluste zu vermeiden, wurden Kinderkrippen in den Fabriken eingerichtet und Räume, in denen die Mütter ihre Säuglinge stillen konnten. Auch wurden in Industriegeländen Holzsiedlungen erbaut, in denen Frauen lebten und verpflegt wurden. So wurde erreicht, daß auf Kosten und zu Lasten von Frauenarbeit die Produktivität während des Krieges stieg. Der Motor waren auch Patriotismus und soziale Anerkennung für die Frauen. Die Arbeiterin, der man vor dem Krieg nachsagte, daß sie Lasterhaftigkeit und nicht Not von der Familie in die Fabrik treibt, wurde nun zur Heldin.
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Die Arbeiterin steht an der Maschine, wie der Soldat an der Front steht. Beide sind verbunden durch den Kampf fürs Vaterland. Bei Rückkehr der Männer kehren viele Frauen zu ihrer eigentlichen Bestimmung als Frau und Mutter zurück und lassen die Männer ihre Arbeitsplätze wieder einnehmen. Auch während des Zweiten Weltkrieges kann Frankreich die Abwesenheit und den Verlust der Männer ertragen. Die Frauen ersetzen sie. Sie tun alles überall, wie es in der Propaganda für Frauenarbeit heißt. Sie sind Schaffnerinnen und Briefträgerinnen; sie arbeiten im Hafen bei der Be- und Entladung der Schiffe. Im Bau leisten sie Schwerarbeit. Auch im Zweiten Weltkrieg sind es vor allem die Frauen, die die Waffen herstellen. Sie arbeiten an gefährlichen Maschinen und trotz Schwangerschaft mit gefährlichen Chemikalien. Es gab viele Tote und Schwerverletzte unter den Frauen.[25] Auch in der Landwirtschaft werden 80% der Arbeit von Frauen und Kindern geleistet. Frauen pflügen die Felder ihrer Männer, Söhne und Schwiegersöhne. Sie bewirtschaften große Felder, versorgen Schafe, Pferde, Kühe und Schweine. Sie beschlagen Pferde, reparieren Mähmaschinen und fahren Traktor. Bäckerfrauen setzen die erkalteten Öfen ihrer eingezogenen Männer wieder in Gang und backen Tag und Nacht Brot für die ausgehungerte Bevölkerung und für die Soldaten an der Front.
Die Frauen organisieren den Alltag, den Schwarzmarkt, den Austausch, damit die Familie genug zu essen bekommt, auch in den Gegenden, wo der Mangel groß ist. Kleider und Schuhe werden aus Vorhangstoff und Gummirädern produziert; kunstvoll und schmackhaft wird ohne Butter, ohne Eier und ohne Milch gebacken. Hunderte von Rezepten werden von den Frauen erfunden, um alles zu ersetzen, was fehlt, um den Tag erträglich zu gestalten.
Auch in den Büros ersetzen Frauen Chefs, sie treffen wichtige Entscheidungen und verwalten Unternehmen. Die ersten studierenden Frauen können ihre juristischen und medizinischen Kenntnisse voll zur Entfaltung bringen. Auch die jungen und alten Frauen der Mittelschicht, die Damen der Bourgeoisie, des Adels bleiben nicht untätig. Sie werden in die im Krieg anfallenden Arbeiten einbezogen. Sie organisieren Flüchtlingslager und Waisenheime, sie bilden auf den Bahnhöfen Empfangskomitees, die Verletzte und Heimatlose pflegen, trösten, ihnen gut zusprechen. Das Bild, das allen in Erinnerung geblieben ist, ist das der Krankenschwester. Die Frau als Mutter, Gattin und Schwester ist wie der weiße Engel, der über den Niederungen von Schmerz, Blut und Niederträchtigkeit schwebt. Sie sind es, die Sehnsucht nach einer guten, heilen Welt verkörpern.[26] Alle Frauen sind vom Krieg betroffen, viele werden ohne ihren Willen in den Krieg hineingezogen, keine Frau kommt unverändert aus dem Krieg heraus. Die Frauen, mit denen wir gearbeitet haben, haben zwei Weltkriege durchgemacht. Sie haben gearbeitet und sie haben gelitten. Ohne sie wäre die Produktion zusammengebrochen, ohne ihre Anpassungsfähigkeit und ihren Erfindungsreichtum wäre das tägliche Leben nicht nur schwer, sondern unerträglich gewesen. Aber alle diese Leistungen wurden schnell vergessen, denn die Frauen leben im Schatten der Anonymität. Was die politische Rolle der Frauen im Zweiten Weltkrieg anbelangt, so können wir den gleichen Mechanismus verfolgen. Sie sind aktiv an politischen Aktionen beteiligt, oft ohne sich bewußt zu sein, daß es sich dabei um politische Aktionen handelt und meistens ohne eine eigene politische Position zu haben. Dieser Mangel einer explizit politischen Haltung der Frauen erleichtert es der offiziellen Geschichtsschreibung, die Frau als eine ephemere Erscheinung zu begreifen und sie in der Geschichte der Kriege zu übergehen. Um zu verstehen, warum die Französinnen im politischen Geschehen der beiden Weltkriege Randfiguren blieben, muß man sich vergegenwärtigen, daß bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges die Frauen weder das Wahlrecht hatten noch gewählt werden konnten. Sie hatten ohne Genehmigung des Mannes weder das Recht, ein Konto zu eröffnen, einen Scheck auszustellen oder entgegenzunehmen, sich an einer Universität einzuschreiben oder eine Berufstätigkeit aufzunehmen. Die Mehrzahl der Frauen hatten keinen Kontakt zur Politik, denn diese war Männerangelegenheit. Aus dieser Situation heraus ist verständlich, daß die Französinnen keinen Widerstand gegen den Krieg geleistet haben, wohl aber im Krieg - gegen den Erzfeind, die Deutschen. Diese Tatsache bringt einen unauflösbaren Widerspruch in der Haltung der Frauen dieser Zeit zum Ausdruck: als Frauen patriotisch und als Mütter pazifistisch zu sein.[27] Ein gemeinsamer Faden zieht sich durch alle Gespräche: Der Unterschied zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. »Beide sind wie Tag und Nacht. Der Erste Weltkrieg ist ein patriotischer Krieg, der Zweite ein politischer.« Im Ersten Weltkrieg haben alle Franzosen ihr Letztes gegeben. Es sollte der letzte aller Kriege sein, gegen den Erzfeind Deutschland, um die Niederlage des Krieges von 1870/71 zu rächen und Elsaß-Lothringen wieder zurückzugewinnen. Darin waren sich alle Franzosen, Frauen wie Männer, einig.***490-2.28*** Der Zweite Weltkrieg hingegen war ein politischer Krieg, der aus ökonomischen Gründen und aus Machtstreben begonnen wurde. Er wurde nicht vom französischen Volk getragen, denn die Männer sind ohne Begeisterung an die Front gegangen. Und die Frauen nahmen den Kriegsausbruch mit Schrecken und Desillusion hin.
In doppelter Weise gab es zwischen 1940 und 1944 kein einheitliches Frankreich: in politischer und in ideologischer Hinsicht. Bis in die Familien hinein war Frankreich gespalten, und auch heute noch spricht man lieber nicht über diese Jahre.
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Politisch gesehen war Frankreich mit dem Waffenstillstand geteilt: in ein besetztes Frankreich um Paris, die Normandie und die Bretagne und ein freies, offizielles Frankreich, vertreten durch die autokratisch-nationalistische Vichy-Regierung mit Marechal Petain und Laval. Die Regierung arbeitete mehr oder weniger mit den Deutschen zusammen. Schon 1940 wurden Gesetze gegen die Juden erlassen, wurde Juden der Universitätsbesuch verboten, 1942 die Arbeit von Franzosen in Deutschland gesetzlich festgelegt. So konnte der Waffenstillstand durch Eindringen in das freie Frankreich 1942 durch die deutsche Armee verletzt werden, ohne daß die Vichy-Regierung Einspruch erhoben oder gar Widerstand geleistet hätte. Vor allem aber lieferte die Vichy-Regierung Juden und politische Gefangene an die Gestapo aus. Im besetzten Frankreich standen Razzien und Massenverhaftungen von Juden auf der Tagesordnung. Es sei an den 15. Juli 1942 erinnert, wo 13 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder verhaftet, in das Stadion Velodrom d'hiver verfrachtet und später fast alle in deutsche KZ's abtransportiert wurden.
Ohne die Unterstützung der Vichy-Regierung [29] und ohne nicht unbeträchtliche direkte Hilfe der Franzosen hätten die deutschen Besatzer die Bevölkerung niemals so gut kontrollieren können, da sie weder Land, Leute noch die Sprache ausreichend kannten.
Schlimmer als die politische Teilung Frankreichs wurde von allen die ideologische Spaltung wahrgenommen: in diejenigen, die für Hitler, und diejenigen, die gegen ihn waren -Kollaboration oder Resistance. Das Klima war das des Mißtrauens und der Angst, keiner traute seinem Freund, Nachbarn oder Familienangehörigen, denn Verrat und Denunziation waren an der Tagesordnung.[30] Die Resistance, die sich ab 1940 formierte, bestand aus vielen Gruppierungen mit sehr unterschiedlichen politischen Richtungen, nationalistisch Gesinnten, Kommunisten, Gaullisten, die sich zum Teil befehdeten. Erst allmählich gelang die Einigung im Hinblick auf das gemeinsame Ziel: Frankreich den Franzosen. Daß viele Franzosen den Faschismus mehr unterstützt haben, als es erforderlich war, daß Denunziation für Geld und Lebensmittel an der Tagesordnung waren, daß Juden ermordet oder an die Deutschen ausgeliefert wurden, das wurde in aller Klarheit während unserer Gespräche nur von Frau Lehmann gesagt. Daß auch in Frankreich der Satz »Ich habe nichts davon gewußt« recht häufig anzutreffen ist, hat uns überrascht, aber bei weitem nicht erleichtert. Es scheint über diese Jahre in Frankreich ein ähnliches Schweigen eingetreten zu sein wie in Deutschland. Auch das Thema Resistance wird von vielen Frauen eher verdrängt. Dabei haben viele Französinnen Widerstand geleistet, sie haben die petite resistance organisiert, durch das Stehlen von Lebensmitteln oder Lebensmittelkarten, durch Schmuggeln, durch Informationsdienste, durch Beherbergen von Gesuchten oder Verfolgten. Nicht wenige Frauen lebten als Mitglieder der Resistance im Untergrund, und viele von ihnen waren in Gefängnissen oder im KZ.[31] Sie haben Pässe gefälscht, waren Trägerinnen von Geheiminformationen, haben verbotene Zeitschriften gedruckt und verteilt, Material transportiert, Essen und Wohnungen für sich und die im Untergrund lebenden Männer organisiert. Sie haben die wichtigen Ver-bindungs- und Basisarbeiten geleistet. Aber verantwortliche Tätigkeiten wurden auch den Frauen in der Resistance selten übertragen. Und später auch nicht Ruhm und Ehre. Offiziell gab es nur sechs Frauen bei 1059 Compagnion de la Liberation, ein von De Gaulle eingerichteter Orden für hohe Verdienste während des Zweiten Weltkrieges. Dieses ist wieder eines der unzähligen Beispiele dafür, daß Frauen geschichtslos werden. Dabei ist es nicht einfach so, daß die Frauen von der offiziellen Geschichtsschreibung vergessen werden, weil ihre Arbeit im Souterrain dieser Geschichtsschreibung angesiedelt ist, nein, die Frauen vergessen sich, ihre Arbeit und ihre Leistungen ständig selbst. Sie machen sich selbst unsichtbar. Deshalb spricht Frau Lehmann nur mit Mühe und nach wiederholtem Nachfragen von einigen ihrer Aktivitäten in der Resistance. Sie findet es nicht so wichtig, was sie gemacht hat. »Andere haben viel mehr gemacht. Diejenigen, die viel getan haben, sprechen nicht darüber.« Der Tenor der Aussage ist: man soll sich nicht so wichtig nehmen; ich habe nichts Großartiges getan, ich war keine Heldin, und ich hatte Angst.
Angst ist die emotionale Grundstimmung aller dieser Frauen während des Krieges. Es ist die Angst vor den Bomben, die Angst vor dem Verrat, die Angst vor dem Hunger, die Angst vor dem Tod, die Angst vor der Trennung vom Mann, von den Kindern, die Angst vor der Vergewaltigung und die Angst vor den Deutschen, die wie grausame, grüngraue Übermenschen erlebt wurden, denen man hilflos ausgeliefert war. Diese permanente, intensive Angst durch Jahre hindurch ist die Angst davor, daß jeden Augenblick Schlimmes geschehen könnte. Und dieses ist schwieriger zu verarbeiten als eine eingetretene Katastrophe, in der es zu handeln gilt und in denen die Frauen viel Mut gezeigt haben. Die die Kriegserfahrungen der Frauen begleitende Angst begründet sich in der tief verwurzelten Vorstellung, Opfer zu sein, einer Situation ausgeliefert, in der das Ich völlig verschwindet.
Zieht man ein Fazit aus dieser Darstellung der ökonomischen und politischen Rolle der Frauen während der beiden Weltkriege, so kann man sagen, daß sie einer schwierigen Situation ausgeliefert waren, die durch die Politik der Männer herbeigeführt worden war, wo sie nicht gefragt wurden, und wo sie sich dennoch alle aufgeopfert und Doppeltes geleistet haben: für ihre Kinder, ihre Familie, ihr Land. Dieses gilt nicht nur für die französischen Frauen. Aber die Frauen dieser Generation haben den Krieg wie eine Fügung des Schicksals hingenommen.
Wir meinen, daß die Frauen heute, da sie größeren gesellschaftlichen Einfluß gewonnen haben, das Wahlrecht, eine bessere Ausbildung, den Zugang zu Berufskarrieren, die Bestimmung über ihren eigenen Körper und anderes mehr, den Krieg nicht mehr ohne Widerstand zu akzeptieren brauchen. Haben die politischen Frauen der damaligen Zeit im Krieg Widerstand geleistet, so geht es für uns heute darum, unsere gesellschaftliche Unabhängigkeit und Eigenständigkeit auch dadurch zum Ausdruck zu bringen, daß wir gegen den Krieg Widerstand leisten.

IV. Methodische Überlegungen zur Erarbeitung von Frauengescnichte

Mit jeder der oben vorgestellten Frauen haben wir, wie bereits erwähnt, insgesamt an elf Themenkomplexen gearbeitet: Jugend, Kriege, Arbeit, Liebe, Familie, Freunde, Politik, Natur, Körper, Zeit, Tod.
Mit dieser Abfolge der Themen haben wir eine Methode der Gleichzeitigkeit von lebenschronologischem und thematischem Vorgehen erarbeitet. Die von uns zu jedem Thema ausgearbeiteten Fragen werden an alle Frauen gestellt, womit für den Leser der Dokumentation eine Vergleichsbasis vorhanden ist. Mündlich erzählte Lebensgeschichten verstehen wir als einen Beitrag zur Erarbeitung angemessener Methoden für die in der Wissenschaft, in der offiziellen Geschichte und dem gesellschaftlich zugänglichen Wissen noch wenig bekannten Inhalte - Frauen. Nicht zufällig bemerkt Theweleit,[32] daß in der Mehrzahl der Männerbiographien die Namen der Gattinnen nicht einmal für erwähnenswert gehalten werden. In der Entwicklung interpretativer Methoden, als feministischer Beitrag, nimmt die Sozialbiographie einen wichtigen Platz ein, da sie davon ausgeht, daß sich Wahrheit durch Intersubjektivität in einem dialektischen Prozeß herstellt. Auch liefert sie eine lebendige Geschichtsschreibung, die durch offizielle Daten nicht einzuholen ist. Bei den Gesprächen mit den alten Frauen, die 1978 stattfanden, haben wir uns von fünf methodischen Prinzipien leiten lassen, die sich im Laufe unserer Arbeit noch verfeinert haben. Diese sind:

Abarbeitung statt Ausfragen

Alle sozialwissenschaftlichen Interviewtechniken haben das Problem, daß sie Daten nur an der Oberfläche von Meinungen und Anschauungen erfassen. Zur Erfassung von Lebensgeschichten ist diese Methode ungeeignet, da Widersprüche, Brüche, Grenzerfahrungen und Schnittpunkte im Laufe eines Lebens kaum erfaßt werden können. Auch werden die Daten an einem oder höchstens zwei eng fixierten Zeitpunkten erfaßt. Die Befragten haben also wenig Möglichkeiten, sich selbst einzubringen und zu lernen und damit im Prozeß der Forschung dazu beizutragen, die Ergebnisse und Interpretationen zu präzisieren, zu korrigieren und in ihrer Aussage reichhaltiger zu gestalten. Auch in der Biographieforschung wird mit der Annahme der Invarianz der Subjekte während des Forschungsablaufes gearbeitet, streng nach dem Basislehrsatz, daß die Subjekte, die Forscher und die Befragten, eine Relation von Objekten zueinander haben. Methodologisch wird dabei Objektrelation mit Objektivität verwechselt. Genauer gesagt: Die Objektrelation wird als einzig mögliche Form anerkannt, zur Objektivität von Aussagen und Ergebnissen zu kommen. Forschung gilt dann als ungültig, unwissenschaftlich und subjektivistisch, wenn sie als objektive Basis die Entwicklung von Beziehungen enthält, wenn sie Veränderung anstrebt, im Sinne der Konstitution objektiver Subjektbeziehungen.
In der Arbeit mit den alten Frauen wollen wir von ihren Erfahrungen hören und aus ihnen lernen. Wir wollen begreifen, wie und warum sie in bestimmten Situationen ihres Lebens zu welchen Entscheidungen, Lösungen oder Handlungswegen gekommen sind. Wir wollen ihre Alltagssituation als Ausdruck ihrer gesellschaftlichen Position analysieren und im Hinblick auf uns heute interpretieren. Krieg, Alter, Altern, Sexualität und Geld sind wichtige Lebensthemen. Über sie zu sprechen und sich dadurch an ihnen abzuarbeiten, ist nicht möglich durch Ausfragen von Meinungen und Anschauungen. Es ist nur möglich durch Vertrauen, das Zeit braucht, sich zu entfalten. Nach unseren Erfahrungen ist die Reflexion über das eigene Leben nicht nur Wiedergabe von Bekanntem; die Wiedererinnerung und die Konfrontation mit uns jungen Frauen ist gleichzeitig Verarbeitung und Abarbeitung. Abarbeitung ist Anstrengung, ist Veränderung. So ist unsere Forschungsmethode ein Dialog, der die Trennung der Generationen und die Verachtung der Alten zu überwinden sucht

Weniger ist mehr oder das Problem der Repräsentativität

Bei der Erarbeitung und beim Vergleich von Lebensporträts alter Frauen handelt es sich um eine qualitative Vorgehensweise, in der die Reichhaltigkeit und Intensität der Aussagen positiv gegen die fehlende Quantität stehen. Repräsentativität ist auch bei unserer Vorgehensweise gegeben,[33] allerdings nicht als Stichproben - Kluster - oder Kohortenverfahren. Repräsentativität und Vergleichbarkeit stellen sich in der Gesamtuntersuchung her, erstens dadurch, daß wir nicht einfach Leben erzählen lassen, sondern an alle Frauen die gleichen Fragen stellen; zweitens durch die Auswahl der Frauen, die wir nicht gekannt, durch verschiedene Zufälle getroffen und nach einer gewissen Repräsentativität in der Lebenssituation ausgewählt haben: verheiratete, geschiedene, unverheiratete Frauen; Frauen mit und ohne Kinder und Enkelkinder; politische und unpolitische Frauen; Arbeiterinnen, Bäuerinnen, Intellektuelle und Frauen aus der Großbourgeoisie. Drittens gehören diese Frauen einer im Mann-heimschen Sinne gemeinsamen Generation an, einer Generation, die zwei Weltkriege erlebt hat und die zwei Epochen angehört; der Epoche vor dem Zweiten Weltkrieg und der nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Eindringen der ökonomisch-technologischen Rationalität in alle Lebensbereiche.

Prozeß als Resultat

Gilt in der Wissenschaft nur das Resultat der Forschung, nach dem methodologischen Prinzip der Trennung von Genesis und Geltung und der Irrelevanz der Genesis für die Gültigkeit der Aussagen, so vertreten wir die Auffassung, daß der Forschungsprozeß objektives Moment des Resultats ist, sieht man die Forschungsergebnisse nicht ausschließlich aus der Perspektive des gedruckten, publizierten Wortes. Die herrschende Vorstellung, daß allein Resultate gelten, ist Ausdruck einer Haltung, die nur danach fragt, was einer ist; die Frage nach dem Wie, dem Gewordensein ist tabu. In der biographischen Methode ist die Herausarbeitung eines Lebensweges Gegenstand, der auch reflexiv auf den Forschungsablauf selbst anzuwenden ist, und zwar als Beschreibung und Analyse, wie sich die Intersubjektivität unter den Beteiligten hergestellt hat. Diese Form der Transparenz ist gleichzeitig ein Moment von Kontrolle der Ergebnisse, präzisiert den Zusammenhang von Genesis und Geltung und vermindert, daß jeder die gleichen Irr- und Umwege macht.

Betroffenheit und Wirklichkeit

Betroffenheit als Ausgangspunkt und Grundlage wissenschaftlicher Arbeit anzusehen, dieses wurde in den letzten Jahren in der Frauenforschung viel diskutiert. Das Sicheinlassen auf die Probleme und Situationen von Frauen bedeutet zunächst einmal, sich selbst ernst zu nehmen. Es bedeutet, andere Frauen und sich selbst nicht als passive Opfer der Gesellschaft, des Patriarchats, der Umstände anzusehen. Betroffenheit ist hingegen keine Legitimationswaffe, sei es, um eine fiktive Solidarität durch das Faktum des Frauseins heraufbeschwören zu wollen, sei es, um Betroffenheit engstirnig nur auf die eigenen Erfahrungen reduzieren zu wollen, als ob man über Krieg nicht urteilen könne, wenn man ihn nicht selbst erlebt hat. Betroffenheit ist nur dann fruchtbar, wenn sie impliziert, daß unser Wissen, unsere Haltungen und unser Widerstand in eine gesellschaftstheoretische Position einbezogen ist.
Sonst bietet die Betroffenheit weder eine hinreichende Grundlage für die Analyse noch für das Handeln. Denn das Selbstverständnis der Betroffenen hat eine Unmittelbarkeit, die selber schon Produkt gesellschaftlicher Wirklichkeit ist. In der Analyse muß dieses politisch-gesellschaftlich Vermittelte in seiner Veränderbarkeit einbezogen sein, da nur durch diese Reflexion das Verstellte und Für-wahr-Gehaltene sichtbar und damit veränderbar wird. Sonst bleibt die Betroffenheit in ihrem eigenen Saft der Unmittelbarkeit sitzen und schreibt die schlechten Verhältnisse fest. Das bedeutet für die Biographieforschung: Die erzählte Lebensgeschichte ist reale Lebensgeschichte, was nicht identisch ist mit der wirklich abgelaufenen Lebensgeschichte. Denn sie enthält Rekonstruiertes, Verarbeitetes, Unverarbeitetes, Ungesagtes und Unsagbares. Kontrollfragen nach dem Lügendetektorsystem, beliebt in der empirischen Sozialforschung, helfen hier nicht weiter. Wichtiger ist z.B. die Herausarbeitung der Bedeutung des Schweigens,[34] denn Schweigen kann Ausdruck gesellschaftlicher Tabuisierungen sein. So nehmen wir an, daß es keine adäquaten Verarbeitungsmodi für Tod und Krieg in industrialisierten Gesellschaften gibt, denn die Funktion der Religion und der Initiationsriten hat keine Äquivalenz - außer der Leere, dem Schweigen gefunden.
Die Realität der erzählten Lebensgeschichte ernst zu nehmen bedeutet hingegen nicht, sie für bare Münze zu nehmen. Das erzählte Leben ist nie identisch mit der erzählten Lebensgeschichte (jeder kann es bei sich selbst nachprüfen). Auch hier stellt sich die Frage der Wahrheit nicht als eindimensionale, sondern als Spannung zwischen Handlung und Bewußtsein. Die Möglichkeit der Diskontinuität zwischen Bewußtsein und Handeln anzuerkennen, gegen strukturfunktionalisti-sche Ansätze, ist eine wichtige Grundlage interpretativer Methoden. Deshalb reicht die Dokumentation von erzählter Lebensgeschichte nicht aus. Nur, wenn sie in eine theoretische und sozialhistorische Analyse eingebettet ist, wenn der Unterschied zwischen Bewußtsein und Handeln an den konkreten Lebensverläufen herausgearbeitet und in seinen historischen Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten kenntlich gemacht wird, ist der Ansatz der Biographie nützlich für soziologische Analyse und Theoriebildung.

Subjektivität ist objektiv

Auch in unserer Arbeit stellt sich das Problem der Objektivität, nicht jedoch als Frage des Objektivismus. Wir gehen davon aus, daß Verkehrsformen und Beziehungen gesellschaftliche Objektivationen sind, worin unsere Gespräche mit den alten Frauen eingeschlossen sind. Wir gehen weiterhin davon aus, daß Subjektivität ein objektiver Faktor ist, der sich in gesellschaftlichen Einrichtungen, vor allem aber im Bewußtsein der empirischen Individuen niederschlägt.[35] Objektivismus und Subjektivismus sind zu überwindende Gegensätze, gerade in der Empirie mit ihrem Hang zum Objektivismus. Damit ist allerdings das Problem des subjektiven Urteils gerade in interpretativen Methoden wie der Sozialbiographie nicht beiseite geschoben. Aber, es ist nicht per se die eigene Subjektivität, die die Objektivität verhindert, sondern es ist das Problem der partiellen positiven oder negativen Identifikation mit einzelnen alten Frauen. Psychoanalytisch spricht man von einer Ubertragungssituation, so in der Projektion auf die eigene Tochter-Mutter-Beziehung. Identifikation und Projektion führen zu suggestiven Fragen, zum Abschneiden von Themen, zu Partialität in der Wahrnehmung und Analyse. Dieser uns bewußten Gefahr versuchten wir durch mehrere praktische Schritte zu entgehen. Wir führen die Arbeit grundsätzlich zu zweit durch. Während der Durchführung der Gespräche stellt eine von uns die Fragen mit einer Haltung der von außen Kommenden, während die andere eher eine Funktion des von innen wahrnimmt, indem sie sich mehr einbringt, aber auch mehr Aufmerksamkeit auf die gesamte Situation richtet. Diese beiden Funktionen werden im Wechsel wahrgenommen, um Fixierungen zu vermeiden. Die Reflexion nach jedem Gespräch und die gemeinsame Vorbereitung eines Gesprächs erlauben Korrektur und Präzision im Erwerb der Fähigkeiten der Gesprächsführung. Diese Lernprozesse sind wesentliche, objektive Momente der Forschung. Eine noch zu präzisierende Frage für uns ist: Wie kann in der Nähe Abstand gehalten werden? Wie können sich Objektivität und Betroffenheit gemeinsam herstellen?

V. Zu welchen Ergebnissen wir gekommen sind

Unsere Gespräche beginnen mit der Erinnerung an die Kindheit, an die Herkunft, die sehr unterschiedliche f amiliale Erziehung. Die Erziehung war warm und emotional bei den Frauen, die aus Arbeiterfamilien kommen, und distanziert bei den Frauen aus dem Bürgertum. Allen Frauen ist gemeinsam, daß sie schon im zweiten Satz von ihrer Mutter sprechen. Die Beziehung zur Mutter, sei es als symbiotische wie bei Madeleine, Aline oder Franchise H., sei es als kühle und eher abweisende wie bei Suzanne Lehmann, Jeanne Humbert und Olga, ist die prägende Beziehung, auch was die Entwicklung des Selbstbildes betrifft. So war Olga immer in Opposition zu ihrer zarten, sehr weiblichen Mutter und hat auch für sich selbst diese Frauenrolle immer abgelehnt. Und für Aline ist die Liebe zur Mutter stärker als die für einen Mann. »Selbst wenn ich verheiratet wäre, wäre meine Mutter alles für mich.«
Wirft nicht diese bei allen Frauen vorhandenen Präsenz der längst verstorbenen Mütter die Frage auf, ob es nicht vielleicht unmöglich ist, gänzlich unabhängig von der eigenen Mutter zu werden und die Nabelschnur abzuschneiden? Es scheint, daß uns die Mutter, als positive oder negative Imago, durch unser Leben hindurch begleitet, denn in Auseinandersetzung und Identifikation mit der Mutter bilden wir unsere eigene Identität aus.[36]
Sind die Erinnerungen an die Mutter, die Kindheit und die beiden Weltkriege sehr genau, so sind hingegen die an gestrige Ereignisse viel blasser. Dieses entspricht der landläufigen Meinung, daß das Gedächtnis mit dem Alter schwächer wird. Durch die nachlassende Proteinsynthese können Wahrnehmungen, unabhängig von der körperlichen Verfassung und Intelligenz, schwerer ins Langzeitgedächtnis aufgenommen werden. Sie gelangen nur bis zum Ultrakurzzeit- oder Kurzzeitgedächtnis. So erinnern sich alte Menschen häufig nicht mehr an die gestrigen Ereignisse, dafür aber ganz genau an das, was vor fünfzig oder sechzig Jahren geschah.[37] Dieses wurde bis auf eine Ausnahme zwar von den alten Frauen bestätigt, allerdings eher sozial als biologisch begründet. »Was gestern geschah, ist nicht so wichtig, und deshalb merkt man es sich nicht«, das war die Grundtendenz der Aussagen. Eine andere Form der Bestätigung findet unsere Vermutung des sozialen Charakters des Gedächtnisschwundes durch eine Frau, deren Gedächtnis sich mit dem Wiedereintritt in die Berufswelt mit fünfundsiebzig Jahren verbessert hat. »Das Gedächtnis, es muß arbeiten, und man muß es bearbeiten«, sagt sie.
Das Thema Arbeit und Beruf hat uns einige Schwierigkeiten bereitet, da die uns zur Verfügung stehende Begrifflichkeit nach dem männlichen Karriere- und Berufsmuster konzipiert ist und bei der Arbeits- und Berufswirklichkeit der sechs Frauen nicht greift. Daß Frauen mehr und mehr außer Haus gingen, um Geld zu verdienen, daß sie Berufe ergriffen, das ist vor allem auf die ersten beiden Weltkriege zurückzuführen. Oft wurde aus der Not eine Tugend gemacht; neue Berufsbilder wie Modistin, Hutmacherin und besonders Stenotypistin und Sekretärin wurden erschlossen. Die Erziehung und Ausbildung der Mädchen aber war noch gänzlich ausgerichtet auf das klassische bürgerliche Frauenmodell.[38] Noch heute wird in Frankreich auf die Ausbildung und den Beruf der Frauen sehr viel weniger Wert gelegt als in Deutschland, wo das Bildungsbürgertum auch den Frauen mehr Möglichkeiten öffnete. Und gleichzeitig arbeiten in Frankreich mehr Frauen neben- oder hauptberuflich als in der Bundesrepublik. Unabhängig von der sozialen Herkunft der Frauen wurde damals eine Berufskarriere oder eine Ausbildung für eine Frau für unwichtig gehalten, ja sie war sogar verpönt. Im Arbeitermilieu galt es als Armutszeichen, wenn die Frau arbeitete. Der Wunsch des Arbeiters war, daß seine Frau zu Hause blieb und er sie zärtlich »ma bourgeoise« nennen konnte. Keine unserer Frauen hat eine wirkliche Ausbildung oder einen erlernten und ausgeübten Beruf, und dennoch arbeiteten alle, sei es, um den Lebensunterhalt zu verdienen, sei es, um sich in der Sozialarbeit nützlich zu machen oder sei es, daß die Arbeit eine untrennbare Einheit mit dem Leben war, wie bei der Bäuerin und der Intellektuellen. Keine der alten Frauen konnte ihren Berufswunsch, Rechtsanwältin, Ärztin, Krankenschwester oder Friseuse zu werden, verwirklichen. Viele der Tätigkeiten wurden von den alten Frauen gar nicht als Arbeit verstanden, so die Hausarbeit, die Kindererziehung, der kleine Nebenverdienst oder die ehrenamtliche Sozialarbeit. Viele der Tätigkeiten der Frauen fallen also aus der sozialen und ökonomischen Bestimmung gesellschaftlicher und produktiver Arbeit heraus und werden gerade in einer Gesellschaft der Ökonomie und des Geldes als Dienst am Menschen, als Mutter- und Gattenliebe, also zu natürlichen Qualitäten der Frau erklärt. Diese Ideologie ist ökonomisch gesehen ausgesprochen produktiv, denn sie kostet nichts.[39]
Und für die Mehrzahl der alten Frauen ist sie Bestandteil des Selbstbildes. Das Zentrum ihres Lebens ist die Familie, sei es die Herkunftsfamilie, sei es die selbst gegründete. Allgemeiner gesagt: die alten Frauen, mit denen wir gearbeitet haben, situieren sich im Bereich des Physischen und Emotionalen. Die Themenkomplexe Liebe, Familie und Freunde sind diesem Bereich gewidmet. Die mangelnde Ausbildung und die größere Selbstverständlichkeit der Institution Ehe gegenüber heute implizieren, daß entweder eine Einheit zwischen Arbeit und Leben, Familie und Beruf bestand, wie bei der Bäuerin oder der Intellektuellen, oder sich diese Alternative für diese Generation von Frauen noch gar nicht in der Schärfe stellte wie für die Frauen heute.
Obwohl Ehe und Familie als natürliche Gegebenheiten angesehen werden, und obwohl man heiratet, um Kinder zu bekommen, sind wir bei der Frage der Kinder auf ein nur untergründig angesprochenes Problem gestoßen. Die Frauen waren in ihrem Kinderwunsch gar nicht so dezidiert, wie man gemeinhin annimmt. »Es hätte mir nichts gefehlt, wenn ich keine Kinder gehabt hätte.« Oder: »Kinder lieben die Eltern nur des Geldes wegen.« Oder: »Hätte ich nicht geheiratet und keine Kinder gehabt, dann hätte ich meinen Beruf erlernen können.« Solche und ähnliche Aussagen hörten wir öfter. Erst in dem Augenblick, als die Kinder da waren (eine Frau hat sechs Kinder, eine weitere zwei und drei Frauen haben ein Kind) haben sie sich mit der Mutterrolle identifiziert und dabei manchmal sogar übertrieben.
Wir meinen, hier auf ein wichtiges Problem gestoßen zu sein, das auch immer wieder und immer starker in Gesprächen mit anderen Frauen auftaucht. Wir meinen: Der Kinderwunsch und die Mutterliebe sind keine natürlichen, instinktiven Wünsche der Frau. Es ist eine Ideologie, die der Frau in jedem Falle Schuldgefühle gibt. Die Frau, die keine Kinder hat noch wünscht, glaubt, daß sie nicht normal sei; die Frau, die ihre Kinder gewünscht hat, sie aber im täglichen Umgang doch manchmal zurückweist, weil sie ihr alle Energie nehmen, fühlt sich ebenfalls schuldig. Und die Frau, die ihre Kinder dem Mann läßt, um ihr Leben zu leben, muß sich mit dem Vorwurf der Grausamkeit und Abartigkeit auseinandersetzen. Mutterliebe ist Mutterliebe!? Wir entdecken, daß sie so monolithisch und natürlich gar nicht ist.[40] Die alten Frauen sind in einer Generation aufgewachsen, in der die andere Frau eher als Konkurrentin denn als Freundin wahrgenommen wurde. Eine Ausnahme bilden die beiden Arbeiterinnen, die aufgrund ihrer spezifischen Lebenslage Frauensolidarität kennen. Freundschaften mit Männern, gleichaltrigen oder jüngeren, sind recht selten, es sei denn, die Frau macht sich zu einem a-sexuellen Wesen, zur Beraterin, zur Krankenschwester. Gesellschaftliche Tabus über Alter und Sexualität haben ihre Wirkung bei den alten Frauen nicht verfehlt. »Was werden die Nachbarn von mir denken, wenn mich ein Mann, womöglich noch ein jüngerer, nach Hause begleitet.« »Selbst mich als alte Frau macht man noch an, wenn ich allein auf der Bank sitze. Deshalb setze ich mich erst gar nicht auf eine Bank.« Dennoch ist die Vermutung, daß mit dem Alter Sexualität und Emotio-nalität abklingen oder aufhören, schlicht falsch. Von den sechs Frauen haben drei intensive Beziehungen zu Männern: eine der Frauen hat nach einem Jahr des Zusammenlebens mit einem Mann zum zweiten Mal geheiratet, eine andere lebt seit zehn Jahren unverheiratet mit einem gleichaltrigen Mann, und eine dritte hat sich in einen viel jüngeren Mann verliebt.
Es ist bekannt, daß Frauen sich im allgemeinen wenig für Politik interessieren, was sich in unseren Gesprächen bestätigt hat. Mit Ausnahme der Anhängerin der neo-malthusiani-schen Bewegung ist keine der Frauen politisch aktiv, Mitglied einer Gewerkschaft oder Partei. Eine klare politische Konzeption fehlt durchgängig. Dennoch sehen sie erstaunlich häufig politische Sendungen. Besonders beliebt sind Debatten von Politikern. Aber für sie ist es eher show-business, da sie sich von der Politik ausgeschlossen fühlen und folglich auch nicht daran denken, daß man politischen Einfluß nehmen könnte.
Die Jugendbewegung, der Mai 1968 und die Frauenbewegung sind der Mehrzahl der alten Frauen unbekannt. Es ist nicht ihre Welt. Implizit wird den jungen Frauen der Vorwurf einer oberflächlichen, falschen Befreiung gemacht. »Die Befreiung ist keine wirkliche Emanzipation, die Frauen unterwerfen sich nur einer anderen Kuratel, der des Chefs statt der des Mannes.« »Durch die Pille sorgen die Frauen allein für die Verhütung. Sie haben damit den Mann aus der Verantwortung und damit auch der Achtung der Frauen gegenüber entlassen. Früher war die Verhütung Angelegenheit von beiden Partnern.« »Die Frauen streben uni-sex an. Sie ziehen sich schlampig an und wollen wie Männer sein. Damit zerstören sie das Weibliche.« In diesen sehr kritischen Aussagen der alten Frauen ist Berechtigtes enthalten. Nur können wir ihren Vorstellungen von Frausein und Weiblichkeit nicht nachgehen, wir müssen sie neu bestimmen. Und sie verweigerten uns ihr Verständnis. An dieser Stelle war ein Dialog unmöglich.
Wir glaubten, daß uns die alten Frauen durch ihre größere Naturverbundenheit und Nähe zur Natur hier viel Wissen vermitteln könnten und daß sie der technischen Entwicklung gegenüber eher skeptisch sind. Das Gegenteil ist der Fall; viel an Wissen und Kenntnissen über Naturprozesse scheint nicht vorhanden zu sein. Vor allem erstaunt hat uns die durchgängig positive Einstellung dem technischen Fortschritt gegenüber. Die Schönheit der Landschaft, der Duft von Wald und Wiese, erwecken zwar sentimentale Erinnerungen, aber die Erinnerungen an kalte Winter ohne Heizung, ohne elektrisches Licht, ohne Fernsehen, Telefon und fließendes Wasser sind weitaus stärker. Waschmaschinen werden als Nummer eins des Fortschritts in den Haushalten angesehen, gefolgt von Kühlschränken. Und die Zerstörung der Natur durch den technischen Fortschritt? »Das ist ein notwendiges Übel«, sagen sie. Wie groß die Zerstörung auch sein mag, die Frauen wollen nicht zurückgehen.
Vor allem auf dem Lande ist das Leben leichter geworden. Die Modernisierung der Landwirtschaft und die Technologi-sierung der privaten Haushalte hat sich aber erst in den fünfziger Jahren vollzogen, also mit einer zeitlichen Verschiebung zur Entwicklung in der Industrie, wo ein Rationalisierungsschub zwischen den beiden Weltkriegen stattgefunden hat. Diese Generation von Frauen hat die Transformation des Alltags in eine technische Welt erlebt, die ersten Autos und Flugzeuge. Vier der alten Frauen hatten noch vor fünfundzwanzig Jahren kein elektrisches Licht, und selbst die ältesten Töchter von Madeleine hatten bei ihrer Heirat weder Waschmaschine noch Kühlschrank.
Auch wenn die Frauen bedauern, daß das Obst und Gemüse nach nichts mehr schmecken, glauben sie nicht an die Möglichkeit einer ökologisch orientierten Landwirtschaft. »Die Ökologen sind liebe Menschen. Aber man muß doch leben.« Und früher konnte man, auch wenn man arm war, ganz von seinem Garten leben. Diese positive Einstellung dem technischen Fortschritt gegenüber ist Ausdruck der ungebrochenen Haltung einer Pioniergeneration, für die der von unserer Generation täglich erfahrene Zusammenhang von technologischem Fortschritt und Naturzerstörung nicht sichtbar ist.
Das Schönheitsideal der Frau hat sich verändert. Eine Frau, wie sie die Männer liebten, mußte rund und gesund aussehen; sie mußte vorne und hinten etwas haben. Aber die Taille wurde ins Korsett gezerrt und die Füße in zu kleine Schuhe, denn gebrechlich und schutzbedürftig sollte die Frau auch sein. Und sie sollte adrett und unauffällig sein, denn Schönheitsmittel gebrauchte man nicht, nur manchmal ein wenig Lippenstift und etwas Rouge. Daß wir Frauen heute nicht mehr so aussehen, das werfen uns die alten Frauen auch recht aggressiv vor: »Wir waren nicht so wie die Weiber von heute, mit Besenschnitt und Flohmarktklamotten. Das ist ja AntiSnobismus! Kein Wunder, daß es so viele Schwule gibt!« Nacktheit war verpönt; auch sich selbst sah man nicht nackt im Spiegel an. Sexualität, Menstruation, Verhütung oder gar Abtreibung waren tabuisierte Themen. Dennoch kannte man Verhütungsmittel und nahm Abtreibungen vor, die damals ziemlich gefährlich waren. Madame Humbert mußte sogar wegen ihrer Propaganda der Geburtenkontrolle Gefängnisstrafen absitzen. Hat sich da heute wirklich viel verändert? Die alten Frauen betrachten das menschliche Leben mehr als Zyklus der Natur, als wir es heute tun. »Erst hat man seine Pubertät, dann das Klimakterium seiner Eltern, dann seine eigene Menopause, und wenn man alt wird, dann hat man auch noch die Menopause seiner Kinder.« Alle unserer alten Frauen glauben, daß man sich mit Mitteln und gesundem Leben auf die Menopause vorbereiten kann. Für die Frauen, die voll im Berufsleben standen, verlief die Menopause problemloser als für die anderen Frauen. Im Hite-Report werden diese Unterschiede auf unterschiedliche Selbstdefinitionen der Frauen zurückgeführt: die Frauen, die sich nicht mehr als ganze Frauen fühlen, erleben das Klimakterium krisenhafter als diejenigen, die durch den Verlust der Angst oft erst eine sexuelle Freiheit gewinnen. Eine weitverbreitete falsche Idee über alte Leute ist, daß sie nur ein Süppchen und einen Apfel zu essen brauchen. Alle unserer Frauen sagten uns, wie gern sie viel und gut essen, und bis auf eine Ausnahme lebte keine Diät. Dazu erzählte uns eine Frau folgende Begebenheit: Eine Großmutter sagt zu ihrem Enkel: »Ich esse wie ein Vogel«, worauf der Enkel antwortet: »Ja Oma, wie ein Raubvogel.«
Wenn alte Frauen an ihr Leben zurückdenken, dann sagen sie: »Ich frage mich immer wieder, wie ich das alles schaffen konnte.« Der Tag begann beim Morgengrauen und endete spät abends. Endlose Arbeitsstunden, Essenszeiten und Ruhepausen verliefen ineinander; sie waren einfach das Leben.
Die Trennung zwischen Freizeit und Arbeit war noch nicht so ausgeprägt.
Wir meinen, daß Frauen und Männer nicht denselben Körper- und Lebensrhythmus haben, so haben die Frauen bekanntermaßen eine durchschnittlich höhere Lebenserwartung als die Männer. Auch hat jeder Mensch einen individuellen Rhythmus. Ein Ergebnis bei diesem Thema von Zeit und Rhythmus ist, daß es immer die Ehefrau, die Mutter ist, die sich anpassen muß an die Arbeitsstunden des Mannes und der Kinder. Sie ist es, die ihre eigene Arbeitszeit im Haushalt und außerhalb als letzte einteilt. Frauenleben ist von Warten auf Mann und Kinder bestimmt. Das wurde den alten Frauen durch unser Gespräch erst bewußt, für sie ist es eine natürliche Eigenschaft der Frau.
Die Vorstellung von Zeit verändert sich mit dem Alter. Sie zieht sich zusammen und man hat nicht genug, obwohl sich die meisten der alten Frauen manchmal langweilen. »Die Zeit ist wie das Bankkonto. Je mehr man abhebt, desto weniger bleibt übrig.« Im Alter muß man die Zeit mehr einteilen, und man fühlt sich nicht immer wohl. Alle Frauen, mit denen wir gearbeitet haben, sagten, daß es wichtig sei, sich mehr Zeit zu nehmen und zu gönnen für die Dinge, die einem Freude bereiten, ohne Schuldgefühle zu haben. So entdeckten Frauen im Alter das Lesen, wozu sie mit Kindern und Haushalt nie kamen. Für einige ist es leider unmöglich geworden, sich auf ein Buch zu konzentrieren, sie haben es verlernt, nie gelernt oder haben zu schlechte Augen bekommen. Was machen die Frauen heute in und mit ihrer Zeit? Sie machen den Haushalt, sehen viel fern, essen, gehen spazieren, treffen Freunde zum Aperitif oder zum Kaffee. Besuche von Theater, Kino oder Ausstellungen sind sehr selten. Ist es erfüllte Zeit oder Füllen der Zeit?
Die alten Frauen gehen seltener aus, denn man kann auf der Straße nicht mehr wie früher auf Bäume, Häuser und Menschen achten. »Ein Motorrad kommt angebraust, ein Auto fährt zu schnell aus der Garage. Die ganze Zeit muß man auf die Gefahren um sich herum aufpassen.« Dieses unterschiedliche Tempo bewirkt Segregation.
Eine tiefere Segregation hat der unterschiedliche Lebensrhythmus alter und junger Menschen zur Folge. Das rücksichtslose Tempo der Jungen verstört die Alten, macht sie aggressiv. Schon deswegen wollen die meisten der alten Frauen nicht bei ihren Kindern leben, lieber allein oder sogar in einem Heim. Hier stellen sich wichtige Fragen der gesellschaftlichen Organisation von Zeit und Lebensabläufen. Die aktive Lebensphase ist heute immer kürzer und hektischer, weil sich die Ausbildungszeit verlängert hat und sich die inaktive Phase mit der Festsetzung der Pensionierungsgrenze ausdehnt. Entzieht man den alten Menschen aber ihre Lebenstätigkeit, dann entzieht man ihnen den Lebenssinn und schiebt sie ab in ein Altenghetto. Warum versucht man, das Leben der Alten zu verlängern, wenn man sie gleichzeitig verachtet und wie Entmündigte behandelt? »Ein regelmäßiges, gesundes Leben, eine moralische Willenskraft und eine durch strenge Erziehung erworbene Disziplin« geben Lebenswillen und sind das beste Rezept für ein schönes Altern. Obwohl die alten Frauen noch voll im Leben sind, warten sie unbewußt die ganze Zeit auf den Tod, auf den Augenblick, wo die Uhr stehenbleibt. Vertrauen auf Gott, der Glaube an ein Leben nach dem Tode. Gespräche, Meditationen und Gebete sind hilfreiche Vorbereitungen. Die Anfertigung des Testaments und das Bestellen des Grabes und des Grabsteins sind praktische Vorkehrungen, die fast alle unserer Frauen getroffen haben.[41]
Eine Frau glaubt, daß man den Ted durch Anspannung aller Willenskraft von sich halten kann. Eine andere Frau sagt: »Ich bin neugierig auf das Leben nach dem Tod. Diese Neugierde hilft mir zu sterben.« Bettlägrig und senil will keine der alten Frauen am Leben gehalten werden. Sie wollen lieber in Achtung und Ruhe zu Hause sterben, als im Krankenhaus inmitten Fremder zugrunde gehen. Der Tod derer, die man liebt, ist vielleicht sogar schlimmer als der eigene Tod, denn man muß das Leben völlig neu organisieren. Vor allem aber empfindet man den Tod der Nahestehenden als unwiederbringliche Ungerechtigkeit. Keine der Frauen möchte ihr Leben, wenn sie es noch einmal leben könnte, radikal anders leben. Allerdings würden sie es bewußter und organisierter anfassen und würden vor allem Geld- und Ausbildungsfragen anders angehen. Mehrmals haben sie uns gesagt, daß wir jetzt das Leben genießen sollten, denn die Phase zwischen dreißig und vierzig Jahren sei die schönste Lebenszeit.
Erstaunt hat uns, daß die alten Frauen zwar ihre Sternzeichen und die der Nahestehenden kannten und auch ihre Charakteristika, daß aber keine ein wirkliches Interesse an Astrologie oder Vorhersagen hatte. Zwar haben sie Ahnungen und Vorgefühle und ein instinktives Wissen um das Wohlergehen ihrer Kinder, aber sie sind viel rationaler, als wir annahmen. Wichtige Lebensentscheidungen treffen die alten Frauen logisch, überlegt und unbeeinflußt von Gefühlsregungen. Sie glauben nicht recht an Zufall oder Schicksal. Sehr wichtig ist, daß die Nähe des Todes freier macht. Das ist der Moment, in dem man das Alter akzeptiert, in dem man ohne Maske in den Spiegel sieht. Durch diese Befreiung von falschen Bindungen, Kleinlichkeiten und Engstirnigkeit, dadurch, daß man nicht mehr unbedingt am Leben hängen will, schöpft man neue Kraft und erlangt eine neue Freiheit im Leben - nicht vom Leben.

Paris, im November 1980
Christine Woesler de Panafieu Xiane Germain