Emanzipation und Religion

FEUERBACH - MARX - HEGEL

Die Wirkung von Marx weist selbst eine tiefgreifende, für das Verständnis seines Werkes erhellende Dialektik auf. Die Geschichte hat die Marxsche Theorie bestätigt, indem sie sie widerlegte. Sie hat sie bestätigt, da die von Marx zum Ausgang seines Denkens erhobene Forderung der totalen Vergesellschaftung des Menschen sich in dem Maße vollzieht, wie die Geschichte fortschreitet, und zwar als ein universaler, gegenüber allen Unterschieden der Ideologie indifferenter Vorgang. So weit die marxistische Theorie noch ein das Bewußtsein der Praxis bestimmendes Element darstellt, hat sie keine andere Funktion, als den epochalen Vorgang zu bejahen, zu beschleunigen und noch vorhandene Differenzen zwischen dem individuellen Bewußtsein und dem gesellschaftlichen Gesamtprozeß auszugleichen. Die Geschichte hat aber Marx zugleich auch widerlegt, indem sie die an diesen Vorgang geknüpfte Hoffnung einer Aufhebung der menschlichen Selbstentfremdung zur Utopie werden ließ. Diese Behauptung ist nur dann zutreffend, wenn man mit dem jungen Marx daran festhält, daß nicht die Gesellschaft vom Individuum, sondern für das Individuum befreit werden soll. Heute wird nicht nur dort revolutionär gedacht, wo die Aufhebung der Entfremdung gefordert wird, sondern wo es zu einem Problem geworden ist, die Entfremdung vor ihrer durch die Gesellschaft drohenden Aufhebung zu retten.
Der Ausfall der Revolution wird für die Bemühungen, das Denken des jungen Marx theologisch positiv zu begreifen insofern zu keinem ernsthaften Problem, als die Revolutionstheorie hier zu den fragwürdigsten Teilen der marxistischen Theorie gerechnet wird. Marx wird dankbar als Bundesgenosse im Verein mit Kierkegaard und als dessen Ergänzung im Kampf um eine heilsame Ernüchterung des Menschen aus dem Schlaf idealistischer Hybris und Illusion akzeptiert. Der Schwerpunkt der theologischen Marx-Aneignung vor der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft lag auf seiner prophetisch eschatologischen Struktur, auf seiner Nähe zum protestantischen Prinzip kairoshafter Erschütterung der in sich selbst ruhenden Endlichkeit - bürgerlicher Sekurität durch das gestaltlose Unbedingte - so bei Paul Tillich. In der Gegenwart dagegen konzentriert sich das Interesse auf die Grundlegung einer der biblischen Botschaft nahestehenden, weil die Metaphysik überwinden wollenden Anthropologie, deren Gemeinsamkeit bei dem jungen Marx mit dem existenzanalytischen Denken hervorgehoben wird. Wie der transzendental philosophische Ansatz des deutschen Idealismus mit dem gläubigen und dem Anruf Gottes hörigen Denken der Theologie prinzipiell unvereinbar sei, so sehr dürfe man doch unterstellen, daß ein Denken auf die Botschaft des Evangeliums zu hören vermag, das so viel von der Abhängigkeit und Endlichkeit des leib- und gegenstandsgebundenen Menschen zu sagen wisse - so könnte man eine der Grundüberzeugungen dieser Interpretation umschreiben. Hegels faktische Nähe zum christlichen Glauben wird als Ausdruck einer prinzipiellen Feindschaft interpretiert und Marxens prinzipiell gemeinte Verneinung des Christentums und jeglicher Religion soll eine faktische Nähe zum christlichen Glauben nicht ausschließen. Dieses auf den ersten Blick erstaunlich anmutende Verhältnis moderner protestantischer Theologie zum Idealismus Hegels auf der einen und zum Realismus von Marx auf der andern Seite ist darin begründet, daß sie sich in einer dem Marxismus analogen Art zum leitenden Problem unserer Untersuchung, der von Marx thematisierten Entfremdung und ihrer Aufhebung, verhält. Beide gehen davon aus, Entfremdung als ein prinzipiell nicht Seinsollendes, nur mit faktischem Recht Daseiendes zu begreifen, demgegenüber die einmal im Menschsein des Menschen, zum andern im Angebot Gottes begründete Anforderung ergeht, sie radikal aufzuheben. Die marxistische Theorie wird als eine Bestätigung des theologischen Sachverhaltes verstanden, nach welchem die dem Menschen von Gott geschenkte Freiheit ohne Gott in Unfreiheit, Erwählung in Verwerfung, Erhöhung in Verdammnis ausschlägt.
Gogartens Theologie erhebt diesen Bezug zum Begriff, um an ihm die Dialektik von Evangelium und Gesetz, den Umschlag der Säkularisation in Säkularismus zu demonstrieren. Die im Evangelium geschenkte und im Marxismus beanspruchte Freiheit ist ihrem Sinn nach als unbedingte Unabhängigkeit von der Welt identisch. Freiheit wird dann zum Gesetz, wenn sie ohne und gegen Gott verwirklicht werden soll. Wie bei Barth hat das Gesetz im Heilzusammenhang keinen eigenen Inhalt, es dient vielmehr dem Evangelium in der Funktion, dieses von der welthaften Vergegenständlichung, der Verdinglichung frei zu halten. Aufrichtung und Herrschaft des Gesetzes fallen mit dem Verlust der Freiheit zusammen und die Realisierung der Freiheit ist identisch mit dem Vorgang des Freiwerdens vom Gesetz. Freiheit und Gesetz sind zwei sich wechselseitig aufhebende und einander ausschließende Bestimmungen, so wie sich bei Marx Entfremdung und ihre Aufhebung zueinander verhalten. Diese formale Übereinstimmung ist keineswegs so formal, wie es zunächst scheint. Das Problem besteht darin, in einer Interpretation der Marxschen Religionskritik zu klären, ob der reine Glaube der modernen Theologie mit der Marxschen Zerstörung der Religion und der überkommenen Gestalt der Metaphysik zu vereinbaren ist. Es soll gezeigt werden, wie die Aporie des Marxschen Revolutionsbegriffs mit dem Ansatz seiner Religionskritik zusammenhängt, und welche Konsequenzen sich aus dem Resultat für die Beurteilung des Verhältnisses von Marx zu Hegel ergeben.
Es ist noch wenig geklärt, wie weit die sachliche und systematische Bedeutung der im Anschluß an Feuerbach entwickelten Religionskritik für den Ansatz der Marxschen Entfremdungsproblematik reicht. Marcel Reding versucht in seinem Buch >Politischer Atheismus < zu zeigen, daß der Atheismus für das Denken von Marx prinzipiell geurteilt nur eine akzidentelle Bedeutung hat.[1] Er sei politisch motiviert, also ein zeitbedingter, historisch verständlicher Bestandteil der von Marx gegen die Unmenschlichkeit der bestehenden Verhältnisse gerichteten Kritik. Da die Religion ein Moment dieser Verhältnisse gewesen sei, noch dazu ein zu ihrer Erhaltung beitragendes, mußte der Atheismus für Marx zu einem notwendigen Postulat werden. Es wird in dieser Argumentation unterstellt, daß der Marxismus seine Religionsfeindlichkeit revidieren könne, ohne mit sich selbst in einen ernsthaften Widerspruch zu geraten. Für diese These scheint zu sprechen, daß Marx und Engels wiederholt zum Ausdruck gebracht haben, der Kampf gegen die Religion sei unter den Bedingungen des Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Teil des Kampfes um die politische Emanzipation. Fraglich bleibt es, ob dabei nicht die entscheidende Bedeutung der Negation der Religion für den Marxschen Begriff der Entfremdung und ihrer Aufhebung übersehen wird.
Es sollte doch zu denken geben, daß Marx immer wieder betont hat, daß die Leistung Feuerbachs die einzige, über Hegel hinausführende Revolution in der Philosophie sei und nur ihm, Feuerbach, allein das Verdienst zuerkannt werden müsse, die alte Philosophie, wenn auch nur theoretisch, überwunden zu haben. »Feuerbach ist der einzige, der ein ernsthaftes ein kritisches Verhältnis zur Hegelschen Dialektik hat und wahrhafte Entdeckungen auf diesem Gebiet gemacht hat, überhaupt der wahre Überwinder der alten Philosophie ist.«[2] In dieser positiven Einschätzung der Rolle Feuerbachs in dem Prozeß, der zur Liquidation des Erbes der Hegelschen Philosophie führte, ist von Marx eine Entscheidung in bezug auf sein Verhältnis zur Philosophie und Theologie gefällt worden, die für alles, was Marx hinfort denken und tun sollte, die grundlegende Voraussetzung bildet. Denn die Kritik an der theoretischen Form der Aufhebung von Religion und Philosophie bei Feuerbach hat nichts an der Anerkennung seiner prinzipiellen Bedeutung für die Marxsche Grundlegung geändert. Sie kann für Marx in zweifacher Hinsicht bestimmt werden.
Erstens: Feuerbach vollzieht den für die wahre Befreiung des Menschen unerläßlichen Akt einer universalen Selbstenttäuschung des Menschen über den Charakter der Formen, in denen er bisher sein Sein verwirklicht, erhalten und befreit glaubte. Philosophie als Philosophie ist für Marx dadurch erledigt, daß sie von Feuerbach als Theologie entlarvt wurde. Ihre Dialektik ist die Dialektik der Verschleierung der ihr als Philosophie im Sinne universaler Reflexion innewohnenden Tendenz zum Atheismus. Die radikal, das heißt auf ihren Grund, den endlichen Menschen hin durchgeführte Philosophie müßte sich als Philosophie aufheben. Das will aber die Philosophie als Philosophie nicht, sie weicht unredlich vor dem ihr in ihr selbst drohenden Abgrund der Endlichkeit aus, rettet sich in die Theologie und setzt so das wahre Subjekt, den endlichen Menschen zum Prädikat seines Prädikats (der Unendlichkeit) herab. »Feuerbach faßt also die Negation der Negation nur als Widerspruch der Philosophie mit sich selbst auf, als die Philosophie, welche die Theologie (Transzendenz etc.) bejaht, nachdem sie dieselbe verneint hat, also im Gegensatz zu sich selbst bejaht.«[3]
Wenn Marx in voller Übereinstimmung mit Feuerbach die Hegelsche Negation der Negation als den nur abstrakten, logischen, spekulativen Ausdruck der Bewegung der Geschichte interpretiert, die den wahren, weil sinnlichen Menschen als ihr Subjekt noch nicht gefunden hat und damit die Hegelsche Gestalt der Verwirklichung des Menschseins auf die Bedeutung reduziert, nur mit der Erzeugung, der Entstehung des Menschen, also nur mit der Vorgeschichte befaßt zu sein, dann liegt darin die Anerkennung der negationslosen Position der Feuerbachschen Endlichkeit. Um ihre Wiederherstellung geht es auch in der Marxschen Aufhebung der Entfremdung. Feuerbach hat nach Marx den »wahren Materialismus«, die »reelle Wissenschaft« begründet, indem er »das gesellschaftliche Verhältnis des Menschen zum Menschen zum Grundprinzip gemacht, und indem er der Negation der Negation, die das absolut Positive zu sein behauptet, das auf sich selbst ruhende und positiv auf sich selbst gegründete Positive entgegengestellt« habe. Die Position einer auf sich selbst begründeten, transzendenzlosen, in sich befriedeten und erfüllten Endlichkeit ist aber das Ergebnis der Destruktion der Religion als einer abstrakten, vergegenständlichenden Verdoppelung des menschlichen Gattungswesens. Die Religion als Ausdruck und Gestalt menschlicher Selbstentfremdung ist das Produkt der Entäußerung eines an sich in seinem unmittelbaren Sein Positiven, das sich erst auf diesem Wege in das Gegenteil seiner selbst, ins Negative verkehrt. Die Religion ist nach Feuerbach das Produkt dieser Verkehrung und gleichzeitig ihrer Verhüllung. Die illusionäre Befriedigung des menschlichen Seins in einem eingebildeten Himmel hat die Funktion, den Menschen über die Entzweiung seiner selbst hinwegzutäuschen.
Das zweite wichtige Ergebnis der Übernahme der Feuerbachschen Religionskritik durch Marx besteht in der nun nicht mehr in Frage gestellten Anerkennung des Feuerbachschen Wirklichkeitsbegriffes. Dieser resultiert keineswegs, wie es häufig dargestellt wird, aus der immanenten Bewegung der Wiederlegung der Hegelschen Philosophie auf ihrem eigenen Boden, sondern lag ihrer Interpretation als philosophischer Ausdruck der theologischen Selbstentfremdung des Menschen zugrunde: das an sich gute, vermittlungsunbedürftige, sinnliche Sein des Menschen und seiner auf die sinnliche Apperzeption reduzierten Weltbeziehung. Die Diskussion des Verhältnisses von Marx und Hegel als eine Form der schon immer zur Philosophie gehörenden Antithese von Idealismus und Materialismus hat dazu beigetragen, diesen zum Verständnis von Marx grundlegenden Sachverhalt undeutlich zu machen. Alle inneren Widersprüche der Marxschen Theorie und ihrer Entwicklung bis zu Stalin hin ergeben sich daraus, daß Marx glaubte, den Ansatz Feuerbachs in einen historisch-dialektischen umformen zu können, ohne den sensualistischen Materialismus Feuerbachs preisgeben zu müssen.
In diesen Thesen über Feuerbach heißt es:

»Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich-menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus - der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt -entwickelt ist. Feuerbach will sinnliche - von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedene Objekte: aber er faßt die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit. Er betrachtet daher im Wesen des Christentums nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche, während die Praxis nur in ihrer schmutzig-jüdischen Erscheinungsform gefaßt und fixiert wird. Er begreift daher nicht die Bedeutung der >revolutionären<, der praktisch-kritischen Tätigkeit.«[4]

»Das Große an der Hegelschen Phänomenologie und ihrem Endresultate - der Dialektik der Negativität an dem bewegenden und erzeugenden Prinzip - ist also einmal, daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäußerung; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit begreift.«[5]

Die Grenze Hegels, die es notwendig macht, ihn vom Kopf auf die Füße zu stellen, ergibt sich aus seiner Unfähigkeit, an der Arbeit ihre negative Seite zu sehen. Das liegt an dem abstrakten, ungegenständlichen Charakter des Hegelschen Arbeitsbegriffs. An dieser Stelle muß Hegel durch Feuerbach korrigiert werden. Hegel entgeht es, daß die arbeitende Selbstverwirklichung des Menschen bisher unter den herrschenden Bedingungen der Entzweiung von Konsum und Produktion, materieller und geistiger Arbeit, unter den Bedingungen einer sich auf dem Markte und seinen Austauschgesetzen vermittelnden Handelsgesellschaft identisch ist mit seiner Selbstentäußerung, seiner Entfremdung. Hegel konnte das entgehen, weil er des Segens des Feuerbachschen Durchbruchs zu einer möglichen Befreiung nicht teilhaftig wurde. Es mußte ihm aber entgehen, weil Hegel unter der Herrschaft der Theologie dachte, ein Schicksal, das er mit der gesamten bisherigen Philosophie teilt. Er bestimmte den Menschen als ein spiritualistisch ungegenständliches Wesen und setzte daher in verhängnisvoller Weise die Aufhebung der Entfremdung mit der der Gegenständlichkeit gleich. Damit aber hat er, und so kehrt Marx zum Feuerbachschen Ausgangspunkt zurück, die Entfremdung als bloß gedachte nur im Gedanken, das heißt nach Marx nur im Kopf aufgehoben, sie aber in der Wirklichkeit nicht nur bestehen lassen, sondern bestätigt und anerkannt. Die Unmöglichkeit Hegels aber ist nicht die Unmöglichkeit dieses Philosophen, sondern die Grenze der Philosophie als Philosophie. Ist der Mensch, wie Marx mit Feuerbach übereinstimmt, ein gegenständlich sinnliches Wesen, dann ist Entfremdung selbst gegenständlich bedingt und kann also nur in einer sinnlich gegenständlichen Praxis aufgehoben werden. Bei Hegel wird die als Schein durchschaute Welt religiöser Gegenstände nicht negiert, sondern in der Vernunft gerechtfertigt und so spekulativ wiederhergestellt.

»Zweitens liegt hierin, daß der selbstbewußte Mensch, insofern er die geistige Welt - oder das geistige allgemeine Dasein seiner Welt - als Selbstentäußerung erkannt und aufgehoben hat, er dieselbe dennoch wieder in dieser entäußerten Gestalt bestätigt und als sein wahres Dasein ausgibt, sie wiederherstellt, in seinem Anderssein als solchem bei sich zu sein vorgibt, also nach Aufhebung z.B. der Religion als eines Produkts der Selbstentäußerung, dennoch in der Religion als Religion sich bestätigt findet. Hier ist die Wurzel des falschen Positivismus Hegels oder seines nur scheinbaren Kritizismus; was Feuerbach als Setzen, Negieren und Wiederherstellen der Religion oder Theologie bezeichnet - was aber allgemeiner zu fassen ist.«[6]

Diese Forderung, das von Feuerbach in der Anwendung auf die Theologie entwickelte Verhältnis allgemeiner zu fassen, führt zu dem entscheidenden Resultat der durch Hegels Tätigkeitsbegriff vermittelten Aneignung der Ergebnisse der Feuerbachschen Religionskritik durch Marx.

»Man sieht, wie Subjektivismus und Objektivismus, Spiritualismus und Materialismus, Tätigkeit und Leiden erst im gesellschaftlichen Zustand ihren Gegensatz, und damit ihr Dasein als solche Gegensätze verlieren; man sieht, wie die Lösung der theoretischen Gegensätze selbst nur auf eine praktische Art, nur durch die praktische Energie des Menschen möglich ist und ihre Lösung daher keineswegs nur eine Aufgabe der Erkenntnis, sondern eine wirkliche Lebensaufgabe ist, welche die Philosophie nicht lösen konnte, eben weil sie dieselbe Aufgabe als nur theoretische Aufgabe faßte.«[7]

An die Stelle des Hegelschen Begriffs tritt für Marx der die Wahrheit Feuerbachs und die Wahrheit Hegels vermittelnd in sich einbegreifende Prozeß der Arbeit, in welchen der Mensch den Reichtum seines Gattungswesens vergegenständlicht und in der gesellschaftlichen Entäußerung gleichzeitig die Bedingungen der Wiederaneignung seines so vergegenständlichten Wesens erzeugt. Für die Art, wie Feuerbach das Problem des religiösen Ausdrucks der Entfremdung gestellt hat, bedeutet die neue Ebene, die Marx in der Auseinandersetzung mit Hegel gewonnen hat, eine entschiedene Radikalisierung. Marx ist nun in der Lage, die Frage zu beantworten, die bei Feuerbach offen blieb, nämlich wodurch der Mensch genötigt sei, sein Wesen religiös zu verdoppeln.

»Feuerbach geht von dem Faktum der religiösen Selbstentfremdung, der Verdoppelung der Welt in eine religiöse und in eine weltliche, aus. Seine Arbeit besteht darin, die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen. Aber daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den Wolken fabriziert, ist nur aus der Selbstzerrissenheit und dem Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muß also in sich selbst sowohl in ihrem Widerspruch verstanden als praktisch revolutioniert werden.«[8]

Was den Schein der Religion erzeugt, ist also selbst kein Schein, auch nicht die frei spielende Produktion der Phantasie, sondern sie ist der Ausdruck und gleichzeitige Versuch einer Lösung der Antinomie, der Entzweiung, die der Mensch unter dem Zwang der Notwendigkeit hervorbringt, sein Leben selbst produzieren zu müssen. Die Bedingung ihrer Möglichkeit ist die gesellschaftliche, also der eigentlich menschliche Charakter der menschlichen Daseinsfristung. Die Möglichkeit wird zur unumgänglichen Notwendigkeit, wenn die gesellschaftliche Natur der Reproduktion des menschlichen Lebens vom produzierenden Individuum sich ablöst und so seine eigenen Produktionskräfte für ihn zu einer verdinglichten und fremden Gewalt werden. Scharfsinn und die Tiefe des Marxschen Gedankens in dieser Einsicht können nicht genug bewundert werden. Die Flachheit der Feuerbachschen Argumentation wird von Marx auf eine Wurzel zurückgeführt, von der aus sich die ganze Fragestellung verwandelt. Denn wenn die Verdoppelung des menschlichen Wesens nicht erst das nachträgliche Produkt der religiösen Selbstentfremdung ist, durch die sich die an sich, von Natur aus bestehende Identität des menschlichen Seins auflöst, dann ist dem Menschen mit einem Akt theoretischer Aufklärung über den illusionären Charakter seiner religiösen Selbstbefriedigung in der Tat nicht geholfen.

»Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist.«[9]

Diese Aussage von Marx berührt sich sehr eng mit der Beurteilung der Religion und der Kritik vom Evangelium her, wie sie Luther geübt hat. Die Welt religiöser Gegenstände wurde in der Tat, wie Marx richtig sieht, vom Menschen selbst produziert, aber die Nötigung dazu gründet in einer den Menschen bedrohenden Entzweiung seiner selbst und seiner Welt und kann nicht ohne Bezug auf eine Gottesmanifestation begriffen werden, die sie auslöst.[10] Mit dieser Entzweiung des Menschen tritt er als ein menschliches Wesen erst aus der ihn umfangenden Einheit der unmittelbar mit sich identischen Natur hervor. Für Marx ist die mit dem Menschen gegebene Entzweiung bedingt durch den gesellschaftlichen Vermittlungscharakter der Befriedigung seiner natürlichen Bedürfnisse durch die Arbeit. Der Mensch ist ein die Mittel seines Lebens produzierendes Wesen und darin besteht für Marx sein Sein und in sonst nichts. Weil es sich so verhält, darum ist die produzierende Selbstentäußerung dann mit dem Verlust des menschlichen Seins identisch, wenn die Bedingungen der Produktion der Lebensmittel nicht unter das produzierte Subjekt subsumiert werden. Die dem Menschen eigene Entzweiung wird zur Entfremdung, wenn die gesellschaftliche Produktion als die vergegenständlichte Produktivkraft, als die Kraft seiner Entäußerung zu einer dinglichen Gewalt über den Menschen wird. Aber, und dies ist wohl der entscheidende Punkt, wenn die gesellschaftlichen Produktivkräfte reich genug entwickelt sind, dann brauchen sie nur vom arbeitenden Menschen als der entäußerte Reichtum seiner Natur wieder angeeignet zu werden. Die Entfremdung ist dann aufgehoben und das Subjekt kehrt in die Einheit seines natürlichen Wesens zurück. Alles hängt an der Dialektik des gesellschaftlichen Prozesses. Indem er die Entfremdung produziert, erzeugt er gleichzeitig die Bedingungen ihrer Aufhebung. Es handelt sich der Sache nach nur um zwei, im Element und unter der Bedingung der Zeit im Nacheinander auseinanderfallende, aber dem Wesen nach geeinte Momente ein und desselben Vollzugs. Der für das Marxsche Denken zentrale Begriff der Revolution ist unter dieser Voraussetzung das Ereignis, in welchem die beiden Momente nun auch faktisch real zusammenfallen. Marx mußte es als einen einzigartigen Glücksfall betrachten, in der Existenz und im Aufkommen des Proletariats das Subjekt gefunden zu haben, an dem er das theoretisch gewonnene Postulat seiner Forderung einer möglichen Aufhebung der Entfremdung empirisch verifizieren konnte. Es mußte sich in der revolutionären Aktion des zu einem Subjekt vereinigten Proletariats ereignen, daß Produzent und Produkt unmittelbar zusammenfielen. Die Entfremdung des Menschen mußte sich aufheben, der Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das der Freiheit mußte nun glücken. Mit der irdisch diesseitigen Gestalt war die der religiösen Entfremdung selbst aufgehoben. Das faktische Ausbleiben der Revolution, wie sie Marx bestimmt hat, ist also keineswegs gleichgültig für die Beurteilung der von Marx postulierten Notwendigkeit, die Religion aufzuheben. Die unmittelbar sinnlich und gegenständlich werdende Identität von Produzent und Produkt im Vollzug der proletarischen Revolution wiederholt in einer eigentümlichen Weise die Bestimmung des metaphysisch-theologischen Gottesbegriffs der antik-christlichen Tradition. Denn auch in diesem Gott wird die Identität von Vollzug und Vollzogenem angenommen. In fetischisierter Form verhält sich der überzeugte Kommunist zu den grundlegenden Bestimmungen des Gottes der Metaphysik, indem er sie auf das Proletariat und seine geschichtliche Rolle bezieht. Die nicht vollzogene Revolution erzwingt also eine Wiederherstellung des religiösen Verhältnisses. Erst dieses genügt in vollem Umfang den Bestimmungen, mit denen Feuerbach die Gestalt religiöser Selbstentfremdung beschrieben hat. Die Aufhebung der Metaphysik bleibt bei Marx, wie jeder andere Versuch, zweideutig. Tatsächlich handelt es sich um ihre Wiederherstellung in der Form des Verlustes und einer eigentümlichen Verkehrung ihres ursprünglichen Sinnes. Man kann dieses Phänomen auch als das Sich-durchhalten des entzweiten Seins des Menschen gegenüber seiner Negation durch das Bewußtsein verstehen. Die Lehre, die aus dieser Beobachtung gezogen werden kann, ist die von der unaufhebbaren Zugehörigkeit der Entfremdung zum seiner selbst bewußten Sein des Menschen. Die Durchbrechung dieser Struktur scheint nur punktuell und in der Form eines aktualen Vollzuges möglich zu sein. Es ist die Schwäche der Lehre von Marx, auch gerade des jungen Marx, durch eine falsch bestimmte Dialektik der Entfremdung und ihrer Aufhebung erreicht zu haben, daß die ins Unbedingte und Totale umschlagende gesellschaftliche Entfremdung mit ihrer Aufhebung verwechselt werden kann. Es bleibt offen, welche Konsequenzen Marx selbst aus der geschichtlichen Widerlegung seiner Revolutionstheorie gezogen hätte. Mit dem bisher Dargelegten ist aber noch nicht die Frage nach der Notwendigkeit des aporetischen Charakters der Marxschen Lösung des Entzweiungsproblems beantwortet worden. Was Marx in seiner intendierten Aufhebung der Religion versuchte, ist also die Realisierung einer Möglichkeit, die im Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft angelegt ist, aber nur verwirklicht werden kann, wenn die bürgerliche in eine kommunistische umgewandelt wird. Die Entfremdung des Religiös-Seins des Menschen von seiner gesellschaftlichen Existenz gehört strukturell zur bürgerlichen Gesellschaft. Das Subjekt der gesellschaftlichen Emanzipation soll die geschichtslose, abstrakte Gattungsnatur des Menschen sein.
Für das gesellschaftliche Dasein des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft ist also sein Sein in der Religion, im Glauben, in der Geschichte mit und unter Gott prinzipiell gleichgültig. In dieser Hinsicht gehört es zum Wesen der bürgerlichen Gesellschaft, den Atheismus ebenso zuzulassen, wie den christlichen Gottesglauben. Die Dialektik der Entzweiung von Staat und Gesellschaft als die Form, in der die bürgerliche Gesellschaft geschichtlich existiert, macht das Grundproblem der rechtlichen, politischen und sozialen Freiheit in dieser Gesellschaft aus. Es war nur folgerichtig, wenn Marx mit seiner Kritik an der Hegelschen Staats- und Rechtsphilosophie einsetzte und die Beseitigung des Staates als einer der Gesellschaft und ihren Tendenzen entgegenstehenden Wirklichkeit forderte. Wenn Hegel den Staat als die Wirklichkeit der sittlichen Idee bestimmte, dann trug er damit der Tatsache Rechnung, daß unter den Bedingungen der emanzipativen bürgerlichen Gesellschaft die Realität der sittlich-religiösen Substanz an den Staat und seine Sittlichkeit gebunden ist. Die sittliche Substanz des Menschseins bedarf in der Gesellschaft der Emanzipation des Staates als des Organs ihrer Verwirklichung. Der Staat wirkt in der modernen Welt der Tendenz der Gesellschaft entgegen, sich als die einzige Realität zu setzen.
Innerhalb der marxistischen Auseinandersetzung mit Hegel bedeutet Garaudy[11] eine bedeutsame Wende, insofern er umfassend und eingängig die zentrale Bedeutung der christlichen Theologie für Hegel herausarbeitet. Während Lukács die theologischen Motive und ihre Bedeutung für die Ausbildung der Hegelschen Philosophie noch gering einschätzte, geht Garaudy von der These aus, daß sie den gesellschaftlichen an Bedeutung mindestens gleich kämen. In einem bemerkenswerten Widerspruch zu der von Garaudy betonten zentralen Stellung der Theologie im Denken Hegels steht die im Titel seines Werkes schon angedeutete These vom Tode Gottes. Dieser Widerspruch besagt, Hegel habe einmal die christliche Theologie in den Zusammenhang des philosophischen Denkens hereingeholt und habe sie zum anderen auf die bloß metaphorische Funktion reduziert, die unüberwindbare Tragik und Zerrissenheit alles menschlichen Seins zu artikulieren.
Garaudy muß daher versuchen, den Widerspruch geschichtlichgenetisch zu begreifen, um ihn als durch den Marxismus überwunden erscheinen lassen zu können. Außer dieser geschichtlichen Beisetzung Hegels in die Vorgeschichte des Marxismus wird die aktuelle Bedeutung Hegels durch die Überzeugung unterstrichen, daß er ein Problem gestellt habe, das unser Jahrhundert zu lösen im Begriff sei. »Das Problem Hegels bestand darin, Antworten auf die Fragen zu finden, die ihm seine Zeit, die Zeit der Französischen Revolution und des napoleonischen Kaiserreichs, der Machtergreifung und des Aufstiegs der Bourgeoisie stellte. .. Das Anfangsproblem Hegels ist sowohl politischer als auch religiöser Natur.«[12]
Wie ist nun diese historische Zuordnung des Hegelschen Denkens, das in der Fülle seiner auf eine totale Erfassung des Seins zielenden Dimension aufgenommen werden soll, zu einer bestimmten geschichtlichen Situation mit der Überzeugung zu vereinbaren, Hegel habe ein Problem gestellt, das in unserem Jahrhundert gelöst werde? Was uns, die gegenwärtigen Zeitgenossen, mit Hegel verbinden soll, ist nach Garaudy die Einheit eines Problems, das Hegel entdeckte, für das die Marxisten die Lösung gefunden haben und das in unserem Jahrhundert praktisch-politisch gelöst werde.
Das Problem, um das nach Garaudy seit der Aufklärung gerungen wird, ist das Problem einer Aufhebung, ja Überwindung der menschlichen Selbstentfremdung. Die Lösung dieses Problems ist für Garaudy identisch mit der Herstellung eines Zustandes der Welt, in welchem es dem Menschen möglich wäre, in Freiheit bei sich selbst und in der als eigenes Produkt angeeigneten Welt heimisch zu sein. Vollendung der Humanität in und aus sich selbst heraus sei das Ziel. Die damit intendierte Immanenz von Welt und Mensch erzwingt aber nun die Deutung des Christentums als eines geschichtsphilosophisch begreifbaren Zwischenfalls und als einer Macht, die verschwindet, wenn das Ziel der Geschichte erreicht ist. Sollte aber die Verwirklichung des totalen Menschen ohne jede Entfremdung schon das von Hegel gemeinte Ziel gewesen sein, dann muß die theologische Gestalt seines Denkens als abkünftiger Ausdruck eines Scheiterns an Bedingungen zu begreifen sein, deren Veränderung außerhalb des Vermögens der Philosophie lag.
Wie eindeutig diese Auffassung von Garaudy vertreten wird, geht schon aus der Formulierung: »Die theologische Umsetzung des Hegelschen Problems« hervor. Die inzwischen schon konventionell gewordene Meinung, daß Hegel ursprünglich von einer dem Christentum feindlichen Position ausgegangen sei, bildet daher auch die Voraussetzung der Hegelinterpretation von Garaudy. Mit einer eigentümlichen Hartnäckigkeit besteht Garaudy auf der These, Hegel habe die Französische Revolution als das Ereignis real gewordener Versöhnung im Sinne einer Wiedergewinnung unmittelbarer, lebendiger Einheit von Welt und Mensch verstanden. Die christliche Projektion der Versöhnung an den Himmel sei durch die Französische Revolution auf die Erde heruntergeholt. Erst später habe der an der Realität enttäuschte und durch sie getäuschte Hegel die Unüberwindbarkeit menschlicher Selbstentfremdung und geschichtlicher Zerrissenheit behauptet und erst in diesem Zusammenhang sein ursprünglich politisch-gesellschaftlich entwickeltes Problem ins Theologische übersetzt. Zum Beweis der Richtigkeit dieser Konstruktion stützt sich Garaudy auf das bekannte Zitat aus der >Philosophie der Geschichte <.

»Die Französische Revolution bleibt für ihn die Versöhnung des Himmels mit der Erde: ... es war dies somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt gekommen.«[13]

Am Verständnis dieser Stelle hängt nicht nur die Hegelinterpretation Garaudys, sondern in erheblichem Maße das Verständnis des Verhältnisses Hegels zur Revolution überhaupt. Aus dem Kontext des Zitates geht hervor, daß Hegel den Enthusiasmus des Geistes mit seiner, des Geistes, Überzeugung begründen will, daß es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen sei. Es gibt in der gesamten Philosophie Hegels keine Stelle, durch die die Interpretation auch nur nahegelegt werden könnte, daß Hegel selber diese Deutung in der vorliegenden Form geteilt hätte. Für Garaudy bildet sie Basis und Voraussetzung seiner Gesamtinterpretation des Hegelschen Denkens.

»Die Bedeutung, die Hegel der großen >metaphysischen Erfahrung< der Französischen Revolution beimißt, ist so entscheidend, daß die >Momente< der Entwicklung dieser Revolution den >Momenten< der Entwicklung seines Denkens entsprechen.«[14]

Die Wendung, welche die Französische Revolution im Thermidor nahm, mußte daher für Hegel den Zusammenbruch seiner Hoffnung bedeuten. Der Versuch, ein harmonisches Verhältnis zwischen dem Individuum und dem Ganzen herzustellen, war am Bourgeois, an der Herrschaft des Privatinteresses in der aus der Revolution hervorgehenden bürgerlichen Gesellschaft gescheitert. Die revolutionäre Phase Hegels geht nach Garaudy zu Ende.
Die Aneignung der englischen Nationalökonomie, vor allem von Adam Smith, hat für Hegel die Bedeutung, das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft und der fundamentalen Rolle der Arbeit zu begreifen. Das Resultat dieser Aneignung ist es, daß Hegel die Grundtendenzen seiner Zeit, welche die Zeit des Sieges der bürgerlichen Gesellschaft war, am umfassendsten formuliert. Hegel hat sich so, nach Garaudy, zum Theoretiker der bougeoisen kapitalistischen Gesellschaft entwickelt, deren Schranken er nur spekulativ und religiös zu überschreiten vermochte. Die theoretische Schranke Hegels bestehe in der falschen Konsequenz, die er aus seiner Einsicht in die ökonomischen Voraussetzungen seines Problems der geschichtlichen Verwirklichung der Freiheit zieht. Hegel restringiert die durch die ökonomische Entwicklung ermöglichte Freiheit auf ihre Übereinstimmung mit der Institution des Privateigentums.
In dieser Bindung der Freiheit der Person an das Privateigentum soll eine entscheidende Grenze Hegels bestehen. Sie wird von Garaudy zurückgeführt auf die falsche Gleichsetzung von Vergegenständlichung und Entäußerung. Indem Hegel das Privateigentum als eine ewige Kategorie betrachte, bringe er die in dem unumgänglichen Prozeß der Vergegenständlichung liegende Entfremdung zum Verschwinden. »Dieser ursprüngliche Widerspruch im Privateigentum, der Widerspruch zwischen seiner subjektiven Erscheinungsform, der Arbeit, und seiner objektiven Erscheinungsform, dem Kapital, konnte Hegel bloß in einer rein abstrakten Form erscheinen und daher von ihm auch nur theoretisch gelöst werden.«[15] Das heißt konkret, die Grenze Hegels bestehe darin, daß er noch nicht im Besitz der Einsichten von Karl Marx war, die dieser in den Pariser Manuskripten erarbeitet hat.
Die mangelnde Einsicht in die ökonomische Genese der Entfremdung bringt aber nach Garaudy Hegels Willen zur Versöhnung in eine für ihn unübersteigbare Aporie, aus der Hegel sich nur durch ihre spekulative theologische Deutung retten konnte. Die eigentliche Entfremdung, die sich nach Garaudy nicht aus der Vergegenständlichung, sondern aus der Ausbeutung ergibt, führt Hegel notwendig zu einer tragischen und schließlich theologischen Auffassung der Philosophie. Das Tragische muß als das Gesetz der Welt angenommen werden.
Es wird von Garaudy als selbstverständlich unterstellt, daß die Versöhnung mit der bürgerlichen Welt nur auf dem Wege einer theologischen Rechtfertigung ihrer Widersprüche möglich war. Die Theologie Hegels ist für Garaudy nichts anderes als die undurchschaute ideologische Rechtfertigung der Zerrissenheit der bürgerlichen Gesellschaft als ein »notwendiges Moment, als ein Schicksal«. »Die Philosophie ist dergestalt eine Übersetzung des theologischen christlichen Dramas in Begriffe.«[16] Das philosophisch angeeignete und spekulativ gedeutete Christentum hat bei Hegel nach Garaudy keine andere Funktion, als die Notwendigkeit der unaufhebbaren Entfremdung und des Schmerzes akzeptabel zu machen. Die Tragik allen Lebens soll durch das Christentum erträglich gemacht werden. »Die Inkarnation Gottes, der zum Menschen wird, sich selbst beschränkt und damit die Beschränkung des Menschen festlegt, und folglich auch seinen Tod,... stehen im Mittelpunkt dieser Hegelschen Weltanschauung, die eben deshalb eine tragische Weltanschauung ist. Das Leiden Christi ist das Sinnbild menschlichen Schicksals.«[17]
Wenn aber das Christentum von Garaudy auf die Botschaft vom verstorbenen Gott reduziert wird, dann ist es unerfindlich, wie mit dieser Botschaft irgendetwas gerechtfertigt werden könnte. Der Grundwiderspruch der Interpretation Garaudys ist offensichtlich: die auf die Botschaft vom Tode Gottes reduzierte Theologie kann gar nicht die Funktion erfüllen, die sie bei Hegel angeblich erfüllt hat, nämlich die theologische Affirmation der Tragik allen Lebens. Wie sollte die Theologie eine Versöhnung und religiöse Verklärung des Grundwiderspruchs allen Seins leisten können, wenn sie selber nichts anderes ausdrückt als eben das Scheitern Gottes in und an diesem Widerspruch? Die Substanz Hegelschen Denkens verflüchtigt sich zu einer pantragischen Weltanschauung. Hegel selber soll sich an die Stelle des Gottes der Theologen gesetzt haben. »Mit einem Wort: der spekulative Philosoph tritt an die Stelle des Gottes der Theologen.«[18]
In der Bewegung des Hegelschen Denkens soll es nach Garaudy um so etwas Uninteressantes gehen wie die Ersetzung einer dualistischen durch eine mehr organische Anschauung. Die Funktionalisierung der Dialektik führt bei Garaudy zu ihrem Verlust. So wird es verständlich, daß Garaudy die Methode der Dialektik für den Tod Gottes verantwortlich macht. »Diese Methode führt dazu, den Menschen an die Stelle Gottes zu setzen und aus der natürlichen und gesellschaftlichen Welt seine eigene Schöpfung, sein Werk zu machen.«[16]
Die Reduktion der Hegelschen Dialektik von Endlichkeit und Unendlichkeit mit der entwaffnenden These, daß nun beide nicht mehr für sich gesetzt werden, sondern nur als ihre wechselseitige Negation real seien, wird mit ermüdender Monotonie als Beweis für die Auflösung des Inhaltes der Theologie durch Hegel von Garaudy vorgetragen. Es kommt Garaudy nicht der Gedanke, daß die von Hegel am Supranaturalismus geübte Kritik die Bedeutung hat, Theologie und Gesellschaft aus ihrem abstrakten Verhältnis in den Zusammenhang ihres geschichtlichen Vermitteltseins hineinzuholen. Der Satz Hegels, daß der Geist nur in der absoluten Negativität alles bloß natürlichen Lebens zu sich selbst käme, daß er also im Ertragen des natürlichen Todes sich zu bewähren habe, wird von Garaudy zum Tode des Geistes selbst uminterpretiert.
Wenn Garaudy die Hegelsche Auslegung des christlichen Glaubens im richtigen Rückgriff auf Luther als Beweis für seine These interpretiert, dann erklärt er als den Tod Gottes, was für Hegel dem Erweis seiner Lebendigkeit dienen soll. Diese Setzungen Garaudys werden aber verständlich von der Grundvoraussetzung der marxistischen Theorie her, daß als real allein gelten könne, was am Begriff der Praxis emanzipativer Gesellschaft aufgewiesen werden kann. Hegel hat dann in den menschlichen Beziehungen allein deren geistigen Aspekt erfaßt. Der Grundwiderspruch, der nach Garaudy Hegels Denken beherrscht, die Einheit und Totalität des Seins mit der Zerrissenheit zu versöhnen, kann in der marxistisch orthodoxen, aber auch von der bürgerlichen Hegelinterpretation geteilten These vom Widerspruch von Methode und System zusammengefaßt werden.
Auch an Garaudy bewährt sich von neuem der für jede marxistische Hegelinterpretation kennzeichnende Tatbestand, daß die marxistische Interpretation der Hegelschen Philosophie identisch ist mit ihrer Destruktion. Daß Garaudy die Theologie in ihrer Bedeutung für die Hegelsche Philosophie so ernst genommen hat, wie vor ihm nur noch Feuerbach, ändert an diesem Resultat gar nichts. Notwendig bleibt die Frage, woher das marxistische Interesse an Hegel stammt. Es geht um die Wiederherstellung eines Begriffes totaler und geschichtlicher Praxis, dessen der Marxismus selber bedarf, um seine eigene Deformation besser begreifen zu können.
Zum anderen dient Hegel dem Nachweis, daß es eine Konsequenz humanen Bewußtseins in der bürgerlichen Gesellschaft ist, zum Marxismus zu konvertieren. Der Glaube des Marxisten Garaudy ist der Glaube des neuzeitlichen Humanismus überhaupt. Die Orientierung am Problem der Überwindung aller Formen menschlicher Selbstentfremdung wird allerdings auch von Marxisten, die dem Strukturalismus nahestehen, als ideologisches Relikt bürgerlich-romantischen Bewußtseins destruiert. Der Optimismus von Garaudy ist in der Tat erstaunlich. Seine Überzeugung, daß es nur eines Entschlusses zur Anwendung marxistisch erleuchteter Praxis auf die moderne Welt bedürfe, um den integralen Menschen hervorzubringen, ist bemerkenswert, denn nichts anderes soll doch wohl seine These besagen, unser Jahrhundert sei im Begriff, das von Hegel gestellte Problem zu lösen. Wenn es auch in der Realität aller gesellschaftlichen Systeme der Gegenwart nicht den geringsten Anhalt für die Richtigkeit dieser These gibt, so kommt ihr doch eine große methodische Bedeutung zu. Sie besagt, daß über Wahrheit und Unwahrheit Hegelschen Denkens nicht entschieden werden kann, wenn die gegenwärtige weltgeschichtliche Wirklichkeit ausgeklammert wird. Hegel könnte auch von Theologen mehr beachtet werden, nachdem das Hohngelächter über Hegels Behauptung der Vernunft alles wahrhaft Wirklichen dem Entsetzen über eine Wirklichkeit gewichen ist, die so wenig Vernunft zu ihrer eigenen Rechtfertigung beibringt. Hegel ist nicht einfach eine Phase im Vollzug neuzeitlicher Emanzipation. Nicht weil ihm die Einsicht in die ökonomischen Gründe menschlicher Selbstentfremdung und in die revolutionäre Praxis ihrer Aufhebung fehlte, rettete sich Hegel in die Theologie, sondern weil er Ermöglichung wie Gefährdung menschlicher Freiheit durch diese Struktur klarer erkannte als seine romantisch-revolutionären Nachfahren.
Der Grundirrtum Garaudys besteht darin, daß er Hegels Dialektik als Produkt neuzeitlicher Emanzipation und nicht als das Resultat ihrer geschichtlichen Theorie verstanden hat. Hegel ist nicht unfreiwilliges Opfer der in ihrem ökonomischen Ursprung undurchschauten Dialektik der Aufklärung, der angeblich ihre Negativität durch spekulative Theologie ins Affirmative umzudeuten versucht. Die Rezeption christlicher Inhalte in den Zusammenhang der Philosophie hat für Hegel die Bedeutung, eine Aufklärung über die Bedingungen von Freiheit zu ermöglichen, deren die neuzeitliche Welt selber nicht mächtig ist. In unserem Jahrhundert vollzieht sich nicht, wie Garaudy meint, eine Lösung des von Hegel gestellten Problems, sondern eher ein Vergessen dessen, woran Hegel die Kraft der Philosophie setzte, um es zu vergegenwärtigen. Das Buch von Garaudy ist leider eher ein Symptom für die die Gegenwart bestimmende Herrschaft des Vergessens.
Für die Marxisten ist der Hegelsche Staat die Vollendung des modernen Staates überhaupt. Für jede um eine geschichtliche Aktualisierung bemühte Auslegung der Hegelschen Theorie ist es von fundamentaler Bedeutung, sich der Tragweite des Ansatzes zu vergewissern, von der Karl Marx in seiner Kritik an der Hegelschen Philosophie des Staates ausgeht.
Die Marxsche Interpretation ist schon allein dadurch der nichtmarxistischen überlegen, daß Marx den Zusammenhang des Staates mit der bürgerlichen Gesellschaft als grundlegend erkannte. Hegel habe das Wesen des modernen Staates, durch das dieser sich von allen vormodernen staatlichen Gebilden in einer prinzipiellen Weise unterscheide, darin gesehen, daß er die moderne Gesellschaft als eine den Staat in seinen Voraussetzungen verneinende Realität außer sich habe. Für Marx ist die Hegelsche Staatstheorie daher die Theorie des Staates auf dem Boden seiner geschichtlich gewordenen Entzweiung von der Gesellschaft. Ihr Fehler sei nicht darin zu sehen, daß Hegel die Wirklichkeit des Staates unter dieser seiner Bedingung der Entzweiung verstanden, sondern daß er sie unter dieser Bedingung akzeptiert, also am Staate als einer der Gesellschaft entgegengesetzten Macht festgehalten habe. Hegel habe nicht die aus der Einsicht in die Struktur der Gesellschaft sich notwendig ergebenden Konsequenzen gezogen. Vielmehr diene die von Hegel behauptete Identität - die im Staat sich vollziehende Versöhnung des Einzelnen mit seinem allgemeinen Wesen - nur der Verhüllung des Klassencharakters der bürgerlichen Gesellschaft und damit der Fixierung der sie bestimmenden Entfremdung des Menschen von seinem gesellschaftlichen Wesen. Die bloße Existenz des politischen Staates wird also von Marx als Indiz und sich abstrakt verselbständigender Ausdruck einer im gesellschaftlichen Leben der Menschen eingetretenen Entfremdung interpretiert. Demgegenüber müsse die Spaltung des Menschen in den Bürger als Bourgeois und als Citoyen auf ihren sie bedingenden Ursprung zurückgeführt werden, nämlich auf die Ausbildung der Produktivkräfte zu einer selbständigen Macht, die unabhängig von und gegenüber den Produzenten besteht. Indem nun das Dasein der Menschen der organisierten Gewalt der gesellschaftlichen Entfremdung in Gestalt des Staates unterworfen werde, schlage die mit der Konstitution der emanzipativen Gesellschaft ermöglichte potentielle Freiheit in faktische Unfreiheit um.[20]
Auf dem Boden der geschichtlich erfahrenen ungelösten Dialektik der die gesellschaftliche Entwicklung bestimmenden Nichtidentität von Produktionskräften und Produktionsverhältnissen wird die Lehre vom notwendigen Absterben des Staates zu einer unausweichlichen Konsequenz der Marxschen Theorie. Das marxistische Postulat der Herstellung der gesellschaftlichen Befreiung des Menschen nach der revolutionären Aufhebung der Klassengesellschaft schließt mit Notwendigkeit die Beseitigung des politischen Staates und damit des Prinzips des Politischen selber in sich ein, weil Marx in voller Identität mit der liberalen Theorie den Staat nicht anders begreifen konnte als eine Institution der Herrschaft von Menschen über Menschen. Unter dieser Voraussetzung mußte er die Hegelsche Theorie als bürgerliche Ideologie »entlarven«, da in ihr der faktische Herrschaftscharakter des Staates verhüllt werde. Selbst die marxistischen Theoretiker der Gegenwart, die bereit sind, den fortschrittlichen Gehalt der Hegelschen Rechtsphilosophie zuzugeben und ihn angesichts der Erfahrung mit dem Stalinismus zu verteidigen und zu erneuern, können nicht umhin, die Hegelsche Lehre vom substantiell sittlichen Staat als Ideologie oder - in etwas gemildeter Form bei Bloch - als Utopie zu erklären. Von den Voraussetzungen der marxistischen Lehre ist ein herrschaftsfreier Zustand politisch nicht denkbar ohne die ihn bedingende Aufhebung der ökonomischen Ausbeutung.
Die Existenz des politischen Staates als solcher ist damit für den Marxismus identisch mit der Unfreiheit und muß als ein Indiz für ökonomische Ausbeutung genommen werden. Daher ist eine Lösung des Problems der Entzweiung von Staat und Gesellschaft nur auf dem Wege einer revolutionären Auflösung des Staates in die sich total befreiende Gesellschaft möglich. Von diesem Resultat der marxistischen Analyse her kann ein wesentlicher Zug der Hegelschen Lehre vom Staat erkannt werden, nämlich die Tatsache, daß der Staat von Hegel unter den Bedingungen der Entzweiung von Staat und Gesellschaft zur Überwindung der in ihr angelegten politischen Entfremdung konzipiert wurde. Insofern nun im Marxismus die Einheit des Menschen mit sich selbst (seine Freiheit) in der Unmittelbarkeit und die formelle Konstitution des Staates in sich aufhebender Direktheit hergestellt werden soll, muß die Marxsche Kritik an Hegel als eine Erneuerung und Radikalisierung des Rousseauschen Staatsideals begriffen werden.
Auf der anderen Seite wird dem Hegelschen Staatsbegriff widersprochen, weil in ihm die formelle Freiheit des Einzelnen, die Subjektivität in der Freiheit ihres unendlichen Fürsichseins, nur als ein Moment der im Staat sich realisierenden Freiheit anerkannt werde und diesem nicht als das Prinzip seiner formellen Konstruktion zugrunde liege. Dieses Argument von der Verneinung der Subjektivität, dem Verschwinden des Einzelnen in ein fiktiv-illusionäres Allgemeines ist in paradigmatischer Weise von Kierkegaard entwickelt worden und bestimmt noch die Substanz der Kritik an der Hegelschen Philosophie in ihrer Erneuerung bei Theodor Litt. Es ist offensichtlich, daß einer objektiven Würdigung der Hegelschen Theorie des Staates in unserer Gegenwart nichts stärker entgegensteht als diese These. Trotz der Revision, die sich in der neueren Hegelforschung angebahnt hat, muß sie in unvermindertem Maße dazu herhalten, Hegel unter die Vorläufer des Faschismus zu verrechnen.[21]
Ging es der Marxschen Kritik um eine Auflösung des Staates in die Gesellschaft, so wird jetzt unterstellt, daß Hegel die Gesellschaft und den individuellen Spielraum der Freiheit in die substantielle Allgemeinheit eines Staates aufzuheben versucht habe.
Gegenüber diesen beiden Formen kritischer Destruktion des Hegelschen Staates muß daran erinnert werden, daß seine Theorie in der Rechtsphilosophie das Resultat einer Entwicklung des Hegelschen Denkens darstellt, das von den Jugendschriften an von dem Problem der Verwirklichung der Entzweiung von Staat und Gesellschaft und damit von dem Problem der Verwirklichung der Freiheit in der modernen Gesellschaft bestimmt wurde. Die Bedeutung des Hegelschen Weges von den Jugendschriften bis zur Rechtsphilosophie ist eben darin begründet, daß er alle in der Abwendung von Hegel geschichtlich relevant gewordenen Lösungsversuche der Aporie des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft vorweggenommen, diskutiert und als unzulänglich - weil die geschichtliche Bestimmtheit der Struktur des Problems verfehlend - hinter sich gelassen hat.
In den Jugendschriften nahm Hegel auf den Staat nur Bezug, soweit es ihm darum ging, die theokratische Einheit von Staat und Kirche aufzulösen. Er sah in dem den konfessionellen Parteien gegenüber absolut gewordenen Staat einen möglichen Garanten der individuellen Freiheitsrechte, also die Quelle eines möglichen Schutzes für die private und ökonomische Sphäre des Einzelnen. Die geschichtliche Objektivität sah er in seinen Jugendschriften aufgeteilt in ein rationales System der ökonomischen Güter- und Besitzverteilung, das die Unmittelbarkeit und Spontaneität menschlicher Beziehungen ausschließt, und andererseits in eine rationale, supranaturalistische Theorie der Orthodoxie, die Gott als ein absolutes Objekt dem Individuum und seiner natürlichen Bedürftigkeit entgegensetzt. In einer solchen durch eine doppelte Verdinglichung der Gesellschaft und der Theologie bestimmten Welt wird der Einzelne in den unendlichen Raum der Innerlichkeit zurückgetrieben und gezwungen - wie Hegel in >Glauben und Wissen < es ausdrückte - die Altäre der Verehrung und Freiheit in seinem Herzen zu errichten.[22]
In dem der Jenenser Zeit angehörenden >System der Sittlichkeit< ging Hegel vom Begriff des Volkes als einer organischen Totalität aus. Dieser romantischen Konzeption stellte er die Differenzbestimmung der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber, die als solche aus dem organischen Totalitätsbereich des Volkes herausfällt. Die Erhebung des Einzelnen zur Höhe des Allgemeinen macht dann nach Hegel den Krieg ebenso notwendig wie vernünftig. Der Krieg hat auf dieser Stufe seiner Reflexion die Aufgabe, das Subjekt aus seiner Fixierung an die endlichen und besonderen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft herauszureißen und es in der kriegerischen Aktion auf der Höhe der Identität mit dem Allgemeinen in der Form des selbstlosen Einsatzes zu bringen. Hegel läßt hier eine Position anklingen, die sich später im Faschismus verwirklichen sollte. Aber bereits die wissenschaftlichen Behandlungsarten des >Naturrechts< bedeuten eine einschneidende Zäsur in Hegels Entwicklung. Schon hier wird in einer kritischen Auseinandersetzung mit Hobbes auf der einen und mit Kant und Fichte auf der anderen Seite die Einsicht in die Vernunft und Positivität der politischen und gesellschaftlichen Entzweiung gewonnen.
Die Hobbessche Theorie des Staates versteht Hegel als den Begriff des Staates, den er in der Rechtsphilosophie den Not- und Verstandesstaat genannt hat. Not- und Verstandesstaat deshalb, weil er die Macht der bürgerlichen Gesellschaft als eine unabhängige von ihm bestehende Größe anerkennt und voraussetzt und sie einschränkt auf die formale Sicherung der Bedingungen, unter denen die Individuen der Gesellschaft ihre Interessen so verfolgen und durchsetzen, daß die Gesellschaft selber dabei nicht in den Naturzustand des Kampfes aller gegen alle zurückfällt. Hobbes' Staat ist für Hegel insofern also der Staat der bürgerlichen Gesellschaft, denn der Staat organisiert die Reproduktionsprozesse der Gesellschaft.
Im Gegenzug gegen Hobbes versteht Hegel Fichte als Versuch, die im Anschluß an Hobbes von Kant vollzogene Formalisierung und Trennung von Moralität und Legalität in der Einheit der subjektiven Vernunft zu überwinden. Was Fichte jedoch - nach der Meinung Hegels - entgeht, wenn er der Einheit des Allgemeinen und Besonderen in der Subjektivität die Differenz als eine unüberwindbare Schranke entgegenstellt, das ist die Genesis dieser Differenz, die sich in einer durch keine apriorische Deduktion darstellbaren Weise im Faktum der emanzipativen Gesellschaft in der Realität selber gebildet hat. Die Einheit verhält sich in Fichtes Staatstheorie zur Differenz der bürgerlichen Gesellschaft wie das bloße Sollen. Das bloße Sollen kann aber nur in der Form des Zwanges als eine - wie Fichte sagt - Kausalität habende, und zwar auf das differente Sein Kausalität habende Einheit in Erscheinung treten. Das bedeutet: Diese Staatstheorie ist nur in der Form der modernen Diktatur zu realisieren, weil sie gegenüber der Einheit, die bei Fichte durch den Staat repräsentiert wird, die bürgerliche Gesellschaft als eine solche definiert, die in und durch den Staat aufgehoben werden müsse. Wie die Naturrechtstheorie den Staat in die Gesellschaft, so nimmt Fichte die Gesellschaft in den Staat zurück. Garantiert der Staat bei Hobbes die Verkehrsordnung der Gesellschaft, so beseitigt der Staat bei Fichte die Gesellschaft als eine Größe eigenen Rechts. Der Staat ist für Fichte der Zuchtmeister zur Moralität. Er hat damit für Hegel eine innere Affinität zum doktrinären Republikanismus von Robbespierre, dessen oberster Gott die Guillotine ist.
Die Vergegenwärtigung der Genesis der Hegelschen Rechtsphilosophie hat einmal ergeben, daß Hegel von einer kritischen Auseinandersetzung mit den Positionen herkam, von denen aus seine Lehre vom Staat destruiert wurde; zum anderen hat sich gezeigt, daß er zur Lösung der Aporie im Verhältnis von Gesellschaft und Staat und damit zur Überwindung der Freiheitsaporetik in der modernen Welt auf die Religion als dritte Potenz verwiesen wurde. Von daher leuchtete es ein, daß alle Interpretationen, die bei der Auslegung der Hegelschen Rechtsphilosophie von dem dualistischen Schema Staat und Gesellschaft ausgehen, den entscheidenden Punkt der Hegelschen Theorie verfehlen müssen und auch verfehlt haben. Auf dem Boden dieser Auslegung muß es - wie bereits die Marxsche Kritik lehren konnte - in der Tat uneinsichtig bleiben, wie sich aus dem Menschen als einem Sohn der bürgerlichen Gesellschaft das Subjekt zum Träger der Verwirklichung der sittlichen Substanz herausentwickeln soll. Interpretiert man die Hegelsche Philosophie als eine Theorie der modernen Welt, in der die Gesellschaft im Grunde die Realität bestimmt, dann ist man gezwungen, die Entzweiung selber als die Versöhnung auszugeben und die Formalisierung und Funktionalisierung des sittlichen Staates unter den Bedingungen der expansiven Gesellschaft wehrlos zuzusehen.
Demgegenüber muß die Frage nach den theologischen Implikationen der Hegelschen Idee der Freiheit, die sich im Staat als der Macht der Vernunft zur Gegenwart und geschichtlichen Verwirklichung bringt, und nach der Rolle der Religion im Zusammenhang der Vermittlung von Staat und Gesellschaft aufgeworfen und beantwortet werden.
Der Zusammenhang unseres Problems läßt sich am einfachsten im Ausgang von der Hegelschen Geschichtsphilosophie entwickeln. Denn die Freiheit als das Bei-sich-selbst-sein-können des Menschen ist in der Tiefe ihres Begriffes und damit in ihrer Wahrheit für Hegel erst in der christlichen Offenbarung geschichtlich hervorgetreten. Erst in ihr erfaßt sich der Einzelne in seiner Besonderheit als ein unendlich berechtigtes Moment des Absoluten selbst. Indem Gott nicht Mensch überhaupt wird, sondern dieser Einzelne, und in der Entäußerung seiner selbst an die endlichste Endlichkeit seines Todes am Kreuz sein Gottsein bewährt und im Hindurchgang durch diese Entäußerung sich wieder mit sich selbst zusammenschließt, ist der vollständige Begriff von Freiheit, nämlich die Vermittlung der doppelten Negation als unendliche Affirmation, gewonnen.
Nach Auskunft der Hegelschen Philosophie geht es in der Weltgeschichte nun darum, dieses in der Offenbarung hervorgetretene Prinzip der sich vermittelnden Freiheit in die Welt einzubilden und damit einen Weltzustand hervorzubringen, den dieses Freiheitsprinzip konstituiert. Der Hegelsche durch die Vernunft gerechtfertigte Staat ist nichts anderes als die geschichtliche Verwirklichung aller den Begriff der Freiheit von der Offenbarung her bestimmenden Momente, die Hegel in folgender Weise artikuliert: 1. die weltabgeschiedene, im unendlichen Fürsichsein verharrende Selbstbestimmung, 2. das in der bürgerlichen Gesellschaft an das zufällige, besondere Sein der natürlichen Endlichkeit und ihrer Bedürftigkeit entäußerte Wesen derselben und 3. die im Staat sich vollziehende und ins Werk setzende Versöhnung beider miteinander: der Einzelheit mit ihrer substantiellen Allgemeinheit. Hegels Rede vom Staat als dem erscheinenden Gott ist also nicht eine verbalistische Entgleisung, sondern sie entspricht in einem sehr präzisen Sinne seinem Begriff der christlichen Offenbarung. Der substantiell-sittliche, die Freiheit ermöglichende und bewahrende Staat, der in der geschichtlichen Wirklichkeit seinem Begriffe gemäß ist, rückt unter der Voraussetzung dieses Begriffes von Offenbarung insofern an den göttlichen Heilszusammenhang heran, als er mit dem Willen Gottes, so wie dieser sich in der Offenbarung offenbart, konform ist. Damit tritt Hegel in entschiedenen Gegensatz sowohl zum antik-heidnischen wie zum modern-emanzipativen Staatsbegriff.
Die bereits in der >Jenenser Realphilosophie< vollzogene Kritik Hegels an Platon läßt sich in dem Vorwurf zusammenfassen, daß Piaton das Allgemeine nur in der Abstraktion des Begriffes gehalten habe, der das Besondere und damit die Freiheit der unendlichen Subjektivität außer sich und neben sich hatte.[23] Verharrt also nach Hegel Piaton und damit für ihn die griechische Sittlichkeit überhaupt in der anschaulich-unmittelbaren Einheit des Allgemeinen und Besonderen, die das Recht der fürsichseienden Einzelheit nicht anerkennt, so hält sich das nachchristliche modern-emanzipative Staatsdenken in der Abstraktion des Einzelnen in seiner unmittelbaren Natürlichkeit, abgetrennt vom substantiell Allgemeinen. Ist für das platonische Prinzip das Allgemeine alles und der Einzelne nichts, so ist für das moderne Staatsdenken der unmittelbar Einzelne alles und das Sittlich-allgemeine nichts. Beide Ansätze, die nach wie vor auch das aktuelle politische Denken bestimmen, führen aber in der griechischen Realität zur blinden Unterdrückung und in der modernen revolutionären Theorie zum Terror, zur Furie des Verschwindens.[24] Die Hegelsche Theorie des Staates ist dagegen eine Theorie der Versöhnung, in der die Prinzipien der alten und der modernen Welt ebenso in ihrer Abstraktheit aufgehoben als anerkannt werden: eben als Momente des konkreten Freiheitsbegriffs, der einerseits die allgemeine, für jeden einzelnen gleiche »bürgerliche« Freiheit in sich enthält, anderseits aber diese Freiheit in Institutionen und Ordnungen verformen will, um sie nicht im Funktionsrhythmus der bürgerlichen Gesellschaft sich selbst aufheben zu lassen. Die Weltgeschichte, die für Hegel um ihre Achse, die christliche Offenbarung schwingt, hat zu ihrem Inhalt das Werden des Staates als der Gestalt, in der diese Versöhnung geschichtlich gegenwärtig und wirklich wird.
Es ist nun von allgemeiner Bedeutung, daß die Versöhnung, die sich im Staate als weltliche Wirklichkeit darstellt, nicht durch den Staat selbst gesetzt und hervorgebracht wird. Vielmehr bleibt der vernünftige Staat Hegels in seiner geschichtlichen Existenz abhängig vom christlichen Glauben. Der geschichtliche Glaube in der Gestalt der Gemeinde ist der geschichtliche Ort, an dem das versöhnende Handeln Gottes aktuell wird. Seine Anerkennung in der Realitätsgestalt der Kirche ist daher der Grund, aus dem der Hegelsche Staat hervorgeht, ohne daß dieser als Staat seinen Grund in sich begreift. Hegel ist daher ebenso der Identität von Staat und Kirche wie ihrer Trennung entgegengetreten. Die Bedingung ihres wechselseitigen Sichvoraussetzens ist der Inhalt, der ihnen gemeinsam ist: die Verwirklichung des konkreten Begriffs der Freiheit als die Einheit von Subjektivem und Objektivem. Die christliche Religion leistet für den Hegelschen Staat die Hervorbringung eines Subjektes, das im Glauben, in sich befreit von der Fixierung an seine nur natürliche Besonderheit, frei ist für das im Staat aktuell werdende Tun des Allgemeinen. Der Staat seinerseits stellt für die Religion die faktisch-geschichtliche Ermöglichung dar, die in der religiösen Innerlichkeit entstandene Freiheitsanforderung an den Tag geschichtlicher Gegenwart heraustreten zu lassen.
Hegel hat stets an der Reformation festgehalten als an dem Ereignis, das die Vernünftigkeit des Staates erst ermöglichte. Von dieser Voraussetzung her wird einsichtig, warum Hegel es für eine »Torheit neuerer Zeit« erachtet, »ein System verdorbener Sittlichkeit, deren Staatsverfassung und Gesetzgebung, ohne Veränderung der Religion umzuändern, eine Revolution ohne eine Reformation gemacht zu haben, zu meinen, mit der alten Religion und ihren Heiligkeiten könne eine ihr entgegengesetzte Staatsverfassung Ruhe und Harmonie in sich haben und durch äußere Garantien - z.B. sogenannte Kammern und die ihnen gegebene Gewalt, den Finanzetat zu bestimmen und dgl. - den Gesetzen Stabilität verschafft werden. Es ist für nicht mehr als eine Nothilfe anzusehen, die Rechte und Gesetze von Religion trennen zu wollen, bei vorhandener Ohnmacht in die Tiefen des religiösen Geistes hinabzusteigen und ihn selbst zu seiner Wahrheit zu erheben. Jene Garantien sind morsche Stützen gegen die Gewissen der Subjekte, welche die Gesetze, und darunter gehören die Garantien selbst, handhaben sollen; es ist dies vielmehr der höchste, der unheiligste Widerspruch, das religiöse Gewissen, dem die weltliche Gesetzgebung wie ein Unheiliges ist, an diese binden und ihr unterwerfen zu wollen.«[25] Die Aporie, die für den modernen emanzipativen Staat darin besteht, daß er die in ihrem Grunde religiöse sittliche Gesinnung von sich ausschließt, auf die er doch gleichzeitig zu seinem geschichtlichen Bestand angewiesen bleibt, ist - wie Hegel in der Religionsphilosophie sagt - ungelöst und macht die Unruhe aus, die allen modernen staatlichen Veränderungen zugrunde liegt und sie hervortreibt. Die von Hegel verworfenen Möglichkeiten staatlicher Existenz - verworfen, weil sie mit seinem Begriff konkreter Freiheit unvereinbar sind - bestimmen nach wie vor nicht nur unsere politische Praxis, sondern auch unser Denken über den Staat.
Die Erinnerung an die theologischen Wurzeln und Voraussetzungen der Hegelschen Theorie des Staates ist unter den heutigen Bedingungen deshalb so dringlich, weil erst dann verständlich wird, welche Gründe letztlich für die Vorstellung und die Mißverständnisse verantwortlich sind, die zur Destruktion der Hegelschen Lehre vom Staat geführt haben. Indem man ihn nämlich nur unter dem Vorzeichen der Entzweiung von Staat und Gesellschaft diskutierte, war es nur allzu einfach, den Nachweis zu führen, daß es entweder als utopisch oder als reaktionär zu gelten hat, dem Staat unter den Bedingungen der expansiven, die überkommene Sittlichkeit mit ihrem Untergang bedrohenden bürgerlichen Gesellschaft die Macht zuzutrauen, die Substanz der Geschichte vor ihrer Auflösung zu bewahren.
Als utopisch wird die Hegelsche spekulative Staatstheorie dann angesehen, wenn man sich empirisch von der Unvermeidlichkeit überzeugt zu haben glaubt, mit der sich die Emanzipationsbewegung als gesellschaftliche Dynamik geschichtlich durchsetzt. Reaktionär wird Hegel dann, wenn man diese Unvermeidlichkeit als den Fortschritt der sich realisierenden Freiheit politisch und gesellschaftlich bejaht. Denn es ist von den Prämissen der nachhegelschen Philosophie aus in der Tat uneinsichtig, und es wirkt wie ein Bruch in der neuzeitlichen Theorie der Gesellschaft als einzigem Ort der Konstitution menschlicher Freiheit, wenn Hegel die bürgerliche Gesellschaft als Verlust der Sittlichkeit bestimmt. In der Gesellschaft hingegen ist nach der Hegelschen Interpretation der Staat nur als der Not- und Verstandesstaat, als die formal-abstrakte Allgemeinheit des die Verkehrsregeln der Gesellschaft sichernden und garantierenden abstrakten Rechts anwesend.
Die konkrete Vermittlung des Einzelnen als Glied der Gesellschaft zum substantiellen Staat scheint Hegel nun zunächst von der Existenz der Korporationen abhängig zu machen. Daß es aber zu einer Wiederaneignung des in die gesellschaftliche Besonderheit und Zufälligkeit entäußerten Wesens durch das Subjekt selbst kommt - ein Akt, durch den der substantielle Staat in seinen Bürgern und damit in der Geschichte Existenz erhält, ebenso wie die über die Gesellschaft hinausgehende Freiheit des Einzelnen zur objektiven Verwirklichung gelangt -, das mußte, wie der weitere Gang der Geschichte erwiesen hat, eine utopische Hoffnung bleiben, wenn Hegel nicht in der Existenz der christlichen Gemeinde die konkrete Bedingung für den Vollzug dieser Vermittlung angenommen und vorausgesetzt hätte.
Zu leicht wird bei der Interpretation des Hegelschen Staates übersehen, daß die Verwirklichung der sittlichen Idee sich immer im Handeln und Tun der einzelnen vollbringt, die »mit Wissen und Willen dasselbe, und zwar als ihren eigenen substantiellen Geist anerkennen und für dasselbe als ihren Endzweck tätig sind... Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten. . . Das Wesen des neuen Staates ist, daß das Allgemeine verbunden sei mit der vollen Freiheit der Besonderheit und dem Wohlergehen der Individuen, daß also das Interesse der Familie und bürgerlichen Gesellschaft sich zum Staate zusammennehmen muß, daß aber die Allgemeinheit des Zweckes nicht ohne das eigene Wissen und Wollen der Besonderheit, die ihr Recht behalten muß, fortschreiten kann.«[26]
Nur das Subjekt, das im religiösen Verhältnis die zur geschichtlichen Konstitution des Staates unumgängliche Aufhebung seiner selbst als eines an die sinnliche Natur entäußerten Wesens vollbracht hat, das in sich durch sich selbst aus dem Bereich der Differenz herausgetreten ist, vermag den Staat als die Aktualität seines unendlichen Wesens anzuerkennen und sich in ihm als seiner eigenen Wirklichkeit befriedigt zu sehen.[27]
Die Interpretation der Hegelschen Theorie des Staates als der gestalthaften Verwirklichung substantieller Freiheit in der modernen Welt läßt sich nunmehr in folgende Thesen zusammenfassen:

  1. Der Staat ist nach dem Hegelschen Begriff die konkrete und faktische Bedingung, unter der die im Prinzip der modernen Gesellschaft beschlossene emanzipative Freiheit des Einzelnen geschichtlichen Bestand haben kann. Hegel hat damit im Vorgriff über seine eigene Zeit hinaus als einziger politischer Denker der Moderne die auf die Gesellschaft beschränkte Freiheit in ihrer dialektischen Notwendigkeit erkannt, nach der sie, wenn sie sich selbst überlassen bleibt, in Unfreiheit umschlagen muß, und er hat eine Lösung angeboten, die weder den Staat noch die Gesellschaft in einseitiger Radikalisierung zum Verschwinden bringt.
  2. Die Aufnahme des christlichen Glaubens in sein Denken machte es ihm möglich, die bürgerliche Gesellschaft und die rechtliche Sicherung der gesellschaftlichen Freiheit als ein unüberschreitbares und unaufgebbares Moment im Begriff der Freiheit selber anzuerkennen.
  3. Die Verdächtigung der Hegelschen Theorie als fortschrittlich oder als reaktionär geht insofern am Kern der Hegelschen Position vorbei, als sie unterstellt, daß die Bejahung oder Verneinung der bürgerlichen Gesellschaft dem Begriff unmittelbar entspringe, den Hegel von ihr in seiner Rechtsphilosophie entwickelt hat. Hegel konnte aber die bürgerliche Gesellschaft als den Vollzug der Auflösung der Idee der Sittlichkeit in ihre Extreme anerkennen, weil sie für ihn nicht die Gestalt der geschichtlichen Freiheit selber, sondern nur die Bedingung darstellte, unter der die Freiheit sich auch im Moment der Besonderheit und Individualität des Einzelnen realisieren kann.
  4. Es liegt auf der Hand, daß die Interpretation der theologischen Implikation in der politischen Philosophie Hegels stärker von der Gegenwart Abstand nimmt als eine Auslegung, die von dem dualistischen Schema der Antithetik von Staat und Gesellschaft ausgeht. Die institutionelle und geschichtliche Verwirklichung der Freiheit in unserer Welt ist dadurch nicht einfacher, sondern schwieriger geworden. Es ist aber ebenso deutlich, daß die Orientierung des politischen Denkens in seiner Auslegung des Staates durch die Kategorien der Herrschaft und der Macht nur dann überwunden werden kann, wenn ein Grund aufgezeigt wird, durch den der Staat im Willen des Einzelnen als eine Macht konstituiert wird, die sich der totalisierenden Gewalt der modernen Gesellschaft entgegenstellen kann.

Es ist das Verhängnis der marxistischen Theorie, die die Aufhebung der Herrschaft zum Ziele einer politisch-gesellschaftlichen Herrschaftspraxis erhob, daß sie gerade zu dem Terror geführt hat, der vermieden werden sollte.
Die Aufhebung des Staates ist, wie Marx also gesehen hat, identisch mit der Befreiung der Gesellschaft von allen Zusammenhängen des geistig-allgemeinen Seins des Menschen, die gesellschaftlich nicht definiert werden können. So ist der Kampf gegen die Religion nicht nur taktisch begründet als Bestandteil der politischen Revolution, sondern vielmehr im Begriff der Emanzipation selbst angelegt, die als Emanzipation ihre Negativität sowohl bewährt als zur Erscheinung bringt, indem sie alles negiert, was der abstrakten Identität ihres Begriffs widerspricht. Die Marxsche Bestimmung der Theorie als Moment der revolutionären Praxis ist von seinem Anspruch her zu begreifen, das Gesetz der bürgerlichen Gesellschaft, die Emanzipation, an dieser selbst zu vollziehen. Sie muß von den Schranken befreit werden, die durch ihren bürgerlichen Charakter bedingt sind. Von hier aus gesehen ist die These von einem Widerspruch des jungen Marx zu dem, der das »Kapital« geschrieben hat, in der Tat unhaltbar. Die Entdeckung des Bewegungsgesetzes des Kapitalismus als der Notwendigkeit, der die bürgerliche Gesellschaft unerkannt, anerkannt gehorcht, fiel für Marx zu recht mit der Einsicht in den revolutionären Ablauf zusammen, durch den die bürgerliche Gesellschaft gezwungen ist, sich revolutionär aufzuheben. Indem aber die bürgerliche Gesellschaft an den Gegensätzen zerbricht, die sie an der Entfaltung ihrer Produktivkräfte hindern, kommt die Subjektbestimmung an den Tag, die ihr zugrunde lag: die Gattungsnatur des Menschen als eines im Prozeß der Arbeit seine sinnlichen Bedürfnisse befriedigenden Wesens. Die ausgezeichnete Rolle des Proletariats besteht darin, daß in der Form der Negation des bürgerlichen Seins das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft rein und unverhüllt zur Erscheinung kommt. Die Widerlegung der Religion als einer bürgerlichen Ideologie und des christlichen Staates als eines Trugs ausbeuterischer Herrschaft ist angesichts der Lage des Proletariats keine Frage der Theorie und des Postulats, sondern eine der Auslegung der tatsächlich bestehenden Verhältnisse.
Der Proletarier ist in seinem Sein doppelt bestimmt: als die Negation des metaphysisch-religiösen Zusammenhangs der überkommenen Welt und als die Position des in diesen Zusammenhängen verborgenen gesellschaftlichen Wesens des Menschen als des Produzenten des Reichtums seiner geschichtlichen Welt, der ihm bisher entfremdet vorenthalten blieb. Weltgeschichtlich ist das Proletariat, weil die Gesellschaft, die es hervorbringt den einzelnen Proletarier gleichzeitig in seinem Menschsein verneint, im Begriff, die gesamte Menschheit mit ihrem Prinzip zu erfassen, sich zur Weltgesellschaft der einen Menschheit zu entwickeln. Es ist wahr, daß Hegel die weltgeschichtliche Bedeutung des Proletariats nicht gesehen hat und auch nicht sehen konnte, und hier liegt vermutlich die Grenze seines Denkens, von der die marxistischen Interpreten so viel zu sagen wissen. Demgegenüber sind zwei Momente festzuhalten, in denen die Aktualität des Hegelschen Denkens bestätigt wird: Erstens, Hegel hat in seiner Dialektik die Aporie der Emanzipation erkannt und alle Möglichkeiten prinzipiell zu Ende gedacht, die mit dem Anspruch auftreten, die Entzweiung aufheben und zur Einheit einer unterschiedslosen Identität bringen zu können. Zweitens, Hegel hat den im Namen des Prinzips der Emanzipation erhobenen Anspruch, den Menschen in seiner gesellschaftlichen Endlichkeit mit sich selbst versöhnen zu können, widerlegt und zurückgewiesen.

»Das Natürliche ist nicht an und für sich, sondern daß es ein nicht durch sich selbst Gesetztes ist, macht die Endlichkeit seiner Natur aus. Auch unser sinnliches Bewußtsein, insofern wir es darin mit Einzelnen zu tun haben, gehört in diese natürliche Endlichkeit, diese hat sich zu manifestieren. Das Endliche ist als das Negative bestimmt, muß sich von sich befreien, dies erste natürliche unbefangene sich Befreien des Endlichen von seiner Endlichkeit ist der Tod, dies ist das Verzichtleisten auf das Endliche und es wird hier real, actualiter gesetzt, was das natürliche Leben an sich ist. Die sinnliche Lebendigkeit des Einzelnen hat ihr Ende im Tode. Die einzelnen Empfindungen sind als einzeln vorübergehend: eine verdrängt die andere; ein Trieb, eine Begierde vertreibt die andere. Dieses Sinnliche setzt sich realiter als das, was es ist, in seinem Untergange.«[28]

Mit dieser von Hegel entwickelten Dialektik der Endlichkeit sind wir an den Ausgangspunkt der Marxschen Religionskritik, an seine Übernahme des Feuerbachschen Sensualismus zurückgekehrt. Es scheint nicht sinnvoll zu sein, sich weiterhin, wie es in der Theologie und Philosophie häufig geschieht, über die Hybris des spekulativen Begriffs zu ereifern, und Marx zu preisen, weil es ihm angeblich gelungen sei, zum wahren, weil wirklichen, das heißt endlichen Menschen hindurchzudringen. Worum es doch in der Auseinandersetzung von Marx mit Hegel in erster Linie geht, ist die Frage nach der Positivität des endlich-sinnlichen Menschen. Die undiskutierte Annahme des An-sich-Gutseins des Menschen in seinem unmittelbaren Sein liegt nicht nur der Feuerbachschen und im Anschluß an ihn auch von Marx an Hegel vollzogenen Kritik zugrunde, sondern bildet auch die Voraussetzung - wie Hegel gesehen hat - der spezifisch modernen, im Umkreis der Aufklärung geübten Frömmigkeit und Theologie, wie es scheint, bis zum heutigen Tage. Die Theorie der Religion als eine Gestalt menschlicher Selbstentfremdung und die Erwartung der Rückkehr des Menschen in ein nicht entfremdetes Sein, beruhen auf dieser Annahme eines Gutseins des Menschen in seiner Unmittelbarkeit. Die These, daß die total zurückgenommene Entfremdung von selbst und unmittelbar in ebenso totale Freiheit umschlagen muß, ist nur von dieser Voraussetzung aus denkbar. Auch da, wo die Theologie an die Möglichkeit einer reinen Scheidung von Gesetz und Evangelium glaubt, wird, wenn auch implizit, diese Annahme mitvollzogen. Spiritualismus und Materialismus bewähren sich auch hier als die Zwillingsbrüder, die sie sind. Hegel hat demgegenüber auf das Illusionäre der Versöhnung des Endlichen mit sich selbst hingewiesen.

»In diesem Standpunkt der Affirmation ist also wohl enthalten, daß ich mich auch zu einem Äußerlichen verhalten, das Gute getrübt werden kann. Meine Affirmation in Beziehung auf solches Unrecht wird dann auch vermittelte, aus solcher Vereinzelung sich herstellende Affirmation, vermittelt durch das Aufheben der Fehlerhaftigkeit, die an sich nur zufällig ist. Das Gute meiner Natur ist zur Gleichheit mit sich selbst zurückgekehrt, diese Versöhnung schafft dann nichts Inneres weg, berührt es nicht, sondern schafft nur Äußerliches fort. Die Welt, das Endliche versöhnt sich in dieser Weise mit sich selbst. Wenn es sonst also hieß: Gott habe die Welt mit sich versöhnt, so geht diese Versöhnung jetzt in mir als Endlichem vor; ich als Einzelner bin gut, in Fehler verfallend, brauche ich nur ein Accidentelles von mir zu werfen und ich bin versöhnt mit mir.«[29]

Hegel hat dem Anspruch des religiösen Subjektes, in einer entfremdeten Welt versöhnt bei sich selbst sein zu können, ebenso entschieden widersprochen wie dem Postulat der endlich-materiellen Gesellschaft, die Entzweiung von Subjektivität und Notwendigkeit objektiver Vermittlung gesellschaftlich beseitigen zu können.
Die Anstrengung, das Hegelsche Erbe in Marx durch Auflösung aller theoretischen Fragen des Marxismus in postulierte Praxis zu überwinden, stellt ein Ausweichen vor der entwickelten Aporie dar. Praxis, vor der sich Christen und Marxisten in gleicher Weise zu bewähren hätten, wird zu einer magischen Beschwörungsformel, wenn nicht gefragt wird, was Praxis unter den Bedingungen der über Marx hinweggegangenen Emanzipation noch bedeuten kann. Spätestens an dieser Stelle wird die Wiederholung des Grundproblems Nietzsches unausweichlich.