Eine ganz normale Geschichte

Eva

Wie war das eigentlich damals? Eigenartig, wie scheinbare Nebensächlichkeiten fürs Leben im Gedächtnis bleiben, und anderes ist entschwunden. Ich sehe mich mit fünf Jahren auf dem Stuhl stehen und mein Hemdchen heben. Die Mutter zog's herunter, damit mein Bruder mein Bibi nicht sehen soll.
Vater, Mutter, Bruder - alle so groß, noch nie hatte ich außer mir jemand nackt gesehen, immer war Stoff drum, wie festgewachsen.
Beim Metzger Klotz hingen die Zickleinleichen am Haken, kopfüber und blutig. Ich sagte ängstlich zum Metzger mit seinen Menschenfresserzähnen: »Klotz! mich kannst nicht schlachten, ich bin aus Stoff bis an Hals!«
Wir spielten Doktor, wobei wir uns gegenseitig untersuchten, Buben und Mädchen. Aber die Großen hatten ihre Augen überall, und es gab Spiel- und Hausverbot. Ich lernte die anständigen von den unanständigen Kindern unterscheiden. Wenn ein unanständiges sich mit seinem Wissen großtat, stimmte ich mit in den Chor der anständigen ein: »Du bist aber eine Sau!« - doch wißbegierig hörten wir weiter zu.
Ich stellte meiner Mutter eine Fangfrage: »An was kennt man einen Bub oder Mädchen, wenn's auf die Welt kommt?« - »Ja, das weiß eine Mutter immer.« ... »Warum?« ... »Sei still, das weiß eine Mutter einfach!«
Von jetzt ab wußte ich, daß Fragen keinen Zweck hatte und fühlte deutlichen Schmerz darüber.
Der Vater hatte einen unbändigen Stolz auf mich. Ich war die schönste und klügste aller Töchter (noch mit 25 Jahren wurde ich von alten Bekannten darauf angesprochen). Mit fünf Jahren sagte ich lange Weihnachtsgedichte, Bilderbuchverse und Lieder aller Art im Pathos des Vaters auf, er beschäftigte sich viel mit mir und wollte mich die Vortragskunst lehren. Der Großvater und die Brüder meines Vaters waren an der Opernbühne und ein Bruder ein hervorragender Solist. Schöne Stimmen gehörten zur väterlichen Familie, und Vater wäre gerne Schauspieler geworden...
Als ich sieben Jahre alt war, durfte ich auf einer Vereinsbühne eine Hauptrolle darstellen, die Vater mit mir einstudierte. Dies war ein großer Erfolg, und wir waren beide hochbeglückt. Mutter sagte: »Steck dir doch eine Pfauenfeder in den Hintern! Du und deine Tochter, sonst nichts auf der Welt!« Vater konnte sich so begeistern, es war warm in seiner Nähe. Er hat mich auch mit sechs Jahren schwimmen gelehrt und erzählte mir vom Weltall. Abends saß ich oft im Bett und sang mir die Erlebnisse des Tages mit lauter Stimme, bis ich in den Schlaf fiel. Ich sang für mein Leben gern, und in der Schule durfte ich bald die 2. Stimme übernehmen. Im nächsten Jahr sollte ich wieder Theater spielen. Aber Mutter verbot dies, und Vater und ich konnten nichts dagegen ausrichten.
Dieses Verbot konnte ich nie vergessen, es war der erste Riegel in meiner Entwicklung. Überhaupt zog sich Vater jetzt mehr zurück, es war nicht mehr so viel Freude mit ihm. Mutter sagte, sie wolle keinen Theaterfratz und ich würde zu sehr verzogen und verwöhnt.
Mutter kam von einem Groß-Bauernhof und mußte von klein an viel und schwer arbeiten. Der tyrannische Vater starb früh genug, damit die Großmutter und ihre sechs Töchter in freier Verantwortung arbeiten und leben konnten. Ein hartes Leben, sparsam, protestantisch - aber in der angeschlossenen Gastwirtschaft trafen sich Studenten und Abiturienten, die den schönen Mädchen auf dem einsamen Hof alles herantrugen, was zeitgemäße Kultur war. Die Klassiker zu kennen, war selbstverständlich. Durch die Inflation verschuldete der Hof, und keine der Töchter wollte mehr in die Landwirtschaft, sie heirateten in die Stadt. Hier Künstlerfamilie, dort Bauernfamilie - katholisch, evangelisch -, das waren Gegensätze, und sie mußten damals zu Spannungen führen.
Vater hing der Aufklärung an, er kam aus Kreisen, wo Nächte hindurch diskutiert und philosophiert wurde. Deshalb hatte er auch der Kirche entsagt und ließ sich ganz auf eine evangelische Familie ein. Das war eine Todsünde, und tatsächlich kam später die Anklage in Gestalt eines Priesters und damit die lebenslängliche Reue, die katholische Kirche hatte ihn wieder zurückgeholt.
Es gab wahnwitzige, lautstarke Streitgespräche zwischen den Eltern, wobei ich meine Mutter bewunderte, wie selbstbewußt und kämpferisch sie sprach. Vater und Mutter, beide nicht aus städtischer Bürgerschicht, strebten jetzt nach dieser Lebensform. Aber das, was aus ihnen unverbildet heraussprach, hat mich letzten Endes geprägt und nicht, was sie mir entgegen ihrem besseren Wissen überstülpen wollten. Kinder hören immer das mit, was hinter den Worten steht und haben eine untrügliche Antenne für das Echte. Warum haben Mädchen immer Pflichten, wo Buben Rechte haben?
Mädchen müssen stricken, häkeln, abtrocknen, Staub wischen, während Buben zum Sportplatz, zum Schwimmen, mit Kameraden wegdürfen. Diese Tätigkeiten werden gleichwertig nebeneinander gestellt. Kein Wunder, daß später auch der Mann seine Rechte wahrnimmt, denn er hat seine Arbeit und Anspruch auf Freizeit, während die Frauen selbstverständlich zu Hause bleiben wie eh und je. In den Augen vieler Männer ist Hausarbeit minderwertige Arbeit, sie wird ja nicht bezahlt. Damit sind auch die Frauen degradiert, denn sie leben auf Kosten des Mannes und haben deshalb keinen Anspruch auf Eigenleben.
Diese Überlegung vorweggenommen, bei meinen Eltern war es nicht so.
Um Buben hat man keine Angst. Sie fahren frühzeitig Ski, fahren Rad, klettern auf Bäume und Berge, spielen Tennis...
Mädchen könnten vom Fahrrad fallen, können auch nicht so gut laufen, und wer weiß, was beim Skifahren alles passieren kann!
So ähnlich war es zwischen meinem Bruder und mir, dabei war ich viel vitaler und kräftiger. Zum Turnen durfte ich gehen.
Mutter erzählte mir merkwürdige Geschichten, z.B. von Spanien, wo sich früher die Frauen Bleiplatten auf die Brüste legten, weil sie sich schämten, eine Frau zu sein. Oder, daß in China eine Mutter mit Söhnen hochgeachtet sei und mit Töchtern verachtet. »Es gibt viele Männer, die ihre Frauen im Wochenbett schlagen, weil sie ein Mädchen geboren haben.« - »Wenn dir ein Klassenkamerad oder sonst ein Bub begegnet, mußt du warten, bis du gegrüßt wirst, sonst bist du ungezogen.«
Mein Bruder wurde gefördert und ich gedämpft, von der Mutter. Sie hatte eine Vorstellung von dem, wie ein Mädchen erzogen werden muß - ich glaube anders als Vater sich das dachte, vor allem, als ich jünger war. Mutter hatte Prinzipien, während Vater versuchte, seiner Einsicht zu folgen. Als ich acht Jahre war, und auch später, weinte ich oft, daß ich kein Bub sei, ich empfand die Einengung als sehr ungerecht.
Mein Bruder war sieben Jahre älter und wir stritten sehr viel. Ich wünschte mir einen gleichaltrigen Kamerad oder Bruder, weil ich so allein war. Ich schaute sehr bockig in die Welt und lutschte immer noch am Daumen zum Leidwesen meiner Mutter. Den ersten Klavierunterricht bekam ich von meinem Großvater mit acht Jahren, und auf der Mundharmonika konnte ich schon viele richtige Lieder spielen. In der Schule hatte ich es leicht, und mein Vater träumte davon, daß ich später studieren würde, deshalb kam nur das humanistische Buben-Gymnasium in Frage.
Latein, der Schlüssel zu jeglicher Bildung, und er wollte mir das Beste mitgeben. Wir waren 2 Mädchen und 28 Buben, es gab noch keine Mädchenschule. Gleich bei der Aufnahmeprüfung bekam ich unversehens einen Kuß von einem Jungen, in aller Öffentlichkeit. Damit war ich dem Gespött ausgesetzt, und ich war viel zu unsicher, als daß ich mich hätte gleichmütig darüber hinwegsetzen können. Meine Klassenkameradin war ausgeglichener und integrierte sich besser. - Es war eine frühreife Clique, die sich von uns bedienen ließ da wir beide gute Arbeiten schrieben. Um keine Schwierigkeiten zu haben, schrieben wir ihnen die Hausarbeiten in Hohlstunden, während sie die Hände im Ausschnitt unserer Kleider hatten. Sie sprachen trotzdem von »doofen Kühen« und »blöden Weibern«.
Manchmal sagten wir unsere Meinung. Doch mir war immer elender, die Lernleistungen wurden weniger und der Schulalltag zum Angstdruck. Zu Hause sagte ich kein Wort, dieses Thema war tabu. Wenn die das gewußt hätten - es hätte einen Schulskandal gegeben!
Groteskerweise wurden mir Sportspiele außerhalb der Klasse mit Buben verboten - ich war im Turnverein -, und auf Schritt und Tritt wurden - als ich älter wurde - meine Freundinnenbesuche und sonstige Abwesenheit von Bruder und Mutter überwacht. Doch gelang mir immer wieder ein Rendezvous - ach, wie harmlos -, ich war ja noch aus Stoff bis zum Hals.
Als ich 14 war, entdeckte mein Bruder ein kindlich-romantisches Brieflein in meinem Tagebuch, das er aufgebrochen hatte. Folge: mit der Hundspeitsche eine Tracht Prügel von meinem Vater. Es war die einzige, von da ab hatten die Eltern sicher Angst um meine sittliche Entwicklung. Freundinnen konnten mit ihren Eltern offen reden und durften ihren Freund mit zum gemeinsamen Spaziergang bringen, und ich mußte nun lügen und Ausreden erfinden, um das zu tun, was alle taten, es war eine bedrückende Unfreiheit, die auf mir lastete.
Mit dem Nachlassen der Lernleistung ergriff den Vater die Panik, daß ich versagen könne. Es ging hochdramatisch zu, wenn ich die Lateinwörter nicht wußte. Er brüllte: »Wenn du nicht lernst, wird eine Stallmagd aus dir«, die ganze Straße hörte mit. Er war sehr verzweifelt, aber ich konnte nichts ändern. Sein Interesse an mir ließ nach. Jeder Schulausflug oder Fahrten ins Schullandheim waren mir ein Schrecken. Wenn Brote zu schmieren waren oder Geschirr zu spülen, mußten »die Weiber« herhalten, und die Buben gingen zur Schloßbesichtigung oder zum Fußballspiel mit dem Lehrer. Sie politisierten auch lebhaft miteinander, um diese Kameradschaftsgespräche beneidete ich sie sehr. Auf einem Schulausflug in der 4. Klasse (heute 8.) wanderten wir durch Wiesen und Wald, da formierten sich etliche in Marschierreihe, trugen Stecken über die Schulter und sangen begeistert »SA marschiert...« Wir Mädchen mit einigen Nichtmitmachenden liefen nebenher - was war das für ein Lied? - keine Ahnung. Das war im Sommer 1932. Mein Lesebedürfnis war ein bedingt erlaubtes Sonntagsvergnügen, und die Lektüre war streng zensiert. Buffalo Bill, der mich so begeisterte, mußte ich auf dem etwas verlängerten Schulweg lesen, und sonst las ich bei meiner Freundin, was ich fand. - Als meine Mutter merkte, daß ich heimlicherweise in ihrem Doktorbuch Die Frau als Hausärztin las, wo auch über die Sexualorgane berichtet wurde, versteckte sie es, daß ich es lange Zeit nicht mehr fand.
Vater war in Klassikern und Philosophen bewandert und zitierte bei jeder Gelegenheit aus Gothes Faust, den er abends oft vorlas. Die Eltern waren beide Leser, und ich wurde so beschnitten!
Vater ließ sich mit mir auf keine Diskussion ein. Wenn Vater gesagt hätte »der Himmel ist grau!« hätte ich mich nicht getraut zu sagen, daß er blau ist. Er hatte aufgrund seiner Lebenserfahrung recht, und die Rotznase sollte aus seinen Erfahrungen lernen, die er stets in Form von Moralsprüchen bereit hatte. Er war als belesen, gescheit und redegewandt bekannt. Das kleine Mädchen hatte er voll in der Hand, aber der heranwachsenden Tochter wußte er nicht anders als mit Ängsten (Sexual-Entwicklung), Unterdrückung (selbständiges Denken) und Forderungen (Lernleistungen) zu begegnen, obwohl er das Beste für mich wollte... Das eine tötete das andere.
Aus zwei verschiedenen Richtungen kamen die Eltern zur Einigung in meiner Erziehung.
Mit 16 Jahren wechselte ich endlich die Schule: Höhere Handelsschule für Mädchen. Es gefiel mir dort. Meine Freundin von damals belustigte sich noch lange über einen Ausspruch von mir: »Der Vater hat alle Rechte!«    
Die nachfolgende Zeit möchte ich am liebsten vergessen, denn ich ging 1 1/2 Jahre in ein Büro, das haßte ich. Das Beste daran war, daß ich etwas Geld verdiente. Seit dem 16. Jahr bekam ich Gesangsstunden, und das erfüllte mich. Vaters letzte Hoffnung: seine Tochter über den Gesang der besseren Gesellschaft würdig zu machen. »Wenn eine Frau gut singen kann - öffnen sich ihr die Tore der Gesellschaft!« Ich fand diesen Grund sehr komisch und lächerlich; ich sang, weil es mir Freude machte. Jetzt hatte er wieder Interesse an mir, und er sang mit mir aus vollem Hals Studentenlieder.
Aber mein innerster Wunsch, Musik studieren zu dürfen, war blockiert, ich kam gar nicht auf den Gedanken, ihn zu äußern, da alles, was mit Theater zu tun hatte, als unmoralisch galt. Und ein Musikstudium hätte dahin gezielt, das war klar. Ich hatte eine ausgezeichnete Stimme, doch meine Gesangslehrerin hatte Sprechverbot, später erfuhr ich dies von ihr. »Niemals zur Bühne, der Weg zum Erfolg führt nur durch das Bett des Intendanten, und grundsätzlich ist Theater ein Hurenbetrieb!« - nun, mein Vater mußte es wissen - diese zweite Barrikade hatte er gesetzt!
Seine sexfeindliche Einstellung war täglich zu hören: »Männer und Frauen sind das schlimmste Sündenpack!« und ein anständiger Mensch war, der »gebildet und ab dem Bauchnabel nichts im Sinn hatte«. Er schwärmte vom Mönchstum und wandelte seine Erotik in beißende Satire um zum Schaden der Ehe. Die verehrungswürdigste Frau war Maria, und meine Mutter hieß auch so. Er wollte sie immer in einem blauen Samtkleid sehen, doch Mutter war nicht so romantisch und wollte als Frau geliebt sein und nicht als Heilige. Ich glaube, sie hat darunter viel gelitten. 1934 - 1936 beim Bund Deutscher Mädchen - BDM. Mein Bruder war bei den Bergsteigern, und ich ging zum BDM, das war die einzige Möglichkeit, mit Altersgenossinnen zusammenzukommen, zu Spiel und Wandern. Meine Eltern waren nicht konform, vor allem Vater nicht, der wieder kirchentreu geworden war. Er machte kein Geheimnis aus seiner Ablehnung. Seine zornigen offenen Gespräche mit Freunden mußte Mutter immer bewachen, sie litt Todesangst, daß er sich um Kopf und Kragen rede. Ich genoß meine Stellung in der Familie als legitime Opposition und bemerkte, daß mein immer rechthabender Vater mit seinen nazifeindlichen Äußerungen sehr zurückhaltend wurde in meiner Gegenwart. (Es ist tatsächlich vorgekommen, daß Eltern von ihren Kindern denunziert wurden.) Aber ich war weder fanatisch noch politisch interessiert, ich suchte Kameradschaft und Freiheit.
Wir wurden als deutsche Mädchen, die besser als andere sind, erzogen. »Reif werden, rein bleiben« und »Die deutsche Frau raucht nicht und schminkt sich nicht« - das gefiel gewiß den Eltern auch! -, und es bestanden strenge Regelungen im Umgang mit der Hitlerjugend und dem Jungvolk. Einmal ließ ich mich zu einem Motorradausflug einladen von einem Jungvolkführer. Als wir nach zwei Stunden von diesem harmlosen Vergnügen zurückkamen, wurde ich zusammengestaucht von meiner Scharführerin, die war ein Jahr älter als ich. - Ich galt etwas, und es gefiel mir, mit den Kameradinnen zusammenzusein und die verschiedenen Aufgaben gemeinsam anzupacken, z. B. mit der Sammelbüchse von Haus zu Haus gehen oder alten Leuten helfen - ja, das taten wir, und öfters kam ein kleiner Aufsatz von mir in unsere Zeitung -z. B. über Weihnachtsbräuche, Bericht über eine Fahrt. Nur zur Führerin konnte ich nicht befördert werden, weil es ruchbar wurde, daß ich manchmal Scharabende schwänzte, um mit einem Freund spazierenzugehen. Es war ein braver, moralischer Mädchenbund, Politik war ein Fremdwort, denn es galt nur einer, der Führer, der wie ein Heiliger über unseren Scharabenden stand. Ich sehe mich noch heute nach meiner Nachbarin schielen, wie sie es verarbeitete - vorne stand mit erhobener Hand und Tränen in den Augen, von Ehrfurcht durchschauert unsere Scharführerin vor der Geburtstagskerze des Führers, im abgedunkelten Raum - mir war das ein peinliches Gefühl, und ich bewunderte die Scharführerin, wie die das so konnte. - Meine Eltern wußten von den schlimmsten Orgien zu erzählen, ich durfte weder zum Maitanz noch zum Erntetanz!
Ich wollte endlich weg von zu Hause, und die einzige Möglichkeit war ein halbes Jahr Arbeitsdienst, denn - ich war schon so gut wie verlobt. Das war die endgültige Barrikade!
Mit 18 Jahren war ich viel dümmer als mit 6. Ich glaubte mir selbst nichts und traute mich vor andern keine eigene Meinung zu äußern - vor allem in Gegenwart von Herren. Ich sprach in abgerissenen Sätzen, die ich nicht zu Ende brachte, und wartete auf die Anerkennung des Zuhörenden. Das geringste Anzeichen von Gleichgültigkeit oder Ablehnung ließ mich verstummen, und aus dieser Verunsicherung heraus faselte ich oft irgend etwas Hochgeistiges und berief mich auf meinen Vater, der das gesagt habe. Mein Gehirn verkrampfte sich, und ich empfand alles, was ich sagte, als Dummheit, was es dann wohl auch war. Ja, ein Mann war ein höheres Wesen nur durch die Tatsache, daß er ein Mann war - egal ob Lumpensammler oder Professor. Doch bei Unterprivilegierten fühlte ich mich anerkannt und frei, da wurde gelacht und gesungen, dafür sorgte ich hinter dem Rücken meiner Eltern. - Sie trugen sehr schwer an ihrer Verantwortung für mich, statt daß sie mir Vertrauen schenkten, verfolgte mich ihr Mißtrauen; was denn auch schuld daran war, daß jede vernünftige Zukunftsplanung zunichte wurde, ich wurde nie gefragt, was ich wollte.
Sicherheit und gute Gesellschaft hieß die Zauberformel, und diese verkörperte das Beamtentum. Mein Vater war kein Beamter und wußte aus eigener Erfahrung Bescheid über Existenzangst.
Nun, ich lernte in Begleitung meiner Mutter diesen Idealtyp kennen. Es war eine Tanzveranstaltung, und Mutter sagte später, sie hätte das Schicksal auf sich zukommen sehen, was ich immer von ihr geheuchelt fand, da sie ganz schön mitmischte.
Ich war geschmeichelt - das war ein richtiger Verehrer, sympathisch, korrekt und schon in Amt und Würden, allerdings 12 Jare älter, das war mir ungewohnt. Die Eltern waren plötzlich mit allem einverstanden. Mit ihm durfte ich reisen und wandern, wohin er wollte, 14 Tage oder 3 Wochen, er genoß Vertrauen und Sympathie ohne Einschränkung. Erleichtert atmeten sie auf. Sie hatten recht, er war ein untadeliger Ehrenmann - alles hatte sein Maß: die Liebe, alle 14 Tage einen Brief, Ausgaben für sehr durchdachte und notwendige Reisen oder Geschenke - nur, ich bekam in seiner Nähe ein solch komisches Gefühl im Magen. Zweimal brach ein entsetzlicher Jammer aus mir heraus, mein Innerstes kehrte sich im Weinen und Schluchzen nach außen und konnte nicht aufhören. Das eine Mal in dem Schlafzimmer eines Bauernhauses im Winter, das andere Mal in einem Hotelzimmer. Er saß hilflos ohne Frage, auf die ich bestimmt keine Antwort zutage gefördert hatte... dazu das eifrige tick- tick-tick der Armbanduhr, die unerbittliche Zeit, ich war ausgeliefert, wehrlos, wie gelähmt und kein bißchen verliebt. Das war mein Magengefühl - das geheimnisvolle Hoffen auf das Lebensabenteuer war gestorben, weg, mein eigenes Leben hatte noch nicht begonnen und war schon vorbei. Das empfand ich und konnte nichts artikulieren, ich getraute mich nicht einmal in Gedanken, denn der Wille und die Vorstellung der Älteren waren zwingend.
»Wichtig ist, daß ein Mensch weiß, was er will!« hieß ein Kernspruch von Vater, der sicher auf ihn paßte, aber wo war denn mein eigener Wille? Mutter gab mir noch den letzten Schubs, und dann war's auch mein Wille. Sie weinte bei der Hochzeit, wie ich sie noch nie sah, und dachte wie Vater: welch ein Glück, wer weiß, was aus diesem Mädchen noch geworden wäre. Ich wußte, daß ich in ihren Augen vor schlimmsten Dingen, die sie stets befürchteten, gerettet worden war. Nun war alles gut und gesichert.

Maria

Es waren schöne Monate, nicht mehr von den Eltern gegängelt und abhängig zu sein und selbständig einen Haushalt führen zu können. Wir verstanden uns recht gut, die Welt schien sich mir zu öffnen. Da war die Hochzeitsreise nach Venedig vor allem und immer wieder kleinere und größere Unternehmungen, Reisen und Wanderungen - dafür hatte ER viel Sinn und - im Bett war's auch schön! Ich kam mir sehr wichtig vor, denn mein Mann konnte sich nicht einmal eine Milch warmmachen, geschweige eine Suppe oder sonst was kochen.
ER hatte allerdings feste Prinzipien und Vorstellungen von unserem Zusammenleben, während ich keine hatte als die, daß wir nun wie zwei Freunde füreinander leben würden. Mit der Zeit merkte ich, daß mir Verschiedenes nicht paßte, was mit Darüber-Sprechen nicht zu lösen war. Ich sollte mich damit abfinden, weil ER es so für richtig hielt. Ich fragte um die Fortsetzung meiner Gesangsstunden: Nein, das wünschte ER nicht. Meinen Traum von der Musikhochschule begrub ich endgültig, obwohl in der Nähe sogar eine war, und Zeit hätte ich auch gehabt.
Zunächst war ER aber der Unantastbare, der alles richtig machte. Ich hatte nur zu folgen, dann war alles gut. Sein Geld traute ich mich anfangs kaum auszugeben und kaufte die billigsten Sachen, da ich von zu Hause sparen gewohnt war Diesen kostbaren Stoff bekam ich in Schüben von 30 oder 50 Mark; eigenes Geld hatte ich keines, ebensowenig das Recht, Geld abzuheben. Mutter sagte zu mir: »Du mußt unbedingt auch berechtigt sein, Geld abzuheben.« Sie hatte zu Hause das ganze Geld verwaltet, und Vater vertraute ihr voll alles an. Aber meine Vorstöße gingen ins Leere. ER war Jurist, und sein besonderes Vergnügen war - sogar von Amts wegen -, mit Geld umzugehen, nämlich Wohnungen und Grundstücke für den Staat zu kaufen.
Ich äußerte in einer Sache eine andere, meine Meinung: »Es gehört sich für Eheleute, daß sie immer dieselbe Meinung haben«, äußerte ER streng. »Warum aber dann immer deine und nicht meine!« sagte ich aufsässig. Einmal sagte ich bei einer Meinungsverschiedenheit zu IHM: »Ach, du bist aber ein Esel!« Sehr entrüstet wurde ich zurechtgewiesen: »Wie erlaubst du dir, mit mir zu reden!«
Ein haushälterischer Mensch, sich nie vergessend, immer recht habend, nie von Herzen lachend, aber immer noch lächelnd, wenn ich längst vor Wut platzte. ER konnte sich nicht loslassen, nicht überschwenglich sein. »Du bist so eng und gar nicht begeisterungsfähig!« sagte ich. »Ja, deshalb habe ich dich geheiratet, damit du mir das beibringst!« sagte ER - »hm — ??!« - wie konnte das vor sich gehen, wo ich mich ganz seinem Schritt anpassen sollte? ER war ja kein Partner oder Spielkamerad, sondern ein überlegener Ehegatte!
Als einzigen Rat hatte mein Vater mir gesagt: »Schau, daß du zu deinem Recht kommst.« - ? - Mehr wußte er sicher auch nicht, denn zu Hause wurde Recht und Unrecht persönlich ausgestritten und nicht über das Gesetz. Die eheliche Aufklärung fand durch meine Mutter statt: »Weißt, ER ist kein Praktiker, da mußt du geschickter sein.« Hielt sie mich für eine Praktikerin? - da hatten wir's! Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, mich juristisch beraten zu lassen, und daß es gesetzlich verankerte Rechte gibt, die von Anfang an gewahrt werden müssen, die sonst von vornherein verspielt sind. (ER war im Bilde darüber, was ER tat, denn ER war längere Zeit im Scheidungsrecht tätig gewesen, und meine Unwissenheit war seine Stärke und Überlegenheit.)
Zu diesem Zeitpunkt brannten diese Probleme noch nicht so sehr. Trotzdem beschäftigte mich der Gedanke an Scheidung schon früh sehr stark.
Unser erster Sohn kam auf die Welt. - Scheiden lassen? - Zurück zu den Eltern, o Spott und Schande, nein, das wäre die Vernichtung. Zwei Jahre, dann brach der Krieg aus. ER mußte gleich zur Truppe - ich gebar eine Tochter. Welch ein Glück, jetzt hatte ich zwei Kinder, wenn schon keinen Beruf, dann eine große Familie als Lebensaufgabe!
Vor den Bomben floh ich zu meinen Tanten aufs Land, wo ich mir eine eigene Wohnung suchte. Von nun an war ich für alles zuständig... Wohnung, Geldeinteilung, Umgang mit Ämtern, Kindererziehung, Haushalt im weitesten Sinn mit Garten und Acker, Holzbeschaffung, Hamstern, Ähren- und Kartoffellesen, Krankheiten der Kinder, für die kaum ein Arzt zu finden war. Zwei »Urlaubs-Söhne« wurden in den Jahren bis 1945 noch geboren, meine zwei Tanten taten mir viel zuliebe mit ihrer kleinen Landwirtschaft. Auch gab es Musik- und Kinderfeste in unserer kleinen Wohnung - rundum entwickelte ich meine ganze Tatkraft. Wenn Notstand war, z. B. bei einer Geburt oder Krankheit, war Mutter zur Stelle. Ich fand sogar eine alte Gesangslehrerin, die mir Unterricht gab zur Gaudi der Umwohnenden, auf dem Dorf sammelten sich damals ja alle möglichen Leute aus den Großstädten. Der zurückgebliebene Teil unserer Möbel war inzwischen ausgebombt samt dem Stadtteil, in dem wir gewohnt hatten. Wenn ER in Urlaub war, gab's die früheren Probleme nicht mehr. Wir waren froh, uns wiederzusehen, und ich reiste die schwierigsten Routen mit Säugling, um IHN im Lazarett oder am jeweiligen Standort zu besuchen. Ja, verwundet wurde ER auch, doch zum Glück waren es leichtere Verletzungen. - Dann kam lange, lange keine Nachricht mehr - nervenaufreibende Ängste, und endlich über die Schweiz ein Brief, daß ER in Gefangenschaft sei, in englisch-amerikanischer. - Kriegsende: Unser Dorf war keine Oase, es war wie überall; Angst, Turbulenz, Besatzung, allmähliches Aufrappeln. Im Sommer 46 ging eine lange, abgemagerte Gestalt mit Militärsack die Dorfstraße entlang, ER kam wieder zurück zu uns! Aus dem Sack packte ER rührende Kleinigkeiten aus: selbstgenähte Handschuhe, ein Stück uralte Schokolade, eine völlig eingetrocknete Orange und anderes mehr. ER brachte eine Leber-Infektion mit, die ich, so gut ich konnte, mit heißen Auflagen und sorgfältiger Kost, was ein Problem war, behandelte!
Wir waren eine harmonische Familie, die Kinder spielten mit dem Vater und lernten ihn endlich kennen. ER hatte zunächst Zeit, da beruflich nichts vorhanden war. Wir besprachen alle Lebens- und Geldsorgen gemeinsam, denn die kamen jetzt auf uns zu. ER nahm harte Arbeit an, wie Bäume umgraben, im Steinbruch arbeiten, wofür ER etwas Geld und ein Vesper bekam, die Eltern halfen uns auch, wo sie konnten. Es war Offenheit und Vertrauen zwischen uns, die Notzeiten hatten zurechtgerückt, was vorher bürgerlich zu verengen drohte. 1948 wurde unser fünftes Kind, ein Sohn, geboren, und als die Bestätigung kam, daß ER wieder in die höhere Beamtenlaufbahn aufgenommen sei, flogen wir glückselig in der Schiffschaukel.
1950 war der Umzug nach T., ER hatte eine passende Wohnung besorgen können. Dazu konnten wir noch abseits zwei Grundstücke mit Gemüse bepflanzen, ein guter Anfang. Es war klar, daß wir sparen mußten mit fünf Kindern - aber, was hatte sich geändert, daß ich auf einmal keine Kohlen mehr bestellen, keine Schuhe mehr kaufen konnte, das Geld wieder wie früher in kleinen Raten zugeteilt bekam und nie Antwort darauf, was ER verdiene?! Als Jurist war ER genau im Bilde, daß es unzumutbar ist, einer Frau nur kleine Beträge zu geben, und ER rechnete wieder mit meiner Unwissenheit. Die alten Verhaltensweisen setzten verstärkt ein, denn der Schmelz der jungen Ehe war einer großen Familie gewichen - und im Krieg war ER befehlshabender Offizier gewesen. Ich hatte viel Selbständigkeit dazugelernt, doch im Umgang mit IHM auf dieser Ebene war ich noch nicht weiter. Zugegeben, ich ließ mich auch mal beschwatzen von einem Vertreter, die scharenweise an die Türe kamen und Gebrauchsartikel anboten - ist das ein Anlaß für Mißtrauen? Eine freundschaftliche Aufklärung aus seiner juristischen Erfahrung hätte bestimmt genützt.
Für die laufenden Haushaltskosten blieb es bei 30 oder 50 Mark wie früher, nur daß die Familie größer war; weit kam ich damit nicht. Alle paar Tage mußte ich gestehen, daß ich kein Geld mehr hatte. Ich litt dabei an furchtbaren Schuldgefühlen und dem Gefühl, als würde ich ihn ausrauben, zumal das zögernde Mißtrauen offensichtlich war, mit dem mir ein neuer Schein überreicht wurde. Er sagte, ich solle abrechnen. Ja, ich weiß, unsere Mütter hatten ganze Bücher voll über jedes Petersiliensträußchen geschrieben, und ich machte eine Zeitlang Versuche, genau zu sein. Aber die Tage waren so arbeitsreich mit fünf Kindern, Haushalt, Schule, Garten, daß ich immer die Hälfte vergaß und damit mein schlechtes Gewissen wuchs, als hätte ich es für mich verbraucht. Dabei waren es die alltäglichsten Kleinbeträge, die ich etwa den Kindern schnell in die Hand drückte für eine Besorgung, und die dann vergessen wurden. Auf eine Planung ließ ER sich nicht ein. »Ich will Haushaltungsgeld wie andere Frauen auch!« »Du kannst doch nicht mit Geld umgehen.« - Diesen Satz hörte ich immer und immer wieder, er beleidigte mich zutiefst, und ER hatte damit sein Alibi, inich weiterhin in absoluter Kontrolle zu halten, eine diskriminierende Ausrede, um mit dem Geld die Macht zu haben. Was blieb mir anders übrig, als mit Lügen und Vertuschen zu beginnen. Dabei ging's um kleine und kleinste Beträge auch zugunsten der Kinder, ich mußte ja. um jeden Strumpf bittstellern. Oft blieb ich bei Bäcker und Metzger schuldig, weil ich mich nicht getraute, um Geld zu fragen. ER war hart, überheblich und unnahbar, und es entstand eine Wahnsinnsangst in mir vor seiner Autorität. Mein Hals war wie zugeschnürt, wenn es um persönliche oder Haushaltsdinge ging. Alles mußte seine Kontrollinstanz durchlaufen, und wenn nicht dringend lebensnotwendig, wurde es abgelehnt. Was genehmigt wurde, war vom engherzigen Wenn und Aber begleitet, so daß jegliche Freude an Unternehmen oder Anschaffung abgewürgt wurde. Persönliches Taschengeld hatte ich keinen Pfennig. Sogar mein Vater riet mir, ich solle heimlich etwas abzweigen. Aber über die besagten Kleinbeträge hinaus war nichts möglich.
Ich nähte so ziemlich alles selbst, was nur ging aus alten Stoffen, und manchmal gab's auch einen neuen. Wir führten auch mal eine launige Modenschau vor, um zu beweisen, wie fleißig sein kostbares Geld verwertet wurde. Stets besah ER sich die gelungenen Sachen und schaute so gründlich, bis er etwas zu kritisieren fand - einen heraushängenden Faden, eine kleine Falte ... gelobt oder anerkannt wurde nie, weder im Haushalt noch eine Mahlzeit noch Schulleistungen usw. Im Büro war ER Vorgesetzter, und zu Hause verkörperte ER diese Rolle weiter. Ein Vorgesetzter hat immer recht, verliert nie sein Gesicht und ist immer der Überlegene. Die Untergebenen werden dadurch unter Druck gehalten, und Lob schafft Übermut! - Aufpassen! Die Stimmung wurde immer gespannter, und die Kinder bekamen die freudefeindliche Atmosphäre zu spüren. Ich war zu emotional, noch zu sehr gefangen in mir, ich konnte mich gegen diesen geschulten Juristen nicht artikulieren. Das Ehegesetz hätte mir recht gegeben - ER wußte dies bestimmt -, aber mich darüber zu informieren, lag mir ferner als die Milchstraße. (Warum lernen Kinder darüber in der Schule nichts, Recht und Pflicht im Umgang mit dem andern?) Ich saß unter einem Kanaldeckel und konnte nicht raus, denn ER hielt ihn zu. Aber Spontaneität war meine Stärke: »Ich halte das nicht mehr aus!« schrie ich. ER von oben herab: -»Was gibt's?« - »Ich bin hier weniger als ein Dienstmädchen, das hat wenigstens ein Gehalt!« - »Jeder ist das, für was er sich hält!« - Was hätte es genützt, wenn ich ihn ins lächelnde Gesicht geschlagen hätte. - Ein ander Mal: »Ich habe mich erkundigt bei verschiedenen Bekannten, da ist es selbstverständlich, daß sie gemeinsam die Ausgaben besprechen und die Frau ihr Haushaltungsgeld bekommt. Frau B. darf sich sogar jederzeit ein Kleid kaufen, und Taschengeld ist selbstverständlich!« - »So, so, du sprichst mit Fremden über unsere Ehe, du bist eine Nestbeschmutzerin!« - »Du bist ein Ungeheuer, ein Schweinehund...!« - »In diesem Ton rede ich nicht mir dir!« - und zur Türe hinaus. Ein Beispiel für viele andere Ausspracheversuche. Sobald wir auf diese Probleme kamen - ich war immer diejenige, die den Anstoß machte -, wurde ER sadistisch - hatte ER doch ein schlechtes Gewissen? Mit andern sollte ich nicht reden, was ich aber eifrig tat. Hatten wir deshalb keine gemeinsamen Bekannten, weil mir in meiner Bedrückung immer wieder Bemerkungen entglitten, wo ER sich angegriffen fühlte? Diplomatie und Verdrängung war nicht meine Stärke, und ER und ich waren unfähig, uns zu verständigen. Ich lief ihm, das Gespräch suchend, nach, und ER entzog sich hochmütig.
Mein Haß wuchs und dazu hilflose Angst. ER hatte wohl auch Angst vor dieser großen Familie, die ihm sein Geld entriß. ER hatte doch bei seiner schweren, verantwortungsvollen Arbeit Anspruch darauf, sich immer wieder erholen zu können oder nicht? Allmählich entzog ER sich der Familie an vielen Wochenenden. Geologie, Heimatgeschichte und Reisen waren seine Hobbys, öfter legte ER Ferientage mit Feiertagen geschickt zusammen - Beamte haben 6 Wochen Ferien -, so daß ER größere Reisen machen konnte, sogar meine Mutter sprach vom Reiseonkel. Ein einziges karges Kärtchen erreichte mich in drei Wochen. Als ich mich bei meiner Mutter beklagte, daß ich keinerlei Ausgleich dafür hätte, sagte sie: »Ja, so sind halt die Männer, ER verdient auch das Geld!«
Ja, im Gegenteil, ich hatte immer Schulden und ein schlechtes Gewissen, wenn ER zurückkam, weil das Geld viel zu knapp war und ich nicht zur Bank konnte. Ich bekam dann ein Postsparbuch, das war wenigstens etwas. Eigentlich war's schön, wenn ER weg war, wir waren vergnügt und fühlten uns frei. Es entstand allerlei Gemeinschaftliches durch Musik und Spiel. Wie wenig war's IHM einsichtig, daß ER sich der Familie entfremdete und damit eine negative Atmosphäre schaffte, statt mit der Familie zu leben, die IHM sein Opfer mit Harmonie und Zuneigung gelohnt hätte. Es war auch der Streß, der sich trennend dazwischenschob. ER mußte sich einarbeiten und bewähren. Sorgfältige Überlegungen und Entscheidungen verfolgten IHN über Tage, seine Pünktlichkeit und sein Verantwortungsbewußtsein waren ausgeprägt. Bei mir war es nicht besser, aber ich verbrauchte, und das war der Unterschied - und »schließlich hatte sie fünf Kinder gewollt!« IHM hätten zwei genügt, »wer weiß, wie fruchtbar diese Frau noch sein kann - vorsehen!« - auch im Bett vor allem. Hätte ER sich an bestimmte Zeiten gehalten, wäre unser Eheleben ganz gut gelaufen - aber ER tat es nicht, es gab Schwierigkeiten -, ich halte dies für einen wichtigen Schlüssel zu vielem, was schiefgelaufen ist. Es ging natürlich nicht immer so spannungsgeladen zu, es gab auch gute Zeiten, z. B. wenn wir mit den Kindern Ferien im Gebirge machten oder ER und ich zwischendurch zusammen reisten, während Mutter die Kinder versorgte. Einmal im Jahr nahm ich an einer Musikwoche teil (wobei immer mein Geld kaum reichte) - diese Woche war dann mein Ausgleich. Wir galten als vorbildliche Familie, denn es stimmte in allem, was eine Normalfamilie aus der Bürgerschicht aufzuweisen hat. Wenn ich mir bei Bekannten das Herz erleichtern wollte, mit Vorsicht, waren sie sehr erstaunt: »Was, das kann doch nicht sein, so ein lieber, guter Mensch!« - und ich spürte deutlich die Kritik und meine Unfähigkeit, mit diesem Pracht-Exemplar umzugehen.
Seine liebenswürdige Seite lernten andere kennen. Uns gegenüber veränderte ER sich oft völlig. Ich spürte, daß ER sich mehr dünkte als ich und entlud mich: »Ich bin so viel wert wie du!!« ER zuckte dazu mit den Schultern. Alles, was mit IHM zusammenhing, fing ich an zu verachten. Seine Beamtenkleider, seine Beamtenstrümpfe, seine Beamtenmappe - nie hätte ich bei vollem Bewußtsein einen Beamten geheiratet!! Ich wurde kleingemacht: »Du hast ja nicht einmal das Abitur.« - Ich lernte übermüdet Italienisch und ließ mir von IHM vertrauensvoll die Wörter abhören. Ein paar fielen mir nicht ein: »Da nimm dein Buch und lern's, du bist so dumm wie dein Sohn!« - Ich wollte wieder singen - ein Kollege sagte zu IHM in meiner Gegenwart: »Das ist ja wunderbar, daß Ihre Frau singen kann, das braucht sie notwendig zum Ausgleich!«
Auf diesem Ohr hörte ER nicht: »Dafür habe ich kein Geld.« Ich wollte 10 Mark für einen Volkshochschulkurs: »Nein, dazu hast du keine Zeit.« Ich hätte gern einen Gymnastikkurs besucht: »Das ist unnötig, du hast genug Bewegung im Haushalt.«
Nur was zu seinem ganz persönlichen Wohl geschah, wie Kochen, ein Hemd nähen, seine Haare waschen, Knöpfe annähen usw. wurde als wirklich notwendig angesehen, alles andere war der Verschwendung verdächtig und mußte möglichst verhindert werden.
Eine Frau, die gern eine Tasse Kaffee trinkt, ist genußsüchtig.
Eine Frau, die sich hübsch macht, will andern gefallen. Eine Frau, die mit ihren Kindern spielt und werkelt und lieber auf etwas verzichtet zugunsten der Kinder, ist eine Gluckhenne.
Eine Frau, die für Sauberkeit sorgt und keine Ackerklumpen im Wohnzimmer duldet, ist ein Putzteufel. Eine Frau, die ihre Eigenständigkeit behauptet und persönliche Ansprüche hat, ist aushäusig oder maßlos. Eine Frau, die nicht zu allem ja sagt und ihre eigene Meinung hat, ist ein widerspenstiges Luder oder Hausdrachen. Eine Frau, die's im Bett gern hat, ist sowieso gefährlich - aufpassen!!
ER: Gezielter Tadel (wie haßte ich dieses Wort), seine zähe, präzise, vor Winkelzügen nicht zurückschreckende Hinterhältigkeit, mich zu zwingen oder zu gängeln, gepaart mit seinem Hochmut, machten mich zur Unterlegenen voller Skrupel, aber auch voller Haß.
Dies war ein Spinnennetz, überall und nirgends, hatte ich recht oder unrecht? Ich wußte es nicht, ich hatte nur ein Gefühl, das mich leitete.
Emotional sein ist immer im Unrecht sein, und mein Bewußtseinsprozeß brauchte lang.
Wie sollte ich zu Geld kommen, um wieder Gesangsstunden nehmen zu können? Ich spendete heimlich in der Klinik alle 8 Wochen Blut. Dazu bekam ich vom Vater eine monatliche kleine Zuwendung, ich war glücklich. Singen bedeutete für mich freiwerden von dem, was mich bedrückte - und bald durfte ich auch kleine Solopartien singen, womit ich mein erstes eigenes Geld verdiente. ER hörte mir einmal gönnerhaft bei meinen Übungen zu und meinte: »Du bringst es doch nicht weit!« womit ER - ohne ein Recht zu haben - seine Überlegenheit auch hier einbrachte.
Weihnachten hatte ich mir mit dem Blutgeld einen Herzenswunsch erfüllt, etwas ganz Unnötiges: eine Spieluhr mit Schäfchen und Engelein, zur Freude der Kinder. Ich zeigte sie IHM und sagte, daß dies vom Blutspendegeld gekauft sei. Seine Empörung war sehr groß, und ER verbot es mir auf der Stelle. »Dann gib mir jetzt endlich das Taschengeld, das mir zusteht!« (Inzwischen wußte ich, daß ich 5% des Einkommens zu beanspruchen habe) - keine Antwort - und ich spendete unter Gefahr meiner Gesundheit weiter. Er fragte nie danach, SEIN einmaliges Verbot war sein Alibi, das andere meine Sache. Was wäre geschehen, wenn ich krank geworden wäre?
Mit 60 Jahren wollte ich Selbstmord begehen, denn wie sollte ich mit diesem Mann das Älterwerden und das Alleinsein ertragen können? Diesen Vorsatz trug ich als Trost mit mir. In der Zeitung studierte ich oft die Todesarten von Selbstmördern, z. B. von einem hohen Turm hinunterspringen oder die Schlagader öffnen - wenn ich nur ein schnellwirkendes Gift besäße, Zyankali soll gut sein. Einen Knollenblätterpilz in SEINE Mahlzeit mischen, wie wär's?! Gerne las ich Heiratsanzeigen, die ich sehr spannend fand. Was gab es doch für tolle Männer, welch große Auswahl der besten Heiratsmöglichkeiten, und ich mußte diesen haben!
Warum ging ich eigentlich nie zum Rechtsanwalt? Ich war von seiner erbarmungslosen Rechtlichkeit überzeugt und ebenso von meiner Unterlegenheit.
ER würde sich genau berechnend am untersten Rand des Rechts bewegen, das vor allem für die Männer gemacht war, und ich - da ohne Beruf - hätte als Putzfrau gehen können. Die Zerstörung der Familie wäre sehr schlimm gewesen. Also, durchhalten und an einem Beruf bauen, damit ich weg kann, wenn die Kinder mich nicht mehr brauchen!

Abigail

Aus einem Brief an IHN:

  • »... meine persönlichen Bedürfnisse muß ich millimeterweise erstreiten, und Du bist neidisch und ablehnend auf alles, was ich unternehmen will, obwohl Haushalt und Familie nichts entbehren, im Gegenteil, alles, was ich kulturell einbringe, ist auch für Dich nur Gewinn! Das Singen bringt mir jetzt ein wenig Geld, und nun soll ich plötzlich verpflichtet sein, an Anschaffungen mitzubezahlen! Zuerst mißachtest und verbietest Du, um dann selbstherrlich mein bißchen Erworbenes als Deinen Besitz zu betrachten, so gehen Herren mit Sklaven um... Ich weiß, daß ich ein höriges kleines Mädchen hatte bleiben sollen, von Deinen Gnaden lebend.« -

Weil ich mich heftig wehrte, bekam ich inzwischen ein kleines Taschengeld. Ich begann, Kindern Blockflöten-Unterricht zu geben. Endlich hatte ich mehr Freizügigkeit, Geld, und Geld kommt von Geltung, gelten.
Im Haushalt wurde erst neu angeschafft, wenn das Alte zusammenbrach oder verbraucht war. Jetzt konnte ich eine überfällige Stehlampe mit meinem Geld ersetzen, plötzlich stand sie da vor IHM - es war nicht faßbar: dieses Weib erlaubte sich, etwas zu kaufen ohne SEINE Einwilligung (bisher war es immer ein zähes Ringen, Betteln und Bitten gewesen, wenn etwas angeschafft werden sollte, z.B. zwei Jahre lang um das Waschbecken im Klosett, lange Zeit um einen Teppich auf den kalten Boden im Zimmer der Kinder usw.). - Noch nie hatte ich IHN so wütend gesehen. Jetzt fing wohl bei IHM die Angst um seine Machtstellung an?
Damit ich zu Hause unterrichten konnte, brauchte ich Orff-Instrumente. Ein Cembalo kam ins Haus, und ich richtete mir mein Musikzimmer ein. ER schrie (!); »Tcn erlaube nicht, daß hier im Haus etwas verändert wird!« Ich fing an, mich zu behaupten und machte jetzt auch Reisen -ohne IHN! Was mir vorher unerreichbar erschien das konnte ich jetzt tun, soweit es mir die Zeit erlaubte. - Den Kindern konnte ich manchen Wunsch erfüllen, und ein Plattenspieler mit Schallplatten kam ins Haus. Manches unnötig Notwendige war jetzt möglich. Zunächst war ER ablehnend, denn unsere Freude war ohne seine Erlaubnis geworden, doch bald bemerkte ER den Nutzen einer verdienenden Hausfrau.
Es kamen Leute zum Musizieren ins Haus. Musik und der Umgang mit Menschen waren jetzt mein Reich, wo ER sich nicht traute einzutreten. Mit IHM konnte ich nie lachen jetzt hatte ich mein Lachen wiedergefunden. Und manchmal verliebte ich mich auch. ER war natürlich sehr eifersüchtig, und das Mißtrauen brachte IHN fast um. Das war belastend, doch ich gönnte es IHM endlich war ER auch dran.
ER strafte mich mit SEINER Entziehung, und zweimal gerieten wir tätlich aneinander, doch ich war stärker Ich ließ IHM die Vorstellung von meinem Lotterleben, Männer können nicht anders, obwohl alles ganz harmlos war (zu meinem Leidwesen, doch als ältere Frau muß man aufpassen!).
Es war für mich die falsche Altersgruppe. Da ich stillschweigend nichts mehr einkaufte und kochte wenn der erbettelte Betrag zu Ende war - kamen wir überein daß unter eine Pralinenschachtel fließend Haushaltungsgeld gelegt würde. Immer wieder stockte das Rinnsal - Krach - es floß weiter.
Vater war gestorben, und Mutter zog zu uns in die Nähe. Ich habe ihr viel zu verdanken, doch sie war mit mir nicht immer einverstanden. Ich sollte keine farbigen Kleider mehr tragen und keine modisch kurzen Röcke und vor allem die Verrücktheit unterlassen, Geld zu verdienen. Mir ginge es doch so gut und ich hätte alles, was ich brauche... und der arme Mann komme zu kurz. ER sollte nun allerdings lernen, wie man das Gas anzündet und eine Milch oder Suppe warmmacht, jetzt war ich gar nicht mehr stolz.
Es ging lange, bis ER die Demonstrierung seines Leidens aufgab. Ein hungernder Ehemann empfing mich, bei gefülltem Kühlschrank, wenn ich müde heimkam mit Vorwürfen und der Aufforderung, ihm jetzt schleunigst das Essen warmzumachen. Vorgekocht war alles schon. Und nun kam etwas, was ER schwer verdaute. Ich machte den Führerschein und kaufte mit einem der Söhne ein gebrauchtes Auto. Nie wäre ein Auto ins Haus gekommen, da ER vor jeglichem technischen Apparat sich fürchtete. Ich fuhr damit, wann ich es brauchte und wann es mir paßte. ER getraute sich nicht, um Mitfahrt zu fragen, ER war beinahe bemitleidenswert und wiederum ausgeschlossen. Ich war im Wert gestiegen, das spürte ich. Trotzdem waren unsere Auseinandersetzungen wie eh und je, völlig ins Leere. Der einzige Berührungspunkt war die Pralinenschachtel und der Kochtopf.
Ich hatte eine staatlich anerkannte Prüfung für Musiklehrer abgelegt und gleich zwei gutbezahlte Stellen samt Wohnung angeboten bekommen. Ich hatte beste Berufsaussichten. - Aber meiner Mutter ging's immer weniger gut, und ich hatte die Verantwortung für ihr Alter, ich durfte jetzt nichts entscheiden - abwarten, warum erleichterte mich dieser Aufschub?
Inzwischen pflegte ich nur noch einen Kontakt: Ein Mensch, durch unglückliche Lebensverhältnisse verkorkst, Gitarre spielend und von warmherzigem Wesen, kam ins Haus. Er hatte künstlerische Phantasie, und ich bekam von ihm Anerkennung und warmes Gefühl. Es ging eine ungeheure Anziehungskraft von ihm aus. Bei ihm konnte ich mich im Gespräch öffnen, ich fühlte eine Beruhigung in seiner Nähe wie noch kaum erlebt. Vorübergehend erfuhr ich bei diesem Unterprivilegierten, was glücklich sein heißt. Er brauchte mich noch mehr, und zwar mit Geld, das ich ihm anfangs gab, aber so ging's ja nicht, und ich merkte die Sinnlosigkeit. IHM zum Trotz behauptete ich sogar: »Ich heirate ihn«, was IHN zu meiner Genugtuung in Weißglut brachte. Ich schlug ihm sozusagen seinen Anti-Typ ins hochmütige Gesicht. SEIN Mißtrauen überschlug sich, denn ER hielt mich für fähig, mit dem Haushaltungsgeld meinen Liebhaber auszuhalten, aber das kam nicht in Frage, ich hatte mein eigenes Geld. Ich weiß nicht, was IHM ärger war, der Liebhaber oder das Geld...?
Wir liefen auseinander - jeder seinen Wegen nach und beide gleich verzweifelt. ER kam nur noch zum Schlafen heim und sagte, er habe auf dem Amt zu tun. Sein Benehmen war wie immer - strafend und kein Gesicht verlierend. »Wenn du doch bloß einmal etwas zugeben wolltest, dann wäre vieles besser!« - »Ich wüßte nicht, daß ich etwas falsch gemacht hätte, du bist diejenige, die mein Vertrauen mißbraucht hat!«
ER hatte drei oder vier Eisen im Feuer, unverheiratete Frauen im richtigen Alter, die IHN trösteten und fütterten; wo ER war, wenn ER so lange auf dem Amt arbeitete. Man sagte mir: Mit Pralinenschachtel und Blumen sei ER gesehen worden, und ich solle nur aufpassen, ein solch fetter Fisch sei begehrt, und im übrigen solle ich mich in acht nehmen, ER habe einen Privatdetektiv bestellt, um Beweise zu haben. - Mir war alles egal, ich kannte weder Vorsicht noch Rücksicht noch Umsicht, ich kannte nur eines: meinen Haß gegen diesen selbstgerechten Heuchler!
ER engagierte als letzten Versuch Schwester Lore. Sie sollte die Ordnung wiederherstellen und mich mores lehren. Diese alte, ausgemergelte, aufdringlich frömmelnde Krankenschwester, gewohnt zu herrschen, hatte bei mir kein Glück. Ich wollte nicht hören, was eine Ehefrau zu tun hat und wie es in der Bibel steht - es gab großen Krach, und sie mußte schnell abreisen.
Die ganze seriöse Verwandtschaft seinerseits war inzwischen im Bilde. ER wurde tief bedauert, daß er so Unglück hatte mit dieser Frau, und ER machte seine Besuchsrunden. In der Verwandtschaft dieses Edelmenschen gab es nur glückliche Ehen. Wie ich sie alle haßte! Schon bei der Hochzeit hatten sie es geahnt, daß diese Ehe nicht gut gehen könne. Ich fühlte mich in furchtbarer Einsamkeit, und niemand erreichte mich mehr. Wie eine Frau absinken kann in diesem Zustand, das ist unvorstellbar. Sie kann einen Mord begehen, sie sucht Umgang mit gescheiterten Existenzen, sie kann zur onanierenden Alkoholikerin werden... oder Drogen nehmen. Mit diesem Mann wollte und konnte ich nicht mehr leben, wenn ich seine lächelnde Ehrenmannsmaske sah, wußte ich nicht, was tun vor Trotz und Wut. ER schloß mit lautem Knall vor mir das Schlafzimmer zu, um mir den Herrn zu zeigen. Es war ein Schlag ins Wasser, denn erleichtert zog ich in ein anderes Zimmer um, das inzwischen frei war, da die Kinder aus dem Haus waren. Hier hatte ich jetzt einen Platz für meine Bücher und Arbeitsunterlagen, und lange schon liebäugelte ich mit einem eigenen Zimmer.[8] Es hatte seither keine legitime Möglichkeit gegeben, jetzt war sie da, und niemand würde mich mehr herausholen. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich ein eigenes Zimmer. Hier verbot mir niemand das Lesen im Bett, ich konnte meine Sachen liegenlassen, konnte Gymnastik treiben, Radio hören usw. - vor allem schnarchte niemand mehr und engte mich ein. Gegenseitige Achtung und Anerkennung statt Herrschaft und Unterdrückung war das, was ich wollte mit allen Konsequenzen. Trotz meines Selbstverdienten spürte ich eher noch mehr die Ausbeutung, denn ich mußte fast alle meine Bedürfnisse selbst bezahlen.
Endlich wollte ich, wenn auch reduziert, ich selber sein dürfen und nicht eine Schablone, die ein Mann von mir in seinem Hirn hat! Verdammte, idealistisch-autoritäre Männergesellschaft! Ich wehrte mich bei jedem falschen Wort, das ER sagte, doch dämmerte es IHM? Ich bemerkte nichts in seinen Äußerungen, die nur um das mißbrauchte Vertrauen gingen. Er behauptete, daß ich erst seit einem Jahr so ganz anders sei. Da mache ER jetzt nicht mehr mit! Seine gekränkte Ehre müsse Genugtuung haben, und ich solle jetzt merken, was sich für eine Frau gehöre, und was Recht sei.
Und ich wollte weg - weg - (Ich denke nach, was ER da sagte: wie kommt ER darauf - seit einem Jahr? wo wir doch seit so vielen Jahren... da macht ER sich wieder was vor und schiebt alles auf die Wechseljahre, die ich gerade hinter mir habe. Das hat ihm eine Trösterin eingeblasen. Wie schnell ist die Außenwelt bei der Aussage hysterisches Frauenzimmer, das sind eben die Jahre oder sie weiß nicht mehr, was sie tut, wenn eine Frau in dieser Zeit den verzweifelten Versuch macht, dem Leben eine andere Richtung zu geben oder in Ordnung zu bringen, was vorher nicht stimmte. Ich spürte, daß in dieser Art von mir geredet wurde und erlebte, wie diskriminierend das Elend einer Frau von der Allgemeinheit abgetan wird.)

Traum: Ich wohne im 3. Stockwerk eines hohen Hauses Ein Puma sitzt sprungbereit mir gegenüber auf dem Balkon, einen Stock tiefer sitzt sprungbereit ein Leopard Angst langnachwirkend.

Brief an einen Ehemann, der versagt hat!

  • Bald wirst Du pensioniert, davor habe ich Angst. Ich will nicht mit einem Mann zusammenleben, der nur auf den gesetzlichen Ehemann und seine überkommenen Rechte pocht. Was nicht als Mensch und Partner getan wird, ist für mich wertlos. Ich bin gleich-wert, und die Redensarten »Du mußt - das gehört sich - ich erwarte von Dir - ich verbiete Dir - meine Ansicht hat auch die deinige zu sein - was werden die Leute denken«, verdummend und unmenschlich, habe ich übersatt und auch genug dagegen gestritten. Unsere Kinder sind erwachsen, und ich bin's erstaunlicherweise, trotz aller Gegenanstrengung Deinerseits, auch geworden. Meine persönlichen Bedürfnisse und Interessen wurden bespöttelt oder abgesprochen, und es wurde meine Arbeit in Haushalt und Familie nie anerkannt. Als mein Vater im Keller drei Wochen lang die Gestelle baute, hattest Du kein Wort des Dankes für ihn. Selbst hast Du nie Hand mit angelegt. Im Gegenteil, Du liebst ja die Heimat und große Reisen und brauchtest unbedingt einen Ausgleich. Von Herzen hätte ich Dir alles gegönnt, wenn Du auch für meine Bedürfnisse Verständnis gehabt hättest. Die Zeit und das Geld hattest Du für Dich stets bereit. Ich bekam nie Einblick in die Finanzen und erhielt auch nie einen Pfennig mehr, als ich unbedingt für die Haushaltführung brauchte. Nein, es war sogar so, daß wir in Deiner Abwesenheit Fenster und Türen strichen und Böden legten - kurz, vielerlei außergewöhnliche Arbeiten erledigten, die Du höchstens bemerktest, wenn Material zu bezahlen war.
    Nörgeln und kritisieren ist Deine Art, Deine Familie in Kusch zu halten, diese freudlose Atmosphäre tötet mich. Ich habe einen Beruf, und weil Du meine Bedürfnisse nicht geachtet hast, haben sich diese weit weg von Dir entwickelt, Du hast keinen Zutritt.Du meinst, Du hättest immer großzügig geschwiegen? Nein, Du warst feige und hast Dich vor Auseinandersetzungen gedrückt, um »Dein Gesicht nicht zu verlieren!« - Du saßest auf dem unmenschlichen Thron der Selbstgerechtigkeit und versetztest Deine Familie in Schuldgefühle. Nie konnte ich vertrauensvoll Persönliches mit Dir besprechen, Deine Arroganz ist grauenhaft, Kunst und Religion sind unsere möglichen Gesprächsthemen, unpersönlich und zu nichts verpflichtend, alles andere führt zu Streit. Dein ewiges Lächeln, Dein unschuldvolles So-tun-als-Ob, ist wie der Zuckerguß über einem Misthaufen, und dieser wird jetzt abgerissen.
    Du bist empört, daß ich Dein Vertrauen mißbraucht habe! - Es interessiert mich überhaupt nicht, ob ich Dein Vertrauen wiedergewinne, sondern das Problem ist, wie Du mich wiederbekommen kannst.
    Die letzten achtzehn Jahre unserer Ehe waren ein Herrschafts- und Dienstverhältnis, eine absolute Dummheit, und die Kinder mußten leider daran mittragen, es ist nichts mehr zu ändern.
    Meine Abhängigkeit und Berufslosigkeit haben mich Deiner Gnade voll ausgeliefert, denn Hausfrau ist kein anerkannter Beruf - obwohl eine Frau mit Familie wohl zehn Berufe hat. Es ist eine Ermessensfrage des Ehemanns, juristisch ausgedrückt, nicht wahr?
    Die Luft war oft zum Ersticken, aber für Dich war alles in Ordnung. Du bist ein Heuchler - geliebt habe ich Dich noch nie.
    Eine Freundschaft hätte schon entstehen können, wenn Dein eigentliches Wesen, Deine Menschlichkeit nicht so gesellschaftlich verkrustet wäre von Jugend an.
    Eva-Maria Abigail

Brief von meiner Tante Berta:

  • Meine liebe Eva-Maria! (jetzt 51 Jahre alt) Mit Bangen und Zagen haben wir, Pia und ich, richtig Angst um Dich, daß Du so unruhig bist und nur ein Ziel hast - einfach loszukommen von Deiner Fessel, wo doch gar kein Fessel ist, sondern der gewaltige böse Zeitgeist hat Dich völlig umklammert. Und Du merkst es nicht, wie schwer Du gefangen bist. Du bist sehr krank! Halt ein und überlege wo Du landen könntest, ehe es zu spät ist und Du selber und Deine Familie zugrunde gehst.
    Du bist jetzt zu alt, um einen Beruf auszuüben, der wäre recht für Deine Tochter, die Alten will niemand mehr. Versöhne Dich mit Deinem Gatten, dem Du die Treue geschworen hast in Leid und Freud. Kein Mensch auf Erden meint es so gut mit dir! Du darfst Deinen Kindern das Vaterhaus nicht rauben Du willst mit dem Kopf durch die Wand, weil Du selber Geld hast, Geld-haben und unabhängig sein, ist schon vielen Frauen zum Verhängnis geworden. - Und dann wäre es schade, als geschiedene Frau kannst Du Pias Häusle nicht bekommen, und ich habe mich schon für Dich gefreut Es wäre jammerschade um Dich und Deine Familie
    Für heute genug, grüße Dich herzlich,
    Deine Tante Berta.
    Noch eines, da ich immer in der Bibel lese, möchte ich Dir dies schicken:
    Epheser 6, VII - Ziehet an den Harnisch Gottes, daß ihr bestehen könnt gegen die listigen Anläufe des Teufels denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen sondern mit Fürsten und Gewalttätigkeiten, nämlich mit den Herren der Welt! die in der Finsternis dieser Welt herrschen mit den bösen Geistern unter dem Himmel! Um deswillen ergreifet den Harnisch Gottes auf, daß ihr an dem bösen Tage Widerstand tun und alles wohl ausrichten und das Feld behalten möget!

Die gute, fromme Tante! Sie bemerkte nicht den Doppelsinn!

  • Liebe Tante Berta, Dank für Deinen besorgten Brief. Sicher kreisen Deine Gedanken viel um mich und Du machst Dir schlimme Sorgen. Glaube mir, seit 17 Jahren denke ich darüber nach (eigentlich von Anfang an), wie ich loskomme und habe mich beruflich vorbereitet, denn diese Heirat war nicht für mich. Das wißt Ihr, Du und Pia, viel besser als ich, wenn ich mich an bestimmte Bemerkungen zurückerinnere!!
    Ich bin nicht für Resignation, sondern fürs Zupacken. Es ist einfacher, im Trott zu bleiben und zu kuschen, als das Steuer herumzureißen. Es ist mein Schicksal - allerdings von anderen bereitet -, und niemand hat ein Recht, dareinzureden, ich bin alt genug.
    Wenn Pia mich gern hätte, würde sie nicht so lieblos reagieren, denn ich bin bis heute ihre Patennichte, und niemand anderes ist so nah verwandt. Jetzt gerade würde ich ihre Liebe und ihr Verständnis brauchen, nicht zu reden von der Gerechtigkeit, aber statt dessen werde ich verstoßen. Ich bin vom Leichtsinn weit entfernt und habe schon unendlich über alles nachgedacht. Wenn ich des Häusles wegen meinen Entschluß ändern würde, müßte ich mich mein ganzes Leben selber hassen... Respektiert, bitte, meinen Entschluß, hier versagen alle guten Ratschläge...
    Auf baldiges Wiedersehen, liebe Tante Berta,
    Deine Eva-Maria
    Übrigens war Er schon beim Anwalt.

Brief von der Patentante Pia:

  • Liebe Eva-Maria! Es ist der zweite Mittwoch, daß ich im Häusle sitze und auf Dich warte. Draußen ist richtiger Winter, und alles ist voll Schnee und gefroren. Hoffentlich hast Du eine gute Winterausrüstung, sonst wird es gefährlich mit dem Auto. Ich bin in großer Sorge um Dich, denn letzten Sonntag waren Dein Gemahl und Dein Bruder mit Frau bei mir. Was die alles über Dich sagten, läßt mich nimmer schlafen und ich mag es gar nicht schreiben. Es ist mir unverständlich, daß Du mit aller Gewalt Deine Ehe zerstörst. Du mußt doch auf Deine erwachsenen Kinder Rücksicht nehmen. Dein Gatte hat bis jetzt die Scheidung noch nicht eingereicht, aber er will nicht mehr lange warten. Zwei Jahre willst Du Deine Freiheit (mein Vorschlag war, sich zu trennen, um aus der Distanz ein neues Verhältnis zueinander zu bekommen), und dann ihm seine Pension verzehren helfen, willst tun, was Du willst, und es soll niemand etwas angehen. - Du wirst vor Gericht hören was eine Ehefrau zu tun hat und daß Du als die Alleinschuldige angesehen wirst. Was Dich dann erwartet, weißt Du auch. Du mußt krank sein, daß Du Dich auf solch widrige Sachen einläßt.
    Dein Gatte ist ein tüfteliger Jurist und kennt alle seine Vorteile, die ihm durch Dein Verhalten entstehen, und Du handelst in allem ohne es zu bedenken, gefühlsmäßig, ach, wie leid Du mir tust, und ich kann Dir nicht helfen. Warum hat denn dein Bruder eine so gehässige Einstellung? Ich kenn ihn sonst so nicht -! Die Haselnüsse sind zugeschneit, aber wenn der Schnee geht, dann kannst Du sie wieder auflesen. Ich hätte das alles lieber nicht gewußt es belastet mich schwer, es ist, als ob's um mein eigen Kind ginge
    Deine Pia

Liebe Eva-Maria!

  • Soeben erhalte ich Deine Karte mit Deiner Anmeldung, bei diesem Winterwetter habe ich Dich gar nicht erwartet und wollte es Dir auch gar nicht zumuten mit dem Auto. Der Weg zu mir ist vereist und verschneit, und wenn Du über das Thema reden willst, dann ist eine Trennungswand zwischen uns, und ich möchte Dich nochmals, in Deinem Interesse herzlich bitten, bei Deinem Mann einzulenken und es nicht auf das Äußerste ankommen zu lassen.
    In Liebe Deine Pia.

Will man eine Wende herbeiführen, muß man mit der Kraft der Verzweiflung nach vorne schauen und keine, aber auch gar keine Rücksicht nehmen. Den Tod nicht scheuen

Traum: Aufstieg ins Gebirge, schwierig, wetterleuchtender rotgoldener Horizont und Himmel mit schwarzen vielgestalteten Wolkenbergen - glückliches Empfinden.

  • »Wenn du willst, daß ich bleiben soll, dann nur ohne deine Bedingungen. Du sagst, daß >man< aufs Alter hin zusammenzubleiben hat. Ich bin noch jünger, und du brauchst vielleicht bald eine Krankenschwester, ist es das? In 32 Jahren findet oder verliert man sich, Kompromiß und Bedingungen anerkenne ich nicht.«

Kein Verstehenwollen, SEINE Verkrustung war amtlich sanktioniert - ein menschlich-liebes Wort hätte bei mir allen Haß, Wut und Trotz zum Schmelzen gebracht - ER der Richter, ich die Angeklagte, nur nicht das Gesicht verlieren, Scheißehe - wenn ER nur endlich seine Ehrenmannsmaske ablegen wollte, damit der Mensch zu sehen wäre, der eigentlich gar nicht so übel ist.

Brief vom Rechtsanwalt

  • Ihr Ehemann... hat mich wegen der aufgetretenen ehelichen Schwierigkeiten konsultiert. Anlaß war Ihr Verhalten in der letzten Zeit. Ihr Mann zieht in Erwägung, ob er... Klage auf Ehescheidung erheben soll. Ich habe empfohlen, daß zuvor noch ein letzter Versuch gemacht werden soll, die derzeitige eheliche Krise zu überwinden. Ihr Mann ist... einverstanden... Deshalb bitte ich Sie, mich zu einer Besprechung in meiner Kanzlei zu besuchen. Als Zeitpunkt schlage ich vor...
    Hochachtungsvoll

Auch ich hatte inzwischen einen Rechtsanwalt aufgesucht, zur Beratung und etwas unsicher darüber, was ich von dieser Instanz eigentlich zu erwarten hatte. Gesetzlich war ich sicher nicht im Recht, und das andere war unsere Sache. Es blieb bei diesem einen Mal. Ich hoffte noch auf ein allmähliches Verständnis, das nur durch die Bezwingung unserer eingefleischten Verhaltensnormen wachsen konnte. Ich war immer in der Gefahr, Mitleid zu haben, aber ich mußte aufpassen, Mitleid ist keine Basis.

Traum: Ich wurde von IHM in eine riesige gelbbraune Wüste bestellt. Zwei dunkle Freundinnen sollten mich begleiten, sie blieben zurück, und ich verlor mich irgendwo auf dem Weg dahin, erreichte das Ziel nie.

Zu dieser Beratungsstunde ging ich nicht. Ich war gesetzlich im Unrecht, was sollte ich gegen eine doppelte Vater-Instanz ausrichten, ich hätte mich bestimmt völlig kleinmachen lassen unter der akademischen Weisheit dieser Herren Ich hatte keine Punkte aufzuzählen und mußte mich täglich fragen, was will ich eigentlich - meine Anmaßung war dauernd in Gefahr, mir zu entgleiten.

Traum: Ich legte einen langen bunten Wurmknäul ab, wenige, die meisten waren noch drin, das wußte ich deutlich.

Nun war also nichts Entscheidendes geschehen und wir versuchten eine Aussprache zu Hause. Die Hochspannung
hatte nachgelassen, wir waren beide erleichtert. Wir besprachen kleine Veränderungen im Haus und - ich sollte wieder ins Schlafzimmer einziehen. Doch das wollte ich nicht, nur in der Distanz konnte ich mich wohl fühlen, deshalb war keine Mauer gebaut. »Überhaupt, warum müssen Ehepaare immer im zusammengekoppelten Bett schlafen und sich ein Leben lang auf die Nerven gehen?« »Nein, ich besteh' auf meinen Bedingungen.«
Damit mußte er sich abfinden, ER war sehr unzufrieden aber ER mußte!
Es gab wieder Streit um die Ordnung im Haus. ER wollte keinerlei Umstellung oder Änderung. Ich wollte, daß Kinder und Enkel gerne zu uns kommen, das war seither ein Problem. ER vermietete jetzt zu meinem Leidwesen. Ich
war jetzt unnachgiebig, und als die Studentin wieder auszog, verbot ich jegliche Vermietung, ich brauchte das Gastzimmer für die Familie.
ER war, wenn auch unter Feindbeobachtung, wieder zur Tagesordnung übergegangen und anerkannte auch mal ein
gutes Essen, inzwischen war ER pensioniert. Sobald ich Distanz hielt und meine eigene Ansicht durchhielt trat ER zurück und gab nach. Es war das reinste Tauziehen.
Jetzt fühlte ER sich wieder stärker, weil ER merkte daß ich nicht mehr ans Weggehen dachte - eigentlich bin ich
wegen des Hauses dageblieben - bin ich wirklich? - ich weiß es nicht so genau. Aber ich weiß, daß ER sehr froh
ist, nicht als geschiedener Mann vor der Verwandtschaft dazustehen. ER wollte wieder Gönner sein und sagte:
»Gelt, du bist froh, daß du dableiben darfst?« Mir blieb die Spucke weg. Hatte ER mir nicht Vorwürfe gemacht
daß ich IHN auf sein Alter hin sitzen lassen würde? »Ich glaube, daß du froh sein kannst, daß ich dableibe!« Es war das reinste Kasperltheater.
Acht Tage war ich weg zum Skifahren, ER - was noch nie vorgekommen ist - allein zu Hause. Als ich heimkomme, finde ich einen alten, eingeschmurgelten, etwas kindlichen Mann vor. ER hat wenig gegessen, wie ein kleines Kind von der Mutter verlassen. ER ist sehr um seine Abhängigkeit besorgt: Ich wasche ihm die Haare, nähe ihm die Knöpfe an, koche seinen Brei... damit ist die Liebe und die Welt fast wieder in Ordnung, und ich darf jetzt ohne Widerspruch auch manches ändern.
Meine Selbständigkeit und mein Durchsetzungsvermögen sind jetzt eine Tatsache, an der ER sich neu orientieren muß. Da ich mit meiner freien Zeit an die Schule gebunden bin, geht ER noch allein auf größere Reisen und überläßt mir anspruchsvolle Arbeiten im Haus und immer noch zu wenig Geld. Ich trenne streng zwischen Haushaltgeld und dem meinigen, und ich werde sauer, wenn ich nur im geringsten wieder die alten Strukturen wittere. - Aussprachen und Streit sind wichtig, um Schritt für Schritt vorwärtszukommen. In SEIN zähflüssiges Wesen muß ich Breschen schlagen. ER konnte nie streiten, jetzt kann ER's, keine Angst mehr, das Gesicht zu verlieren, was in Wirklichkeit die Maske ist, ER hat jetzt ein Gesicht.
Wir tapezieren gemeinsam das Wohnzimmer, ER hilft bei der Verwertung des Obstes und anderes mehr. Auch das Geld ist nicht mehr so angstbesetzt. Ganz allmählich durch Klippen und Rückfälle hindurch - wo ich mich immer wieder frage, weshalb ich so feige war und den Bruch nicht vollzog (ach, ich wartete wieder, und zwar auf das neue Ehescheidungsgesetz - wer wartet, erreicht kein Ziel) -, entwickelt sich ein neues Verständnis und gegenseitige Achtung. Ein Prozeß, der sich hinzieht, immer in Gefahr, abzusterben.

Aus einem Brief an meinen jüngsten Sohn:

  • Du hast das Elend und die Verzweiflung von allen am meisten mitbekommen, was mich immer stark belastet hat - mach aber was! Eltern sind leider von der Gesellschaft bestimmte Menschen, die immer noch um die eigene Existenz ringen, wenn sie frei sein sollten für die Entwicklung der Kinder. Wir hatten die besten Vorsätze... Es war aber schön, wenn wir zusammen im Gebirge waren, nicht wahr? und Vater war auf jeden Fall ein sorgfältiger Haushalter, er kaufte z.B. dieses hübsche Haus für uns.
    Du wirfst mir vor, daß ich mich nicht scheiden ließ und bist damit nicht allein. Später wirst Du einen andern Überblick haben und dies anerkennen. Ich wollte warten, bis meine Mutter gestorben war, und hatte dann den Schwung nicht mehr, auch das Ehescheidungsgesetz war noch das alte. Vereinsamungsangst und die Zerstörung der Familie. Nach so vielen Jahren wurde eine Verwurzelung sichtbar, die im Moment der möglichen Trennung auch Vater fürchterliche Angstträume erleben ließ.
    Unsere Barrieren bauen wir in mühsamer Kleinarbeit ab - wir lernen vielleicht auch noch das Lachen zusammen. Stell Dir vor, kürzlich verstanden wir uns gut und waren sogar im Bett beieinander. Da träumte ich von einem großen Haus, etwas altertümlich, holzgetäfelte Wände, ähnlich einem Altersheim. Ich wußte, daß meine Mutter im kleinen Totenkämmerlein aufrechtstehend war. Sie wurde von einer Schwester gefüttert und kam heraus auf mich zu, sie hatte noch Eigelb am braunen Kleid und sah aus, als käme sie aus der Sommerfrische. Ich staunte über ihr Aussehen und wollte, daß sie dableiben solle. Aber sie wollte nicht und sagte, daß sie sehr zufrieden sei, und ging wieder zurück. Seit ihrem Tod vor drei Jahren habe ich nicht von ihr geträumt. Ich glaube, die Toten leben doch.
    Ganz herzlich grüße ich Dich - Deine Mutter