Martin Heidegger hat der Interpretation und der Auseinandersetzung mit Nietzsche sein bisher umfangreichstes Werk gewidmet. Es ist in zwei stattlichen Bänden 1961 bei Neske in Pfullingen erschienen und enthält Vorlesungen aus den Jahren 1936-1940 sowie Abhandlungen, die in den Jahren von 1940-46 entstanden sind. Das Werk umfaßt ein ganzes Jahrzehnt des Heideggerschen Schaffens und soll laut Angabe des Autors einen Einblick in seinen Denkweg geben, den er von 1930 bis zum >Brief über den Humanismus< (1947) zurückgelegt hat.[1] Für das Verständnis von Heidegger selbst darf man sich also wesentliche Aufschlüsse über die vielberedete Wende in seinem Denken erhoffen, die zwar als Vollzug der Kehre zu interpretieren umstritten ist, aber in jedem Falle für den unvoreingenommenen Betrachter eine einschneidende Zäsur in seinem Werk bedeutet. Die Frage, an der die Veränderung nicht nur am deutlichsten wird, sondern die auch als ihr Grund bezeichnet werden muß, ist die Stellung Heideggers zum Problem der Metaphysik. Die in >Sein und Zeit< erhobene Forderung einer Destruktion der Geschichte der Ontologie und die das Spätdenken beherrschende Grundthematik einer Überwindung der Metaphysik stimmen zwar in ihrer traditionskritischen Tendenz überein, verhalten sich aber gegenläufig zu der in der Tradition überkommenen, geschichtlich bewahrten und ausgelegten Wahrheit. Schien es in >Sein und Zeit< immerhin noch um ihre zulänglichere Begründung und damit um ihre ursprünglichere Aneignung zu gehen, so distanziert sich Heidegger im Humanismusbrief von >Sein und Zeit< im Ganzen als dem aus der Tradition der Metaphysik mit ihren Mitteln unternommenen und daher notwendig scheiternden Versuch, die Metaphysik zu überwinden.
Destruktion und Überwindung sind so gesehen sicher nicht nur zwei verschiedene Weisen, dasselbe zu sagen, sondern Ausdruck eines fundamentalen Wandels der Stellung und Formulierung, eines sich für das Selbstverständnis Heideggers als gleichbleibend erweisenden Grundproblems. Dieses Grundproblem, von dem das Heideggersche Denken seine unbezweifelbare Konsequenz und innere Geschlossenheit empfängt, wird in >Sein und Zeit< als die in der Metaphysik übersprungene und damit vergessene Frage nach dem Sinn von Sein gestellt. Da die Vergangenheit der Sinnfrage in der Metaphysik als eine Folge ihrer Zeitvergessenheit erwiesen und als aus ihrem Wesen mit Notwendigkeit entspringendes Verfallen an das dingliche Sein begriffen wurde, ist auch schon für >Sein und Zeit< das Überschreiten der im Horizont der Metaphysik angelegten Fragemöglichkeiten bestimmend. Während aber die Intention von >Sein und Zeit< von einem arglosen Leser mit doch wohl erweislichem Recht als Gründung der Metaphysik in dem von ihr als selbstverständlich vorausgesetzten und daher nicht eigens ausgelegten In-der-Welt-Sein des Daseins verstanden werden konnte - wenn auch die vermittlungslose Antithetik von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit die Verrechnung der Metaphysik unter ein der Uneigentlichkeit entstammendes Denken zuließ - so geht es bei der Überwindung der Metaphysik um ihre Verwindung im Sinne des Geleites des Denkens in einen - anfänglicheren - Anfang, der die Metaphysik und ihren Willen zum Gründen und Begründen hinter sich läßt. Es muß aber hier sofort hinzugefügt werden, daß auch für den Heidegger nach >Sein und Zeit< das Verhältnis zur Metaphysik keineswegs so eindeutig ist, wie es von unserer vereinfachenden Formel - Grundlegung oder Verlassen der Metaphysik - her scheinen könnte, denn Heidegger hat sich gegen die Unterstellung, es ginge ihm um eine Vernichtung der Metaphysik, mit dem Hinweis gewehrt, es sei ihm darauf angekommen, der Metaphysik die Herrschaft über den maßgeblichen Bezug zum Sein streitig zu machen. Der Metaphysik soll ein anderer, von einem sie überholenden Ursprung her gewonnener Ort angewiesen, sie soll ihrer herrschenden Stellung enthoben und auf eine dienende Rolle beschränkt werden.
Nur von dieser Zielsetzung her wird es auch verständlich, warum Heidegger nach >Sein und Zeit< fast ausschließlich Interpretationen zur Geschichte der Metaphysik veröffentlicht hat, die damit zum einzigen Thema seines Denkens geworden ist. Die Mißverständnisse, die sein Denken begleiteten und die alle in der Zweideutigkeit seiner Stellung zur Metaphysik ihren Grund haben, sind die Folge einer Problematik, die dem Heideggerschen Versuch wesentlich innewohnt. Heidegger hat sie auf Sprachschwierigkeiten zurückgeführt und durchblicken lassen, daß er sie für unüberwindbar hält, da die Sprache selber metaphysischer Natur sei. Richtiger dürfte es sein, sie in dem Versuch zu sehen, der Metaphysik das Eingeständnis ihrer Schwäche auf dem Wege ihrer gewaltsamen Auslegung zu entreißen, indem die von ihr nicht mehr befragten Voraussetzungen gegen sie selbst gekehrt werden.
Die Notwendigkeit, die Metaphysik mit sich selbst zu überwinden, entstammt aber der zutiefst fragwürdigen Tendenz eines Denkens, denkend hinter sich selbst zurückzugreifen. Das Verhältnis Heideggers zur Theologie ist schon aus diesem Grunde alles andere als eindeutig, weil er sie seinem Begriff von Metaphysik subsumiert und der christliche Glaube so aus dem Zusammenhang des Denkens herausfällt, daß Heidegger zwischen Glauben und Denken nur einen abgründigen Unterschied statuieren kann. Sie gehen einander nichts an. Es kann keine Verwunderung erregen, daß angesichts dieser Lage die Bemühungen der Theologen um ein Verständnis und eine Aneignung des Heideggerschen Denkens ebenso ausdauernd wie wenig ermutigend verliefen. Daß es dabei nur zu einem Mißverständnis kommen konnte, liegt so in der Natur der Sache wie die Aufklärung über ihre Notwendigkeit nur wenig zur Gestaltung eines besseren Verhältnisses beizutragen vermag. Die theologische Aneignung ist durchgehend bestimmt durch eine Isolierung der Metaphysikkritik Heideggers und eine Unterschätzung der Bedingtheit durch eben die Metaphysik, die er überwinden will. Die faszinierende Wirkung Heideggers auf die moderne Theologie liegt einmal in seiner Nähe zu dem sie leitenden Programm, die Theologie metaphysikfrei zu machen, und zum anderen in dem durchaus richtigen Eindruck, daß in der Heideggerschen Metaphysikkritik Motive theologischer, biblisch-reformatorischer Herkunft zum Zuge kommen.
Das Problem der Endlichkeit und Geschichtlichkeit in >Sein und Zeit<, der Entsubstantialisierung des Menschen, der Kampf gegen die Subjektivität, die Destruktion eines absolut Seienden in der Metaphysik, also des Gottes der Philosophen, die Bedeutung des Hörens auf ein sich unvordenklich zusagendes und gleichzeitig sich entziehendes Geschick, alles dies mutet die Theologie vertraut an, und sie glaubt daher, in Heideggers Denken ein Angebot zu sehen, den Glauben in seiner ihm eigenen Reinheit auslegen zu können. Diese Nähe und Verwandtschaft im einzelnen besagt aber noch nichts über das grundsätzliche Verhältnis Heideggers zur Theologie. Ehe dazu Stellung genommen werden kann, ist es notwendig, Richtung und Ziel des Heideggerschen Denkens aus diesem selbst heraus zu klären.
Die Veröffentlichung seiner Nietzsche-Interpretation bietet hierzu eine einzigartige Möglichkeit. Um den wesentlichen Punkt vorweg zu nehmen: ein Nach Vollzug von Nietzsches Gedanken macht die Entscheidung über unser Verhältnis zur Metaphysik unausweichlich. Nietzsche ist für Heidegger die Entscheidung, durch die die Metaphysik über sich selbst, und zwar definitiv im Sinne ihres Endes, entschieden hat. Weil in Nietzsches Denken die Metaphysik ihre äußerste, ihre letzte, sie selbst beendende Möglichkeit verwirklicht hat, kann nach Nietzsche nicht mehr - oder nur noch im Sinne Nietzsches - metaphysisch gedacht werden. Nun motiviert die These über Nietzsche als den letzten Metaphysiker noch nicht die Notwendigkeit, uns auf ihn einzulassen oder gar die Verpflichtung, nicht mehr metaphysisch zu denken. Denn die Tatsache allein, daß sich in Heideggers Denken eine Möglichkeit abzeichnet, über den Horizont der Metaphysik hinauszugehen oder hinter sie zurückzugehen, impliziert keineswegs die Notwendigkeit, ihm dabei zu folgen. Aber dem Nachweis dieser Notwendigkeit dient einmal die These, alle der Metaphysik innewohnenden Möglichkeiten wären bereits verwirklicht worden, sie hätte sich also erschöpft, zum anderen der Nachweis, Nietzsche als der Vollender der Metaphysik habe gedacht, was in einem wesentlichen Sinne gegenwärtig weltgeschichtlich die Wirklichkeit sei. Erst durch die Koppelung der Endschaft der Metaphysik mit dem Ende der europäisch-abendländischen Geschichte, also der provozierend formulierten Deutung der Neuzeit als einer Endzeit, wird die Überwindung der Metaphysik im oben charakterisierten Sinn zu dem, worauf alles und allein es ankommt. Die weitausholenden Darlegungen Heideggers dienen also dem einen, letztens nur von seinem eigenen Ansatz aus verständlichen Ziel, zu erweisen:
- Nietzsche ist ein Metaphysiker.
- Nietzsches Metaphysik bedeutet das sich beendend-vollendende Wesen der Metaphysik.
- Als der Denker des Endes der Metaphysik denkt Nietzsche das, was weltgeschichtlich heute die Gegenwart ist.
- in dem, was heute geschieht und wesentlich ist, wird von Nietzsche her das Ende der abendländisch-europäischen Geschichte und damit die Neuzeit als Endzeit erkennbar.
- Die Denkbarkeit Nietzsches als das Ende der Metaphysik kündigt ein anderes, die Metaphysik aus ihrer maßgeblichen Schlüsselposition für die Auslegung des grundlegenden Bezuges zum Sein enthebendes, anfänglicheres, die Fragemöglichkeiten der Metaphysik überwindendes Denken an.
Nach diesem Vorentwurf des Ganges der Heideggerschen Nietzsche-Interpretation sollen nun die einzelnen Punkte näher erläutert werden.
Im wesentlichen geht es Heidegger um eine Interpretation des Willens zur Macht, also des späten Nietzsche. Es liegt seiner Deutung die Überzeugung zugrunde, daß der wesentliche, der eigentliche Nietzsche in seinem Nachlaß gefunden werden müsse, aus dem die Herausgeber ein so von Nietzsche weder gewolltes noch geplantes Werk unter dem Titel >Willen zur Macht< erst hergestellt haben. Wenn Heidegger trotzdem hier den eigentlichen Nietzsche gefunden zu haben glaubt, dann hängt diese Meinung zentral mit seiner Auslegung Nietzsches als Metaphysiker zusammen. Diese Kernthese Heideggers ist keineswegs selbstverständlich und bedarf daher, in ihrem von Heidegger verstandenen Sinn, einer näheren Erklärung. Sie versteht sich um so weniger von selbst, als Nietzsche seine Aufgabe völlig eindeutig in der Zerstörung der Metaphysik gesehen hat. Daß es ihm nun widerfährt, als ihr Vollender gedeutet zu werden, ist nur so zu begreifen, daß Nietzsche unter Metaphysik etwas anderes verstanden hat als Heidegger. Für Nietzsche ist Metaphysik eine Gestalt der Weltverdoppelung, die von Platon her das abendländische Denken beherrscht. Die sinnliche, veränderliche, stets werdende Welt wird auf ein bleibendes, ständiges Sein hin überstiegen, von dem aus das nicht ständige, sinnliche Sein, also für Nietzsche die einzige Realität, abgewertet wird. Sein ist für Nietzsche eine Fiktion, die der Realität angedichtet, ihr hinzugedichtet wird, weil die an das Sein sich haltenden Philosophen die ihnen widerstrebende Realität nicht ertragen können. Die Metaphysik redet also von etwas, was es nicht gibt; sie ist im besten Falle ein Symptom für ein Ausweichen, eine Flucht vor dem, was ist. Auslegungsbedürftig ist für Nietzsche nicht das Sein, sondern das Dasein, das die Annahme eines ständigen Seins nötig hat.
Was Nietzsche also, von ihm selbst aus geurteilt, vollendet, ist nicht die Metaphysik, sondern ihre aufgeklärte Destruktion. Ebensowenig wie Marx sich damit begnügte, die Lehren der Metaphysik theoretisch zu widerlegen, sondern ihre Funktion aufdeckte, die Herrschaft der verselbständigten Produktivkräfte über ihre Produzenten zu verschleiern und zu legitimieren, interpretiert Nietzsche die Metaphysik vom Herrschaftsbedürfnis eines ohnmächtigen, die Realität verneinenden Willens her, als ein Symptom des Verfalls, der Entartung des Willens, einer niedergehenden Physis. Forderte Marx ihre Vernichtung, um mit ihr jeglicher Gestalt von Herrschaft die theoretische Sanktion zu entziehen und damit Herrschaft als solche zu beseitigen, so bekämpfte sie Nietzsche als eine Form ihrer Verschleierung, um die offen und direkt gewordene Herrschaft zu zwingen, die in ihrer eigenen Logik gelegenen Konsequenzen zu ziehen.
Wenn Heidegger trotz dieser eindeutigen Verneinung der Metaphysik bei Nietzsche diesen als Metaphysiker interpretiert, dann nur darum, weil für ihn die Negation eines Seins an sich nicht mit der Überwindung der Metaphysik identisch ist. Ausschlaggebend ist vielmehr für die Entscheidung der Frage, ob ein Denker der Metaphysik zugerechnet werden darf oder nicht, daß die von ihm bezogene, wenn auch vielleicht nicht durchschaute Grundstellung metaphysischer Struktur ist. Es kann daher das Selbstverständnis eines Denkers und das von ihm ausdrücklich Gesagte für seine Auslegung ebensowenig in Betracht kommen, wie historische und biographische Bezüge eine entscheidende Rolle spielen dürfen. So ist für die Heideggersche Interpretation - und nicht nur die Nietzsches - die Abstraktion von allen Zusammenhängen kennzeichnend, die das Denken über seine reine Immanenz hinausführen können. Bestimmend ist für diese Methode der Interpretation die Überzeugung von der Geschichte stiftenden und prägenden Macht metaphysischen Denkens. Die Entscheidung über das Wesen einer geschichtlichen Epoche vollzieht sich im Denken und durch das Denken, insofern hier die Möglichkeiten vorausentworfen werden, die die Geschichte in ihrem Vollzug nur einholend verwirklichen oder sie verstellend verfehlen kann.
Aber was macht nach Heidegger das Wesen einer metaphysischen Grundstellung aus? Daß die Leitfrage der Metaphysik - was ist das Seiende als solches und im Ganzen - als das tragende und führende Modell einem Denken zugrunde liegt und es dann noch beherrscht, wenn die Antwort sich von allen bisher gegebenen unterscheidet, so daß der Eindruck entstehen kann, mit einem Wechsel der Antwort sei auch schon die Struktur metaphysischen Fragens selbst überwunden. Also nicht die Antwort, sondern die Art und Weise des Fragens ist für die Auslegung eines Denkens als Metaphysik entscheidend.
Die Tragfähigkeit der Heideggerschen Konstruktion der Geschichte der Metaphysik und damit seiner Nietzsche-Interpretation hängt von der Zulässigkeit ab, einen radikal formalisierten und funktionalisierten Metaphysikbegriff als ihr Wesen auszugeben. Die Konsequenz für die konkrete Interpretation ist dann die Forderung, einen Text von dem in ihm Ungesagten her zu verstehen und das heißt, einen Denker besser zu verstehen, als er sich selbst je hätte verstehen können. Methodisch kann diese Forderung einen guten Sinn haben, aber entscheidend ist das, was hier als Horizont unterstellt, herangetragen wird. Genauer gesagt, es kommt eben darauf an, daß nichts herangetragen oder unterstellt, sondern der Bereich aus dem und der Horizont, von dem her ausgelegt wird, aus dem Auszulegenden selbst gewonnen ist. Schwerer als die Heideggersche Subsumtion von Nietzsches Denken unter die Struktur und Logik metaphysischen Fragen wiegt denn auch der Aufweis der inneren und notwendigen Zusammengehörigkeit der für die bisherige Interpretation so befremdlich disparat einander entgegenstehenden Lehren vom Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr des ewig Gleichen.
Indem es Heidegger gelingt zu zeigen, daß sie metaphysisch - in seinem Sinne - dasselbe besagen, wenn auch in einer verschiedenen Hinsicht - Wille zur Macht antwortet auf die Frage nach dem Was des Seienden und die ewige Wiederkehr auf die Frage nach dem Das oder Wie des Seienden im Ganzen - löst er nicht nur ein offenes Problem der Nietzsche-Interpretation, sondern macht auch deutlich, wie sehr Nietzsche der von ihm bekämpften Metaphysik verhaftet und an sie gebunden bleibt. Die Grundlehre Nietzsches ist für Heidegger der Wille zur Macht. Wille zur Macht wird von ihm interpretiert als die ständige Selbstermächtigung der Macht zur Steigerung ihrer selbst.
»Macht machtet nur, indem sie Herr wird über die je erreichte Machtstufe. Macht ist nur dann und nur so lange Macht, als sie Machtsteigerung bleibt und sich das Mehr in der Macht befiehlt... Zum Wesen der Macht gehört die Übermächtigung ihrer selbst. Diese entspringt der Macht selbst, sofern sie Befehl ist und als Befehl sich selbst zur Übermächtigung der jeweiligen Machtstufe ermächtigt. So ist die Macht ständig unterwegs >zu< ihr selbst, nicht nur zu einer nächsten Machtstufe, sondern zur Bemächtigung ihres reinen Wesens.«[2]
Ist aber der Grundcharakter des Seienden als solcher Wille zur Macht, dann kann dieses im Ganzen nur ewige Wiederkunft des Gleichen sein, denn wenn der Wille zur Macht als die ständige in sich zurückschlagende Bewegung der Übermächtigung der Macht ihrer selbst durch sich selbst ist, dann muß die dem Willen zur Macht eigene Bewegungsstruktur als ewige Wiederkunft des Gleichen gedacht werden.
»Die ewige Widerkunft des Gleichen ist die Weise des Anwesens des Unbedingten (des Werdenden) als solchen, dies aber in der höchsten Beständigung (im Kreisen), mit der einzigen Bestimmung, die stete Möglichkeit des Machtens zu sichern.«[3]
»Das Gleiche, das wiederkehrt, hat je nur verhältnismäßigen Bestand und ist daher das wesenhaft Bestandlose. Seine Wiederkehr aber bedeutet das immer wieder in den Bestand bringen, das heißt Beständigung.«[4]
Wenn aber der Zusammenhang von Willen zur Macht und ewiger Wiederkehr des ewig Gleichen so gedacht werden muß, wie Heidegger das tut, dann mutet Nietzsche gerade dem - in der Negation eines an sich beständigen Seins, also in der Zerstörung der Metaphysik begründeten - Willen die durch sich selbst zu leistende Beständigung des - an sich - Bestandlosen zu und denkt so in der Aufhebung des ursprünglichen Ansatzes der Metaphysik diese konsequent zu Ende. Kommt aber am Ende der Metaphysik nur zum Vorschein, was als das ihr selbst verborgene und verstellte Wesen immer schon in ihr angelegt war, dann muß die Geschichte des Offenbarwerdens ihres Wesens als die Geschichte begriffen werden, durch die offenbar wird, daß es mit der Metaphysik nichts ist, also als ihr Resultat der Nihilismus.
»... denn der Nihilismus ist weder nur eine Geschichte, noch auch der Grundzug der abendländischen Geschichte, er ist die Gesetzlichkeit dieses Geschehens, seine >Logik<. Die Ansetzung der obersten Werte, ihre Verfälschung, ihre Entwertung, ihre Absetzung, das zeitweilig wertlose Aussehen der Welt, die Notwendigkeit einer Ersetzung der bisherigen Werte durch neue, die Neusetzung als Umwertung die Vorstufen dieser Umwertung - alles dies umschreibt eine eigene Gesetzlichkeit der Wertschätzungen, in denen die Weltauslegung wurzelt.«[5]
Es gilt festzuhalten, daß sowohl für Nietzsche wie für Heidegger die Metaphysik für das aufzukommen hat, was heute als das Resultat der europäisch-abendländischen Geschichte vorliegt: der Nihilismus in der Gestalt des im Grund einzig waltenden und die weltgeschichtliche Gegenwart beherrschenden Willens zur Macht. Allerdings wird der Nihilismus der Metaphysik in einer durchaus verschiedenen Form von Heidegger und Nietzsche begründet. Für Nietzsche ist die Metaphysik nihilistisch in ihrem Wesen und Prinzip, weil sie das, was nicht ist, also das durch und an keiner Realität ausweisbare ständige Sein als die wahre, höhere und damit eigentliche Welt ansetzt.
Die Grundbewegung der Geschichte ist für Nietzsche die Bewegung, durch die für ihn die Wahrheit über die >Wahrheit< herauskommt, nämlich, daß es mit dem Sein der Metaphysik nichts ist, weil das Sein und der Wille zum Sein ein Produkt des Willens zum Nichts ist. Damit muß aber Nietzsche den diesen Nihilismus mit allen Konsequenzen aus der Endschaft der Metaphysik übernehmenden Willen als den Willen zur Bejahung und Anerkennung der in der Metaphysik verdrängten und verneinten Realität setzen. Für Nietzsche ist daher der Wille zur Macht, der sich als dieser will, der Wille des Übermenschen.
Der Übermensch ist für Nietzsche der Mensch, der die durch die bisherige Metaphysik vollzogene Weltverdoppelung, ihre Spaltung in eine wahre und scheinbare gegen eine seiende und werdende überwunden hat, weil er den Willen zur Rache an der existierenden Realität durch eine fingierte in eine umfassende, nichts Wirkliches auslassende Bejahung verwandelt hat. Von dieser Voraussetzung aus ist es zu verstehen, daß Heidegger den Satz Nietzsches vom Tode Gottes als das Ende des Gottes der Metaphysik interpretieren kann. »Sofern die Metaphysik durch das Christentum eine eigentümliche theologische Prägung erfahren hat, muß die Entwertung der bisherigen obersten Werte auch theologisch ausgedrückt werden durch das Wort: Gott ist tot. >Gott< meint hier überhaupt das Übersinnliche, das sich als die >wahre<, >jenseitige< ewige Welt gegenüber der hiesigen >irdischen< als das eigentliche und einzige Ziel geltend macht.«[6]
Es ist sicher zutreffend, daß Nietzsche das Christentum und damit die christliche Theologie als eine Gestalt des Platonismus begriffen hat und somit die metaphysische Auslegung des biblischen Gottes mit diesem selbst verwechselte und fälschlich identifizierte, aber es fehlt auf einen anderen Gott als diesen im Werke Nietzsches jeder Hinweis - es sei denn, man nehme die Dichtung des Gottes Dionysos als den von Nietzsche gemeinten Ersatz. Die Frage von Nietzsches Verhältnis zum Christentum ist zwar noch keineswegs befriedigend beantwortet, aber es kann keinen Zweifel an der Überzeugung Nietzsches geben, daß sich für ihn die positive geschichtliche Leistung des Christentums darin erschöpft, durch eine Verfeinerung und Verschärfung des Gewissens dazu beigetragen zu haben, sich selbst aufzuheben und so zu liquidieren.
Im übrigen ist die christliche Moral - und sie ist für Nietzsche die Gestalt geschichtlicher Verwirklichung des christlichen Glaubens -das weltgeschichtliche Verhängnis schlechthin. Der Verhängnischarakter der christlichen Moral wird für Nietzsche dann offenbar, wenn sie es nicht mehr vermag, dem aus der Erfahrung der Negativität unausweichlich erwachsenen Leiden einen Sinn zu geben oder wenn ihre Verwirklichung zu einer desperaten Entzweiung und Entfremdung mit der Realität führt, wie sie sich durch die Konstitution der modernen Welt in den letzten 300 Jahren für Nietzsche herausgebildet hat. Besonders eindringlich hat das Nietzsche am Beispiel des neuzeitlichen Begriffs methodisch exakter Wissenschaft aufgewiesen.
»Ist nicht gerade die Selbstverkleinerung des Menschen, sein Wille zur Selbstverkleinerung seit Copernikus in einem unaufhaltsamen Fortschritt? Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangfolge der Wesen ist dahin - er ist Tier geworden, Tier, ohne Gleichnis, Abzug und Vorbehalt, er, der in seinem früheren Glauben beinahe Gott (>Kind Gottes<, >Gottmensch<) war... Seit Copernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten - er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg - wohin? ins Nichts?... Alle Wissenschaft (und keineswegs nur die Astronomie, über deren demütigende und herunterbringende Wirkung Kant ein bemerkenswertes Geständnis gemacht hat, >sie vernichtet meine Wichtigkeit<), alle Wissenschaft ist heute darauf aus, dem Menschen seine bisherige Achtung vor sich auszureden, wie als ob dieselbe nichts als ein bizarrer Eigendünkel gewesen sei.«[7]
Das Wesen der exakten Methode neuzeitlicher Wissenschaft besteht für Nietzsche darin, daß sie jeden »objektiven« Sinn zerstört, die essentielle Sinn- und Vernunftlosigkeit der Welt als Natur und Geschichte erweist und sich damit als der von der modernen Welt eingeschlagene Weg herausstellt, der Negativität des ihr zugrunde liegenden Prinzips ansichtig zu werden. Nietzsche hat richtig gesehen, daß ein Ideal objektiver Erkenntnis, - das die fühlende, wollende und schätzende Subjektivität für ihren Vollzug so radikal ausschaltet, wie das für die moderne Wissenschaft zutrifft, - nur auf dem Boden einer Moralität möglich war, die im christlichen Gott ihren tragenden Grund und ihr sanktionierendes Prinzip hatte. Wird aber der Glaube an eben diesen Gott hinfällig, dann ist nach Nietzsche nicht nur auf die Dauer gesehen die Verwirklichung methodisch voraussetzungsloser Wissenschaft in Frage gestellt, sondern ihr Tun wird in einem sehr präzisen Sinn sinnlos, wenn der Zweck fortfällt, dem sie als Mittel dienen wollte. Nietzsche hat die negative, metaphysikkritische Funktion der modernen Wissenschaft ebenso leidenschaftlich bejaht, wie er ihren Anspruch, die von ihr aufgelöste Metaphysik ersetzen zu können, verneint hat. Sie hat für ihn geschichtlich den einzigen Sinn, den Menschen in die Entscheidung zu stellen, entweder in der Anpassung an die durch das Prinzip moderner Wissenschaft getragenen Welt sich selbst zu verneinen, das heißt bei Nietzsche zu verkleinern, in Resignation auf die Befriedigung bloßer, geschichtsloser animalischer Bedürfnisse, oder die in der Entfernung eines objektiv vorgegebenen Sinns liegende Herausforderung anzunehmen und im Übergang vom letzten Menschen zum Übermenschen sich selbst als eine Gestalt hervorzubringen, durch die der an sich sinnlosen Welt erst ein Sinn eingestiftet wird, durch den sie allein gerechtfertigt werden kann.
Folgt man der Entstehung und Entwicklung von Nietzsches Denken, so stellt sich sein Werk als der vielleicht radikalste Versuch dar, die im Wesen und Prinzip der modernen Welt angelegten Folgerungen konsequent zu Ende zu denken bis zu dem Punkt, an dem sie gezwungen wäre, aus der christlichen metaphysischen Verhüllung der von ihr selbst produzierten Realität herauszutreten und sich als das zu übernehmen, was sie ist. Hierin liegt in der Tat seine noch keineswegs ausgeschöpfte Aktualität für die Gegenwart beschlossen. Er hat damit die Metaphysik nicht vollendet, sondern die Konsequenzen gedacht, die sich aus ihrer Verneinung ergeben. Die Neuzeit ist daher für Nietzsche auch nicht Endzeit - wie Heidegger interpretiert -, sondern sein Verhältnis zu ihr muß als der am Ausgang des bürgerlichen Zeitalters kontrapunktisch zu Marx unternommene Angriff auf die moderne Welt mit dem Ziel begriffen werden sie auf den Zustand unentschiedener Halbheiten und unsauberer Kompromisse herauszutreiben. Was Nietzsche nicht ertrug, war das Spiel der Moderne, bei dem die Linke nicht weiß, was die Rechte tut, die sie kennzeichnende Schizophrenie eines gespaltenen Bewußtseins, das Marx als die strukturbedingte Heuchelei der bürgerlichen Gesellschaft angeprangert hat und für ihn ein wesentliches Motiv zu ihrer revolutionären Aufhebung ist. »In solchen Zeiten, wie heute, seinen Instinkten überlassen sein, ist ein Verhängnis mehr. Diese Instinkte widersprechen, stören sich, zerstören sich untereinander; ich definierte das Moderne bereits als physiologischen Selbstwiderspruch.«[8]
Es wäre an der Zeit, wenn überhaupt, Nietzsche nicht mit Kierkegaard, wie seit Jaspers üblich, sondern mit Marx nicht zu vergleichen, sondern hinter ihrer durchaus vordergründigen Verschiedenheit ihre, wenn auch sehr komplexe, Identität zu erkennen. Erst beide zusammen vermitteln einen Einblick in das, was gegenwärtig weltgeschichtlich ist, und nur so vermögen sie die Einsicht in Versuche zu fördern, die vieldeutige, unendlich sich vermittelnde, an Gegensätzen unerschöpflich reiche und daher entschieden gefährdete moderne Welt durch eine, alle bisherige Geschichte abschließende, prinzipielle Neugründung, eindeutig zu vollenden. Erst wenn man Nietzsche und Marx zusammen als die beiden Denker dessen begreift, was nach dem Abschied von der bisherigen Geschichte, der Umkehrung und Verkehrung der Metaphysik von Platon bis Hegel heute weltgeschichtlich ist, dann wird man erkennen können, daß die Aufhebung der modernen, sogenannten bürgerlichen Welt zu einer Reproduktion und nicht Beseitigung der Gegensätze geführt hat, mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, daß sie sich zumindest für das ideologische Bewußtsein ins Unversöhnliche verfestigt und fixiert haben.
Daß der Name von Marx in der Heideggerschen Interpretation nicht einmal erwähnt wird, mag auf die äußeren Umstände der Jahre 1936-1945 zurückzuführen sein, um so entschiedener bestimmt die Wirklichkeit der nationalsozialistischen Herrschaft das, was hier als Wille zur Macht gedacht wird. Indem aber Heidegger die Herrschaft des sich unbedingt wollenden Willens als die letzte Gestalt der das Sein zugunsten des Seienden vergessenden Metaphysik auslegt, geht in der Unbestimmtheit des in ermüdender Monotonie immer dasselbe besagenden einen Willen zur Macht, die Verschiedenheit und Bestimmtheit des Seienden unter, wie nach Hegels Aussage im Schellingschen Absoluten die Positivität des differenten Seins. Wenn alles an sich Willen zur Macht ist, und es nur ihn gibt und nichts außerdem, dann handelt es sich dabei nicht um eine Übertreibung, die man dem Philosophen wohl nachsehen mag, sondern zum Beispiel um die hier implizierte These, Kommunismus, Nazismus, Amerikanismus, christlicher Glaube, Freiheit und Unfreiheit, alles dies sei, metaphysisch gedacht, dasselbe. Es ist hier nicht der Ort, auf die religiösen und politischen Konsequenzen näher einzugehen, die sich aus einer solchen Position ergeben.
Es muß aber sofort mit Nachdruck betont werden, daß Heidegger sich nicht mit der von Nietzsche verkündeten Lehre vom Willen zur Macht identifiziert, sondern aus ihr als dem folgerichtigen Ende der Metaphysik den Schluß der Notwendigkeit ihrer Überwindung zieht. Da für Heidegger die Lehre Nietzsches metaphysisch interpretiert werden muß, erzwingt sie die Auseinandersetzung mit der Metaphysik im Ganzen als einer sich geschichtlich stellenden und daher unabweisbaren Aufgabe des Denkens. Er kann daher auch den Anspruch Nietzsches, den Nihilismus überwunden zu haben, so wenig anerkennen, daß er vielmehr Nietzsches Denken des Nihilismus als selbst noch nihilistisch bestimmen muß. Die Kennzeichnung der Position Nietzsches als nihilistisch ist eine Auswirkung des durch Nietzsche ungedachten Wesens der Metaphysik, das für Heidegger in einem viel radikaleren Sinne für die Herrschaft des Nihilismus aufzukommen hat, als sich das der noch ganz in ihren Bahnen denkende Nietzsche vorstellen konnte.
Die Metaphysik ist nihilistisch von Grund auf, weil, von Bestimmungen ihrer anfänglichen Gestalt abgesehen, über das vorstellende Denken des Seienden, sie das Sein selbst vergessen hat. Da die Metaphysik seinsvergessen ist, ist sie nihilistisch. Im vorstellenden Denken des Seienden als solchem geht sie über dieses hinaus, um wieder zum Seienden zurückzukehren. Sie vollzieht den Hinblick auf das Sein nur um der Auslegung des Seienden willen. Sie bewegt sich also in einem durch den Unterschied von Sein und Seienden eröffneten Bereich, nimmt ihn für sich in Anspruch, aber ohne ihn eigens zu bedenken. Das Wesen der Metaphysik beruht in dem, was Heidegger die ontologische Differenz nennt, die allerdings als diese und als sie selbst durch die Metaphysik nicht befragt wird. Ohne daß sich Sein in und als Seiendes gelichtet oder entborgen hätte, vermöchte auch die Metaphysik nicht zu sein. Aber in der sie beherrschenden Tendenz, das Seiende für das Denken einholen und begründen zu wollen, denkt sie das Sein nur als Seiendes ermöglichende Sein in Hinsicht auf sich selbst, ohne um seiner selbst willen an es zu denken. Das Unterlassen der Metaphysik, ihre Seinsvergessenheit, ist jedoch für Heidegger kein Verschulden, für das irgendjemand verantwortlich gemacht werden könnte, sondern Schickung des Seins selber. In jeder Entbergung geschieht Verbergung, zu jeder Lichtung gehört Verdunkelung, genauer gesagt, als Lichtung vollzieht und ereignet sich Verbergung, das Sein selber ist für Heidegger nichts anderes als dieses sich lichtend Entbergende und im Entbergen sich zumal entziehende Ereignen - das Sein »ist« Ereignis. Seinsgeschichtlich gedacht ist das Sein Seinsgeschick. Die von der Metaphysik bezogenen Grundstellungen wandeln nur alle den Grundzug ab, als welcher sich das Sein als Metaphysik dem Seienden eingeprägt hat, und sie fragen nicht über das eröffnende Wesen hinaus oder zurück in das sich in der Eröffnung ereignende Verbergen. Geschieht aber Eröffnung des Seienden mit der Verbergung des Seins zumal, dann ist der Entzug des Seins selber die Weise, in der das Sein die Metaphysik ereignet.
Heidegger versucht mit all diesen Bestimmungen, den Nihilismus in seiner metaphysischen Deutung zu überwinden und durch eine seinsgeschichtliche abzulösen. Das besagt für die Interpretation des nihilistischen, seinsvergessenen Wesens der Metaphysik, daß Sein als und in der Gestalt des Nichts in der Metaphysik, aber nicht für die Metaphysik anwesend ist. Nihilismus ist daher für Heidegger weder etwas Negatives noch Positives, wie noch für Nietzsche, sondern das im Walten des geschickhaft schicklichen Seins einbehaltene Geschehen des Abwesens des Seins selber, die Weise, durch die Seinsentzug für die metaphysisch geprägte Geschichte des Abendlandes und somit als diese Geschichte geschieht. Die für den Interpreten fast unvermeidbare Notwendigkeit, zur Auslegung des von Heidegger Gemeinten auf Wendungen zurückzugreifen, die er selbst gebraucht hat, liegt im Wesen dessen begründet, was er mit dem Wort Seinsgeschichte sagen will. Wir fassen noch einmal zusammen:
Das Sein ereignet die Metaphysik so, daß es sich in der Entbergung des Seins des Seienden gerade als es selbst entzieht. Sein ist das lichtend verbergend Ereignen - das heißt, Sein ist Ereignis und ist als Ereignis. Wo liegt hier die Schwierigkeit? Einmal in dem Versuch, das Sein als reinen Vollzug ohne Vollzieher zu denken, zum anderen in dem Bemühen, ein dialektisches Verständnis der »Identität« von Eröffnung und Entzug abzuwehren. Beides ist nicht so umwälzend und neu wie es sich auf den ersten Blick hin darstellt. So zu denken gehört ebenso genuin zum Problem der denkenden Seinsbewältigung im Raum der Religion wie es sich in den metaphysikkritischen, aus biblischen Ursprüngen nährenden mystischen Traditionen der abendländischen Geschichte verwandelt und bewahrt hat.
Auf die Auslegung des christlichen Glaubens aber darf die Heideggersche Weise, das Sein zu denken, gerade nicht angewandt werden, weil der christliche Glaube zu der hier sich abzeichnenden Aporie sich wie die Antwort zur Frage verhält. Zwar ist es richtig, daß Heidegger zentrale Züge des biblischen Denkens in die Überwindung der Metaphysik hineingedacht hat, aber sie sind durch die Übertragung auf einen ihnen wesensfremden Bereich radikal verwandelt worden. Es ist hier nicht der Ort, näher darauf einzugehen. Entscheidend ist, daß die seinsgeschichtliche Deutung der Geschichte der Metaphysik es Heidegger gestattet, die Überwindung des Nihilismus bei Nietzsche als selbst noch nihilistisch zu begreifen. Die zentrale Aussage Heideggers in diesem Zusammenhang ist der Nachweis, daß der Nihilismus nicht als eine Folge der Art der Werte verstanden werden muß, sondern, daß überhaupt in Werten gedacht und solche angesetzt werden.
Die Kernthese lautet:
Nietzsche denkt das Sein als Wert und das heißt, er denkt nihilistisch, denn im Denken des Seins als Wert wird das Sein als das gedacht, was dem Willen zur Macht ermöglicht, sich selbst als den unbedingt wollenden Willen und damit als die Bedingung alles dessen zu setzen, was ist. Für Nietzsche ist der Gesichtspunkt des Werts der Gesichtspunkt von Erhaltungs-, Steigerungs-Bedingungen in Hinsicht auf komplexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens - innerhalb des Werdens -, das bedeutet für Heidegger: »Werte sind nach keiner Hinsicht zunächst etwas >für sich<, um gelegentlich dann auf den Willen bezogen zu werden. Sie sind, was sie sind, nämlich Bedingungen, nur als bedingende, und so vom Willen zur Macht selbst gesetzte Ermöglichungen seiner selbst.«[9]
Der Heideggersche Nachweis der Zugehörigkeit und Abhängigkeit der Wertkategorie von der Metaphysik des Willen zur Macht ist ein außerordentlich bedeutsamer Beitrag zur Interpretation der durch die Wertphilosophie ausgelösten Inflation des Wertdenkens. Sicher trifft die Heideggersche Auslegung nur eine, aber doch wesentliche Wurzel. Der geschichtlich genetische Ursprungsort der Ausbildung der Wertkategorie in der englischen Nationalökonomie bei Adam Smith bleibt unberücksichtigt. Ebenso wird die positive Funktion der Wertkategorie unterschätzt, unter den Bedingungen der wissenschaftlichen Vergegenständlichung des Seins in der Gestalt des Positivismus das aus der verdinglichten Realität vertriebene und so ortlos gewordene Sein, und sei es in einem idealen, bloß an sich seienden Reich der Werte zu bewahren. Aber die Feststellung Heideggers, daß niemand für Werte stirbt, bleibt auch dann richtig, wenn man nach jüngsten Erfahrungen hinzufügen muß, daß es denkbar ist, andere um so eher für sie sterben zu lassen. Noch wichtiger als die Bestimmung der Macht als dem einzigen Prinzip der Wertsetzung und Wertbegründung durch Nietzsche ist die Auseinandersetzung Heideggers mit Nietzsches Auslegung der bisherigen Philosophie vom Wertbegriff her. »Nietzsche begreift die gesamte abendländische Philosophie als ein Denken in Werten und ein Rechnen mit Werten, erscheint in allen Schriften und Aufzeichnungen Nietzsches die Geschichte der Metaphysik im Lichte des Wertgedankens.«[10]
Nun ist auch für Heidegger unbestreitbar, daß in der Auslegung der Metaphysik durch den Wertgedanken das Seinsverständnis der Metaphysik verfehlt wird. Ist die Notwendigkeit des Wertgedankens aber im Prinzip des Willen zur Macht begründet, dann ist er seine unumgängliche Voraussetzung. Vollendet sich die Metaphysik durch Nietzsche andererseits im Willen zur Macht, dann kann ihr die Sache nicht fremd sein, die sich im Wertgedanken ausspricht, und dann muß, wenn auch noch unentfaltet, der Wille zur Bemächtigung in ihr bereits am Werke gewesen sein. Die These, daß sich durch Nietzsche die Metaphysik vollende, zwingt Heidegger, die in ihr verborgenen Voraussetzungen zu entwickeln. Ihrer Verifizierung dienen die sein Nietzsche-Werk wie ein roter Faden durchziehenden Beiträge zur Geschichte der Metaphysik. »Wir beginnen zu ahnen, wie entschieden der Wertgedanke als Verrechnung von allem Seienden nach dem Grundwert des Willens zur Macht zu seiner wesentlichen Grundlage bereits dieses hat, daß überhaupt das Seiende als solches nach dem menschlichen Sein ausgelegt und nicht nur, daß die Auslegung >durch< den Menschen vollzogen wird.«[11]
Ist aber der Rückbezug alles Seins auf das vorstellende menschliche Subjekt die unumgängliche Bedingung von Nietzsches Denken, als der Vorgang, durch den sich der Mensch zur Mitte und als Maß aller Bezüge zum Seienden gesetzt hat - und so wird das Wesen des cartesianischen Denkens von Heidegger interpretiert -, dann vollzieht Nietzsches Lehre »nur die äußerste Entfaltung jener Lehre des Decartes, nach der alle Wahrheit auf die Selbstgewißheit des menschlichen Subjektes zurückbegründet wird.«[12] Das heißt für Heidegger: Nietzsche denkt auf dem Boden der durch Descartes begründeten neuzeitlichen Ontologie, welche die Wahrheit als Gewißheit und daher die ihr Vorstellen sich vorstellende und dadurch sich selbst sichernde Subjektivität zu ihrer Voraussetzung hat. War aber die cartesianische Subjektivität noch auf den Bereich des im denkenden Selbstbewußtsein sich sichernden Vorstellens beschränkt, so vollzieht sich nach Descartes in der neuzeitlichen Philosophie eine sukzessive Entschränkung des Verfügungs- und Herrschaftsbereiches der Subjektivität, bis dieser Prozeß in der totalen Entschränkung bei Nietzsche sich vollendet.
»Weil der Mensch wesenhaft das subiectum und die Seiendheit gleichbedeutend mit der Vorgestelltheit und die Wahrheit zur Gewißheit geworden ist, deshalb verfügt der Mensch hier wesenhaft über das Seiende als solches im Ganzen, denn es gibt das Maß über die Seiendheit eines jeglichen Seienden. Beim Menschen als subiectum steht jetzt die wesenhafte Entscheidung darüber, was überhaupt als seiend soll feststehen können. Der Mensch ist selbst derjenige, bei dem wissenschaftlich und als Aufgabe diese Verfügung steht. Das Subjekt ist dadurch und darin >subjektiv<, daß die Bestimmung des Seienden - und damit der Mensch selbst - in keine Schranke mehr eingeengt, sondern in jeder Hinsicht entschränkt sind. Das Verhältnis zum Seienden ist das meisternde Vor-gehen in die Welteroberung und Weltherrschaft. Der Mensch gibt dem Seienden das Maß, indem er von sich her und auf sich bestimmt, was als seiend soll gelten dürfen. Die Maßgabe ist Anmaßung des Maßes, durch die der Mensch als subiectum zur Mitte des Seienden im Ganzen gegründet wird. Wohl zu beachten bleibt jedoch: Der Mensch ist hier nicht vereinzeltes egoistisches Ich, sondern >Subjekt<, was besagt, daß der Mensch sich zu einer schrankenlosen vorstellend-rechnen-den Erschließung des Seienden auf den Weg macht. Im Wesen der neuen metaphysischen Stellung des Menschen als subiectum liegt begründet, daß die Ausführung der Weltentdeckung und Welteroberung und die jeweiligen Aufbrüche dazu vom hervorragenden Einzelnen übernommen und geleistet werden müssen.«[13]
Wir versprachen uns von Heideggers Nietzsche-Interpretation Aufschlüsse über die Notwendigkeit und die Gründe, die Heidegger dazu bestimmten, sein Problem als die Überwindung der Metaphysik zu formulieren. Wir sahen, daß Nietzsche für die Heideggersche Entscheidung, das Problem der Metaphysik im Sinne eines Abschieds des Denkens aus dem Bereich ihres Fragens zu entscheiden, eine ausschlaggebende Rolle gespielt hat. Nietzsche auslegen heißt für Heidegger, ihn als diese Entscheidung über die Metaphysik im Sinne ihres Endes auslegen. Die Einsichtigkeit der Heideggerschen Position hängt davon ab, daß der von ihm unterstellte Zusammenhang von Metaphysik und Geschichte angenommen wird. Das Ende der Metaphysik wird aus der Geschichte und das Ende der bisherigen Geschichte wird aus der Metaphysik erwiesen. Ohne den Sprung in diesen Zirkel kommt man in das Heideggersche Denken nicht hinein und ohne ihn kommt man aus ihm nicht mehr heraus. Es wird daher entscheidend, das Verhältnis der Metaphysik zur Geschichte neu zu denken und zu fragen, ob ihre möglichen Verhältnisbestimmungen auch bereits durch ihre seinsgeschichtliche Deutung bei Heidegger erschöpft sind. Es ist durchaus möglich, dieses Verhältnis hermeneutisch, dialektisch oder im Sinne Husserls zu denken, ohne daß diese Möglichkeiten durch den Heideggerschen Entwurf erledigt oder gar widerlegt werden. Kann die Geschichte bei Heidegger noch Geschichte und die Metaphysik Metaphysik bleiben? Geht im Denken des Seinsgeschicks nicht der ganze Reichtum der konkreten und unvordenklich faktischen Geschichte in die Bestimmungslosigkeit eines nur andenkenden Denkens unter? Nur soviel zum Schluß: Für Heideggers Deutung der abendländisch-europäischen Geschichte ist der Gott der Bibel und der christliche Glaube ebenso unerheblich wie für Kierkegaard, Marx und Nietzsche. Für diese kam die Weltgeschichte nur als die Geschichte seines Verfalls und damit als eine christlich bedingte oder doch durch das Christentum nicht entscheidend veränderte Verfallsgeschichte in den Blick. Für Heidegger ist das Christentum an der Weltgeschichte der Metaphysik nur beteiligt durch die Umstellung der Wahrheit auf die Gewißheit bei Descartes, der die christliche Theologie durch ihre Lehre von der Heilsgewißheit im Übergang von den Griechen zur Neuzeit vorgearbeitet hat. Die Geschichte des Glaubens ist nach Heidegger entweder damit für den Gang der Weltgeschichte absolut folgenlos und wirkungslos geblieben oder sie hat, weil durch die Herrschaft der Metaphysik an der Entfaltung ihrer eigenen Möglichkeiten gehindert, noch gar nicht begonnen. Aber streng genommen kann sie auch in aller Zukunft gar nicht beginnen, weil ein unvordenkliches Geschick über das Sein des Gottes und der Götter verfügt. Über den Auf- und Untergang des Gottes und der Götter hinweg schlägt Ananke den Menschen wieder in ihren Bann, dem zu entrinnen die zweitausendjährige Arbeit des Geistes galt und für die, nach Hegel, der Eintritt des christlichen Gottes in die Geschichte den entscheidenden Durchbruch bedeutete und dessen Zurücknahme die für Hegel undenkbare Selbstzurücknahme des Geistes bedeuten würde.
In Heideggers groß angelegter Interpretation des Denkens Nietzsches fällt das ganze Gewicht der Auslegung auf den Nietzsche des Willens zur Macht. Es verschwindet zugunsten der These von Nietzsches Vollendung der Metaphysik der Teil seines Denkens, den Nietzsche selber als für sich authentisch und verbindlich anerkannte, für die Veröffentlichung freigab und der die bisherige Auseinandersetzung mit seinem Werk vorwiegend bestimmte: das Problem des Atheismus und die aus ihm für Nietzsche mit Notwendigkeit folgende Destruktion der überkommenen Gestalt der Moral. Die Grundfrage Nietzsches ging nicht auf die Metaphysik um ihrer selbst willen, sondern auf die ethischen und anthropologischen Konsequenzen, die sich aus ihrem von Nietzsche konstatierten geschichtlichen Verfall für die Zukunft des Menschen ergeben. Es besteht in der Gegenwart eine dringende Veranlassung, auf den Nietzsche der Genealogie der Moral im Blick auf die in der Gegenwart sich abzeichnende Krise des marxistischen Begriffs der Emanzipation und ihrer gesellschaftlich revolutionären Vollendung zurückzukommen.
Die existenzphilosophische Deutung Nietzsches durch Karl Jaspers,[14] der in Nietzsche ein dem Denken Kierkegaards geschichtsphilosophisch gleichzeitiges Symptom der Krise der Metaphysik und einer Antizipation seines eigenen Denkens gesehen hat, wie die These der Nietzsche-Interpretation von Karl Löwith,[15] der Nietzsche als den auf der Spitze der Moderne unternommenen Versuch einer Wiederholung der antiken Naturerfahrung interpretierte, vermögen nicht die erneute Aktualität von Nietzsches Denken im revisionistischen Kontext marxistischer Theorie verständlich zu machen. Ebenso sind die Bemühungen christlicher Theologen, die Vereinbarkeit christlichen Glaubens mit dem marxistischen Humanismus zu erweisen, noch eher an einer für das 19. Jahrhundert eigentümlichen Konstellation orientiert, als daß sie die Realität der Gegenwart betreffen könnten, die sich in Nietzsches Denken in einer bisher nicht überbotenen Radikalität abzuzeichnen begann. Die Rolle, die Nietzsche für Theorie und Praxis der Befreiung in der Dritten Welt in einer nicht immer leicht erkennbaren Weise spielte und in zunehmendem Maße spielen wird, greift auf den Bereich marxistischen Denkens in der Gegenwart über. Jugoslawische Marxisten widmen einen ganzen philosophischen Kongreß Nietzsche und seiner Bedeutung für die Lösung marxistischer Aporien in der Gegenwart, Marcuses Denken wird mehr durch Nietzsche als durch Marx bestimmt. Die Forderung nach einem neuen Menschen, der den Gefahren und Chancen einer technologischen Gesellschaft zu entsprechen vermöchte, hat eher mit den Visionen Nietzsches zu tun als mit dem Hervortreten des wahren Menschen aus seiner Selbstentfremdung durch die Revolution des Proletariats bei Karl Marx. Horkheimer schließlich hat in einem Interview mit schockierender Eindeutigkeit Nietzsche im Vergleich zu Marx den größeren Denker genannt.
Die Frage nach dem Verhältnis von Nietzsche zu Marx ist durch den geschichtlichen Gang und durch die Resultate der Emanzipation selber erzwungen. Daß es sich bei Nietzsche und bei Marx um zwei voneinander fundamental unterschiedene Antworten auf dem Stand der Erfahrung der Emanzipation handelt, die sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhundert anschickte, über die Formen und Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft hinauszutreiben, ist nur erkennbar, wenn man Nietzsche aus der Verstellung seines Denkens durch metaphysische, kosmologische und fundamental-ontologische Deutungen befreit. Die Geschichte der Emanzipation hat im 20. Jahrhundert dem Schrecken Nietzsches mehr entsprochen als den Hoffnungen von Karl Marx. Die marxistische Erwartung einer möglichen Einrichtung der Gesellschaft, in welcher Technologie und Humanität auch nur tendenziell sich ohne Entfremdung als vereinbar erweisen könnten, ist heute nur als utopische Erneuerung der romantischen Traditionen möglich, denen Marx nicht entsagte, weil er sie zu wenig durchschaute.
Die Überlegenheit Nietzsches über Marx beruht nun nicht darin, daß er die Illusion der Romantik im Gegensatz zu Marx völlig überwunden hätte, sondern sie beruht vielmehr in seiner Einsicht, daß die Technik nicht nur das Verhältnis des Menschen zur sogenannten äußeren Natur tiefgreifend veränderte, sondern auch den Menschen selber und damit seine »innere« Natur unmittelbar betrifft. Nietzsche hat nicht die moderne Gesellschaft als die Gestalt der Freisetzung einer geschichtslos abstrakten, bisher gesellschaftlich unterdrückten Natur des Menschen gesehen, sondern er hat die Emanzipation aus der Geschichte als die ungeheure Herausforderung begriffen, welcher sich der »alte« Mensch nicht gewachsen erweisen könnte. Fundamentaler als alle politischen, gesellschaftlichen und technischen Veränderungen sind für Nietzsche die religiös-metaphysischen und ethischen. Die geschichtsphilosophische Wendung, die Nietzsche dem Atheismusproblem gegeben hat, ist für das Verständnis und die Aktualität seines Denkens von grundlegender Bedeutung. Wir gehen daher von einer Interpretation der Rede des tollen Menschen im dritten Buch der fröhlichen Wissenschaft aus:
»Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: >Ich suche Gott! Ich suche Gott.< - Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? - so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. >Wohin ist Gott?< rief er, >ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet - ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? - auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet - wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nun ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat -und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!< - Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. >Ich komme zu früh<, sagte er dann, >ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert - es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne -und doch haben sie dieselbe getan !< - Man erzählt noch, daß der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: >Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind!<«[16]
Dieser Text Nietzsches ist der zentrale Text zum Problem des Atheismus überhaupt. Alles, was vor diesem Text zum Atheismus gesagt und gedacht wurde, ist mit der Bedeutung dieses Textes ebenso wenig zu vergleichen wie das, was nach ihm gedacht und geschrieben wurde. Bei der Interpretation gehen wir von scheinbar äußerlichen und gleichgültigen Momenten aus. Die Rede vom Tode Gottes wird von Nietzsche einem Menschen in den Mund gelegt, den Nietzsche den tollen Menschen nennt. Wir verstehen unter einem »tollen« Menschen einen solchen, den wir auch verrückt nennen. Er benimmt sich so, daß wir ihn nach den Regeln und Maßstäben des gesunden Menschenverstandes nicht anders als verrückt nennen können. Denn er läuft am hellen Tage mit einer Laterne umher und das noch auf einem Marktplatz. Einen Menschen, der das tut, nennen wir verrückt. Doch was heißt verrückt? Verrückt ist derjenige, der herausgerückt ist aus allen Zusammenhängen, nach denen sich der gesunde Menschenverstand in der Welt zu verstehen und zu orientieren pflegt. Einen aus allen gängigen und vorgegebenen Zusammenhängen des Verstehens herausgerückten Menschen nennt man verrückt. Daß es sich bei der Wahl der Metaphorik des Tollen und Verrückten bei Nietzsche nicht um eine Verstiegenheit handelt, sondern um einen wesentlichen, zur Auslegung des Menschen und seines Geschicks in der modernen Welt gehörenden Zug, davon zeugt die Dichtung. Das Irre, der Wahnsinn und das Irrenhaus werden, und das aus Gründen, die unmittelbar mit dem Problem Nietzsches zusammenhängen, zu Orten und Zeichen, an denen das Geschick des Menschen in der modernen Gesellschaft sichtbar wird. Auch Hegel war der Meinung, daß man nicht in die Philosophie hineinkommen könne, ohne daß einem Hören und Sehen vergehe; nur in der verständigen Welt sei ein gestrickter Strumpf besser als ein zerrissener. In diesem Sinne legt Nietzsche die Verkündigung des Todes Gottes einem »tollen« Menschen in den Mund.
Wo tritt dieser Mensch auf? Auch das ist von einer gewissen Bedeutung. Er tritt nicht an einem beliebigen Ort auf, sondern mitten in der Stadt, auf dem Marktplatz. Wenn man die Bedeutung der Wahl dieses Ortes erkennen will, dann muß daran erinnert werden, daß die große Philosophie des Abendlandes, mindestens die Tradition der Philosophie, die Nietzsche zerstören will, auch mit dem Auftritt eines Mannes auf der Agora begann, den man als seltsam, als a-topos empfunden hat, nämlich mit Sokrates. Die Philosophie ist an ihrem Anfang eine eminent städtische, bürgerliche Angelegenheit. Nietzsche weiß das, und dieses Wissen ist von Bedeutung für die Beurteilung der Konsequenzen, die Nietzsche aus seinem Willen zur Destruktion entschlossen zieht. Der tolle Mensch zündet am helligten Tag eine Laterne an. Im Gegensatz zu der Perspektive, nach der die um ihn Herumstehenden den Zeitpunkt seines Auftretens als lichten Tag erfahren, wird die Zeit von dem tollen Menschen als Finsternis und Nacht gedeutet. Mit der Erinnerung an die Athenische Agora verbindet sich in der Metaphorik Licht-Finsternis die Erinnerung an das Christus-Ereignis, das im Johannesevangelium als Licht in der Finsternis dieser Welt verkündigt wird und von dem gesagt wird, daß die Finsternis das Licht nicht angenommen habe.
Auch bei Nietzsche wird das Licht der Verkündigung durch den tollen Menschen von der Menge nicht erkannt, weil sie die Finsternis für Licht und das Anzünden der Laterne für ein seltsames und abwegiges Tun hält. Der tolle Mensch schreit nun unaufhörlich »Ich suche Gott!« »Ich suche Gott!« Der tolle Mensch sucht Gott. Die Antwort derer, die herumstehen: Gelächter. Auch die Antwort der thrakischen Magd auf das Benehmen des Thales war nicht zufällig ihr inzwischen berühmt gewordenes Lachen. Bei Nietzsche fragen die Herumstehenden: »Hat Gott sich verlaufen wie ein Kind, oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns, ist er so schüchtern?« Der tolle Mensch springt mitten unter sie und durchbohrt sie mit seinem Blick: »Wohin ist Gott? Ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet!«
Das ist der entscheidende Satz. Bei Nietzsche handelt es sich nicht um die Frage, ob eine Theorie über einen Gott genannten absoluten Gegenstand möglich ist oder nicht. Es handelt sich gar nicht um eine theoretische Angelegenheit, sondern um eine praktische, d. h. konkret, es geht bei der Verkündigung des Todes Gottes um eine Tat, um einen Mord. Der Horizont, innerhalb dessen durch Nietzsche die Frage nach Gott gestellt wird, ist der Horizont der Praxis. Die Tat der Tötung Gottes ist für Nietzsche ein epochales Ereignis. Es ist nicht eine beliebige Tat, sondern eine Tat von epochaler Bedeutung, deren Bedeutung nur im Vergleich zu der Stellung ausgesagt werden kann, die für die christliche Zeitrechnung dem Eintritt Gottes in die Geschichte zukommt. Denn alle Geschichte gewinnt von dieser Tat her eine neue Mitte und damit eine neue Struktur der Zeitrechnung und Epocheneinteilung. Alle Geschichte wird, insofern sie dieser Tat vorausgeht, zur vergangenen Geschichte, zur Vorgeschichte. Und alle Geschichte, die der Tat folgt, wird zur Nachgeschichte, denn sie wird von einer qualitativ anderen Art sein als alle bisherige Geschichte.
Nietzsche nennt das Ereignis der Tötung Gottes ein ungeheures Ereignis, weil es über alle Dimensionen des den Menschen bisher Vorstellbaren, Gewohnten und Vertrauten hinausgeht. Alles, was von dieser Art ist, nennen wir ungeheuerlich. Das Ungeheure dieser Tat qualifiziert alle gewesene wie alle zukünftige Geschichte in einer neuen Weise. Doch denen, die diese Tat begangen haben, ist die Tat fremd. Den Tätern ist das, was sie in ihrem Sein von Grund auf bestimmt, das Fremde. Ihr Sein ist das Sein von Gottesmördern, aber dieses ihr eigenes, durch die Tat der Tötung Gottes qualifizierte und bestimmte Sein ist denen, die die Tat vollbracht haben, fremd. Nietzsche sagt: »Es ist ihnen unbekannt.«
Es ist deutlich, wie Nietzsche an dieser Stelle strukturanalog zu Marx denkt. Die gleiche zentrale Stelle, die die Kategorie der Selbstentfremdung in der marxistischen Theorie einnimmt, nimmt das Entfremdetsein von der eigenen Täterschaft, der Tötung Gottes, bei Nietzsche ein. Nietzsche wählt daher konsequent und in Übereinstimmung mit seiner christlichen Herkunft die Form der Verkündigung als Form der Mitteilung. Doch wie ist das gottheitliche Wesen gedacht und bestimmt, dessen Tötung in der Rede des tollen Menschen verkündigt wird? »Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet.«
Es sind drei Metaphern, die für die Auslegung und Bestimmung des gottheitlichen Wesens für Nietzsche maßgebend sind: das Meer, der Horizont und die Sonne. Wir beginnen, entgegen der Folge bei Nietzsche, mit der Frage: was bedeutet es, daß das gottheitliche Wesen unter dem Bild der Sonne angesprochen wird? Mit dem Bild der Sonne geht Nietzsche auf das Sonnengleichnis in der Platonischen Philosophie zurück. Hier steht die Sonne für die Idee des Guten. Die Sonne oder die Idee des Guten ist der Grund, von dem her alles Seiende sein Sein hat, im Sein gehalten wird und von dem her es erkannt wird. Wenn Nietzsche und wir alle heute praktisch davon ausgehen, daß es diesen Gott nicht mehr gibt, dann bedeutet das: es gibt kein Sein, und es gibt keine Wahrheit. Dann haben Sein und Wahrheit keinen Grund, und es gibt daher keinen Grund für eine mögliche Einheit von Wahrheit und Sein. Sein ist dann nicht wahr, und die Wahrheit ist dann nicht. Nietzsche hat in seinem Denken nichts anderes zu denken versucht als das, was gedacht werden muß, wenn es Gott als den Grund von Wahrheit und Sein nicht mehr geben soll.
Was bedeutet nun das Bild des Horizontes? Auch das können wir uns am besten verdeutlichen mit Hilfe der Platonischen Kategorie von »Peras«, also dem, was Platon unter Grenze versteht. Das Prinzip, auf dessen Grund der Mensch sich selbst und seine Welt als Gestalt apperzipieren konnte, auf dessen Grund Kultur möglich war, das kann es alles nicht mehr geben, wenn es den Horizont, der alles Seiende in seinem ihm eigenen Umriß einschließt und von allen anderen Seienden zugleich abgrenzt, nicht mehr gibt. Und schließlich, wie das Meer unendlich, unausschöpfbar ist, so ist das unter der Metapher des Meeres gedachte Sein Gottes unerschöpflich. Gott verfügt über einen Bestand von Möglichkeiten, der unendlich ist. Das allem immer schon Zuvor- und Voraussein Gottes, was Gestalt angenommen und damit auch in dieser eingeschlossen ist, die Unerschöpflichkeit des Seins Gottes soll durch das Bild des Meeres ausgesagt werden.
Ist es beliebig, daß Nietzsche in der Auslegung des gottheitlichen Wesens, von dessen Tod die Rede ist, gerade in drei Hinsichten spricht? Es ist die Frage, ob nicht mit dieser dreifachen Hinsicht in Nietzsches Rede von Gott ein Zusammenhang mit der trinitarischen Tradition der christlichen Theologie nahegelegt werden soll. Das würde bedeuten, daß unter der Metapher der Sonne Gott als der Schöpfer ausgesagt wird, von dem alles Seiende sein Sein empfängt, unter der Metapher des Horizontes Gott als der Sohn - als die gestalthafte Präsens Gottes in der Welt - und daß unter der Meeresmetapher das gemeint ist, was die Theologie des Geistes unter dem Voraus- und Mehrsein Gottes gegenüber allem verstand, was von ihm gedacht und gesagt werden kann. Es ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden, ob Nietzsche wirklich das trinitarische Modell der christlichen Theologie vor Augen hatte. Aber es wäre ja denkbar, daß die drei Hinsichten Nietzsches, unter denen er das gottheitliche Wesen auslegt, nicht ohne Zusammenhang mit der trinitarischen Überlieferung der Theologie verstanden werden kann.
Im 5. Buch der Fröhlichen Wissenschaft spricht Nietzsche von den Konsequenzen, welche die Tat der Tötung Gottes für die Struktur der ihr folgenden Geschichte haben wird. Schon in der Rede des tollen Menschen hieß es, daß wir, um der Größe der Tat gewachsen zu sein, selber die Rolle Gottes einnehmen müßten. Der Übermensch ist bei Nietzsche der Mensch, der die Rolle Gottes in einer gewissen Hinsicht zu übernehmen hat. Wenn wir selber zwar nicht Gott, aber doch wie Gott werden müssen, um der Größe der Tat zu entsprechen, dann bedeutet das, daß der Mensch die Rolle des Gründens und damit der Ermöglichung alles Seins zu übernehmen hat. Dann muß der Mensch selber die Ermöglichung der Gestalt alles Seienden im Ganzen übernehmen und damit die Verantwortung für das Ganze der Welt und ihre geschichtliche Zukunft tragen. Die Konsequenzen, die sich aus dem Tode Gottes für den Menschen ergeben, sind für ihn unentrinnbar. In diesem Zusammenhang muß der Grundsatz von Nietzsches Anthropologie gesehen werden: der Mensch ist das noch nicht festgestellte Tier. Das heißt, es ist noch nicht ausgemacht, es ist noch nicht herausgekommen, was es mit dem Menschen auf sich hat. Und der, der darüber zu befinden und entscheiden hat, was aus dem Menschen werden soll, oder genauer gemacht werden soll, ist der Mensch selber. Nachdem Gott tot ist, kann es ja niemanden mehr geben, der den Menschen in seinem Sein feststellen könnte, wenn es nicht der Mensch selbst tut. Wenn aber der Mensch das sich selbst in seinem Sein feststellende Wesen ist, dann ist er - und das ist der zweite Grundsatz von Nietzsches Anthropologie - das Wesen des Übergangs. Er ist in sich das übergängige Wesen. Er ist noch auf dem Wege zu sich selbst. Er muß sich selbst definieren und in seinem Sein hervorbringen. Als das übergängige Wesen muß er sich überschreiten. Er ist über sich hinaus.
Diese Ansichten hat die Existenzphilosophie des 20. Jh. - in der Isolierung aus dem Zusammenhang Nietzsches - von Nietzsche übernommen. Der Mensch ist das Wesen, das sich selber voraus ist und sich in seinem Voraussein erst einholen muß. Nun hat Nietzsche von den beiden Grundsätzen seiner Anthropologie her, die sich für ihn unmittelbar aus der These vom Tode Gottes ergaben, zwei extreme Möglichkeiten ins Auge gefaßt. Die eine Möglichkeit, daß der Mensch nicht über sich hinausgeht, sondern hinter sich zurückfällt. Die nicht über sich hinausgehende, sondern hinter sich zurückfallende Möglichkeit des Menschseins hat Nietzsche ausgesagt in der Lehre vom letzten Menschen. Der letzte Mensch geht bei Nietzsche nicht über sich hinaus, sondern fällt hinter sich zurück. Er mutet sich die Bewegung, die ihn über seine faktische Vorfindlichkeit hinausführen könnte, nicht mehr zu. Die zweite Möglichkeit ist die, daß sich der Mensch auf den Übermenschen hin überschreitet und die Rolle des getöteten Gottes übernimmt,
Doch wichtiger als die anthropologische, ist die geschichtsphilosophische Perspektive - von Nietzsche aus gesehener - zukünftiger Geschichte.
»Das größte neuere Ereignis - daß >Gott tot ist<, daß der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist - beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen. Für die wenigen wenigstens, deren Augen, deren Argwohn in den Augen stark und fein genug für dies Schauspiel ist, scheint eben irgendeine Sonne untergegangen, irgendein altes tiefes Vertrauen in Zweifel umgedreht: ihnen muß unsre alte Welt täglich abendlicher, mißtrauischer, fremder, älter< scheinen. In der Hauptsache aber darf man sagen; das Ereignis selbst ist viel zu groß, zu fern, zu abseits vom Fassungsvermögen vieler, als daß auch nur seine Kunde schon angelangt heißen dürfte; geschweige denn, daß viele bereits wüßten, was eigentlich sich damit begeben hat - und was alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muß, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war: zum Beispiel unsre ganze europäische Moral. Diese lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz, die nun bevorsteht: wer erriete heute schon genug davon, um den Lehrer und Vorausverkünder dieser ungeheuren Logik von Schrecken abgeben zu müssen, den Propheten einer Verdüsterung und Sonnenfinsternis, derengleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat?... Selbst wir geborenen Rätselrater, die wir gleichsam auf den Bergen warten, zwischen Heute und Morgen hingestellt und in den Widerspruch zwischen Heute und Morgen hingespannt, wir Erstlinge und Frühgeburten des kommenden Jahrhunderts, denen eigentlich die Schatten, welche Europa alsbald einwickeln müssen, jetzt schon zu Gesicht gekommen sein sollten: woran liegt es doch, daß selbst wir ohne rechte Teilnahme für die Verdüsterung, vor allem ohne Sorge und Furcht für uns ihrem Heraufkommen entgegensehn? Stehen wir vielleicht zu sehr noch unter den nächsten Folgen dieses Ereignisses - und diese nächsten Folgen, seine Folgen für uns sind, umgekehrt als man vielleicht erwarten könnte, durchaus nicht traurig und verdüsternd, vielmehr wie eine neue schwer zu beschreibende Art von Licht, Glück, Erleichterung, Erheiterung, Ermutigung, Morgenröte... In der Tat, wir Philosophen und >freien Geister< fühlen uns bei der Nachricht, daß der >alte Gott tot< ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung - endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, daß er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so >offnes Meer<.«[17]
Für Nietzsche ist, mindestens an dieser Stelle, im Tode Gottes eingeschlossen, daß der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig wurde. Mit dem Glauben an den christlichen Gott wird aber die gesamte europäische Moral hinfällig. Die von dem Ereignis des Todes Gottes geprägte Epoche wird durch eine Logik bestimmt, die es nach Nietzsche zu sagen gestattet, was kommen wird. Nietzsche versteht sich als Lehrer und Vorausverkündiger einer - von ihm aus gesehen -zukünftigen Epoche der Geschichte, die der Logik des Schreckens gehorchen muß. Nun ist die Geschichte, die der Logik des Schreckens folgt, unsere eigene Gegenwart. Sie entfaltet sich in ihrer universalen, alle Bereiche des menschlichen Daseins auf der ganzen Erde erfassenden Intensität. Wenn man an die Bereicherung des Arsenals von Grausamkeit durch die Erfindung des psychischen Terrors denkt, durch welche die jüngsten Träger des Emanzipationsprozesses sich ausgezeichnet haben, dann ist auch diese Tatsache ein Kommentar zu der Frage nach dem Verhältnis von Nietzsche zu Marx in der Gegenwart. Die von beiden Denkern in ihrer Notwendigkeit begriffene und daher geforderte totale Emanzipation von der Metaphysik vollzieht sich in der Tat in zunehmendem, immer bedrohlicherem Maße im Zeichen dessen, was Nietzsche die Logik des Schreckens nannte. Das hat Nietzsche klarer gesehen als irgendein anderer Denker sonst. Was Nietzsche aus der Emanzipation vom Glauben an den christlichen Gott hervorgehen sieht, sind jene unheilverkündenden, geheimnisvollen dunklen Visionen, wie Untergang, Zerstörung, Umsturz, Abbruch, Schrecken, und wovon er als einer unausweichlichen und für ihn feststehenden Notwendigkeit ausgeht, ist die Unhaltbarkeit aller bisherigen Moral.
Für Nietzsche ist die Kritik der Moral und der Versuch ihrer Neubegründung eine notwendige Konsequenz des Todes Gottes, d.h. des Fortfalls des Grundes, auf dem alle bisherige Moral gegründet war. Wenn Gott tot ist, dann wird alle überkommene Ethik und Moralität hinfällig. Was ist in diesem Zusammenhang unter Moral zu verstehen? Ethos war der Ort, an dem jemand wohnt. Ethik ist dann die Gestalt einer Praxis, durch die sich der Mensch zu einem Gegenstand der Verwirklichung in seinem Sein wird, die es ihm ermöglicht, bei sich selbst und in seiner Welt heimisch, 2u Hause zu sein, so wie es bei Platon darauf ankommt, daß der Mensch es lernt, mit sich selbst befreundet zu sein. Von Natur ist es der Mensch nicht. Das wird er erst in einer Praxis, die das Wesen der Ethik ausmacht. Mit dem Hinfälligwerden aller ethischen Ordnungen und Traditionen in der emanzipierten Gesellschaft wird daher alles unvertraut und fremd. »Unsere alte Welt wird täglich mißtrauischer und fremder.« An die Stelle des Vertrauens tritt erst der Zweifel und schließlich das Mißtrauen, der Verdacht. Der Geist ist seit und durch Nietzsche in sich ständig radikalisierenden Formen in die Schule des Verdachts gegangen. Die Schule, die Nietzsche als die Schule des Mißtrauens und des methodischen und prinzipiell gewordenen Verdachtes begründet, ist zur einzigen Stätte und Behausung des Geistes geworden. Die Schule des Verdachtes, der mißtrauischen Auflösung einer jeglichen Weise des Vorverständigtseins, bei Nietzsche ein geistiges, ein philosophisches Ereignis, ist inzwischen selber zu einer vertrauten Praxis des Menschen mit sich selbst und den Mitmenschen geworden. Der Satz Sartres: »Die Hölle ist der andere«, der zentrale Satz über die gesellschaftliche Natur des Menschen in seiner Philosophie, ist zugleich der dritte gleich wesentliche Grundsitz von Nietzsches Anthropologie. Sartre hat in einer subtilen, existenziellen Psychopathologie, die Konsequenzen aufgedeckt, die sich aus der höllischen Art ergeben, mit der die Menschen in der atheistischen Gesellschaft und der atheistischen Kirche miteinander umgehen. Der höllische Charakter dieses Umgangs ist bestimmt durch den Wechsel von Masochismus und Sadismus. Die Dialektik, so glaubt Sartre,im Anschluß an Nietzsche, das gesellschaftliche Sein des Menschen interpretieren zu können, ist die Bewegung, die dem Zirkel gehorcht, räch welchem der Sadismus den Masochismus und der Masochismus den Sadismus hervortreibt.
Die sich wechselseitig hervortreibend« und darin potenzierende Bewegung ist der Prozeß, durch den der Mensch in einer prinzipiell unvertrauten Welt sich gezwungen sieht, entweder den andern zu unterwerfen oder, wenn das nicht gelingt, sich dem andern. Die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft tritt damit bei Nietzsche nach Hegel und Marx in ein neues Stadium. Sie wird von Nietzsche reflektiert auf ihre Implikationen hin, die sie für den Verfall der Moralität hat. Alle Konsequenzen, die sich aus dem Tode Gottes für ihn ergeben, faßt Nietzsche in der Aussage zusammen, daß das Gesetz des Zeitalters nach der Tötung Gottes der Nihilismus sein werde.
»Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus. Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden, denn die Notwendigkeit selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt Überall sich an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsre ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: einem Strom ähnlich, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.«[19]
Nietzsches Philosophie ist eine Philosophie des Mutes, sich zu besinnen. Sie ist Gestalt und Ausdruck einer universalen und radikalen Besinnung auf das Ereignis und die Konsequenzen des Ereignisses, das Nietzsche den Nihilismus nennt. In diesem Sinne ist Nietzsches Denken Philosophie. Unter dem Nihilismus denkt Nietzsche die Geschichte, die kommt und die als die ankommende jetzt schon erkannt und erzählt werden kann. Nihilismus ist also hier nicht identisch mit einer Theorie, die besagt: alles ist im Grunde genommen nichts, sondern eine Geschichte, die sich vollzieht und die die Geschichte der europäisch christlichen Kultur in ihrem Grunde ausmachte und in die sie sich jetzt verwandelt. »Was bedeutet Nihilismus? - Daß die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das >Warum<.«[20]
Als Nihilismus wird also von Nietzsche eine Verfassung der Welt und ein geschichtlicher Zustand angesprochen, der dadurch bestimmt ist, daß es keine Antwort auf die Frage nach dem Telos des Ganzen gibt. Nietzsche hat gesagt, daß wir das erste Geschlecht seien, das keine Antwort auf die Frage nach der Wahrheit hätte. Sein Denken stellt daher den Versuch dar, ein Experiment mit der Wahrheit anzustellen. In diesem Sinne ist Nietzsches Philosophie als eine Experimentalphilosophie zu verstehen. Wie aber ist es möglich, mit der Wahrheit unter Bedingungen zu experimentieren, die eine Erkenntnis der Wahrheit nicht zulassen? Nietzsche geht so vor, daß er beabsichtigt, die Wahrheit über die Wahrheit an den Tag zu bringen. Seine geschichtsphilosophisch bestimmte Theorie bildet dabei den Horizont für dieses Experiment. Der radikal gewordene Nihilismus steht in diesem Zusammenhang für die Überzeugung, daß das Dasein sich als unhaltbar erweist, wenn es sich um die höchsten Werte handelt, die das Dasein für sich selber verbindlich anerkennt. Für Nietzsche wird also im Begriff des Nihilismus nicht eine geschichtliche Verfassung des Daseins angesprochen, für das es keine Überzeugungen mehr gibt. Im Gegenteil: es gibt sehr wohl ausgemachte und anerkannte Überzeugungen über höchste Werte. Ohne diese Voraussetzung wäre die Rede vom Nihilismus selber sinnlos. Es geht vielmehr um das Verhältnis dessen, was das Dasein für seinen höchsten Wert hält, zu dem faktischen Dasein selber. Erst aus der Perspektive seines höchsten Wertes beurteilt, erweist sich das Dasein als unhaltbar. Erst wenn sich die geschichtliche Wirklichkeit in der Perspektive seiner höchsten Werte als unhaltbar herausstellt, dann tritt ein, was Nietzsche die Herrschaft des Nihilismus nennt.
Für das gegenwärtige Zeitalter z.B. ist der höchste Wert die Verwirklichung von Humanität. Wenn man von diesem Wert aus auf die Wirklichkeit des Zeitalters blickt, dann ist diese geschichtliche Wirklichkeit unhaltbar. Nietzsche begnügt sich aber nicht mit der Feststellung der eingetretenen Herrschaft des Nihilismus, sondern stellt die Frage nach der Genealogie, nach seiner Herkunft. Welche Kraft ist verantwortlich für die Heraufkunft des Nihilismus?
»Aber unter den Kräften, die die Moral großzog, war die Wahrhaftigkeit: diese wendet sich endlich gegen die Moral, entdeckt ihre Teleologie, ihre interessierte Betrachtung - und jetzt wirkt die Einsicht in diese lange eingefleischte Verlogenheit, die man verzweifelt, von sich abzutun, gerade als Stimulans. Wir konstatieren jetzt Bedürfnisse an uns, gepflanzt durch die lange Moral-Interpretation, welche uns jetzt als Bedürfnisse zum Unwahren erscheinen: andrerseits sind es die, an denen der Wert zu hängen scheint, derentwegen wir zu leben aushalten. Dieser Antagonismus - Das, was wir erkennen, nicht zu schätzen und Das, was wir uns vorlügen möchten, nicht mehr schätzen zu dürfen - ergibt einen Auflösungsprozeß.«
Dies ist die Antinomie: »Sofern wir an die Moral glauben, verurteilen wir das Dasein.«[21]
Der Nihilismus, die Verneinung der Moral, ist also für Nietzsche eine Konsequenz aller bisherigen Moral. Beim Nihilismus geht es um einen Vorgang, in welchem sich die Moral gegen sich selbst wendet. Die Moral löst sich in der Wendung gegen sich selber auf. Auf dem Boden der sich auflösenden Moral ist ein moralisches Bedürfnis im Menschen erzeugt worden, das sich gegen die Moral wendet, die es selber hervorgebracht hat. In der Auflösung der Moral durch die in der Moral entwickelte Wahrhaftigkeit, die sich gegen ihren eigenen Grund wendet, denkt Nietzsche auf eine höchst praktische Weise ebenso geschichtlich wie dialektisch. Nicht zufällig bestimmt er den nihilistischen Weltzustand durch den Begriff des Antagonismus, der aufgebrochen ist zwischen dem, was wir erkennen, und dem, was wir schätzen. Die methodisch erkannte Wirklichkeit widerlegt die Werte, und die Werte widerlegen die Wirklichkeit. Wenn die Wirklichkeit, die ist, und der Wert, der sein soll, unvermittelt und antagonistisch auseinander- und einander entgegentreten, dann tritt der Nihilismus ein.
»Was ist im Grunde geschehen? Das Gefühl der Wertlosigkeit wurde erzielt, als man begriff, daß weder mit dem Begriff >Zweck<, noch mit dem Begriff >Einheit<, noch mit dem Begriff >Wahrheit< der Gesamtcharakter des Daseins interpretiert werden darf. Es wird nichts damit erzielt und erreicht; es fehlt die übergreifende Einheit in der Vielheit des Geschehens: der Charakter des Daseins ist nicht >wahr<, ist falsch... man hat schlechterdings keinen Grund mehr, eine wahre Welt sich einzureden... Kurz: die Kategorien >Zweck<, >Einheit<, >Sein<, mit denen wir der Welt einen Wert eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen - und nun sieht die Welt wertlos aus...«[22]
Da in dem ganzen Prozeß der Welt als Natur und Geschichte nichts erzielt und erreicht wird und die im Werden befindliche Welt kein Prinzip von Ordnung, Einheit oder Ganzheit erkennen läßt und der Anblick des bloß chaotischen Werdens nicht ertragen wird, flüchtet
man sich aus der ziel- und einheitslosen Welt des Werdens hinaus - wohin? In eine Welt, die es an sich nicht gibt, sondern die man sich zum Zwecke der Flucht vor der wirklichen Welt als eine an sich wahre fingiert und hinter der Welt des bloßen Werdens ansetzt, als eine an sich bestehende und den Bestand des Menschen verbürgende Hinterwelt. Die zu der Welt des Werdens hinzugedachte, also ausgedachte Welt ist die mit dem Sein der Metaphysik gemeinte wahre Welt. Wie ist es zur Ausbildung der Metaphysik und damit zur Ansetzung einer die Welt des Werdens überbietenden und übersteigenden wahren Welt
gekommen? Die Antwort Nietzsches lautet: zu der Ansetzung einer solchen an sich dem Werden überlegenen Welt ist es gekommen aus einem dominierenden Bedürfnis heraus. Die Welt wahrer und seiender Beständigkeit wird von Nietzsche auf ein Bedürfnis zurückgeführt, und zwar auf ein Bedürfnis des Menschen als eines Subjektes, das einer solchen Welt bedarf. Was ist der Grund einer solchen Bedürftigkeit nach Nietzsche? Das Bedürfnis, das hinter der Ausbildung einer Welt wahren Seins steht, ist das Bedürfnis nach Flucht, ist ein Eskapismus.
Weil man die Welt bloßen, an sich sinn- und zwecklosen Werdens nicht ertragen kann, weicht man der als sinn- und zwecklos erfahrenen Welt bloßer Veränderung und bloßen Werdens aus und rettet sich in eine an sich wahre Welt, die man als Asyl braucht und zu der einzig wirklichen Welt hinzudenkt. Wovon die Metaphysik redet, ist also für Nietzsche ein bloßer Schein, eine Fiktion, durch die man sich den unerträglichen Charakter der wirklichen Welt des Werdens erträglich macht. Nun hängt aber das Sein der Wahrheit von der Annahme einer solchen, dem Werden überlegenen Welt des Seins ab. Wenn der Nihilismus als psychologischer Zustand eintritt und man an das Sein der Metaphysik nicht mehr glauben kann, dann fällt mit der an sich seienden und beständigen Welt des Seins die Wahrheit selbst dahin. Der Satz Nietzsches, daß wir das erste Geschlecht in der Geschichte seien, das keine Antwort auf die Frage nach der Wahrheit hat, ist also das Resultat der Theorie eines Prozesses, durch den die Metaphysik unglaubwürdig wurde. Mit dem Hinfall der Metaphysik fällt auch der Gedanke einer an sich seienden Wahrheit fort. Nihilismus als psychologischer Zustand ist das Ergebnis eines Prozesses, in welchem alle, den Prozeß überdauernden Bestände sich aufgelöst haben. Es bleibt nur noch der Prozeß. Es bleibt nur noch das reine sinn-, zweck- und einheitslose und jede Wahrheit aus dem Felde schlagende Werden an sich. »Was ist im Grunde geschehen? Das Gefühl der Wertlosigkeit wurde erzielt.«[23]
Die Falsitas, die Verkehrtheit ist der essentielle Charakter des Daseins.
»Gesetzt, wir haben erkannt, inwiefern mit diesen drei Kategorien die Welt nicht mehr ausgelegt werden darf, und daß nach dieser Einsicht die Welt für uns wertlos zu werden anfängt: so müssen wir fragen; woher unser Glaube an diese drei Kategorien stammt, - versuchen wir, ob es nicht möglich ist, ihnen den Glauben zu kündigen! Haben wir diese drei Kategorien entwertet, so ist der Nachweis ihrer Unanwendbarkeit auf das All kein Grund mehr, das All zu entwerten.
Resultat: Der Glaube an die Vernunftkategorien ist die Ursache des Nihilismus, - wir haben den Wert der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingierte Welt beziehen.«[24]
Was versteht Nietzsche hier unter Kategorien? Nach der Interpretation Heideggers sind Kategorien »Ansprechungen des Seienden im Hinblick auf das, was das Seiende als ein solches seiner Verfassung nach ist. Die Kategorien werden daher als diese Ansprechungen eigens erkannt in der Besinnung auf das, was im gewöhnlichen Ansprechen und Besprechen des Seienden stets schon stillschweigend mitgesprochen und angesprochen wird.«[25]
In den Kategorien wird seit Aristoteles das, was alles Seiende von sich selbst her und im Grunde ist, ausgelegt. Die für diese Auslegung zentralen und grundlegenden Weisen sind die Kategorien der Einheit und Wahrheit. Die Metaphysik glaubte bis zu Hegel hin, dafür aufkommen zu können, daß alles Seiende eine Einheit und Ordnung so von sich selbst her in sich trägt, daß es einen Sinn hatte, in einer Philosophie genannten Anstrengung des Denkens sich um eine Theorie der Wahrheit zu bemühen. Sie meinte dafür einstehen zu können, daß es in allem Geschehen der Welt als Natur und Geschichte, in allen Formen und Gestalten menschlicher Praxis auf etwas ankäme, etwas erreicht werden könne, daß also alles durch ein Telos bestimmt sei. Herrschaft des Nihilismus bedeutet nun, daß die Grundannahmen der Metaphysik unglaubwürdig geworden sind, daß es sich hier um Annahmen handelt, denen man nicht länger vertrauen kann. Wenn man aber der Metaphysik nicht mehr vertrauen kann, wenn sich gegen ihre Voraussetzungen ein abgründiges Mißtrauen und ein methodisch geleiteter Verdacht richten, dann bedeutet das, daß man davon ausgehen muß, daß es in allem, was ist und geschieht, keine Einheit gibt. Wenn es aber in allem Seienden und allem Geschehenden keine Einheit gibt, dann ist Sein als Kosmus, als Ordnung nicht länger denkbar, dann trifft auf dem Boden dieser Voraussetzung die These von der Absenz von Einheit und Ordnung zu. Ist aber Einheit nicht mehr entdeckbar, dann ist das, was übrigbleibt und wovon man ausgehen muß, nicht nichts, sondern das, was in jeglicher Hinsicht eine Einheit entbehrt, was man Chaos nennt. Ob ich aber nun sage, Einheit gibt es nicht und das Prinzip einer möglichen Einheit ist nur aufgrund von Setzung, oder ob ich sage, Wahrheit gibt es nicht, in beiden Fällen sage ich im Grunde dasselbe. Gibt es aber keine Wahrheit, dann ist nach Nietzsche alles verkehrt und falsch. Wenn alles durcheinander ist, dann ist nicht nichts, dann ist dieses Ungeordnete das in sich Verkehrte und aus der Perspektive der Metaphysik beurteilt, die ich voraussetzen muß, wenn ein Urteil überhaupt möglich sein soll, das essentiell Falsche. Im Gedanken der Einheit, der Wahrheit und im Gedanken des Telos wird das Seiende im Ganzen in der Metaphysik unter drei verschiedenen, aber auf einen Punkt konvergierenden Hinsichten angesprochen, unter denen sich der Mensch in der Geschichte der Metaphysik sein Sein als sinnvolles Sein so selbstverständlich ausgelegt hat, daß ihm in der Tat die Frage nach dem Sinn des Seins sinnlos erschienen wäre.
Daher muß mit dem Hinfall der Vernunftkategorien, d.h. mit der Statuierung einer essentiell vernunftlosen Welt, das Dasein des Menschen selber als sinnlos erscheinen. In der Theorie des Nihilismus bei Nietzsche geht es um die Erfahrung, daß mit dem Hinfall und dem Untergang der Metaphysik das Dasein als sinnlos erscheint. Wenn die Metaphysik ein den Menschen nicht betreffender abstrakter Interpretationsversuch der Welt sein würde, neben dem auch noch beliebig viele und andere denkbar wären, dann wäre der Schrecken Nietzsches nicht verständlich, mit dem er auf die geschichtliche Erfahrung antwortete, daß durch die Bewegung der Emanzipation und die Aufklärung der Welt durch die exakten Wissenschaften sich die Grundannahmen der Metaphysik als unhaltbar erwiesen haben. Nietzsche jedenfalls hat daran festgehalten, daß mit dem Ende der Metaphysik in der Herrschaft des Nihilismus nicht eine beliebige Interpretation der Welt vernichtet wurde, sondern daß mit dem Untergang der Metaphysik der Mensch ohne Antwort auf die Frage bleibt, die Nietzsche in der Genealogie der Moral so formulierte: wozu Mensch überhaupt? In der Praxis des kollektiven Völker- und Rassenmords im 20. Jahrhundert hat die Frage Nietzsches den letzten Anschein verloren, eine akademische oder nur für die religiös verinnerlichte Subjektivität interessante Frage zu sein. Mit der Metaphysik ist für Nietzsche alles das mit untergegangen, was mit der Metaphysik und ihren Voraussetzungen begründet war. Es war ein fundamentaler Irrtum des auch für Nietzsche großen 19. Jahrhunderts, wenn es glaubte, dem Verlust der Metaphysik eine heroische Moral entgegensetzen zu können. Es ist eine Erneuerung dieses Glaubens des 19. Jahrhunderts, wenn auch in der Gegenwart der nihilistischen Erfahrung eine selbst grundlose Moral entgegengesetzt wird. Die Erneuerung des Moralismus ist entweder selber zweideutig, wie z.B. bei Karl Jaspers, der sich nicht scheute, im Namen der Moral den Einsatz von Atombomben zu fordern, oder die Moral übernimmt in der Anpassung an die faktischen Bedürfnisse die Funktion, dem, was sowieso geschieht, das gute Gewissen zu geben. Auch die Theologie scheint in ihrer Unterwerfung unter den herrschenden Trend immer mehr dazu zu neigen, den geforderten Formen der Befriedigung tatsächlicher Bedürfnisse eine pseudotheologische Sanktion zu geben. Wenn jedoch Jaspers im Namen der Moral glaubt, auch den Einsatz der Atombombe gegen potentielle Störer der Friedensordnung rechtfertigen zu können, dann nimmt die Herrschaft des Moralismus eine Gestalt des Schreckens an, von der schon Hegel in der Phänomenologie des Geistes sagte, daß sie nur die Unterscheidung zwischen solchen kenne, die in der rechten Gesinnung sind, und solchen, die nicht das Glück haben, in ihr zu sein. Die Handhabung der Kontrollrechte, die sich die neue Linke zuspricht, verfährt nach dem gleichen Prinzip.
Wenn das menschliche gesellschaftliche Zusammenleben in den pluralistischen Gesellschaften der westlichen Welt in der Erneuerung des Moralismus, die in der östlichen Staatspädagogik ihr Pendant findet, die Form annimmt, daß es auch hier nur die Unterscheidung zwischen denen gibt, die in der rechten Gesinnung sind, und denen, die es nicht sind, dann muß man die Frage stellen: wer entscheidet denn darüber, wer die einen und wer die andern sind? Und wer entscheidet darüber, welches die rechte Gesinnung ist? Ebenso wenig wie die Moral ist die exakte Wissenschaft für Nietzsche eine Instanz, die etwas zur Entscheidung dieser Frage beitragen könnte. Die voraussetzungslose Wissenschaft lebt selber von einer moralischen Voraussetzung, die nur metaphysisch begründet werden kann, nämlich von dem metaphysischen Glauben, daß die Wahrheit ein Wert sei.
»Nein! Man komme mir nicht mit der Wissenschaft, wenn ich nach dem natürlichen Antagonisten des asketischen Ideals suche, wenn ich frage: >wo ist der gegnerische Wille, in dem sich sein gegnerisches Ideal ausdrückt?< Dazu steht die Wissenschaft lange nicht genug auf sich selber, sie bedarf in jedem Betrachte erst eines Werth-Ideals, einer wertheschaffenden Macht, in deren Dienste sie an sich selber glauben darf, - sie selbst ist niemals wertherschaffend. Ihr Verhältnis zum asketischen Ideal ist an sich durchaus noch nicht antagonistisch; sie stellt in der Hauptsache sogar eher noch die vorwärtstreibende Kraft in dessen innerer Ausgestaltung dar. Ihr Widerspruch und Kampf bezieht sich, feiner geprüft, gar nicht auf das Ideal selbst, sondern nur auf dessen Außenwerke, Einkleidung, Maskenspiel, auf dessen zeitweilige Verhärtung, Verholzung, Verdogamitisierung - sie macht das Leben in ihm wieder frei, indem sie das Exoterische an ihm verneint. Diese Beiden, Wissenschaft und asketisches Ideal, sie stehen ja auf einem Boden - ich gab dies schon zu verstehn -: nämlich auf der gleichen Überschätzung der Wahrheit (richtiger: auf dem gleichen Glauben an die Unabschätzbarkeit, Unkritisierbarkeit der Wahrheit), eben damit sind sie sich nothwendig Bundesgenossen, - so daß sie, gesetzt, daß sie bekämpft werden, auch immer nur gemeinsam bekämpft und in Frage gestellt werden können.«[26]
Es ist der Glaube der alten Metaphysik, aus deren Brand auch die positivistischen Wissenschaften das Feuer holen, das sie sonst so eifrig auszulöschen bemüht sind. Die Rettung vor dem Untergang der Metaphysik nicht nur durch den erneuerten Glauben an die Moral, sondern auch durch den Glauben an die Wissenschaften, ist für Nietzsche eine Illusion, die mit dem Fortfall einer an sich wahren Welt nicht länger aufrechterhalten werden kann. Es gibt dann keine Wahrheit, die wir aufgrund auch noch so subtiler Veranstaltungen irgendwo entdecken oder auffinden könnten. Wenn wir das Gesagte zusammenfassen, dann zeigt sich, daß für Nietzsche die Herrschaft des Nihilismus, zunächst als psychologischer Zustand, das Resultat eines Jahrtausende währenden geschichtlichen Prozesses darstellt, durch den sich der Glaube an die Metaphysik, an die sie bestimmenden Grundannahmen, und das heißt der Glaube an die Vernunft, auflöst und untergeht.
In der Götzendämmerung hat Nietzsche, auf einem einzigen Blatt, die Geschichte des Verfalls der Metaphysik erzählt. Es trägt die Überschrift: »Wie die >wahre Welt< endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrtums.«
- »Die wahre Welt, erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, - er lebt in ihr, er ist sie. (Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend. Umschreibung des Satzes >Ich, Plato, bin die Wahrheit<.)
- Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften (»für den Sünder, der Buße tut<).
(Fortschritt der Idee: sie wird feiner, verfänglicher, unfaßlicher - sie wird Weib, sie wird christlich...) - Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ.
(Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch.) - Die wahre Welt - unerreichbar? Jedenfalls unerreicht. Und als unerreicht auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend, verpflichtend: wozu könnte uns etwa Unbekanntes verpflichten?...
(Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des Positivismus.) - Die >wahre Welt< - eine Idee, die zu nichts mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpflichtend - eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab!
(Heller Tag; Frühstück; Rückkehr des bon sens und der Heiterkeit; Schamröte Platos; Teufelslärm aller freien Geister.) - Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht?... Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft?
(Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrtums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA.)«[27]
Die fundamentale Voraussetzung allen gegenwärtigen Denkens ist bestimmt von der Überzeugung, daß die Metaphysik ein Irrtum war. Heideggers Rede von der Erde als dem Irrstern und der Geschichte als einer Irrnis, in der wir ort- und orientierungslos herumirren, liegt Nietzsches These zugrunde, daß zu der von der Metaphysik geprägten abendländischen Geschichte wesentlich der Irrtum gehört. Für Nietzsche ist die Metaphysik, die sich in der Heraufkunft des Nihilismus als ein Irrtum erwiesen hat, identisch mit Platonismus. Was aber ist Platonismus? Platonismus ist für Nietzsche gleichbedeutend mit der Herrschaft eines Entzweiungs- und Verdoppelungsschemas über die Auslegung der Welt. Platonismus bedeutet, daß einer sinnlich veränderlichen Welt eine übersinnliche und beständige Welt des Seins entgegengestellt wird. Die Welt wird verdoppelt. Sie ist einmal die Welt der Sinnlichkeit und Veränderlichkeit, zum andern ist sie die Welt der Wahrheit und Beständigkeit. Metaphysik als Geschichte eines Irrtums muß auf dem Boden der Gleichsetzung von Metaphysik und Platonismus die Geschichte sein, in welcher sich das Schema der Weltverdoppelung und Weltentzweiung auflöst. Wenn für Nietzsche Metaphysik identisch ist mit der Herrschaft einer Weltverdoppelung und -entzweiung, dann bedeutet das Ende der Metaphysik die Aufhebung und die Unanwendbarkeit des Entzweiungsmodells. Woher aber nimmt Nietzsche den Gesichtspunkt oder das Prinzip, welches ihm ermöglicht, die Geschichte der sich auflösenden Metaphysik in einer geordneten Folge von notwendigen Schritten zu entfalten? Der Gesichtspunkt, den Nietzsche bereits seiner Auslegung des Wesens der Metaphysik voraussetzt, ist der auch Platons Philosophie bestimmende Bezug des Menschen zu der von ihm als wahr angenommenen Welt beständigen Seins. Der Gesichtspunkt ist der Hinblick auf den Bezug von Mensch und Wahrheit. In der ersten anfänglichen Gestalt der Metaphysik bei Platon wird der Bezug von Mensch und Wahrheit so gedacht, daß der Mensch die Wahrheit erreichen kann. Er kann sich mit der Wahrheit vereinigen. Das kann zwar nicht jeder beliebige Mensch, aber der Weise, der Sophos, der Fromme und der Tugendhafte können es. Das heißt, wenn der Mensch sich in die Verfassung des Weisen, des Frommen und des Tugendhaften bringt, dann verschafft er sich die Bedingung, die es ihm gestattet, die Wahrheit einer an sich seienden Welt zu erreichen. Die für Platon im Jetzt noch erreichbare, wahre Welt wird dann dem Sünder für die Zukunft versprochen.
Die zweite Phase in der Verfallsgeschichte der Metaphysik wird nach Nietzsche durch das Christentum repräsentiert. Es ist ein wichtiger Gesichtspunkt für die Interpretation Nietzsches, daß er die durch die Theologie verwandelte und ausgelegte Wahrheit nicht aus der Perspektive des Glaubens gesehen hat, sondern daß er das Christentum verstanden hat als Platonismus fürs Volk. Die christliche Wahrheit kommt bei Nietzsche nicht in ihrer Kritik der Metaphysik in den Blick, sondern sie gilt nur als Platonismus fürs Volk. Sie ist für Nietzsche eine Gestalt des Platonismus, in welcher der Präsenzbezug von Mensch und Wahrheit futurisch wird. Nicht mehr jetzt, in der Gegenwart, können der Fromme und Weise die Wahrheit erreichen, sondern erst in der Zukunft. Die bei Platon an ein räumliches Modell gebundenen Orientierungspunkte hier und dort werden abgelöst von der zeitlichen Fixierung jetzt und dann. Die »Futurisierung« des Wahrheitsverhältnisses, stellt also nach Nietzsches richtiger Einsicht nichts anderes dar als die zweite Gestalt des verfallenden Platonismus, in dem an die Stelle der Gegenwart die Zukunft als der Ort erreichbarer Wahrheit tritt.
Auf dem Standpunkt der Philosophie Kants ist die Wahrheit unerreichbar, unbeweisbar, schon als Gedanke ein Trost und ein Grund moralischer Verpflichtung. »Platons Sonne im Grunde, die Idee, sublim geworden, wird bleich, nordisch, königsbergisch.« Das dritte Stadium im Verfallsprozeß der Metaphysik als Platonismus wird durch das Christentum im Denken Kants im 18. Jahrhundert erreicht. In einem gewaltigen Sprung setzt also Nietzsche über von Augustin zu Kant, als der nächsten, epochal-bedeutsamen Station im Verfall der Metaphysik. Was ändert sich gegenüber der christlichen Annahme im Verhältnis von Mensch und Wahrheit durch Kant? Die wahre Welt, vom Christentum in die Zukunft gerückt und aus ihrer Gegenwärtigkeit verdrängt, ist weder jetzt noch in der Zukunft erreichbar, sie ist überhaupt nicht erreichbar, sie kann auch für die Zukunft nicht versprochen werden. Aber schon als bloß gedachte soll die wahre Welt ein Trost und eine Verpflichtung sein: sie wird bei Kant zu einem bloßen Gedanken. Nietzsches Kant-Interpretation ist zwar unhaltbar, aber sie ist in der Vermittlung Schopenhauers für das gebildete bürgerliche Bewußtsein in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmend geworden. Ein bloßer Gedanke soll trösten und verpflichten: die alte Sonne Platons verschwindet bei Kant am Horizont, indem sie, untergehend, das Bewußtsein nur noch schwach erhellt.
Nun der vierte Schritt: der Gedanke der Wahrheit und eines wahren Seins verliert in der Gestalt des Positivismus jede, den Menschen in Anspruch nehmende Kraft. Der Gedanke tröstet nicht. Er verpflichtet auch zu nichts. Daher kann der Positivismus die Metaphysik dahingestellt sein lassen und seine ganze Kraft und Aufmerksamkeit auf das vorfindliche Tatsächliche, auf das sogenannte Positive richten. »Die wahre Welt, eine Idee, die zu nichts mehr nütz ist - schaffen wir sie ab!« Es geht um einen Schritt noch über den Positivismus hinaus. Es ist die Position des freien Geistes. Der Gedanke der Wahrheit, der im Positivismus seine den Menschen in Anspruch nehmende Kraft eingebüßt hat, soll nun abgeschafft werden. Die freien Geister schaffen die Metaphysik ab, sie verschwindet. Damit aber hat sich Nietzsches Entwurf der Geschichte des Endens der Metaphysik noch nicht erschöpft. Es gibt noch einen sechsten Schritt. Erster Schritt: Plato, zweiter Schritt: Christentum, dritter Schritt: Kant, vierter Schritt: Positivismus, fünfter Schritt: der freie Geist, also Nietzsche selber zur Zeit der >Morgenröte< und der >Fröhlichen Wissenschaft<. Nun der sechste Schritt. Wenn eine für die Wahrheit stehende Welt des beständigen Seins abgeschafft ist, dann wird auch die korrelativ auf diese »wahre Hinterwelt« bezogene hiesige, veränderliche oder scheinhafte Welt hinfällig. Es genügt nicht, die durch den Verfall der Metaphysik freigewordene Stelle freizulassen, oder sie durch etwas anderes, wie Kultur, Nation oder Gesellschaft zu besetzen, denn mit der Auflösung der Metaphysik, als der Geschichte eines Irrtums, ist das Prinzip einer Weltentzweiung und Verdoppelung, d.h. einer Möglichkeit, im Ganzen des Seienden nach Wahrheit und Unwahrheit, Sein und Schein, wirklich und unwirklich zu scheiden und zu unterscheiden, hinfällig geworden.
Es muß ein neues Prinzip möglicher und für Nietzsche notwendiger Wertsetzung gesetzt werden. Es genügt nicht, an die Stelle des hinfällig gewordenen Glaubens an den christlichen Vater-Gott den Glauben an den Menschen zu setzen, wie er ist und geworden ist. Die meisten Formen des neuzeitlichen, auch existentialistischen Humanismus begnügen sich damit, an die Stelle des verlorenen Glaubens an den christlichen Gott der Schöpfung den Glauben an den Menschen zu setzen. Sie setzen in ihn das Zutrauen, das er in der Befreiung von dem ihm durch die christliche Tradition aufgezwungenen »fremden« Gott nun zu sich selbst und den ihm als Menschen eigenen Sein durchstoßen werden. Das ist die Grundüberzeugung des Atheismus von Feuerbach, und das ist die Grundüberzeugung des Atheismus von Marx und von Jean Paul Sartre, daß sie dieses Vertrauen in den Menschen haben. Allerdings kann Sartre sich den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht entziehen. Die Tat der negativen Freiheit nimmt in den Dramen Sartres die Gestalt des Verbrechens, des Mordes an. In Hegels Kapitel in der >Phänomenologie des Geistes<, das die Überschrift trägt, >Die absolute Freiheit und der Schrecken<, ist alles Entscheidende zu der aus dem Atheismus herkommenden Freiheit gesagt.
Die Logik des Schreckens, die Nietzsche als das bewegende Gesetz der Geschichte der in ihre Vollendung eintretenden Emanzipation erkannte, verbietet ihm, die Illusion von dem harmlosen Menschen zu teilen, der im Glück des Tieres seine endgültige Befriedigung finden wird. Seine Einsicht in das Wesen und die geschichtliche Bedeutung des asketischen Ideals für die Menschwerdung des Menschen, macht ihm das unmöglich.
»Alle meine Ehrfurcht dem asketischen Ideale, sofern es ehrlich ist! so lange es an sich selber glaubt und uns keine Possen vormacht! Aber ich mag alle diese koketten Wanzen nicht, deren Ehrgeiz unersättlich darin ist, nach dem Unendlichen zu riechen, bis zuletzt das Unendliche nach Wanzen riecht; ich mag die übertünchten Gräber nicht, die das Leben schauspielern; ich mag die Müden und Vernutzten nicht, welche sich in Weisheit einwickeln und >objektiv< blicken; ich mag die zu Helden aufgeputzten Agitatoren nicht, die eine Tarnkappe von Ideal um ihren Strohwisch von Kopf tragen.«[28]
Doch was bedeuten asketische Ideale? In der Rede des tollen Menschen vom Tode Gottes wurde gesagt, daß die Menschen Gott getötet hätten und daß ihnen ihre eigene Tat fremd und verborgen geblieben sei. Wann aber und wodurch ist der Ablauf der Geschichte die Tötung Gottes durch den Menschen erfolgt? Die Schwierigkeit besteht nun darin, daß es auf diese sich im Anschluß an Nietzsches Proklamation des Todes Gottes naheliegende Frage bei Nietzsche keine eindeutige Antwort gibt. Wir müssen daher versuchen, aus dem Gesamtzusammenhang von Nietzsches Philosophie eine Antwort zu finden. Einen Anhaltspunkt gab die Interpretation der Geschichte der Metaphysik als der Geschichte ihres in ihr selbst angelegten Endens. Denn wenn die Geschichte der Metaphysik, in der die wahre Welt endlich zur Fabel wurde, eine Geschichte ist, in welcher sich der Ansatz einer der Welt des Werdens und des Vergehens überlegenen Welt wahren, beständigen Seins auflöste, dann schien es zunächst, als sei Nietzsches eigene Position mit der identisch, die im Positivismus heute zu der herrschenden Form von Theorie und Praxis, wenigstens in der westlichen Welt, wurde. Dieser Positivismus ging ja aus allem Überstieg und Transzendieren über das faktisch vorfindliche Sein zurück auf das, was unmittelbar gegeben und vorfindlich ist. Ist aber Nietzsche identisch mit Positivismus, d.h. mit einem Denken, daß es sein Bewenden dabei läßt, daß das Bestehen einer beständigen Welt des Seins und der Wahrheit geleugnet wird und man sich auf das faktisch antreffbare Sein beschränkt und zurückzieht?
Es wurde deutlich, daß Nietzsche mit dem Durchbruch dieser positivistischen Konzeption seine Geschichte des Endens der Metaphysik nicht enden läßt, sondern daß er das Erscheinen des Positivismus als eine zwar entscheidende, als die vorletzte Etappe auf dem Wege der Metaphysik zu ihrem Ende bestimmte, aber sie gerade nicht als ihre Endposition anerkannte. Er war vielmehr der Auffassung, daß die die Metaphysik bestimmende und in allen Phasen ihrer Geschichte gleichbleibende Grundannahme einer Weltentzweiung und Weltverdoppelung überwunden werden müsse. In diesem, sein ganzes Denken prägenden Grundwillen stimmt Nietzsche mit Karl Marx eindeutig überein. Es geht darum, die die Metaphysik selber bestimmenden Grundannahmen und das die Weltinterpretation der Metaphysik leitende Modell einer in sich entzweiten Realität zu überwinden.
Wie ordnet sich diesem Willen seine Theorie des Atheismus und des Nihilismus ein? Die Frage schon setzt voraus, daß Nietzsche nicht als ein Atheist im landläufigen Sinne des Wortes verstanden werden kann. Wenn es nach Nietzsche zur Destruktion der Metaphysik nicht genügt, daß man einen Bereich, den übersinnlichen, durchstreicht und sich auf den Boden des faktisch Seienden zurückzieht, dann muß Nietzsche den Versuch machen, eine die Metaphysik überfragende Theorie ihrer eigenen Herkunft zu geben. Er muß eine Theorie der Genealogie der Metaphysik entwickeln, eine Theorie über Herkunft und Ursprung der Metaphysik. Heidegger und Adorno sind in unserem Jahrhundert die konsequentesten Nachfolger Nietzsches, da sie diese Aufgabe sich von neuem stellten und eine Herkunftstheorie der Metaphysik von der mit Nietzsche geteilten Voraussetzung aus entwickelten, daß die Herkunft und der Ursprung der Metaphysik nicht selber metaphysisch sein können. Herkunft und Ursprung sind selber nicht metaphysisch und können daher nicht im Zusammenhang einer von der Metaphysik bestimmten Theorie begriffen werden. Nietzsche überfragt daher die Metaphysik auf den Grund hin, der sie als Metaphysik hervorgehen ließ. Durch die Frage nach dem selbst nicht mehr metaphysischen und daher nicht mehr metaphysisch begreifbaren Ursprung der Metaphysik wird Nietzsche, in der formalen Gleichförmigkeit der Fragestellung mit Marx, zu dem großen Gegenspieler und Antipoden von Marx.
Der entscheidende Mangel aller bisherigen Nietzsche-Auslegung besteht darin, daß durch die von Jaspers suggerierte Analogisierung von Nietzsche und Kierkegaard, die dann von Heidegger durch die Analogie zu Aristoteles ersetzt wurde, der Zusammenhang Nietzsches mit Marx nicht in den Blick kam, der wesentlich durch die ihnen gemeinsame Frage nach der nicht metaphysischen Herkunft der Metaphysik ebenso bestimmt wird wie durch die unterschiedliche Antwort, die sie auf die Frage geben. Bereits der junge Nietzsche hatte die Metaphysik in der Beantwortung der Frage nach ihrer Herkunft als das Produkt eines Verfallsprozesses ausgegeben. Im Übergang zur Metaphysik durch Sokrates und Platon verfällt für Nietzsche der Mythos. Die durch die Metaphysik bestimmte Geschichte ist bis in die Gegenwart hinein die Geschichte des aus der Auflösung des Mythos resultierenden Verfalls. Aus dem Blick zurück auf die ursprüngliche Welt des Mythos wird die für ihn kennzeichnende Einheit des Menschen mit seiner Welt in der den Mythos ablösenden Geschichte aufgehoben. Die romantische Hoffnung, mit der Nietzsche zunächst auf die moderne Welt zuging, richtet sich auf die Möglichkeit, durch Richard Wagners Gesamtkunstwerk wenigstens ästhetisch die im Untergang des Mythos verlorene Einheit wiederherzustellen und der zerrissenen Welt der Moderne von außen, in der Vermittlung des Kunstwerks, eine Einheit wieder »einzustiften«. Bei dem Versuch der unmittelbaren Wiederherstellung einer in der mythischen Welt als gegeben geglaubten Einheit handelt es sich um einen Versuch, der in der Form der politisierten Romantik zum Faschismus führt, sei es von rechts oder sei es von links.
Nietzsche hat die versuchte Wiederherstellung der mythischen Einheits- und Ursprungswelt durch die Kunst oder durch eine unmittelbar auf sie abzielende Praxis als einen romantischen Traum durchschaut und im »Gesundungsbad« des Positivismus, der die zweite Periode in Nietzsches Denken bestimmte, von diesem Rausch, durch den sich der Blick für die harten und unumgänglichen Realitäten der modernen Welt verstellt, sich wie von einem Alptraum erholt und die Rechtfertigung der Welt als ästhetisches Phänomen überwunden. Er wiederholte dabei die Einsicht Platons, daß die Dichter zuviel lügen. Der Positivismus hatte für Nietzsche die wichtige und fruchtbare Funktion einer Reinigung von romantischem Rausch. Er hatte für ihn die Bedeutung einer Ernüchterung, die immer dann notwendig wird, wenn die Realität dem traumverlorenen Blick des ekstatischen Visionärs zu verschwinden droht. Brutal formuliert, wird der Positivismus dann notwendig, wenn es sich von dem Betrug zu befreien gilt, durch den die Einheit in der Moderne als unmittelbar gegeben geglaubt oder gehofft wird, daß man sie in der Unmittelbarkeit wiederherstellen könnte, und sich dieser Glaube in Wahnsystemen verfestigt. Vor der Verflüchtigung der Wirklichkeit durch den zum Betrug gewordenen Mythos rettet sich Nietzsche in den Positivismus, den er aus experimentellen und therapeutischen Gründen als eine Position auf Zeit einnimmt. Mit der zeitlich befristeten Hinwendung zum Positivismus ist die in der Schrift >Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik< entwickelte Antwort auf die Frage nach der nichtmetaphysischen Herkunft der Metaphysik hinfällig geworden. Nietzsche kann nicht mehr sagen: in und durch die Metaphysik ist der Mythos zerfallen, und wenn wir uns auf den Verfall des durch die Metaphysik gezeitigten Nihilismus und Atheismus retten wollen, dann müssen wir den Mythos und seine Einheit wiederherstellen. Auch nach dem scheinbaren Untergang des Faschismus wird in neuem Gewände und in neuen Formen an dem von Nietzsche zerrissenen Gewebe weitergewoben, hinter welchem die Wirklichkeit versinkt.
In seiner philosophisch geschlossensten und vielleicht bedeutendsten Leistung, in seiner Schrift >Zur Genealogie der Moral< hat nun Nietzsche den Versuch einer neuen Antwort auf seine alte Frage unternommen. Er hat das Problem des Ursprungs der Metaphysik so gestellt, daß sie mit der Frage nach der Herkunft der Moral zusammenfällt. Nicht eine mythologische Genealogie wird mehr entwickelt, sondern eine ethische, die Metaphysik aus ihrer Funktion für die Ethosordnungen begreifende Antwort gibt Nietzsche in dieser Schrift. Die Metaphysik ist aus einer Grundstellung der Moral hervorgegangen, insofern die Metaphysik das Resultat einer bestimmten Interpretation der Welt darstellt, die ihrerseits auf bestimmte stellungnehmende Akte des Menschen zur Realität zurückgeführt werden kann.
Die Metaphysik wird auf Akte der stellungnehmenden Subjektivität als den Grund ihrer Herkunft zurückgeführt, auf Akte des Schätzens, d.h. auf Akte des Vorziehens und Nachsetzens. Welche Akte sind dies? Es sind die Akte, in denen die gegebene Welt des Werdens und der Veränderung zurückgesetzt, oder besser, herabgesetzt wird zugunsten der Bejahung einer Welt ständigen Seins. Die Metaphysik in der ihr eigenen Tendenz zur Weltverdoppelung ist das Resultat eines Abschätzens der Wirklichkeit, sie geht zurück auf Akte der Bejahung und der Verneinung. In der Metaphysik wird die Welt des Seins bejaht und die Welt des Werdens verneint. Die Methode des Verdachts gibt diesem Gedanken eine die Metaphysik in ihrem Grund stürzende Wendung, der bei Nietzsche die Form, annimmt, daß die Welt des Seins um willen einer Verneinung bejaht wird. Die Bejahung in der Metaphysik steht im Dienste einer Verneinung. Die Welt des Seins wird bejaht, um die Welt des Leidens, die Welt sinnlicher Mannigfaltigkeit und Veränderung verneinen zu können. Die aus einer Bejahung, die im Dienste einer Verneinung erfolgt, hervorgehende Metaphysik versteht Nietzsche als die Gestalt einer bestimmten Moral, als die Herrschaft eines Ideals, welches Nietzsche das asketische Ideal nennt.
Die herrschende Moral ist die Herrschaft des asketischen Ideals über die geschichtlich wirksam gewordene Selbstauslegung des Menschen. Ein asketisches Ideal als Prinzip handelnder Selbstverwirklichung des Menschen verneint praktisch, was in der Herabsetzung des Sinnlichen und der Leiblichkeit in der Metaphysik theoretisch verneint wird. Der auf dem Boden der Metaphysik sich in seinem Menschsein begründende und verwirklichende Mensch ist der Mensch, der im Gehorsam gegen ein von ihm selbst aufgerichtetes Ideal sich selbst verneint. Der sich als natürliches, leibhaftes, vergehendes und stetig sich veränderndes Wesen verneinende Mensch steht damit in der Abhängigkeit von einer verneinender Praxis, also einer nihilistischen Praxis. Die Metaphysik ist daher in ihrem Kern und in ihrem Grunde nihilistisch. Das Wesen der Metaphysik - von der Metaphysik unerkannt und unerkennbar, aber durch die Konsequenzen der Auflösung der Herrschaft der Metaphysik erkennbar geworden -besteht darin, daß sie nihilistisch ist, von Grund auf und von Anfang an. Warum? Die Metaphysik ist nihilistisch, weil sie die leitenden Bejahungen, die die Metaphysik und den. Menschen bestimmenden und in seinem Dasein orientierenden Bejahungen im Dienste einer Verneinung stehen, nämlich im Dienste einer theoretischen und praktischen Verneinung der Welt des Scheins, der Sinnlichkeit, des Leibes und der Vergänglichkeit. Die für Nietzsche einzig wirkliche Welt wird zugunsten einer bloß angenommenen und aus einem Bedürfnis heraus gesetzten Welt verneint. Der Nihilismus und der Atheismus müssen in ihrem Kern, wenn die Metaphysik für den Nihilismus aufzukommen hat, noch selber metaphysisch sein.
»Es ist immer noch ein metaphysischer Glaube, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht, - auch wir Erkennenden von Heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch wir nehmen unser Feuer noch von jenem Brande, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato's war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist... Aber wie, wenn gerade dies immer mehr unglaubwürdig wird, wenn Nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrthum, die Blindheit, die Lüge, - wenn Gott selbst sich als unsre längste Lüge erweist? - - An dieser Stelle thut es Noth, Halt zu machen und sich lange zu besinnen. Die Wissenschaft selber bedarf nunmehr einer Rechtfertigung (womit noch nicht einmal gesagt sein soll, dass es eine solche für sie giebt). Man sehe sich auf diese Frage die ältesten und die jüngsten Philosophien an: in ihnen allen fehlt ein Bewusstsein darüber, inwiefern der Wille zur Wahrheit selbst erst einer Rechtfertigung bedarf, hier ist eine Lücke in jeder Philosophie - woher kommt das? Weil das asketische Ideal über alle Philosophie bisher Herr war, weil Wahrheit als Sein, als Gott, als oberste Instanz selbst gesetzt wurde, weil Wahrheit gar nicht Problem sein durfte. Versteht man dies >durfte<? - Von dem Augenblick an, wo der Glaube an den Gott des asketischen Ideals verneint ist, giebt es auch ein neues Problem: das vom Werthe der Wahrheit.«[29]
Der Atheismus stellt für Nietzsche nicht die Gegenposition zur Metaphysik dar, sondern er ist vielmehr die Rest- und Verkümmerungsform der Metaphysik selber. Die entscheidende Frage, mit der die Zweideutigkeit Nietzsches unübersehbar wird, lautet: was aber ist der Grund dafür, daß der Mensch in der Metaphysik die Realität zugunsten eines selbstgesetzten Ideals verneinte? Mit dieser Frage berühren wir den Bereich der Zweideutigkeit Nietzsches, weil es nämlich aufgrund vieler Äußerungen so scheinen kann, daß Nietzsche die die Metaphysik bestimmende Verneinung nun ihrerseits zurückführte auf eine allem Leben innewohnende Tendenz. Die das Leben in seinem Lebendigsein bestimmenden Tendenzen trennt Nietzsche in aufsteigende, starke und in abfallende, schwache. Das von der einen Art beherrschte Leben nennt Nietzsche stark, das von der andern Art beherrschte schwach. Die schon die Geburt der Tragödie bestimmenden Grundmächte des apollinischen und dionysischen, des weiblichen und männlichen, des begrenzenden und des unbegrenzenden, werden zurückgenommen in das, was Nietzsche das Leben nennt. Die Metaphysik ist für Nietzsche dann ein Symptom für die Art des Lebens, das sich in der Metaphysik ausdrückt und darstellt. Insofern nun in der Metaphysik eine Verneinung am Werke war, ist die Metaphysik das Symptom für ein degenerierendes, schwaches Leben.
Dem schwachen und degenerierenden Leben wird von Nietzsche ein anderes, das starke Leben gegenübergestellt, dessen Stärke daran gemessen werden muß, daß es, einer metaphysischen Rechtfertigung unbedürftig, die Stärke seiner Physis als das Maß aller Dinge nimmt und durchzusetzen vermag. Die Lehre vom Willen zur Macht ist hier, also in der Reflexion auf die anthropologischen Konsequenzen des Verfalls der Ethosordnungen, noch vor aller fragwürdigen Ontologisierung, angelegt.
Das Leben nennt Nietzsche schwach, welches das Prinzip seiner Rechtfertigung nicht aus sich selbst, sondern aus einem anderen Sein nimmt. Es ist das sich selbst entfremdete Dasein. Zug um Zug entspricht die Entwicklung von Nietzsches Denken dem Ansatz von Karl Marx. Die Destruktion der Metaphysik und des in ihr begründeten religiösen Lebens wirkt sich, ungeachtet des bei beiden Denkern divergierenden Grundwillens ihrer Erkenntnis, analog aus. Wenn das schwache Leben sich durch ein anderes, von ihm selbst unabhängiges Sein rechtfertigen läßt, so nimmt das starke das Prinzip aller Rechtfertigung aus sich selbst. Aber was heißt das? Ein starkes Leben, welches das Prinzip der Rechtfertigung aus sich selbst nimmt, erklärt sich damit als rechtfertigungsunbedürftig. Ein starkes Leben ist von der Art, daß es die Zumutung, einer Rechtfertigung bedürftig zu sein, gerade ablehnt. Es setzt sich selbst als das Maß für alles, was anders ist, und unterwirft das andere dem von ihm selbst und als sich selbst gesetzten Maß. Nun erst nähern wir uns dem entscheidenden Punkt unserer Interpretation Nietzsches. Es muß die Frage gestellt werden: nach welchem und aufgrund welchen Prinzips wird von Nietzsche geschieden und unterschieden zwischen starkem und aufsteigendem Leben auf der einen und schwachem und verfallendem Leben auf der andern Seite, wenn sich nicht nach einem von niemandem verhängten Fatum das Sein wie bei den Vorsokratikern im Vergehen des einen das Werden des andern nach der Ordnung der Zeit vollzieht und der Tod ein Kunstgriff des Lebens sein soll, sich besser am Leben zu erhalten? Daß Nietzsche dieser Versuchung, alles einer unvordenklichen Ananke zu unterwerfen, auch erlegen ist, daran besteht kein Zweifel. Vor allem beim späten Nietzsche des unveröffentlichten Willens zur Macht, der in der Heideggerschule als der eigentliche und wahre Nietzsche gilt, setzt sich diese Tendenz beherrschend durch. In der Übertragung des Physisprinzips auf die Geschichte wirkt sich diese Tendenz verhängnisvoll in der Form der Fatalisierung der Geschichte aus, die keine Verantwortung der Person mehr zuläßt und dazu beiträgt, die finstersten Zwangsvollzüge der Geschichte zu sanktionieren. Die Zuordnung Nietzsches zum Faschismus ist nur ein Aspekt dieses Zusammenhangs. An dieser Stelle ist Marx, dank seiner Herkunft von Hegel, der Affirmation der Katastrophe entgangen. Nietzsche hatte - nicht ohne verhängnisvolle Folgen - Arthur Schopenhauer zu seinem Lehrer. Daher wird an diesem Punkt die zu erwartende neomarxistische Nietzscherezeption Nietzsche mit Marx korrigieren wollen. In der Destruktion der Vernunft ist die von Nietzsche gewollte Überwindung des Historismus nicht möglich. Er kann nur ontologisiert werden.
»Alle großen Dinge gehen durch sich selbst zugrunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung: so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der notwendigen Selbstüberwindung im Wesen des Lebens, - immer ergeht zuletzt an den Gesetzgeber selbst der Ruf: >patere legem, quam ipse tulisti<.«[30]
Dies ist ein Satz von tiefer Zweideutigkeit, wenn nicht gefragt wird, mit welcher Art von Notwendigkeit wir es hier zu tun haben. Wird die Frage mit dem Wesen des Lebens selbst beantwortet, dann handelt es sich um nicht viel mehr als eine Banalität, es sei denn, man höre das christliche memento mori hindurch: denke, daß du sterben mußt, und daß du über jedes unnütze Wort einst Rechenschaft ablegen mußt. Es ist die Frage nach dem im Ganzen des Lebens erst eine Scheidung und Unterscheidung ermöglichenden Prinzip, die grundlegende Frage, die an jede offene oder latent atheistische Philosophie gestellt werden muß. Nachdem Nietzsche das einzige Prinzip, das dieser Bedingung genügt, das es bisher gab, mit der Metaphysik und der sie legitimierenden Frage Platons nach dem Guten destruiert hat, ist die Frage unausweichlich: wer oder was steht für das Recht, nach welchem ich überhaupt noch im Ganzen des Seienden scheiden kann nach oben und unten, nach links und rechts, zwischen einem Leben, das dekadent genannt zu werden verdient, und einem Leben, das verdient, daß ihm die Zukunft gehört? Alle Unterscheidungen, die bisher galten, hatten in der Metaphysik ihre Voraussetzung. Die Metaphysik hatte Gott als den Grund für ein solches Prinzip in Anspruch genommen, das eine Orientierung und Scheidung und damit Unterscheidung im Ganzen der Wirklichkeit ermöglichte. Ohne diese Voraussetzung entbehrt alle Kritik selber eines einsichtigen Prinzips. Nun sagt aber Nietzsche, daß die Metaphysik nihilistisch sei und daß sie sich in ihrer Geschichte aufgelöst habe.
Nach welchem Prinzip, nach welchen Kriterien unterscheidet nun Nietzsche selber zwischen untergehendem und aufsteigendem Leben? Auf diese Frage gibt es bei Nietzsche zwei in ihrem Zusammenhang ungeklärte Antworten. Die erste Antwort lautet: das starke Leben erweist sich als stark in dem Maße, in dem es sich selbst und seine Setzungen durchsetzt. Das starke Leben bewährt sich als Wille zur Macht in der ständigen Bemächtigung seiner selbst und verifiziert sich durch die von ihm selbst geschaffenen Realitäten. Auf dieser Basis wird die Frage nach einem Prinzip, nach einem Grund der Rechtfertigung dafür, daß eine Macht sich das andere, es übermächtigend, unterwirft, als ein Symptom für die Dekadenz des Fragenden zurückgewiesen. Dann gibt es kein Prinzip, keine Wahrheit, keine Begründung, sondern es bleibt nur der Kampf um die Macht. Das Leben, das sich durchsetzt, ist im Recht. Und insofern es unterworfen wird und aus der Geschichte verschwindet, hat es unrecht. Es gibt heute Bestrebungen, das Völkerrecht dahingehend zu ändern, daß nach einem Kriege der Besiegte vor Gericht gestellt werden soll. Indem Nietzsche die Rechtfertigungsunbedürftigkeit aller Macht, insofern sie sich als diese betätigt und durchsetzt, vertreten hat, ist er mindestens dem Irrtum nicht erlegen, Wünschbarkeiten für Realitäten zu halten. Es ist ja eine Tatsache, daß uns vor der Zerstörung durch die Macht nur die Macht schützt. Wo die Macht nicht zu schützen vermag, gehört der Krieg keineswegs der Vergangenheit an. Es ist die Frage, ob die Realitäten in Vietnam, in der Tschechoslowakei und in Biafra besser mit Marx als mit Nietzsche begriffen werden können. Zweifellos existierte Israel heute nicht mehr, wenn es sich nicht an die Einsichten Nietzsches gehalten hätte. Das Beispiel Israel zeigt mit besonderer Eindringlichkeit, wie wenig die Problematik Nietzsches durch seine Gleichsetzung mit dem Faschismus erledigt ist, es sei denn, man würde den Faschismus als die Form einer politischen Praxis definieren, deren Konsequenzen ein Volk in der Lage Israels sich nicht entziehen kann.
Es war Nietzsches große Sorge, daß der Verfall aller menschlichen Ordnungen in einer durch den Nihilismus und Atheismus bestimmten Praxis unvermeidbar ist, wenn in einem durch diese Praxis gekennzeichneten Zeitalter der Unterschied nicht gelernt wird zwischen dem, was ist, und dem, was wünschbar ist. Nietzsche geht in seiner Zeitkritik von der Notwendigkeit der Einübung in eine solche Scheidungskunst aus. Wenn das zutrifft, was Nietzsche über die Folgen des Endes der Metaphysik gesagt hat - und niemand zweifelt heute mehr daran, daß die Metaphysik am Ende ist - dann hätte jede Wünschbarkeit unter den Bedingungen des Nihilismus nur dann eine Chance, wirklich zu werden, wenn eine Macht den Wunsch realisiert und gegenüber widerstrebendem Willen durchsetzt. Nun ist es aber nicht die ganze Antwort Nietzsches, daß er die Begründungs- und Rechtfertigungsunbedürftigkeit für das Zeitalter des Nihilismus gefordert hat. In der >Genealogie der Moral< finden wir noch ein anderes Kriterium, nach welchem Nietzsche zwischen stark und schwach geschieden hat. Es ist das Kriterium des Leidens. Dem Unterschied von stark und schwach geht eine Erfahrung voraus, die Nietzsche das Leiden nennt. Stark und schwach, vornehm und gemein, gut und schlecht, allen diesen Scheidungen geht das Vermögen voraus, Leiden zu bejahen oder zu verneinen. Es heißt bei Nietzsche »Sieht man vom asketischen Ideale ab: so hatte der Mensch, das Tier - Mensch bisher keinen Sinn!«[31]
Die in der Metaphysik begründete Moral und das asketische Ideal waren die Voraussetzungen, unter denen das Tier-Mensch einen Sinn hatte. Sieht man vom asketischen Ideal ab, dann hatte das Dasein kein Ziel.
»Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; >wozu Mensch überhaupt ?< - war eine Frage ohne Antwort; der Wille für Mensch und Erde fehlte; hinter jedem großen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein noch größeres >Umsonst!< Das eben bedeutet das asketische Ideal: daß Etwas fehlte, daß eine ungeheure Lücke den Menschen umstand, - er wußte sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen, er litt am Probleme seines Sinns. Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache ein krankhaftes Tier: aber nicht das Leiden selbst war sein Problem, sondern daß die Antwort fehlte für den Schrei der Frage >wozu leiden?< Der Mensch, das tapferste und leidgewohnteste Tier, verneint an sich nicht das Leiden: er will es, er sucht es selbst auf, vorausgesetzt, daß man ihm einen Sinn dafür aufzeigt, ein Dazu des Leidens. Die Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet lag, - und das asketische Ideal bot ihr einen Sinn! Es war bisher der einzige Sinn.«[32]
Wenn man den Menschen auf den Grund geht, dann wird man als diesen Grund die Erfahrung des Leidens finden. Was heißt hier Leiden? Was wird von Nietzsche als Leiden angesprochen? In der Tat wäre auch schon die Frage nach Gott gegenstandslos, wenn nicht am Grunde des In-der-Welt-seins des Menschen eine Frage, ein Problem läge, auf das sich alle Rede von Gott beziehen kann. Wenn es ein solches radikales, den Menschen in der Wurzel seines Daseins bestimmendes Problem nicht gibt, oder wenn gesagt und geglaubt wird, daß es eine Sache der Organisation und der gesellschaftlichen Produktion sei, einschließlich der eines neuen Menschen, die Frage unnötig zu machen, dann wäre die Frage nach Gott erledigt. Nietzsche dagegen hält die Erfahrung des Leidens für unumgänglich. Das Leiden gehört zum Rang des Menschen. Er kann mehr leiden als irgendein Wesen sonst. Die Notwendigkeit, alle Formen unnötig gewordenen Leidens abzuschaffen, berührt die Einsicht Nietzsches nicht. Im Gegenteil, die Menschen vor dem Hungertod zu bewahren, wäre eher möglich, wenn dieses Problem nicht mit dem Ziel verknüpft würde, Leiden schlechthin zu beseitigen.
Leiden heißt für Nietzsche: der Mensch kommt her von einem an der Wurzel seines Daseins liegenden Bruch, von der Erfahrung einer Entzweiung seiner selbst und seiner Welt. Diese Entzweiung wird vom Nietzsche der »Genealogie der Moral« nicht angesetzt als Resultat einer entzweienden Praxis der Metaphysik. Man sagt heute, die Entzweiung sei das Resultat einer theologischen oder metaphysischen Praxis oder sie sei das unbegriffene Resultat eines erst in der Geschichte eingetretenen Bruches von Welt und Mensch. »Das eben bedeutet das asketische Ideal, daß etwas fehlte, daß eine ungeheure Lücke den Menschen umstand.« Der Mensch erfährt sich selbst im Zusammenhang einer Welt, auf die er angelegt und auf die er angewiesen ist, die ihm aber gleichzeitig entgegen ist. Wenn das Entgegensein dessen, worauf man angelegt und angewiesen ist, erfahren wird, dann macht der Mensch die Erfahrung des Leidens. Er erfährt die Welt, die in einem für ihn entscheidenden Belang die Tendenz hat, ihn zu verneinen. Aufgrund dieser notwendigen Erfahrung des Leidens gab das asketische Ideal dem Dasein einen Sinn, und zwar darum, weil sich der Mensch in der Metaphysik aus der Fraglichkeit seiner selbst rettete in eine Welt ewigen, beständigen und wahren Seins. Er rettet sich aus der Faktizität seines Leidens, indem er sich in der Bewegung des Ressentiments, ohnmächtig, die Wirklichkeit zu verändern, gegen diese kehrt und sie denunziert.
»Er ergreift in >Gott< die letzten Gegensätze, die er zu seinen eigentlichen und unablöslichen Thier-Instinkten zu finden vermag, er deutet diese Thier-lnstinkte selbst um als Schuld gegen Gott (als Feindschaft, Auflehnung, Aufruhr gegen den >Herrn<, den >Vater<, den Urahn und Anfang der Welt), er spannt sich in den Widerspruch >Gott< und >Teufel<, er wirft alles Nein, das er zu sich selbst, zur Natur, Natürlichkeit, Thatsächlichkeit seines Wesens sagt, aus sich heraus als ein Ja, als seiend, leibhaft, wirklich, als Gott, als Heiligkeit Gottes, als Richterthum Gottes, als Henkerthum Gottes, als Jenseits, als Ewigkeit, als Marter ohne Ende, als Hölle, als Unausmessbarkeit von Strafe und von Schuld.«[33]
Der Austritt aus der Welt des Irrsinns einer zweitausendjährigen Geschichte fordert die Überwindung des Geistes der Rache. Nietzsche ist gegen eine vom asketischen Ideal geprägte moralische Praxis, weil sie durch den Geist der Rache bestimmt wurde. Aber wenn die Metaphysik und die in der Metaphysik begründete Praxis des asketischen Ideals hinfällig wurde, dann fällt der Mensch auf das bloße Leiden zurück, und es gibt keine Antwort mehr: wozu Leiden?
Nach dem Verfall des asketischen Ideals bleibt die Frage nach dem Sinn des Leidens ohne Antwort. Das Leiden aber bleibt. An dieser Stelle wird der grundlegende Gegensatz Nietzsches zu Marx deutlich. Im Marxismus geht es um eine Welt, in welcher der Mensch nicht mehr gezwungen ist, auf das Leiden zurückzukommen. Für Nietzsche aber ist eine Praxis der Beseitigung aller Formen und Gründe des Leidens für den Menschen keine mögliche Praxis. Von der Vision einer Welt ohne Mangel ist die Ideologie der Wohlstandsgesellschaft genauso bestimmt, wie sich der Kommunismus am überzeugendsten in der Verheißung manifestiert, das Problem des Todes endlich praktisch zu lösen. Entweder muß eine Welt erhofft werden, in der es Mangel und Tod nicht mehr geben wird, oder sie müssen wenigstens aus der Öffentlichkeit verdrängt und so unkenntlich gemacht werden. Wo sie sichtbar werden, dürfen sie nur als die Aufforderung verstanden werden, die Welt zu verbessern. Welches ist nun das Gegenideal Nietzsches zum asketischen Ideal? Für Nietzsche ist der Atheismus nicht der Gegensatz zur Metaphysik, sondern er ist die auf ihren Kern reduzierte Metaphysik selber. Er ist die Katastrophe, insofern er den katastrophalen Charakter aller bisherigen Geschichte offenbar macht. Er verneint alle Ideale, gibt keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn, aber er hält in der Askese gegen das asketische Ideal an der Voraussetzung dieses Ideals fest, nämlich durch seinen Willen zur Wahrheit. Er ist die Katastrophe, weil er am Willen zur Wahrheit festhält und gleichzeitig alles, was auf diesem Willen beruhte, negiert. Das ist der Selbstwiderspruch, in welchem die in ihre Vollendung eintretende Emanzipation nicht bleiben kann, den sie aber auch nicht aufheben kann, am wenigsten dann, wenn sie die Identität mit sich selbst jenseits der Wahrheit oder die Wahrheit jenseits der Identität will. Der Atheismus und Nihilismus verstehen sich falsch in Hinsicht auf ihre Voraussetzung. Sie wähnen, nach der Destruktion der Metaphysik und des Glaubens an einen weltüberlegenen Gott hätte es noch einen Sinn, nach Wahrheit und Sinn zu fragen. Denn indem sie die Wahrheit wollen, und sei es die Wahrheit über die Metaphysik und den christlichen Gott, nehmen sie in Anspruch, was sie ausdrücklich verneinen. Sie glauben, daß es dann noch einen Sinn hat, nach dem Sinn zu fragen. Atheismus, strenge Wissenschaft sind für Nietzsche Formen der Verhüllung dieser Tatsache. Seit Kopernikus fällt der Mensch aus dem Zentrum heraus und wird zum Tier ohne Gleichnis und ohne Abzug. Es bleibt die Notwendigkeit einer Überwindung des Geistes der Rache. Will der Mensch nicht gleichnislos auf seine naturgegebene Animalität zurückfallen, dann muß - mit der Überwindung des Geistes der Rache - der Geist des Verneinens überwunden werden. Nietzsche sagt nein zur Verneinung. Das Ziel ist es, zu einer vollständigen, das Ganze der Wirklichkeit umgreifenden Bejahung zu gelangen. Es ist das Problem Hegels.
Die das Ganze der Wirklichkeit umfassende Bejahung schließt die Bejahung des Leidens und der Zusammenhänge ein, die das Leiden unumgänglich werden lassen. Der Atheismus soll durch eine alles Verneinen noch selber verneinende Bejahung überwunden werden. Die Hegeische Negation der Negation, die unendliche Negativität als ein notwendiges Moment der Verwirklichung von Freiheit, die bei Hegel die Bewegung des spekulativen Begriffs in seiner Unendlichkeit ausmacht, nimmt bei Nietzsche im Verlust der Christologie die Forderung an, die eigene Vernichtung noch als ein Moment der Steigerung des Lebens zu wollen und zu bejahen. Das Subjekt, das eine solche, auch noch die eigene Vernichtung in sich aufnehmende Bejahung vermag, nennt Nietzsche den Übermenschen. Er hat die Position jenseits von Gut und Böse erreicht. Wenn Nietzsche als die ethische Aufgabe im Zeitalter des Nihilismus die Überwindung des Geistes der Rache bestimmt und ihre Erfüllung von einer Art des Menschen erwartet, der aus dem Geist der schenkenden Tugend handelt, dann hat Nietzsche in der Form der leidenschaftlichen Verneinung der christlichen Tradition die Substanz des christlichen Glaubens, noch gegen seinen Willen, wieder entdeckt. Wovon sollte sich der Christ in seinem Handeln bestimmen lassen, wenn nicht von der Überwindung des Geistes der Rache? Das Gewinnen einer Position jenseits von Gut und Böse, eines Standpunktes, von dem aus die Wirklichkeit nicht in eine anzuerkennende und in eine zu verneinende gespalten ist, ist das fundamentale Problem der Begründung der christlichen Existenz überhaupt. In der Frage nach der Rolle des Gesetzes für das Weltverhältnis des Christen geht es um dieses Problem. Für den Christen, der von der Herrschaft des Gesetzes befreit wurde, ist das Gesetz nicht länger die Voraussetzung, von der er sich in seinem In-Der-Welt-Sein bestimmen läßt, auch wenn er die gesetzliche Forderung als Folge eines Versagens seiner Freiheit wieder akzeptieren muß.
In der ausdrücklichen Destruktion der Geschichte des Christentums hat Nietzsche die Erinnerung an den neutestamentlichen Christus nicht verlassen. Im Gegenteil, noch im Gegenzug gegen das Christentum bleibt er durch eine Möglichkeit bestimmt, die ohne das neutestamentliche Zeugnis nicht denkbar wäre. Das Motiv der Rechtfertigung bleibt für Nietzsche von zentraler Bedeutung. Die neuzeitliche Theodizee holt er aus der theogonischen Spekulation Schellings in den konkreten geschichtlichen Horizont zurück. Nietzsche erwartet die Rechtfertigung des Menschen auch nachchristlich noch von einem Menschen.
»Aber von Zeit zu Zeit gönnt mir - gesetzt, daß es himmlische Gönnerinnen gibt, jenseits von Gut und Böse - einen Blick, gönnt mir Euren Blick nur auf etwas Vollkommenes, Zu-Ende-Geratenes, Glückliches, Mächtiges, Triumphierendes, an dem es noch etwas zu fürchten gibt! Auf einen Menschen, der den Menschen rechtfertigt, auf einen komplementären und erlösenden Glücksfall des Menschen, um deswillen man den Glauben an den Menschen festhalten darf!... Denn so steht es: die Verkleinerung und Ausgleichung des europäischen Menschen birgt unsere größte Gefahr, denn dieser Anblick macht müde.«[34]
Von diesem Menschen erwartet er nicht weniger als die Erlösung der Wirklichkeit von einem Fluche, den das »bisherige Ideal auf sie gelegt hat.« Dasselbe aber erwarten die Christen von der Wiederkehr ihres Herrn auch, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, daß sie glauben, in dem einmal Dagewesensein des Christus für diesen Glauben einen Grund beibringen zu können. Das kann Nietzsche nicht. Er weiß: »es bedürfte, kurz und schlimm genug, eben dieser großen Gesundheit.«[35]
Nachdem Nietzsche aber die Geschichte in einer nichts auslassenden und alles erfassenden Erkrankung enden läßt, ist die Frage, wie der tödlich erkrankte Patient sein eigener Arzt werden kann, nicht zu beantworten. Nietzsche selber hat sich gerne in der Rolle des Arztes der Kultur gesehen, und er hat den Philosophen, wie Platon, die Funktion des Gesetzgebers zugesprochen.
»Wir modernen Menschen, wir sind die Erben der Gewissens-Vivisektion und Selbst-Tierquälerei von Jahrtausenden: darin haben wir unsere längste Übung, unsere Künstlerschaft vielleicht, in jedem Fall unser Raffinement, unsere Geschmacks-Verwöhnung. Der Mensch hat allzulange seine natürlichen Hänge mit >bösem Blick< betrachtet, so daß sie sich in ihm schließlich mit dem schlechten Gewissem verschwistert haben. Ein umgekehrter Versuch wäre an sich möglich - aber wer ist stark genug dazu? -, nämlich die unnatürlichen Hänge, alle jene Aspirationen zum Jenseitigen, Sinnenwidrigen, Instinktwidrigen, Naturwidrigen, Tierwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die allesamt lebensfeindliche Ideale, Weltverleumder-Ideale sind, mit dem schlechten Gewissen zu verschwistern. An wen sich heute mit solchen Hoffnungen und Ansprüchen wenden?«[36]
Das ist die verzweifelte Frage Nietzsches. Nietzsche wußte nun, daß mit der Religion der Ernst aus dem menschlichen Leben hinweggenommen wurde. Der geheimste Antrieb Nietzsches ist der Versuch, durch die Erzeugung eines Bewußtseins umfassendster Verantwortung dem menschlichen Dasein ein Gewicht wiederzugeben, das in der neuen Unschuld leicht verloren werden kann. Die »Anarchie der Triebe«, die die menschliche Gesellschaft mit ihrer Selbstauflösung bedroht, bringt Nietzsche vom Weg einer ästhetischen Rechtfertigung, den Herbert Marcuse heute wieder einschlägt, ab und läßt ihn zu dem Kritiker der Moderne werden, der in der Ethik das Fundamentalproblem gesehen hat, von dem die Zukunft des Menschen abhängen wird.
»Ein Tier heranzüchten, das versprechen darf - ist nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat, ist es nicht das eigentliche Problem vom Menschen?«[37]
Mit dieser Frage ist das Grundproblem Nietzsches am klarsten umrissen, daß sich aus der Destruktion aller bisherigen Moral am Leidfaden einer kompromittierenden Genealogie ergibt. In einer anderen Richtung als Marx zieht Nietzsche Konsequenzen, die im Prinzip der Natur, wie sie der neuzeitlichen Naturrechtstradition zugrunde liegt, angelegt sind. Während Marx aus der technologischen Unterwerfung der Natur im fortgeschrittenen Kapitalismus den Schluß zieht, daß nach einer revolutionären Veränderung der Eigentumsordnung eine Gesellschaft ohne Herrschaft möglich wird, folgert Nietzsche aus der Freisetzung der geschichtslos-abstrakten Natur durch die bürgerliche Gesellschaft die Totalisierung der Herrschaft. Die Entlastung von dem Druck der äußeren Natur verschärft den Zwang, durch den sich das Naturwesen, das Tier-Mensch zu dem Problem wurde, daß seinen Möglichkeiten technischer Verfügung erst gewachsen sein muß. Indem Nietzsche von der Züchtung des Menschen als einem Tier, das versprechen darf, spricht, stellt er die Forderung nach einer Selbstherstellung des Menschen, der die Mittel technischer Naturveränderung und ihrer Beherrschung nun auf sich selbst anzuwenden gezwungen ist. Der Verfall überkommener gesellschaftlicher Herrschaftsordnungen entläßt den Menschen nicht aus dem Zwang einer Formierung seiner eigenen Natur, sondern wirft zum erstenmal die Frage auf, wodurch der Mensch gesellschaftsfähig gemacht werden kann. Ein Tier, das versprechen darf, ist ein Wesen, das für seine eigene Identität auf Zukunft hin einstehen kann und damit fähig wird, Zukunft zu wollen und zu verantworten. Der Ansatz, den Nietzsche mit Hobbes und Marx teilt, besteht in der Gleichsetzung des Werdens des Menschen mit dem Entstehen der Gesellschaft als Herrschaft. Mit der Naturrechtstradition der Neuzeit geht Nietzsche von der essentiellen Unvereinbarkeit des natürlichen Menschen mit seiner gesellschaftlichen Existenz aus. Als Naturprodukt ist der Mensch für Nietzsche ein Tier, das in der unmittelbaren Einheit mit dem jeweiligen Augenblick zum Leben in der Gesellschaft so unfähig ist, daß er erst Mensch in und durch die Gesellschaft wird. Erst die Gesellschaft macht ihn zum Menschen. Der Mensch ist das Produkt seiner Selbstherstellung, die ihr Maß in der Natur hat. Da aber die Natur in ihrer vorgesellschaftlichen Verfassung die ungebändigte, in sich maßlose Natur ist, bedarf jede Ordnung eines Gesetzgebers, der sie setzt und durchsetzt. Das Wesen der Gesellschaft ist also die Gewalt. Die Geschichte ist die Geschichte der grausamen und gewaltsamen Verwandlung des Tier-Menschen in ein gesellschaftliches Wesen. Die Grausamkeit bestimmte das Wesen der Praxis, durch die dem Menschen ein Gedächtnis, eine Identität eingebrannt wurde.
Die Geschichte menschlicher Kultur ist für Nietzsche die vergeistigte und verinnerlichte Form einer Grausamkeit, durch die sich der Mensch dem schweifendem Dasein der Vorgeschichte entrang, die sich in der Verdrängung durch die Kultur in dieser nur fortsetzte.
»Je schlechter die Menschheit >bei Gedächtnis< war, um so furchtbarer ist immer der Aspekt ihrer Bräuche; die Härte der Strafgesetze gibt insonderheit einen Maßstab dafür ab, wieviel Mühe sie hatte, gegen die Vergeßlichkeit zum Siege zu kommen und ein paar primitive Erfordernisse des sozialen Zusammenlebens diesen Augenblicks-Sklaven des Affektes und der Begierde gegenwärtig zu erhalten.«[38]
Von gemeinsamen Voraussetzungen mit Marx ausgehend kommt Nietzsche zu einem entgegengesetzten Schluß: Herrschaft ist die essentielle, nur durch den Verfall des Menschen und der Gesellschaft aufzuhebende Bedingung seines Menschseins. Die Emanzipation aus der Geschichte erzwingt die Totalität von Herrschaft. Diese Einsicht Nietzsches ist um so bedeutsamer, als er mit Marx von der Notwendigkeit einer Destruktion der Geschichte überzeugt ist. »Im Menschen ist soviel Entsetzliches - die Erde war zu lange schon ein Irrenhaus!«[39] Der Verdacht gegen die bisherige Moral ist Nietzsches Apriori, ist also selber nicht zu begründen, sondern begründet sich im Leiden, im Ekel am Anblick des gegenwärtigen Menschen, der sich für das Ziel und die Vollendung des Weltprozesses hält.
»Was zu fürchten ist, was verhängnisvoll wirkt... das wäre nicht die große Furcht, sondern der große Ekel vor dem Menschen; insgleichen das große Mitleid mit dem Menschen. Gesetzt, daß diese beiden eines Tages sich begatteten, so würde unvermeidlich etwas vom Unheimlichsten zur Welt kommen, der letzte Wille des Menschen, sein Willen zum Nichts, der Nihilismus.«[40]
Die Frage Nietzsches lautet also nicht: Herrschaft oder nicht Herrschaft, sondern die Frage ist die, welche Art von Herrschaft den Menschen gedeihen und welche ihn verkommen läßt. Es ist die Frage Platons. Nachdem aber bei Nietzsche die schon in der Tradition christlicher Theologie undurchschaute Gleichsetzung des biblischen Gottes mit der Platonischen Idee des Guten unaufgeklärt blieb, ist die Frage nach einem Prinzip, auf dessen Grund man über das Gedeihen des Menschen etwas sagen könnte, nicht zu beantworten. Die seiner Theorie der Genese der asketischen Moral zugrunde liegende hypothetisch fingierte Geschichte setzt genauso dogmatisch den abstrakten Naturbegriff neuzeitlicher Emanzipation voraus, wie das bei Rousseau der Fall ist. Nietzsche entrinnt nicht den Fallstricken eines negativen Rousseauismus. Die Frage nach der guten oder schlechten Herrschaft glaubt Nietzsche beantworten zu können in der unmittelbaren Etablierung eines Physisprinzips, das merkwürdig zwischen Hobbes und den Vorsokratikern schillert und welches es gestattet, die einen Herrscher gut und die andern schwach zu nennen. Die in der ersten Abhandlung der Genealogie der Moral vollzogene Reduktion von Gut und Böse auf zwei die Einheit der Menschheit auflösende Arten menschlicher Natur, reproduziert die Herrschaftsformen moderner Gesellschaft als durch die Natur selber gesetzt - und antizipiert damit das Revolutionsproblem im Neomarxismus der Gegenwart. Revolution wird dann identisch mit der Anwendung einer Methode, mit der ich den Menschen in seiner Natur verändern will. Die von Nietzsche aus erkennbare Ironie dieser Wendung besteht darin, daß in der Negation des technologischen Prinzips dasselbe Prinzip sich totalitär durchsetzt. Nietzsches Ansatz hat für ihn die fatale Folge, daß er nicht mehr erklären kann, was er erklären will, nämlich: wie die Sklavenmoral der Christen und Demokraten über die Herrenmoral siegen konnte, oder wie die Geschichte als die Geschichte entartender Physis gedacht werden kann. Indem er die überkommene christliche Moral in destruktiver Absicht auf ihren ungeschichtlichen, physiologischen, vormoralischen Grund hinterfragt, gelingt es ihm zwar, die christliche Überlieferung als eine fortschreitende Folge von Schritten in einem Prozeß des Verfalls zu interpretieren, aber er vermag nicht, das nur auf der Folie einer konstruierten hypothetischen Geschichte einsichtige Problem zu lösen, wie der Verfall sich in der Form der Herrschaft vollziehen konnte. Alle bisherige, von Platon, den Juden, Christen und Demokraten anerkannte Moral hatte zu ihrer gemeinsamen Voraussetzung die Einheit der Menschheit. Diese Voraussetzung wird von Nietzsche durch die Statuierung zweier voneinander unabhängiger, sich antagonistisch zueinander verhaltenden Grundtypen revolutionär in Frage gestellt. Es gibt Herren und Sklaven, Mächtige und Ohnmächtige von Natur. Die
einen setzen sich für alle als das Maß, die andern unterwerfen sich passiv und ohnmächtig der von den Starken über sie verhängten Ordnung. Die Projektion tatsächlicher geschichtlicher Herrschaft in die Vorgeschichte zwingt Nietzsche die Frage auf, wie die durch die Natur vorgegebene Ordnung der Macht sich zur Herrschaft der Ohnmächtigen über die ursprünglich Mächtigen verkehren konnte. Die Kategorie des Ressentiments hat in diesem Zusammenhang die Funktion, die Methode auf ihren Begriff zu bringen, nach welcher die Übermächtigung der Herren so möglich wurde, daß die Mächtigen sich einer ihrer Natur widerstreitenden Moral unterwarfen. In der erfolgreichen Unterwerfung der Natur durch das, was nicht Natur ist, sei es Gott, Vernunft, Gewissen, oder ein Ideal, vollzieht sich aber für Nietzsche nicht die Aufhebung der Macht in die Kultur, sondern in ihrer Verinnerlichung und Vergeistigung setzt sie sich als die verdrängte indirekt um so wirksamer durch. Geschichte wird zur Geschichte der Formen der Macht und ihrer Pathologie. Das marxistische Grundaxiom, nach dem alle Geschichte Geschichte von Herrschaft ist, wird von Nietzsche mit dem Ziel einer Rehabilitierung der Macht geteilt. Nicht die Bestimmtheit der Geschichte durch Herrschaft ist zu verurteilen, sondern ihr Mißlingen durch das Herrwerden des falschen Typus Mensch. Die bisherige Moral ist dann für Nietzsche nichts anderes als ein Instrument der Verfälschung ursprünglicher Natur und ihre gleichzeitige Verhüllung. Die Geschichte ist falsch und verkehrt von dem sie beherrschenden Prinzip einer Verneinung der Macht her, und die in dieser Grundverkehrung gründende Moral erfüllte die Funktion, dies zu maskieren und zu verbergen. Auch hinter dem Willen zur Verneinung, steht ein Bedürfnis nach Macht. Auch hinter dem Willen zur Aufhebung von Herrschaft steht ein Wille zur Herrschaft. Das Phänomen des schlechten Gewissens wird für Nietzsche der Schlüssel, durch den er sich die verborgene, weil verdrängte Bestimmtheit aller Geschichte durch den Kampf um die Macht ebenso aufdeckt, wie er das schlechte Gewissen selber als ein Symptom ihrer mißglückten Verdrängung interpretiert. Die Konstellation, wie sie durch die Durchdringung von Marxismus und Psychoanalyse in der Gegenwart sich abzeichnet, wurde von Nietzsche in hellsichtiger Weise vorweggenommen, weil sie durch ihn interpretiert werden kann als die mit der Abschaffung des Gewissens nun möglich gewordene Praxis, in welcher das Bewußtsein des Verdrängungsmechanismus verlorengeht. Nietzsche hat in der nochmaligen Verkehrung der Verkehrung diesem Trend vorgearbeitet, indem er das Gewissen als Funktion der Vergesellschaftung der menschlichen Natur und als ein Symptom nicht gelungener Aufhebung der Natur in die Gesellschaft begriffen hat.
Die Hoffnung Nietzsches, aus einer erneuten Umkehrung der Vorzeichen, auf die sich die Umwertung der herrschenden Werte in ihrem praxisfähigen Gehalt reduziert, den Ausgang aus dem Verfall des Menschen zu finden, hat aber ebenso getrogen wie der Austritt des Menschen aus der Geschichte seiner Selbstentfremdung, wie sie Karl Marx erhoffte. Die Neubestimmung des Sinnes von Herrschaft durch Nietzsche, die sich als die Grundermöglichung menschlichen Gedeihens konstituieren soll, wiederholt in der Form der Negation den Entwurf Platons zur Rettung der Polis. Nietzsche ist nicht der unfreiwillig zügelloseste Platoniker der Geschichte, wofür er erklärt wurde, sondern er denkt vielmehr am Ende der Emanzipation die Philosophie Platons um: auf dem Boden des sophistischen Prinzips der politischen und gesellschaftlichen Ermächtigung des natürlichen Willens zur Macht. »Atheismus und eine Art zweiter Unschuld gehören zueinander.«[41] Wie aus dieser zweiten Unschuld, die der ersten der Vorgeschichte korrespondiert, der umfassende »Instinkt« des Geistes der Verantwortung wachsen soll, der Emanzipation nicht nur fordert oder bewußtlos vollzieht, sondern sie auch zu verantworten bereit ist, diese Frage ist mit Nietzsche nicht zu beantworten.